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Das Haus

Der Regen rieselte vom bleiernen Himmel und trieb wie Rauch durch die nackten Äste. Er verschleierte die Hecken, ließ die Umrisse der Gebäude verschwimmen, löschte die Entfernungen aus. Er glänzte auf der metallenen Haut der stummen Roboter und warf einen silbernen Schimmer auf die Schultern der drei Menschen, die der Stimme des schwarz gekleideten Mannes folgten, der aus einem Buch vorlas.

»Denn ich bin die Auferstehung und das Leben …«

Die mit Moos bewachsene Steinfigur über der Tür zur Krypta schien sich emporzurecken, jeder Kristall ihres Körpers sehnsuchtsvoll nach einem Ziel zu greifen, das außer ihr niemand sah. Sie reckte sich seit jenem längst vergangenen Tag, als sie aus Granit geschaffen wurde, um das Familiengrab mit einem Symbol zu versehen, das dem ersten John J. Webster in seinen letzten Jahren Freude geschenkt hatte.

»Und wer an mich glaubt …«

Jerome A. Webster spürte, wie sich die Finger seines Sohnes um seinen Arm legten, hörte das gedämpfte Schluchzen seiner Mutter, sah die Roboter in Reih und Glied regungslos dastehen, das Haupt vor ihrem toten Herrn gebeugt. Vor dem Herrn, der jetzt heimkehrte – zur letzten Heimat aller.

Halb betäubt fragte sich Jerome A. Webster, ob sie – falls sie Leben und Tod verstehen konnten – auch begriffen, was es bedeutete, dass Nelson F. Webster dort im Sarg lag und dass ein Mann mit einem Buch in der Hand Worte darüber sprach. Nelson F. Webster, der Vierte in der Reihe der Websters, die auf diesem Grund und Boden gelebt hatte und auch hier gestorben war, der jetzt seine letzte Ruhe an dem Ort fand, den der Erste für sie alle errichtet hatte – für eine lange Reihe von noch ungeborenen Nachkom men, die hier leben und sich all jener Dinge erfreuen sollten, die der erste John J. Webster geschaffen hatte.

Jerome A. Webster fühlte, wie sich seine Kiefermuskeln anspannten, spürte ein schwaches Zittern durch seinen Körper laufen. Einen Augenblick lang brannten seine Augen, der Sarg verschwamm vor seinem Blick, und die Worte, die der Mann in Schwarz sagte, waren eins mit dem Wind, der in den Fichten flüsterte, die die Totenwache hielten. In ihm wurde eine Erinnerung wach – die Erinnerung an einen grauhaarigen Mann, der auf Feldern und Hügeln umherwanderte, die Brise eines frühen Morgens einsog, breitbeinig vor dem flackernden Feuer stand, ein Glas Kognak in der Hand.

Stolz – der Stolz auf Land und Leben, Demut und Größe, die ein ruhiges Leben in einem Mann erzeugten, die Zufriedenheit freier Stunden und Klarheit des vor ihm liegenden Weges. Unabhängigkeit und unerschütterliche Sicherheit, die Annehmlichkeit einer vertrauten Umgebung, die Freiheit des weiten Horizonts.

Thomas Webster stieß ihn an. »Vater«, flüsterte er. »Vater.«

Die Totenfeier war vorüber. Der schwarz gekleidete Mann hatte sein Buch zugeklappt. Sechs Roboter traten vor, hoben den Sarg auf die Schulter.

Langsam folgten die drei ihnen in die Krypta, standen stumm und mit gesenktem Kopf da, als die Roboter den Sarg in die Nische schoben, das kleine Gitter davor wieder schlossen und eine Tafel anbrachten, auf der stand:

NELSON F. WEBSTER 2034-2117

Das war alles. Nur die Namen und Jahreszahlen. Und das, dachte Jerome A. Webster, war genug. Nichts anderes hatte dort zu stehen, wie auch bei allen anderen. Diejenigen, mit denen es begonnen hatte: William Stevens, 1920-1999. Gramp Stevens hatte man ihn genannt, entsann sich Webster. Vater der Frau des ersten John J. Webster, der auch hier lag, 1951-2020. Und nach ihm sein Sohn Charles F. Webster, 1980-2060. Und dessen Sohn, John J. II, 2004- 2086. Webster konnte sich an John J. II erinnern – seinen Großvater, der oft mit der Pfeife im Mund neben dem Kaminfeuer eingenickt war, immer in Gefahr, seinen Bart in Brand zu setzen.

Websters Blick wanderte zu einer anderen Tafel. Mary Webster, die Mutter des Jungen an seiner Seite. Eigentlich kein Junge mehr. Er vergaß immer, dass Thomas jetzt schon zwanzig war und in ein, zwei Wochen zum Mars fliegen würde, wie er in seinen jungen Jahren zum Mars geflogen war.

Alle hier versammelt, dachte er. Die Websters, ihre Frauen und Kinder. Im Tod beieinander, wie sie miteinander gelebt hatten, in der stolzen Sicherheit von Bronze und Marmor unter den Fichten schlafend, mit der symbolischen Gestalt über der vom Alter mit Grünspan gesprenkelten Tür.

Die Roboter warteten stumm.

Seine Mutter sah ihn an. »Jetzt bist du das Haupt der Familie, mein Sohn«, sagte sie.

Er breitete die Arme aus und drückte sie fest an sich. Haupt der Familie – was von ihr geblieben war. Nur drei noch. Seine Mutter und sein Sohn. Und sein Sohn würde bald weggehen, hinaus zum Mars. Aber er würde zurückkommen. Mit einer Frau vielleicht, und die würde weiterleben. Die Familie würde nicht auf drei Personen beschränkt bleiben. Man brauchte dann nicht mehr den größten Teil des Hauses abzuschließen, wie es jetzt geschah. Früher war es voller Leben gewesen; die Wohnungen unter dem großen Dach hatten vielen Familienmitgliedern Platz geboten. Diese Zeit würde wiederkehren, das wusste er.

Sie verließen die Krypta und gingen zurück zum Haus, das sich im Nebel wie ein riesiger grauer Schatten abzeichnete.

