NEUN


 

 

Sie überquerten den Hof, gingen vorbei an Scudders Hühnern, die im Staub scharrten. Er ging mit ihr zu den Felsen hinunter, nicht wegen ihrer Strenge, sondern weil er den Anblick der Frontseite mit der kiesbestreuten Zufahrt und seinem Wagen halb auf dem Rasen, die Tür noch offenhängend, nicht ertragen konnte. Sie setzten sich auf eine Felsbank. Das Meer war sehr blau. Der Himmel auch. Die Schafinsel war sehr grün.

Sie legte den Arm um seine Taille und zog ihn an sich. Er widerstrebte nicht, und sie legte den Kopf an seine Schulter.

»Armer Pete.«

»Armer Scudder.« Er runzelte die Stirn. »Nein. Das ist nicht wahr.« Sie ließ ihn darüber nachdenken. Schließlich sagte er: »Scudder ist wirklich. Ein wirklicher Mann mit einem wirklichen Verbrechen. Die Herstellung von Bomben ist wirklich, oder nicht?«

Sie konnte nicht wissen, was er meinte, wen er tröstete. Aber sie ersparte ihm unnötige Zustimmung.

»Armer Pete«, sagte sie wieder.

»Ja.«

Sie saßen eine Weile. Es war leicht. Mein Gott, wie leicht.

Sie sagte: »Was ist mit Maudie?«

Er dachte an Maudie. Das Höchste. »Sie nahm es sehr schwer. Gibt natürlich mir die Schuld. Muß sie. Es macht sie sehr verbittert.«

»Aber sie wußte, daß etwas nicht stimmte. Deshalb ließ sie dich kommen.«

»Das hat sie dir erzählt?«

»Natürlich nicht. Deshalb mag ich sie.«

Es schien ihm ein seltsamer Grund zu sein, aber er ließ es hingehen. »Ich fürchte, sie hat erheblich mehr bekommen als sie erwartete.«

Grace nahm seine Hand, drückte sie an sich. »Du mußtest es tun, nicht wahr, Pete? Es gab nichts anderes?«

»Vielleicht gab es etwas anderes. Mir ist es nicht eingefallen.«

Sie entspannte sich. Wahrscheinlich hatte die Frage gestellt werden müssen. »Was werden sie mit Scudder machen?« fragte sie.

»Alles. Gefängnis. Nichts, eigentlich. Es ist nicht wichtig.« Er zögerte. »Wir haben miteinander gesprochen. Er und ich – wir haben viel miteinander gesprochen.«

Das war nicht viel von einer Erklärung. Kümmerlich, um die Wahrheit zu sagen. Aber es war alles, was er zuwege bringen konnte. Sie mußte sich ihren eigenen Reim darauf machen.

Er dachte an Maudie, oben in der Schulman-Villa. Das Haus gehörte ihr, solange sie lebte; Scudder hatte dafür gesorgt. Sie würde es überstehen. Im Moment war sie die durch etwas dem Tod Ähnliches beraubte Ehefrau. Scudder war ihre schlechte Gewohnheit: sie würde ihn vermissen. Aber dann würde sie sich wieder ihren Spielen zuwenden. Und mit Dr. Bessermans Hilfe würde sie alles sehr gut überstehen.

Er rückte auf dem harten Felsgestein. Wenn er nur wüßte, welchem ihrer vielen Spiele sie sich in dieser Minute zugewandt hatte.

Grace drückte seine Hand fester an sich. »Was nun?« fragte sie.

Er hatte sie über etwas nachdenken lassen. Vielleicht bestand ihre Weisheit bloß darin, lange Pausen zuzulassen. »Du meinst mich?«

Sie nickte.

»Ich habe nicht darüber nachgedacht.« Lügner! »Es ist alles ein bißchen plötzlich. Weißt du was?«

»Du könntest immer noch bleiben.«

Er könnte immer noch bleiben. Die Landzunge. Kontinuität. Nur hatte er keine Arbeit mehr, aber das zu erklären, fühlte er sich jetzt nicht imstande. Immerhin würde der Staat nachsichtig mit ihm sein, während er sich um etwas bemühte. Es kam darauf an, zu wissen, was man wollte, und dabei zu bleiben.

