Einleitung
des Herausgebers

Dies sind die Geschichten, die sich die Hunde erzählen, wenn die Flammen im Kamin hoch schlagen und der eisige Nordwind bläst. Dann versammelt sich die Familie um das wärmende Feuer, und die Kleinen lauschen aufmerksam und still. Doch wenn die Geschichte zu Ende ist, werden sie lebhaft und stellen viele Fragen:

»Was ist ein Mensch?«, fragen sie.

Oder auch: »Was ist eine Stadt?«

Oder: »Was ist Krieg?«

Auf keine dieser Fragen gibt es eine eindeutige Antwort. Es gibt Annahmen, Theorien und viele ernstzunehmende Vermutungen, aber keine richtigen Antworten.

Im Familienkreis sieht sich mancher Geschichtenerzähler gezwungen, auf die uralte Erklärung zurück zugreifen, es seien eben nichts als Geschichten, es gebe so etwas wie Mensch oder Stadt in Wirklichkeit nicht, in einem Märchen dürfe man nicht die Wahrheit suchen, man müsse es als reine Unterhaltung betrachten und dabei bewenden lassen.

Erklärungen wie diese mögen vielleicht kleine Hunde zum Schweigen bringen, aber sie sind unzureichend. Man sucht auch in einfachen Geschichten nach der Wahrheit.

Unsere Legende, bestehend aus neun Geschichten, wird seit unzähligen Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben. Soweit es sich beurteilen lässt, hat sie keinen historischen Anfangspunkt; selbst das sorgfältigste Studium erbringt keine Hinweise auf die einzelnen Entwicklungsstufen. Es ist zwar anzunehmen, dass sie durch die endlosen Wiederholungen zu ihrer jetzigen Form gefunden hat, aber auch das führt nicht weiter.

Dass sie uralt und, wie manche Verfasser behaupten, teilweise ursprünglich nicht bei den Hunden entstanden ist, beweist das Übermaß an unverständlichen Ausdrücken, Wörtern, Sätzen und – was das Schlimmste ist – Vorstellungen, die heute keinen Sinn mehr ergeben und vermutlich auch nie ergeben haben. Durch das Erzählen und Wiedererzählen wurden diese Wörter und Sätze zu einem Gerüst, das in seinem jeweiligen Zusammenhang einen etwas willkürlichen Eigenwert besitzt. Niemand weiß allerdings, ob diese willkürlich gewählten Worte der ursprünglichen Bedeutung auch nur nahekommen.

Aufgabe der vorliegende Ausgabe dieser Geschichten ist es nicht, sich mit den zahllosen widersprüchlichen Standpunkten hinsichtlich des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins des Menschen auseinanderzusetzen, ebenso wenig hinsichtlich des Rätsels um die Stadt oder den verschiedenen Theorien über den Krieg. Auch wird sie nicht auf die Fragen derjenigen ein gehen, die nach Anhaltspunkten oder Beweisen danach suchen, ob eine grundsätzliche oder historische Wahrheit in der Legende verborgen ist.

Unser Anliegen ist lediglich, den ungekürzten, auf uns gekommenen Text der Geschichten so vorzulegen, wie er heute als gesichert gilt. Vorbemerkungen zu den einzelnen Kapiteln sollen die strittigen Fragen kurz streifen, ohne einen Versuch zu ihrer Lösung darzustellen. Denjenigen, die tiefer in den Sinn der Texte oder ihre wissenschaftlichen Analysen eindringen wollen, stehen Werke in großer Auswahl zur Verfügung, die von weit kompetenteren Hunden geschrieben wurden als dem Herausgeber dieser Textausgabe.

Die kürzliche Entdeckung von Fragmenten einer ursprünglich wohl als bedeutend anzusehenden Literatur wurde als das neueste Argument dafür angeführt, dass zumindest ein Teil der Legende dem mythologischen – und umstrittenen – Menschen statt den Hunden zuzuschreiben sei. Bis sich jedoch beweisen lässt, dass der Mensch wirklich existiert hat, können Behauptungen, die gefundenen Fragmente seien zusammen mit diesem entstanden, wenig Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen.

Die wichtigste Frage in diesem Zusammenhang bleibt also weiterhin, ob jemals ein Wesen »Mensch« existiert hat. Derzeit muss, angesichts des Mangels an Beweisen, bei nüchterner Betrachtungsweise davon ausgegangen werden, dass das nicht der Fall ist, dass der Mensch, wie in der Legende dargestellt, ein Produkt der Fantasie ist. Der Mensch könnte in der Frühzeit der Hundekultur als imaginäres Wesen aufgetaucht sein, als eine Art Stammesgott, den die Hunde um Hilfe bitten, bei dem sie sich Trost holen konnten.

Trotz dieser nüchternen Schlussfolgerung sehen jedoch andere den Menschen als einen realen älteren Gott, als Besucher aus einem mystischen Land oder Raum, der auftrat, eine Weile blieb und wirkte, um wieder dorthin zurückzukehren, von wo er gekommen war.

Es wird auch die Meinung vertreten, Mensch und Hund seien gemeinsam aufgewachsen, hätten gemeinsam eine Kultur entwickelt, sich aber schließlich getrennt.

Von all den zum Nachdenken anregenden Faktoren in den Geschichten – ihre Zahl ist Legion – erscheint als der beunruhigendste die Verehrung, die dem Menschen gezollt wird. Dem Durchschnittsleser dürfte es schwerfallen, diese Verehrung als bloße Übertreibung zu betrachten. Sie geht weit über die ritualisierte Anbetung eines Stammesgottes hinaus und erweckt im Gegenteil fast instinktiv das Gefühl, dass sie in einem längst vergessenen Glauben oder Ritus unserer vorgeschichtlichen Zeit tief verwurzelt gewesen sein muss.

Natürlich besteht heute wenig Hoffnung auf eine Klärung auch nur einer der vielen Kontroversen, die um die Legende entstanden sind.

Hier also sind die Geschichten, so zu lesen und verstehen, wie es dem Einzelnen beliebt: allein zum Vergnügen, bemüht um historische Sinngebung, auf der Suche nach einer verborgenen Bedeutung. Unser Rat an den eher ungeübten Leser: Nehmen Sie sich die Erzählungen nicht zu sehr zu Herzen, denn sonst geraten Sie in die Fallstricke von Verwirrung oder gar Wahnsinn.