Im Kamin flackerte ein Feuer, das Buch lag auf seinem Schreibtisch. Jerome A. Webster griff danach und las noch einmal den Titel:

Physiologie der Martianer, unter besonderer Berücksichtigung ihres Gehirns

von DR. JEROME A. WEBSTER

Umfangreich und maßgebend – die Arbeit eines ganzen Lebens. Auf seinem Gebiet beinahe von einsamer Größe. Gestützt auf Daten, die er in den fünf Seuchenjahren auf dem Mars gesammelt hatte – in den Jahren, als er mit seinen Kollegen von der medizinischen Kommission des Weltkomitees beinahe Tag und Nacht gearbeitet hatte, als Hilfsmission zum Nachbarplaneten entsandt …

Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.

»Herein.«

Die Tür ging auf, und ein Roboter glitt herein.

»Ihr Whisky, Sir.«

»Danke, Jenkins«, sagte Webster.

»Der Pfarrer ist gegangen«, erklärte Jenkins.

»Ah ja. Ich nehme an, du hast dich um ihn gekümmert.«

»Gewiss, Sir. Ich habe ihm das übliche Honorar gezahlt und ihm einen Drink angeboten. Er lehnte ab.«

»Das war ein Etikettefehler«, sagte Webster. »Pfarrer trinken keinen Alkohol.«

»Verzeihung, Sir, das wusste ich nicht. Er trug mir auf, Sie zu bitten, Sie mögen doch gelegentlich in die Kirche kommen.«

»Wie bitte?«

»Ich habe ihm gesagt, Sir, dass Sie nirgendwo hingehen.«

»Das war völlig richtig, Jenkins«, sagte Webster. »Niemand von uns geht irgendwohin.«

Jenkins ging zur Tür, blieb dort stehen und drehte sich noch einmal um. »Wenn ich etwas sagen darf, Sir, die Feier an der Krypta war sehr ergreifend. Ihr Vater war ein großartiger Mensch, der Beste, den es gegeben hat. Die Roboter sagten, die Feier sei erhebend gewesen. Würdevoll, Sir. Sie hätte ihm gefallen.«

»Mein Vater würde sich noch mehr freuen«, sagte Webster, »wenn er dich hören könnte, Jenkins.«

»Danke, Sir«, sagte Jenkins und verließ das Zimmer.

Webster saß bei seinem Whisky. Mit dem Buch und dem Feuer fühlte er die Heimeligkeit des wohlvertrauten Raums um sich, fühlte sich geborgen.

Hier war sein Zuhause. Das Zuhause der Webster, seit dem Tag, als der erste John J. hier angekommen war und den ersten Teil des gewaltigen Hauses gebaut hatte. John J. hatte sich hier niedergelassen, weil es einen Bach für Forellen gab, das hatte er jedenfalls immer behauptet. Aber es musste mehr dahintergesteckt haben. Es musste viel mehr dahintergesteckt haben, sagte sich Webster.

Oder vielleicht waren es am Anfang wirklich nur die Forellen gewesen. Der Bach und die Bäume und Wiesen, der felsige Hügelkamm, über dem jeden Morgen der Nebel vom Fluss hochstieg. Vielleicht war alles Übrige nachgekommen, im Lauf der vielen Jahre, bis der Boden durchtränkt schien von dem Unnennbaren, das der Tradition so eng verwandt war. Etwas, das jeden Baum, jeden Stein, jeden Fußbreit Boden zu einem Teil der Websters werden ließ. Alles gehörte dazu.

John J., der erste John J., war nach dem Zerfall der Städte gekommen, nachdem die Menschen ein für alle Mal die Zufluchtsorte des zwanzigsten Jahrhunderts aufgegeben, sich von dem Instinkt frei gemacht hatten, der sie gezwungen hatte, sich in einer Höhle oder auf einer von Bäumen dicht umstandenen Lichtung gegen einen gemeinsamen Feind oder in gemeinsamer Furcht zu verbünden. Ein Instinkt, der aus der Mode gekommen war, denn es gab keine Ängste, keine Feinde mehr. Der Mensch lehnte sich gegen den Herdeninstinkt auf, den ihm wirtschaftliche und soziale Bedingungen über lange Zeiträume hinweg eingepflanzt hatten. Eine neue Sicherheit und neues Selbstvertrauen hatten ihm erlaubt, sich davon zu lösen.

Die Tendenz dazu hatte im zwanzigsten Jahrhundert eingesetzt, vor über zweihundert Jahren, als die meisten aufs Land gezogen waren, um frische Luft zu atmen und viel Platz und einen Wohlklang im Leben zu gewinnen, der gemeinschaftlich nicht zu erreichen gewesen wäre.

Und das hier war das Ergebnis. Stilles, zurückgezogenes Leben, Frieden, der nur durch gute Dinge entstehen konnte. Die Art von Leben, nach dem man sich immer gesehnt hatte. Ein herrschaftliches Leben, gegründet auf Familiengütern und der Weite des sie umgebenden Landes. Energie durch gebändigte Atomkraft, Roboter anstelle von Dienstpersonal.

Webster lächelte zu dem Kamin mit den knackenden Holzscheiten hinüber. Ein Anachronismus – aber wunderschön –, etwas, das der Mensch aus den Höhlen mitgebracht hatte. Nutzlos, weil Atomheizung wesentlich besser war – aber angenehmer. Man konnte nicht vor einem Atomofen sitzen, träumen und wie hier Luftschlösser in die Flammen bauen.

Sogar die Krypta draußen, in der sein Vater zur Ruhe gebettet worden war. Auch sie gehörte zur Familie. Alles gehörte zueinander. Der ernsthafte Stolz und das ruhige, friedliche Leben. In der alten Zeit waren die Toten in großen Grundstücken gemeinsam begraben worden, Fremde neben Fremden.

Er gehe nirgendwohin …

Das hatte Jenkins zum Pfarrer gesagt.