Eine ihrer Pausen. Dann: »Bei mir.«

Zuerst gelang ihm die Gedankenverbindung nicht.

»Nur für eine Weile, Pete, bis du dich gefangen hast. Ich meine, mit deiner Mutter oben in ihrem Haus wirst du etwas brauchen, wo …«

Sie verstummte. Er lächelte traurig. Sie hatte recht – mit seiner Mutter oben in ihrem Haus würde er wirklich etwas brauchen, wo er … Und, wenn das so war, wo besser als bei Grace? Er erinnerte sich ihres Beisammenseins. Nicht bloß ein gelungenes Abenteuer. Nein, viel mehr als das. Vier Tage kannte er sie: vier Tage voller Ängste, Unschlüssigkeiten, Erbärmlichkeiten. Und in diesen Tagen war jeder mit ihr verbrachte Augenblick eine Oase gewesen …

»Ich liebe dich wirklich«, sagte sie.

Schöne Worte. Aber in ihm versteifte sich etwas, beunruhigt über einen anderen Zusammenhang. »Was sagtest du gerade über meine Mutter?«

»Was ich sagte? Daß ich sie mag. Was ist daran falsch?«

»Und aus dem gleichen Grund?« Dem gleichen seltsamen Grund, der nicht länger übergangen werden konnte.

Sie starrte, rückte von ihm ab. »Ich habe etwas Falsches gesagt. O Gott, ich habe etwas Falsches gesagt.«

»Spiele.« Er war unfair, peinigte sie zu unrecht. Aber er konnte nicht an sich halten: »Maudies Lieblingsspiel ist Nichtkommunikation, nie offen über etwas zu sprechen. Meinst du, das sei auch mein Spiel gewesen?«

Sie war den Tränen nahe. Er drängte weiter. »Erzähl mir noch mal von deinem Vater!«

»Meinem Vater?« Sie drückte sich die Hände gegen den Kopf. »Er … er dachte, er wolle Kinder haben. Was er wirklich wollte, waren kleine Duplikate von sich selbst. Als ich daherkam, da …«

»Und wie ist das mit den langen Ferienaufenthalten?« Dies war ein neuer Gedanke, einer, den er vielleicht gemieden hatte. »All diese Tage hier oben auf der Landzunge – was fängst du mit dir an?«

Der Wechsel der Angriffsrichtung verwirrte sie. Sie bedeckte ihre Ohren. »Ich habe Freundinnen, Freunde – im ganzen Land. Wir kommen über Video-Einblendungen zusammen. Plaudern, weißt du. Und dann gibt es die Spiele.«

»Die Spiele?« Er brüllte es beinahe.

Sie krümmte sich von ihm fort. »Ich bin sicher, daß ich es dir gesagt habe. Ich … ich mache in langlebigen Konsumgütern. Haushaltsgeräten und dergleichen …«

Sein Zorn verflog. Er fühlte den Wind kalt im Gesicht, unter seinem Hemd rann der Schweiß sauer an ihm herab. Er sah sie an, plötzlich beschämt. Völlig gedemütigt von der grellen Vision seiner selbst, die sie ihm gab. Er beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und barg das Gesicht in den Händen.

»Pete? Pete – was ist los? Etwas ist nicht in Ordnung. Willst du es mir nicht sagen?«

Wie könnte er? Es war sein Fehler. Sie hatte gesagt, daß sie ihn liebe, also hatte er sie angegriffen, Vorwände gesucht, die ihm erlaubten, nichts für sie zu fühlen. Natürlich hatte sie über ihren Vater gelogen – und er hatte es durch Unterlassung auch getan. Natürlich nahm sie an den Spielen teil – genauso wie er es bis zu diesem Tag getan hatte. Er hatte an ihre Gemeinsamkeit gedacht, und an sein Vorstellungsbild davon: wenn er ehrlich sein wollte, war sein Vorstellungsbild davon das Shakewell-Haus, ihre Mutter, das Leben auf der Landzunge gewesen, und dies das größte Spiel von allen. Wenn das Gemeinsamkeit war, dann konnte er sie mit Grace nur teilen: ihre Mutter konnte er belasten. Ihre Mutter, seine Mutter … seine Mutter Alice Shakewell und sogar, für kurze Zeit, seinen Vater Dr. Besserman. Spiele. Nicht bloß ein gelungenes Abenteuer für eine Nacht. Nein, viel mehr als das. Bis zuletzt, um der Wahrheit willen und längst überfällig, das Wort Liebe ihm im Halse steckengeblieben war, selbst das Wort … Dies alles, so gewunden, so eigennützig, wie sollte er es ihr erklären?