Und es stimmte. Wozu sollte man auch irgendwo hingehen? Alles war doch hier. Wenn man an einem Knopf drehte, konnte man von Angesicht zu Angesicht mit jedem Menschen reden, konnte mit den Sinnen, wenn schon nicht mit dem Körper, sein, wo man wollte. Konnte das Theater besuchen, ein Konzert hören und in einer Bibliothek auf der anderen Seite der Welt schmökern. Konnte Geschäfte abwickeln, ohne sich aus dem Sessel erheben zu müssen.

Webster trank den Whisky, dann wandte er sich der Maschine neben seinem Schreibtisch zu.

Er drehte an den Knöpfen, ohne erst nachschlagen zu müssen. Er wusste, wohin er wollte.

Sein Finger drückte eine Taste, und der Raum um ihn herum zerfloss – oder schien zu zerfließen. Es blieb der Stuhl, auf dem er saß, ein Teil des Schreibtisches, ein Teil der Maschine selbst – das war alles.

Der Sessel stand auf einem von goldenem Gras bedeckten Berg, der mit knorrigen, windgekrümmten Bäumen durchsetzt war; der Abhang schwang sich zu einem von purpurroten Bergflanken eingerahmten See hinab. Die Felswände, voll langer Streifen mit dem blauen Grün von Fichten, erhoben sich in riesigen Terrassen, verschmolzen mit den bläulich glänzenden, schneebedeckten Gipfeln, die sich wie spitze Zähne emporreckten.

Der Wind sprach rau in den geduckten Bäumen und fuhr in wilden Stößen durch das lange Gras. Die letzten Sonnenstrahlen schlugen Feuer aus den fernen Gipfeln.

Einsamkeit und Größe, das weite Land, der kleine See, die messerscharfen schmalen Schatten auf den fernen Graten.

Webster starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die Felsriesen.

Eine Stimme dicht neben ihm sagte: »Darf ich kommen?«

Eine leise, zischende Stimme, fremdartig, nicht menschlich. Aber Webster kannte sie.

Er nickte. »Aber natürlich, Juwain.«

Er drehte sich ein wenig zur Seite und sah den verzierten Sockel und die bepelzte, weichäugige Gestalt des Martianers, der darauf saß. Anderes, fremdartiges Mobiliar zeigte sich undeutlich dahinter, in seiner Behausung auf dem Mars.

Der Martianer wies mit seiner Pelzhand auf die Berge.

»Das liebst du«, sagte er. »Und du begreifst es. Und mir ist klar, was du darin siehst, aber für mich enthält es sehr viel mehr Schrecken als Schönheit. Auf dem Mars könnten wir so etwas nicht ertragen.«

Webster streckte die Hand aus, aber der Martianer hielt ihn auf.

»Lass es«, sagte er. »Ich weiß, warum du hergekommen bist. Ich wäre zu einer Zeit wie dieser nicht gekommen, aber bei einem alten Freund …«

»Das ist schön von dir«, sagte Webster. »Ich freue mich auch, dass du gekommen bist.«

»Dein Vater«, sagte Juwain, »war ein großer Mann. Ich erinnere mich, dass du oft von ihm erzählt hast, in den Jahren, als du auf dem Mars warst. Du sagtest, du würdest einmal wiederkommen. Warum hast du das nie getan?«

»Nun«, sagte Webster, »ich habe nie …«

»Sag es nicht«, unterbrach ihn der Martianer. »Ich weiß es längst.«

»Mein Sohn fliegt in ein paar Tagen zum Mars«, sagte Webster. »Ich werde ihn bitten, dich zu besuchen.«

»Das würde mich freuen«, erwiderte Juwain. »Ich erwarte ihn.« Er schien auf einmal unruhig. »Vielleicht führt er die Tradition fort?«

»Nein«, sagte Webster. »Er studiert Technik. Für Chirurgie hat er nie etwas übriggehabt.«

»Er hat das Recht, seinen Neigungen zu folgen«, sagte Juwain. »Trotzdem, man kommt von seinen Wünschen schwer los.«

»Gewiss«, gab Webster zu. »Aber das ist endgültig vorbei. Vielleicht wird er ein großer Ingenieur. Raumstruktur. Er spricht von Schiffen, die zu den Sternen reisen können.«

»Vielleicht hat eure Familie für die Medizin genug getan«, sagte Juwain. »Du und dein Vater …«

»Und sein Vater vor ihm«, ergänzte Webster.

»Seit deinem Buch steht der Mars in deiner Schuld«, erklärte Juwain. »Vielleicht trägt es dazu bei, mehr Aufmerksamkeit auf dieses Gebiet zu lenken. Meine Leute sind keine guten Ärzte. Sie haben nicht die richtige Einstellung dafür. Merkwürdig, wie verschieden alles ist. Merkwürdig, dass der Mars nie an Medizin gedacht hat – niemals, buchstäblich nie daran gedacht hat. Man glaubte mit einer Art Fatalismus religion auszukommen. Sogar in unserer Frühgeschichte, als man noch in Höhlen lebte …«

»Es gibt vieles, woran ihr gedacht habt und wir nicht«, sagte Webster. »Dinge, von denen wir heute nicht mehr verstehen, wie wir sie jemals übersehen konnten. Fähigkeiten, die ihr entwickelt habt und die wir nicht haben. Denk an dein eigenes Fachgebiet, an die Philosophie. Sie ist anders als unsere. Eine echte Wissenschaft, während wir nur immer herumtasten. Bei euch ist die logische Entwicklung der Philosophie brauchbar, anwendbar, ein echtes Werkzeug.«

Juwain wollte etwas sagen, zögerte, meinte dann: »Ich bin einer Sache nahe, einer Sache, die neu und überraschend ist. Etwas, das für euch wie für uns Martianer ein brauchbares Werkzeug sein könnte. Ich habe seit Jahren daran gearbeitet, indem ich von geistigen Begriffen ausging, die mir durch die Ankunft der Menschen eingegeben wurden. Ich habe nichts gesagt, weil ich mir nicht sicher war.«

»Und jetzt bist du dir sicher«, sagte Webster.

»Nicht ganz«, erwiderte Juwain. »Nicht vollständig. Aber beinahe.«

Sie saßen schweigend zusammen, sahen zu den Bergen hinauf, blickten auf den See. Ein Vogel kam geflogen, setzte sich auf einen Baum und sang. Dunkle Wolken türmten sich hinter den Bergen auf, und die Schneespitzen wurden vor dem Himmel zu gemeißelten Figuren. Die Sonne versank in einem blutroten See, der das sanfte Glimmen eines herabgebrannten Feuers annahm.

Es klopfte, und Webster reckte sich, plötzlich in die Wirklichkeit des Arbeitszimmers zurückgerufen.

Juwain war fort. Der alte Philosoph war gekommen, um eine Stunde mit seinem Freund zu verbringen, und hatte sich dann leise wieder entfernt.

Wieder klopfte es.

Webster beugte sich vor, drückte auf die Taste, und die Berge verschwanden; der Raum wurde wieder zum Zimmer. Die Dämmerung kam durch die hohen Fenster herein, und das Feuer war zu einem schwachen Glühen in der Asche geworden.

»Herein«, sagte Webster.

Jenkins öffnete die Tür. »Das Essen ist fertig, Sir«, sagte er.

»Danke«, sagte Webster. Er erhob sich langsam.

»Ihr Platz ist am Kopfende des Tisches gedeckt, Sir«, sagte Jenkins.

»Ah ja«, erwiderte Webster. »Vielen Dank, Jenkins. Vielen Dank, dass du mich daran erinnerst.«

Webster stand auf der breiten Rampe des Raumflugfeldes und sah dem Gebilde nach, das mit schwach zuckenden Feuerstößen im winterlichen Sonnenlicht entschwand.

Noch endlose Minuten, nachdem es außer Sicht war, stand er da, umklammerte das Geländer, starrte in den Himmel hinauf.

Seine Lippen bewegten sich, und sie formten die Worte: »Leb wohl, mein Sohn«, aber die Worte blieben unhörbar.

Langsam wurde er sich wieder seiner Umgebung bewusst. Er sah, dass sich auf der Rampe Menschen bewegten, sah, dass sich die Landebahn bis an den fernen Horizont erstreckte. Wie Punkte sahen die auf das Startzeichen wartenden Raumschiffe darauf aus. Scooters rollten vor einem Hangar hin und her, räumten den Schnee der letzten Nacht beiseite.

Webster schauderte und fand es merkwürdig, denn die Mittagssonne war warm. Es schauderte ihn wieder.

Langsam drehte er sich um und ging zum Verwaltungsgebäude. Einen fürchterlichen Augenblick lang überfiel ihn Angst – eine unvernünftige und peinliche Angst vor der riesigen Betonfläche. Eine Angst, die ihn verzweifeln ließ, während er seinen Beinen den Befehl zum Gehen gab.

Ein Mann kam auf ihn zu, eine Aktentasche in der Hand, und Webster hoffte verzweifelt, der Mann möge ihn nicht ansprechen.

Der Mann sagte nichts, warf ihm kaum einen Blick zu. Webster fühlte Erleichterung.

Wenn er zu Hause wäre, hätte er jetzt das Essen eingenommen und könnte sich zu seinem Mittagsschlaf zurückziehen. Im Kamin würde das Feuer brennen und der Widerschein der Flammen sich in seinen glänzenden Steinen spiegeln. Jenkins würde ihm ein Glas Kognak bringen und ein paar Worte sagen – Konversation, mehr nicht …

Er eilte zur Tür, beschleunigte seine Schritte, bemüht, der kalten Nacktheit des Platzes zu entkommen.

Seltsam, wie es ihm mit Thomas ergangen war. Gewiss war es nur allzu natürlich, dass es ihm schwerfiel, ihn ziehen zu lassen. Aber völlig unnatürlich, dass er in diesen letzten Minuten grenzenlose Angst in sich aufsteigen gefühlt hatte. Entsetzen vor dem Flug durch den Raum, Entsetzen vor dem fremden Land des Mars – obwohl der Mars längst nicht mehr unbekannt war. Seit über einem Jahrhundert kannten die Menschen ihn, hatten sie mit ihm gerungen und gelebt; manche liebten ihn sogar.

Aber nur übermenschliche Willenskraft hatte ihn in der letzten Minute, bevor das Schiff aufstieg, daran gehindert, auf die Landebahn hinauszulaufen und zu schreien, Thomas möge zurückkommen.

Doch das hatte er selbstverständlich nicht getan. Er hätte sich damit bloßgestellt, vor aller Augen gedemütigt – Dinge, die einem Webster nicht anstanden.

Immerhin, sagte er sich, ein Flug zum Mars war kein großes Abenteuer mehr. Es hatte eine Zeit gegeben, da war es eins gewesen, aber diese Zeit war für immer vorbei. Er selbst hatte in jungen Jahren eine Reise zum Mars gemacht, war fünf Jahre dort geblieben. Das war – er konnte es kaum glauben, wenn er daran dachte –, das war beinahe dreißig Jahre her.

Das Stimmengewirr in der Eingangshalle traf ihn wie ein Schlag, als ein Roboter ihm die Tür öffnete, und durch das Geräuschchaos zog sich ein Grundton, der höchste Not verriet. Er zögerte erst einen Augenblick, dann ging er hinein. Leise schloss sich die Tür hinter ihm.

Er hielt sich an der Wand, um den Leuten aus dem Weg zu gehen, richtete seine Schritte auf einen Sessel in der Ecke. Er setzte sich, drückte seinen Leib tief in die Polster, beobachtete das Menschengewimmel in der Halle.

Schrille Menschen, eilende Menschen, Menschen mit fremden, unfreundlichen Gesichtern. Fremde – jeder Einzelne. Kein Gesicht, das er kannte. Menschen auf Reisen. Unterwegs zu den Planeten. Begierig darauf, endlich fortzukommen. Mit letzten Einzelheiten befasst. Hierhin und dorthin hastend.

Aus der Menge schob sich ein vertrautes Gesicht. Webster beugte sich vor.