Er richtete sich auf. »Würdest du einem Betrüger glauben?« sagte er. »Einem lebenslangen Betrüger?«

»Nein!«

Er neigte sich zu ihr, legte zwei Finger an ihren Mund. »Nimm’s leicht, mein Liebes! Ermutige mich nicht. Keine billige Dramatik. Ganz leicht und ungezwungen … Okay?«

Tränen standen ihr in den Augen. Sie bewegte sich nicht. Worte gingen ihm durch den Sinn, fromme Worte, salbungsvolle Worte, daß sie sich keine Vorwürfe machen solle, wie schön sie sei, wieviel Gutes sie zusammen gehabt hätten, was für feine Kinder sie Hartford schenken würde … Er sagte: »Es tut mir leid.«

Vielleicht würde sie, in einer ihrer langen weisen Pausen, selbst den Rest herausbringen. Er hoffte es.

Er stand auf. Die See war noch immer blau. Auch der Himmel. Und die Schafinsel war grün. Er berührte ihre Schulter, leicht und ungezwungen. »Du mußt das Gefühl haben, wichtig zu sein.« Gott. Der verdammte Weise auf dem verdammten Berggipfel. Trotzdem: »Wir brauchen das alle.«

Dann ging er schnell fort, bevor sie ihm ins Gesicht spucken konnte.

Und er hatte immer noch Maudie. Maudie, die ihn gebeten hatte zu kommen. Es war hübsch, gebraucht zu werden. Er ging über den Hof, vorbei an Scudders Hühnern – nicht Maudies, und bald würden sie jetzt zu Mahlzeiten verarbeitet werden –, und betrat die Küche. Sie war nicht da. Halb in Erwartung, aber mehr noch in der Befürchtung, sie wie zuvor allein mit dem ausgeschalteten Fernseher im italienischen Wohnzimmer zu finden, ging er hinüber.

»Mutter?«

Der Raum war leer. Er durchsuchte das Haus, rief manchmal »Mutter?« und manchmal, mit Rücksicht auf ihre Gefühle »Maudie?« Die Suche dauerte lange und blieb gleichwohl ergebnislos. Dafür fand er Ev Scannel, der über der zersplitterten Tür auf der Treppe zum Dachgeschoß saß und sich mit einem der Splitter zwischen den Zähnen stocherte. Er hatte Ev Scannel ganz vergessen.

Ev war nicht sehr hilfreich. Er hatte Maudie Laznett nicht gesehen. Er hatte kein verdammtes Aas gesehen.

Pete fand das Verschwinden seiner Mutter seltsam. Als er sie zuletzt gesehen hatte, da hatte sie nicht den Eindruck gemacht, daß sie irgendwohin gehen wollte. Wieder unten in der Eingangshalle, suchte er Millie Carters Nummer in dem Buch auf der Kommode und rief sie an.

Gaston meldete sich. »Hier Wohnsitz Carter.«

»Pete Laznett hier. Ich überlegte, ob …«

»Peter! Mein lieber Junge, wann werden wir das Vergnügen haben. Sie bei uns zu sehen? Sie haben mich gerettet, wissen Sie das? Ich sah meine Felle schon davonschwimmen, wahrhaftig. Aber …«

»Ist meine Mutter dort?«

»Ihre Mutter …? Das muß Maud sein, nehme ich an. Hab Sie nicht gesehen … Aber warten Sie. Ich werde Mildred rufen.«

Es klickte. Pete trommelte mit den Fingern auf die Kommode. Er war nicht besorgt. Er hatte keine Ursache.