»Jenkins!«, rief er laut und schämte sich, obwohl niemand auf ihn geachtet hatte.

Der Roboter kam auf ihn zu.

»Sag Raymond, dass ich sofort heimfahren muss«, sagte Webster. »Er soll augenblicklich den Hubschrauber fertig machen.«

»Tut mir leid, Sir«, erwiderte Jenkins, »aber wir können nicht sofort fliegen. Die Mechaniker haben einen Defekt in der Atomkammer entdeckt. Sie bauen eine neue ein. Es dauert ein paar Stunden.«

»Das hat doch sicher bis später Zeit«, sagte Webster ungeduldig.

»Der Mechaniker meinte, nein, Sir«, erwiderte Jenkins. »Sie kann jeden Augenblick versagen. Die gesamte Energieabgabe …«

»Ja, ja«, sagte Webster, »schon gut.« Er drehte seinen Hut hin und her. »Mir ist eben etwas eingefallen, das ich unbedingt erledigen muss. Es duldet keinen Aufschub. Ich muss nach Hause. Ich kann nicht ein paar Stunden warten.«

Er rutschte auf den Sesselrand vor, starrte die vielen Menschen an. Gesichter … Gesichter …

»Vielleicht könnten Sie anrufen«, schlug Jenkins vor. »Einer der Roboter könnte Ihren Auftrag erledigen. Dort drüben ist eine Zelle …«

»Warte, Jenkins«, sagte Webster. Er zögerte einen Augenblick. »Zu Hause gibt es nichts zu tun. Gar nichts. Aber ich muss heim. Ich kann nicht mehr länger hierbleiben, sonst werde ich wahnsinnig. Ich hatte Angst draußen auf dem riesigen Feld. Ich bin völlig durcheinander. Ich habe ein Gefühl – ein merkwürdiges, schreckliches Gefühl. Jenkins, ich …«

»Ich verstehe, Sir«, sagte Jenkins. »Ihr Vater hatte das auch.«

Webster sah ihn erschrocken an. »Mein Vater?«

»Ja, Sir, deswegen ging er auch nirgendwohin. Er war ungefähr in Ihrem Alter, als es bei ihm begann. Er versuchte, eine Reise nach Europa zu machen, aber er konnte nicht, auf halbem Weg kehrte er um. Er hatte einen Namen dafür.«

Webster blieb lange Zeit stumm. »Einen Namen dafür«, sagte er schließlich. »Natürlich gibt es einen Namen dafür. Mein Vater hatte es. Mein Großvater – hatte er es auch?«

»Das weiß ich nicht, Sir«, erwiderte Jenkins. »Ich bin erst gekommen, als Ihr Großvater schon ein älterer Herr war. Aber es kann sein. Er ging auch nirgendwohin.«

»Dann begreifst du«, sagte Webster. »Du weißt, wie das ist. Ich komme mir vor, als sei ich krank – körperlich krank. Sieh zu, dass du einen Hubschrauber charterst, irgendetwas, damit wir heim können.«

»Ja, Sir«, sagte Jenkins.

Der Roboter machte sich auf den Weg, aber Webster rief ihn noch einmal zurück.

»Jenkins, weiß noch jemand davon? Irgendjemand …«

»Nein, Sir«, sagte Jenkins. »Ihr Vater hat nie davon gesprochen, und ich hatte immer das Gefühl, dass er von mir auch nichts darüber hören wollte.«

»Danke, Jenkins«, sagte Webster.

Er kauerte sich wieder in den Sessel, fühlte sich einsam und verloren. Allein in einem summenden Foyer, in dem das Leben pulsierte – die Einsamkeit packte ihn mit aller Macht, ließ ihn schwach und hilflos werden.

Heimweh. Schlichtes, beschämendes Heimweh, sagte er sich. Etwas, das junge Menschen haben, wenn sie zum ersten Mal ihr Heim verlassen und in die Welt hinausgehen.

Es gab ein ausgefallenes Wort dafür: Agoraphobie, die schreckliche Angst vor weiten Räumen – aus der griechischen Wurzel für Angst – wörtlich, vor dem Marktplatz.

Wenn er es schaffte, den Raum zu der Fernsehzelle zu durchqueren, konnte er anrufen, mit seiner Mutter oder einem Roboter sprechen – oder noch besser, einfach dasitzen und sich alles ansehen, bis ihn Jenkins abholen würde.

Er stand auf, sank jedoch wieder in den Sessel zurück. Es hatte keinen Zweck. Mit jemandem reden und über den Bildschirm in das Haus hineinschauen hieß nicht, dort zu sein. Er konnte nicht die Fichten in der Winterluft riechen, den Schnee nicht unter den Schuhen knirschen hören, nicht die Hand ausstrecken und eine der riesigen Eichen berühren, die im Park standen. Er konnte die Wärme des Feuers nicht spüren oder die verlässliche Gewissheit des Einsseins mit dem Boden und den Dingen darauf.

Und doch – vielleicht half es. Nicht viel, vermutlich, aber doch ein wenig.

Er wollte sich wieder erheben und erstarrte. Die wenigen kurzen Schritte zu der Zelle bargen Entsetzen, ein furchtbares, überwältigendes Entsetzen. Wenn er diese Strecke zurücklegen wollte, musste er dorthin laufen. Schnell laufen, um den wachsamen Augen, den rohen, gewöhnlichen Geräuschen, der peinigenden Nähe fremder Gesichter zu entkommen.

Er ließ sich wieder zurückfallen.

Die schrille Stimme einer Frau zuckte durch den Saal, und er duckte sich. Er fühlte sich todkrank. Wenn sich Jenkins nur beeilen würde …

Der erste Frühlingshauch drang durch das Fenster herein, erfüllte das Arbeitszimmer mit den Versprechungen von schmelzendem Schnee, frischem Laub und leuchtenden Blumen, von Vogelschwärmen, die am blauen Himmel nach Norden zogen, von Forellen, die an tiefen Stellen standen und Fliegen belauerten. Webster hob die Augen von den Blättern auf seinem Schreibtisch, atmete tief durch, spürte den kühlen Windhauch an seiner Wange. Seine Hand griff nach dem Kognakglas, fand es leer, stellte es zurück. Mit kritischem Blick las er die letzten Absätze:

 

Die Tatsache, dass von den zweihundertfünfzig Männern, die ich zu mir eingeladen hatte – fast immer nur in wichtigen Angelegenheiten –, nur drei kommen konnten, beweist nicht unbedingt, dass alle anderen unter Agoraphopie leiden. Manche mögen aus plausiblen Gründen nicht in der Lage gewesen sein, meiner Einladung zu folgen. Aber sie deutet doch auf einen wachsenden Widerwillen der unter den nach dem Zerfall der Städte gültigen Maßstäben aufgewachsenen Menschen, sich von vertrauten Orten zu entfernen, sie verrät eine immer mehr um sich greifende Gewohnheit, in der Umgebung zu verweilen, die sich in ihren Augen mit Zufriedenheit und innerer Erfüllung des Lebens verbindet.

Wozu eine solche Einstellung auf Dauer führen wird, lässt sich nicht klar absehen, da sie vorerst nur bei einem kleinen Teil der Erdbevölkerung festzustellen ist. Bei den größeren Familien zwingt der wirtschaftliche Druck die Söhne, ihr Glück entweder in anderen Teilen der Erde oder auf einem der anderen Planeten zu suchen. Viele suchen freiwillig das Abenteuer im Weltraum, während andere einen Beruf ergreifen müssen, der ein zurückgezogenes Leben nicht zulässt.

Er blätterte um, kam zur letzten Seite.

Er wusste, dass er eine gute Abhandlung geschrieben hatte, durfte sie aber nicht veröffentlichen, noch nicht. Vielleicht war es nach seinem Tod möglich. Niemand hatte, soweit er das beurteilen konnte, bisher diese Entwicklung bemerkt, die Tatsache erkannt, dass die Menschen selten ihr Zuhause verließen. Warum sollten sie das auch tun?

Gewisse Gefahren lassen sich darin erkennen …

Der Televisor murmelte; Webster drückte auf die Taste. Das Zimmer zerfloss, und er sah sich einem Mann gegenüber, der hinter einem Schreibtisch saß, beinahe, als habe er Webster gegenüber Platz genommen. Ein grauhaariger Mann mit traurigen Augen hinter dicken Brillengläsern.

Einen Augenblick lang starrte ihn Webster an.

»Kann es sein …«, fragte er, und der andere lächelte.

»Ich habe mich verändert«, sagte der Mann. »Sie auch. Ich heiße Clayborne. Erinnern Sie sich? Die medizinische Marsmission …«

»Clayborne! Ich habe oft an Sie gedacht. Sie sind damals auf dem Mars geblieben.«

Clayborne nickte. »Ich habe Ihr Buch gelesen, Doktor. Ein überragender Beitrag. Ich habe mir oft überlegt, dass es geschrieben werden müsste, wollte es selbst tun, aber ich hatte keine Zeit dazu. Gut, dass ich nicht dazu gekommen bin, denn Sie haben bessere Arbeit geleistet. Vor allem auf dem Gebiet der Hirnforschung.«

»Das Gehirn der Martianer hat mich immer beschäftigt«, sagte Webster. »Gewisse Eigenheiten. Aber ich fürchte, dass ich in den fünf Jahren zu viel Zeit darauf verwendet habe. Es gab auch anderes zu tun.«

»Zum Glück haben Sie das getan«, sagte Clayborne. »Deswegen rufe ich an. Ich habe einen Patienten – eine Gehirnoperation. Nur Sie können sie durchführen.«

Webster sah ihn entgeistert an; seine Hände begannen zu zittern. »Sie bringen ihn hierher?«

Clayborne schüttelte den Kopf. »Er ist nicht transportfähig. Sie kennen ihn, soviel ich weiß. Juwain, der Philosoph.«

»Juwain!«, sagte Webster. »Er ist einer meiner besten Freunde. Wir haben erst vor ein paar Tagen miteinander gesprochen.«

»Der Anfall kam ganz plötzlich«, sagte Clayborne. »Er hat nach Ihnen verlangt.«

Webster blieb stumm. Kälte kroch in ihm hoch, Kälte, die seinen ganzen Körper erstarren ließ. Kälte, die Schweiß auf seine Stirn trieb, seine Fäuste verkrampfte.

»Wenn Sie sofort starten«, sagte Clayborne, »können Sie es noch rechtzeitig schaffen. Ich habe mit dem Weltkomitee vereinbart, dass Ihnen sofort ein Schiff zur Verfügung gestellt wird. Es muss so schnell wie möglich geschehen.«

»Aber«, sagte Webster, »aber … ich kann nicht kommen!«

»Sie können nicht kommen?«

»Ausgeschlossen«, sagte Webster. »Ich bezweifle überdies, dass ich tatsächlich gebraucht werde. Sie selbst können doch sicher …«

»Nein«, sagte Clayborne. »Niemand kann das außer Ihnen. Niemand sonst besitzt das erforderliche Wissen. Sie halten Juwains Leben in Ihren Händen. Wenn Sie kommen, bleibt er am Leben, wenn nicht, stirbt er.«

»Ich kann nicht in den Weltraum«, sagte Webster.

»Jeder kann in den Weltraum«, erwiderte Clayborne scharf. »Es ist nicht mehr so wie früher.«

»Aber Sie verstehen ja nicht«, flehte Webster. »Sie …«

»Nein, allerdings nicht«, gab Clayborne kalt zurück. »Offen gestanden, nein. Dass sich jemand weigert, das Leben seines Freundes zu retten …«

Die beiden Männer starrten einander schweigend an.

»Ich teile dem Komitee mit, dass das Schiff direkt zu Ihnen geschickt werden soll«, erklärte Clayborne schließlich. »In der Zwischenzeit können Sie sich hoffentlich zum Start entschließen.«

Clayborne verschwand, und die Wand kam wieder zum Vorschein – die Wand und die Bücher, der Kamin und die Bilder, die geliebten Möbel, die Verheißung des nahenden Frühlings, die durch das offene Fenster hereinwehte

Webster saß wie versteinert in seinem Sessel, starrte die Wand vor sich an.