»Pete? Pete mein Lieber – ich hörte die Streifenwagen. Wir alle hörten sie. Um Gottes willen, Pete, was ist da drüben passiert?«

Anderswo wären die Leute auf der Straße zusammengelaufen, um zu gaffen.

»Es ist … es ist alles ziemlich kompliziert.« Das konnte man wohl sagen. »Im Moment hätte ich gern ein Wort mit meiner Mutter gesprochen.«

»Gütiger Himmel – sie ist nicht bei dir?«

Er zählte bis fünf. Dann sagte er schnell: »Es ist wirklich nicht so wichtig.« Das letzte, was er wollte, war Millie Carter im Genick, Gott mit ihr. »Aber wenn sie nicht bei Ihnen ist, haben Sie vielleicht eine Ahnung, wohin sie gegangen sein könnte.«

»Ja, nun, Pete mein Junge, laß mich mal überlegen … natürlich, die Staces … Nein, doch wohl nicht; Amy Benson Stace sitzt heutzutage ein bißchen auf dem hohen Roß, wegen dieser kleinen …«

»Es ist nicht so wichtig. Tut mir leid, daß ich Sie gestört habe. Vielleicht macht sie bloß einen Spaziergang.«

»Maudie? Pete, wenn du das sagen kannst, dann kennst du Maudie Laznett nicht. Aber warum solltest du auch? Siebzehn Jahre sind eben eine lange Zeit und …«

»Wie ich sagte, Mrs. Carter, es tut mir leid, daß ich Sie gestört habe. Die Sache ist wirklich nicht so wichtig.«

»Natürlich ist es wichtig. Irgend etwas geht da vor. Ich spüre es. Sieh mal, Pete mein Lieber, ich könnte ohne weiteres auf einen Sprung hinüberkommen, jederzeit, du weißt …«

»Nein … Ich meine, das ist nett von Ihnen, Mrs. Carter, aber …«

»Was heißt nett? Maudie und ich sind Freundinnen. Es ist dieser Scudder, nicht wahr? Ich habe immer gewußt, daß er eines Tages …«

Pete war nahe daran, aufzulegen. Wenn er es aber täte, würde sie sich erst recht nicht davon abhalten lassen, herüberzukommen. Lieber Gott, beschütze uns vor unseren Freunden! »Mrs. Carter, wenn ich Sie brauche, werde ich Sie anrufen. Ich verspreche es. In Ordnung?«

»Natürlich, Pete, wenn du meinst. Wenn du es sagst. Aber …«

Er unterbrach die Verbindung, blieb eine kleine Weile stehen und starrte die Wand an. Bisher war er nicht besorgt gewesen, jetzt aber war er es. Er rief die Staces an, für alle Fälle. Maudie war nicht dort. Kurz angebunden und scharf kam es heraus, Amy Benson Stace. Sehr auf dem hohen Roß.

Er dachte daran, Alice Shakewell anzurufen, zögerte, wußte, daß auch sie sich sorgen würde, rief sie dann trotzdem an. Das Signal schrillte und schrillte. Vielleicht war sie im anderen Zimmer mit ihrem Mozart beschäftigt und wollte sich nicht stören lassen. Und wenn sie mit ihrem Mozart beschäftigt war, dann war Maudie nicht bei ihr. Er gab auf. Es gab auf der Landzunge ein Dutzend anderer Häuser, wo er es versuchen könnte, ein Dutzend anderer Namen, die er heraussuchen könnte, wenn er die Anstrengung auf sich nehmen wollte. Die Pearsons und die Carpenters. Sadie Platt, deren Anbau unter dem Luftdruck zu einem Bretterhaufen zusammengestürzt war … Aber als er daran dachte, wie seine Mutter auf dem Sofa vor dem abgeschalteten Fernseher gesessen hatte, glaubte er nicht, daß sie zu irgend jemand von diesen Leuten gegangen sein konnte.