Juwain, das bepelzte, runzelige Gesicht, das zischende Flüstern, Freundschaft und Verstehen. Juwain, tastend nach dem Stoff suchend, aus dem Träume sind, sie in Logik, zu Lebens- und Verhaltensregeln wandelnd. Juwain, der die Philosophie als Werkzeug, als Wissenschaft, als Stufe zu einem besseren Leben betrachtete.

Webster vergrub das Gesicht in den Händen und kämpfte gegen die Todesfurcht, die ihn bis in sein Innerstes erfasst hatte.

Clayborne hatte ihn nicht begriffen. Das konnte auch niemand von ihm erwarten, denn er kannte ja den Grund für seine Ablehnung nicht. Und wenn er ihn gekannt hätte, würde er ihn dann akzeptieren? Selbst ihm, Webster, wäre es bei einem anderen nicht gelungen, bis er die Furcht in sich selbst entdeckt hatte – die entsetzliche Furcht davor, Heim und Herd zu verlassen, seinen Besitz, die kleinen Symbole der Erinnerung und Vertrautheit, die er überall aufgestellt hatte. Doch nicht nur er allein, auch die anderen Webster. Beginnend mit dem ersten John J., waren es Männer und Frauen, die ein kultiviertes Leben, traditionelle Werte entwickelt hatten.

Er, Jerome A. Webster, war als junger Mann zum Mars geflogen und hatte das vererbte Gift in seinen Adern weder gespürt noch geahnt. Wie auch Thomas vor wenigen Monaten zum Mars geflogen war. Aber dreißig Jahre eines ruhigen Lebens in der Zuflucht, die alle Websters ihr Zuhause nannten, hatte es ans Tageslicht gefördert, hatte es ohne sein Zutun zur Wirkung kommen lassen. Es hatte keine Gelegenheit gegeben, es früher zu entdecken.

Nur allzu klar war, wie es sich entwickelt hatte – klar wie Bergkristall. Gewohnheit, geistige Einstellung und eine glückliche Verbindung mit bestimmten Dingen – Dingen, die an sich keinen Wert besaßen, aber ihn mit der Zeit bekommen hatten, einen konkreten, eindeutigen Wert, geprägt durch eine Familie, über fünf Generationen hinweg.

Kein Wunder, dass alles andere fremdartig erschien, kein Wunder, dass andere Horizonte furchterregend wirkten.

Und es gab nichts, was man dagegen tun konnte – nichts, wenn man nicht jeden Baum fällen, das Haus niederbrennen und den Lauf der Flüsse und Bäche verändern wollte. Und selbst das würde nicht genügen, selbst das …

Der Televisor schnurrte; Webster griff nach dem Gerät und schaltete es ein.

Das Zimmer wurde gleißend hell, aber kein Bild zeigte sich. Eine Stimme sagte: »Geheimer Anruf. Geheimer Anruf.«

Webster schob ein Türchen in dem Gerät zur Seite, drehte einige Knöpfe, hörte eine Abschirmung summen, die das Zimmer blockierte.

»Geheimhaltung gesichert«, sagte er.

Das gleißende Licht erlosch, und ein Mann saß ihm gegenüber. Ein Mann, den er oft im Fernsehen, auch in seiner Tageszeitung gesehen hatte.

Henderson, der Präsident des Weltkomitees.

»Clayborne hat mich angerufen«, sagte Henderson.

Webster nickte stumm.

»Er behauptet, dass Sie sich weigern, zum Mars zu fliegen.«

»Ich habe mich nicht geweigert«, erwiderte Webster. »Als Clayborne abschaltete, war die Frage noch offen. Ich hatte ihm erklärt, dass es mir unmöglich sei, aber damit fand er sich nicht ab, er schien es nicht zu begreifen.«

»Webster, Sie müssen fliegen«, sagte Henderson. »Sie sind der einzige Mensch, der das nötige Wissen hat, um diese Operation auszuführen. Wenn die Operation einfach wäre, könnte sie auch ein anderer machen. Aber nicht diese.«

»Das mag ja sein«, sagte Webster, »aber …«

»Es handelt sich nicht nur darum, ein Leben zu retten«, erklärte Henderson. »Auch wenn es um das Leben einer so bedeutenden Persönlichkeit wie Juwain geht. Es steht viel mehr dabei auf dem Spiel. Juwain ist Ihr Freund. Vielleicht hat er Ihnen Hinweise auf seine Entdeckung gegeben.«

»Ja«, sagte Webster. »Ja, das hat er. Eine neue Philosophie.«

»Eine Philosophie«, ergänzte Henderson, »die wir nicht entbehren können. Eine Philosophie, die das Solarsystem umgestalten und die Menschheit im Laufe von zwei Generationen um hunderttausend Jahre vorwärtsbringen wird. Ein neuer Weg zu einem Ziel, das wir bislang nicht einmal erahnt, von dessen Wichtigkeit, von dessen Vorhandensein wir nichts gewusst haben. Eine völlig neue Erkenntnis, verstehen Sie. Eine, hinter die bisher noch niemand gekommen ist.«

Websters Hand umklammerte die Tischplatte, bis seine Knöchel weiß hervortraten.

»Wenn Juwain stirbt«, sagte Henderson, »stirbt dieses Konzept mit ihm. Es könnte auf ewig verlorengehen.«

»Ich werde mich bemühen«, flüsterte Webster. »Ich werde es versuchen …«

»Mehr können Sie nicht zusichern?«, fragte Henderson eisig.

»Mehr nicht.«

»Aber Sie müssen doch einen Grund haben, Mann! Irgendeine Erklärung.«

»Keine, die ich darlegen möchte«, erwiderte Webster.

Er griff nach der Taste und schaltete das Gerät ab.