Er ging hinaus auf die Veranda. Die Zufahrt lag verlassen da. Lange dunkle Streifen zeigten, wo die Räder der Streifenwagen durchgedreht und den Kies verspritzt hatten. Sein eigener Wagen wartete noch, halb auf dem Rasen. Er ging hinunter, setzte zurück und parkte den Wagen ordentlich unter den Bäumen. Nach dem Aussteigen schloß er die Tür hinter sich. Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel, das Haus erhob sich mächtig vor ihm, schattenlos und feindselig. Es fiel ihm nicht leicht, wieder in seine Stille einzutreten.

Er kehrte zur Küche zurück. Mechanisch füllte er die Kaffeemaschine – was, zum Teufel, wollte er mit Kaffee? – und hielt Ausschau nach seiner Tasse auf dem Tisch, wo er sie zurückgelassen hatte, als Grace gekommen war. Grace – er hatte Grace vergessen. Womöglich saß sie noch immer dort unten auf der verdammten Felsbank und weinte den Kindern nach, zu denen sie und er nicht geeignet waren … Die Tasse war nicht da.

Endlich sah er, daß sie gespült und abgetrocknet mit ihren fünf Gefährten an der Wand hing. Ein Frösteln überlief ihn. In solch einem Ordnungsbewußtsein war etwas Mißbilligendes, sogar Unheimliches. Man hatte ihr Scudder weggenommen, und den Sohn, den sie vielleicht nie gehabt hatte, und doch konnte Maudie … Er hielt inne, blickte unbehaglich umher. Etwas war anders. Einen Augenblick lang war er nicht sicher, was es war, dann wurde es ihm klar: einer der Küchenstühle war fort. Angenehm altmodisch, mit Sprossenlehnen und Sitzen aus Rohrgeflecht. Er war sicher, daß immer vier um den Tisch gestanden hatten. Sechs Tassen an der Wand und vier Stühle um den Tisch. Nun waren es drei.

In einem anderen Haus, mit einer anderen Hausfrau, hätte er das Fehlen des Stuhles als bedeutungslos abgetan, als eine bloße Neuanordnung. Aber in Maudie Laznetts Haus, im Haus Winston Schulmans III., standen die vier hochlehnigen alten Stühle um den dazu passenden alten Tisch. Immer.

Er furchte die Stirn. Wo er den fehlenden Stuhl finden würde, dort würde er auch seine Mutter finden. Er verfolgte diesen Gedanken nicht sehr weit, sondern machte sich an die Suche. Wäre der Stuhl in einem der anderen Räume gewesen, so hätte er ihn bereits bemerkt. Deshalb ging er hinaus auf den Hof und durchsuchte die Nebengebäude. Angelgeräte, ein paar verstaubte Surfbretter, Schnorchel und Flossen für Sporttaucher, Sonnenschirme für den Strand, Golfschläger, Tennisschläger, ein kleines Segelboot, verschiedene Drachen, ein Gartengrill, zwei alte Außenbordmotoren, die verrottenden Überreste einer großen Markise, ein Gestell zum Abbrennen von Feuerwerkskörpern, eine fahrbare Bartheke, ungezählte Klappliegestühle … Der gesamte Freizeitaufwand früherer Schulman-Generationen, aber kein Küchenstuhl. Und keine Maudie.

Er ging wieder hinüber in die Küche. Statt ihn zu beruhigen, hatte die Vergeblichkeit seiner Suche zu einer Zunahme seiner Besorgnis geführt. Er stützte sich auf den Tisch und versuchte nachzudenken. Wohin konnte seine Mutter gegangen sein, beladen mit einem Stuhl, der keineswegs leicht war? Und wie weit? In den Keller? Wahrscheinlich hatte die Villa einen – die meisten der größeren Häuser auf der Landzunge hatten Keller. Er hatte keine Kellertür gesehen, aber … Sein Blick wanderte langsam durch die Küche.

Und plötzlich wußte er es.