Webster saß am Schreibtisch und starrte seine Hände an. Hände, die geschickt waren, die Wissen besaßen. Hände, die ein Leben retten konnten, wenn er sie auf den Mars bringen konnte. Hände, die für das Sonnensystem – für die Menschheit, für die Marsbewohner – eine Idee, eine neue Idee bewahren konnten, die sie in den beiden nächsten Generationen hunderttausend Jahre voranbringen würde.

Aber auch Hände, durch eine Angst gefesselt, die aus diesem stillen Leben erwachsen war. Dekadenz – eine seltsam schöne und tödliche Dekadenz.

Der Mensch hatte die übervölkerten Städte, die Zufluchten, vor zweihundert Jahren aufgegeben. Er war fertig mit den alten Gegnern und den uralten Ängsten, die ihn an ein gemeinsames Lagerfeuer gefesselt hatten, hatte die bösen Geister hinter sich gelassen, die er auf dem Weg aus den Höhlen so lange nicht losgeworden war.

Und doch … und doch …

Hier hatte er eine neue Zuflucht errichtet. Kein Versteck für den Körper, aber ein Versteck für den Geist. Ein psychologisches Lagerfeuer, das niemanden aus seinem Bannkreis entließ.

Aber Webster wusste, dass er dieses Feuer verlassen musste. Wie die Menschen es vor zwei Jahrhunderten mit den Städten gemacht hatten, musste er heute aufstehen und davongehen. Und er durfte sich nicht umdrehen und zurückblicken.

Er musste zum Mars – oder jedenfalls die Reise dahin antreten. Darüber gab es keinen Zweifel. Er musste fort.

Ob er die Reise überleben würde, ob er nach seiner Ankunft dort die Operation auszuführen in der Lage war, wusste er nicht. Er fragte sich, ob Agoraphobie zum Tod führen konnte. In ihrer krassesten Form würde sie das wohl.

Er streckte die Hand aus, um zu läuten, zögerte dann aber. Es hatte keinen Sinn, Jenkins packen zu lassen, er musste es selber tun – damit er beschäftigt war, bis das Schiff eintraf.

Vom oberen Fach des Kleiderschranks im Schlafzimmer nahm er eine Tasche und stellte fest, dass sie staubig war. Er blies, aber der Staub löste sich nicht. Er hatte schon zu lange darauf gelegen.

Während er packte, stritt das Zimmer mit ihm, sprach mit jener leisen Stimme, mit der leblose, aber vertraute Dinge einen Menschen anreden.

»Du kannst nicht gehen«, sagte das Zimmer. »Du kannst nicht weggehen und mich alleinlassen.«

Und Webster erwiderte, halb flehend, halb erklärend: »Ich muss aber. Verstehst du das denn nicht? Es geht um einen Freund, um einen alten Freund. Ich komme wieder.«

Als er mit dem Packen fertig war, kehrte er in sein Arbeitszimmer zurück und ließ sich in den Sessel sinken.

Er musste fort, und doch konnte er es nicht. Sobald jedoch das Schiff kam, sobald es Zeit wurde, wusste er, dass er das Haus verlassen und auf das wartende Schiff zugehen würde.

Er stählte sich in Gedanken, versuchte, sich darauf einzustellen, versuchte, alles andere auszuschließen.

Die Dinge im Zimmer stürmten auf ihn ein, als seien sie Teil einer Verschwörung, bemüht, ihn zurückzuhalten. Dinge, die er zum ersten Mal zu sehen schien. Alte, vertraute Dinge, die plötzlich neu wirkten. Das Chronometer, Erd- und Marszeit anzeigend, die Tage des Monats, die Mondphasen. Das Bild seiner verstorbenen Frau auf dem Schreibtisch …

Die Dämmerung brach herein, die Dämmerung des ersten Frühlings, nach Weiden duftend.

Das Schiff hätte längst da sein müssen. Er ertappte sich dabei, dass er darauf wartete, auch, als ihm klarwurde, dass er es nicht hören würde. Ein Schiff, das von Atommotoren angetrieben wurde, flog lautlos, wenn es nicht gerade beschleunigte. Bei Landung und Start schwebte es wie Flaum dahin.

Das Schiff musste bald kommen, sonst konnte er nicht fort. Wenn das Warten noch lange dauerte, würde seine Entschlossenheit, die so schwer erkämpfte, in sich zusammensinken wie ein Staubhäufchen im Regen. Er konnte sich nicht mehr lange gegen das Flehen des Zimmers wehren, gegen das Flackern des Kaminfeuers, gegen das Murmeln des Landes, auf dem fünf Generationen Websters ihr Leben gelebt hatten und gestorben waren.

Er schloss die Augen und kämpfte die Kälte nieder, die in ihm hochsteigen wollte. Er durfte sich jetzt nicht gehenlassen, sagte er sich. Er musste durchhalten. Sobald das Schiff ankam, musste er in der Lage sein, aufzustehen und zur Tür hinauszu gehen.

Jemand klopfte an die Tür.

»Herein«, sagte Webster.

Es war Jenkins; der Widerschein des Feuers glitzerte auf seiner Metallhaut. »Hatten Sie schon einmal gerufen, Sir?«, fragte er.

Webster schüttelte den Kopf.

»Ich hatte befürchtet, Sie würden läuten und sich fragen, warum ich nicht komme«, fuhr Jenkins fort. »Es ist etwas sehr Merkwürdiges vorgefallen, Sir. Zwei Männer kamen mit einem Raumschiff und sagten, Sie müssten zum Mars fliegen.«

»Sie sind hier«, sagte Webster. »Warum hast du mich nicht gerufen?« Er raffte sich mühsam auf.

»Ich nahm nicht an, Sir, dass Sie belästigt werden wollen«, sagte Jenkins. »Es war einfach albern. Ich habe ihnen schließlich klargemacht, dass Sie keinesfalls zum Mars fliegen würden.«

Webster erstarrte, spürte, wie nackte Angst sein Herz umklammerte. Er tastete mit den Händen nach dem Tisch, setzte sich in den Sessel, spürte, wie sich die Wände des Zimmers um ihn schlossen, eine Falle, die ihn nie mehr freigeben würde.