Der Vorratskeller der Schulman-Villa war groß, angelegt für einen vielköpfigen Haushalt in einem Raum, welcher in früherer Zeit einmal der Anrichteraum des Butlers gewesen sein mochte. Später hatte man Regale eingebaut, die Wände mit Schutzverkleidungen aus Blei versehen und einen Vorratsraum daraus gemacht. Die eingelagerten Lebensmittel wurden durch eine gleichfalls installierte Anlage zur Gammabestrahlung konserviert. Wie die Vorschriften es verlangten, war die Anlage mit einem Schalter im Mechanismus der Tür gekoppelt; die Tür konnte von innen nicht geschlossen werden, und eine einfache Sicherheitsvorrichtung verhinderte, daß die Gammabestrahlung bei geöffneter Tür eingeschaltet wurde. Unter normalen Bedingungen war die Anlage völlig narrensicher.

Die Einfachheit der Sicherheitsvorrichtung brachte es jedoch mit sich, daß man sie mit ebenso einfachen Mitteln außer Kraft setzen konnte. Dazu war nicht mehr nötig als ein paar Meter kräftigen Bindfadens, der mit einer Schlinge um die äußere Türklinke gebunden und hineingeführt wurde. Die weiche Gummidichtung der Tür ließ dies ohne weiteres zu.

Maudie saß mitten im Raum, der Tür gegenüber, die Hände im Schoß gefaltet. Selbst im Tod war ihr Kopf aufrecht, und die weit geöffneten Augen blickten ihn in starrer Ruhe an. Pete hatte die Tür behutsam geöffnet, und das Ende der Schnur lag noch auf ihren Knien. Die Regale ringsum waren fast leer. Sie und Scudder hatten wenig an Langzeitvorräten benötigt. Ein paar Kartons Milch, einige Dutzend Eier, frisches Gemüse, Butter und Käse, ein paar Portionen Fleisch … und vier Makrelen auf einem Regal in der Ecke; ihre Schuppen glänzten matt im kalten Schein der Leuchtstoffröhre.

Pete stand in der offenen Tür. Er versuchte es mit Lachen. Er versuchte es mit Zorn. Er versuchte es mit Kummer. Nichts paßte. Wenigstens hatte seine Mutter es sich bequem gemacht.

Er starrte sie an. Warum? Um Himmels willen, warum? Eine letzte Geste des Trotzes gegen ihn, der sie als erster finden mußte? Theatralisch genug war es, ohne Zweifel. Aber Maudie hatte letzte Gesten nicht nötig gehabt. Die trotzige Herausforderung, die sie ihm und der ganzen Welt entgegengebracht hatte, war eine Lebenseinstellung gewesen. Sie hatte sich als eine zielstrebige alte Dame erwiesen.

Und außerdem mußte sie ihn besser gekannt haben. Denn jede Geste, die gegen ihn hätte wirksam sein sollen, hätte weniger bizarr sein, weniger von schwarzem Humor haben müssen. Allmächtiger Gott, wenn er wollte, könnte er sie für alle Zeit hier drinnen aufbewahren, einfach so … wenn auch weniger ordentlich. Derselbe Stuhl, ein Strick, baumelnde Füße, eine purpurn zwischen den Zähnen hervorquellende Zunge – das hätte das Lächeln aus seinem Gesicht gewischt, das Lächeln, dessen sie ihn immer beargwöhnt hatte, das Lächeln, das er nie gehabt hatte.

Weniger ordentlich … Er dachte an die Tasse, gespült und abgetrocknet, und zu ihren fünf Gefährten an die Wand gehängt. Am Ende doch keine Mißbilligung – schierer Egoismus, das – und überhaupt nicht unheimlich. Einfach die Tat einer Frau, die, gewohnheitsmäßig ordentlich, anderes im Kopf gehabt hatte. Andere, ordentliche Dinge. Der Stuhl, der Bindfaden, die ordentlich im Schoß gefalteten Hände. Und vorher, dem leeren Fernseher gegenüber, genau in der Mitte des Sofas. Ordentlich …

Eine entschiedene, zielstrebige Dame. Eine Dame mit Gefühl für Humor, mit einem Talent zur Selbstparodie. Aber das war vorher gewesen … eine solche Dame hätte sich niemals ordentlich niedergesetzt und sich mit Gammastrahlen zu Tode gebracht.

Vorher, ja; aber wann?

Vor … – o Gott, o Jesus, o Hölle auf Erden – natürlich! Vor dem speichelüberlaufenen Kinn und den rollenden Augen. Und nach diesem schändlichen, beschämenden Ereignis war die Gewohnheit der Ordnung ihre einzige Zuflucht geblieben.

Aber das war nicht genug. Es erklärte vielleicht die Art ihres Abganges, aber nicht den Umstand selbst. Warum überhaupt, o Gott, o Jesus, o Hölle auf Erden? Scudder? Ihre schlechte Gewohnheit – doch nicht etwa Scudder? Und dennoch.

Er ging in den Raum hinein, hob eine ihrer schlaffen, toten Hände. »Du liebtest ihn, nicht wahr?«

Sie blickte nicht auf. Sie konnte ihn nicht hören. Niemand konnte ihn hören. Also: »Du liebtest ihn wirklich, diesen eigensinnigen, widerborstigen alten Teufel. Deshalb wolltest du, daß ich käme, ihm zu helfen. Ich wußte das die ganze Zeit. Und was habe ich getan? Ich habe ihn dir weggenommen.«

Er küßte die Hand, legte sie sorgsam in den Schoß zurück.

Und was hatte Scudder ihr dafür gegeben? »Ich werde dich vermissen«, hatte er zu ihr gesagt. Nur das. Vielleicht in ihren ganzen sechsunddreißig Jahren nur das. Aber Dr. Besserman hatte es gewußt. »Scudder funktioniert«, hatte er gesagt, »dank Ihrer Mutter.«

Er blickte auf sie hinab. Du liebtest ihn … Die Worte widerten ihn plötzlich an. Scudder war ihr die Zärtlichkeit schuldig geblieben, und sechsunddreißig Jahre Liebe waren ein seltenes Geschenk, gleichgültig, wie beklagenswert sie ausgedrückt worden war. Aber es war nicht wirklich vorzuziehen, daß sie Scudder zuliebe gegen ihn Front gemacht hatte und nicht ihm zuliebe gegen Scudder. Warum, in Gottes Namen, mußte überhaupt jemand gegen jemand Front machen? Oben in der Küche gab die Kaffeemaschine, die er vor einer Ewigkeit in Betrieb gesetzt hatte, ein vernehmliches Klicken von sich, als sie sich zum soundsovielten Mal wieder einschaltete. Er ging hinauf, nahm eine Tasse vom Haken und füllte sie. Dann hielt er die Tasse in der Hand und starrte sie an: Kaffeetrinken war, was man tat … Er schüttete ihn ins Spülbecken.

Dann stützte er sich mit beiden Armen auf den Tisch und weinte.

Auch sie, Scudder und Maudie, hatten ihre Spiele gehabt. Streitspiele, Hackspiele – warum, um Gottes willen? Er wußte die Antwort darauf, weil er seine Geschichte kannte, das war nicht sehr hilfreich. Sie waren Kinder der achtziger Jahre gewesen, Umarme heute ein Kind, streitend und aufeinander herumhackend, und hatten seitdem nichts dazugelernt.

Er hob den Kopf. Er hatte das Gefühl, daß die Leute heutzutage weniger stritten und aufeinander herumhackten: sie hatten statt dessen ihre Spiele. Er fühlte den Blick seiner Mutter auf sich, wie sie ihn von ihrem Stuhl angestarrt hatte, aber es machte ihm nichts aus – die Goldmakrelen hinter ihr trugen in ihren flachen, gallertigen Augen einen nicht weniger vorwurfsvollen Ausdruck zur Schau. Vorwürfe, ausgestoßen und eingesteckt, gehörten zu den Dingen, womit die Lebenden ihre Substanz verschwendeten. Die Toten waren weiser. Die Toten waren tot.

Auch Gesten waren für die Lebenden. Gesten, Beschlüsse, Reue. Graces Verderbnis, seine eigene Verderbnis. Spiele. Und der arme Conrad Huppel, Retter der Zivilisation, ein Milliardär vor seinem vierzigsten Jahr, war Oberspielleiter. Er fühlte in seiner Jacke nach der Tasche für den Huppelsender – die meisten Jacken hatten solche Taschen, man konnte nie wissen, wann einem der Huppelsender zustatten kommen mochte. Er nahm das kleine Gerät heraus, legte es auf den Hauklotz, ergriff den Fleischklopfer und zerschlug es in kleine Stücke. Es zerbrach nicht leicht: zuerst wurde das stabile Gehäuse nur eingebeult, und aus dem Inneren drangen schwache Geräusche wie von sprühenden Funken. Aber diese Phänomene waren ihm nicht eindeutig genug, und so schlug er weiter darauf ein, bis das Ding endlich platzte und zerbrochene Stücke über den Küchenboden verstreut wurden.

Er machte seine Geste in der Küche. Gerade vor Maudie, wo sie ihn nicht sehen konnte, denn er tat es für sich selbst – für niemanden sonst, das mußte klar sein. Maudie brauchte die Geste nicht, und Scudder auch nicht. Maudie war tot, und Scudder hatte seine anderen – nicht die anderen, die er sich vorstellte, Mitverschwörer an den Bildschirmen, Bombenleger, aber andere in ihren Herzen. Pete glaubte nicht, daß eine ganze Welt verrückt werden konnte: Leute waren bloß Leute, weder mehr noch weniger verrückt als zu irgendeiner anderen Zeit. Die Gesamtsumme der Verrücktheit hatte sich nicht geändert, nur die Methoden, mittels derer sie ausgebeutet wurde. So gab es andere, wie es immer gewesen war, Menschen, die nach individuellen, unverdorbenen Zielen strebten und sich in ihrer eigenen heillosen Art und Weise durch das Leben wurstelten. Nicht andere mit Bomben, aber andere in ihren Herzen, wo die einzige Veränderung möglich war, wo die einzige Besserung bewirkt werden konnte, und wo sie niemals besiegt werden konnten.

So zerschlug Pete den Huppelsender sich selbst zuliebe und war sich der primitiven Theatralik der Geste bewußt, und weil primitive Theatralik oft Spaß macht, kümmerte es ihn nicht einen Furz. Darauf, weil seine Geste noch nicht vollständig war, ging er ins Herrenzimmer zu Maudies Datenanschluß. Er wollte Spencer Rotanzug die Meinung sagen. Er wollte, ehe jemand anders es tat, die Nachricht von seinem primitiven und theatralischen Abfall durchgeben.

Er setzte sich in Maudies rotsamtenen Sessel. Die Uhr über dem Bildschirm zeigte 13:09. Er stockte, die Hände ausgestreckt über der Tastatur. Verdammt. Wenn er Spencer sprechen wollte, würde er die Verbindung über seinen Inspektor schalten lassen, und es war nach ein Uhr, also mußte sein Inspektor zum Essen gegangen sein. Er ließ sich in den Sessel zurückfallen und schlug mit den Fäusten auf die hartgepolsterten Lehnen. Er brauchte Spencer Rotanzug, er mußte es ihm sagen – Teufel noch mal …

Er hielt inne. Eine Anzeigeleuchte über der Ausdruckstation hatte seine Aufmerksamkeit gefunden. Sie signalisierte eingegangenes Material, das darauf wartete, abgerufen zu werden. Und daneben, als visuelle Anzeige, der Name des Adressaten: Pete Laznett. Er starrte darauf. Vor langer, langer Zeit hatte seine Mutter ihm gesagt, daß ein Brief für ihn da sei, und er hatte geantwortet, daß er ihn später lesen wolle.

Später. In der Erfahrung, hundert Jahre später. Jetzt.

Er kam zu sich. Vielleicht, wenn es nicht vermessen war, darauf zu hoffen, kam er zu seinem neuen Selbst. Und wenn dies so war, dann gab es keine Gesten mehr. Zumindest für den Augenblick, diesen Augenblick, Emmas Augenblick, waren Gesten überflüssig.

Er gab seinen Kode nicht ein, weil es nicht nötig war. Pete Liebling, ich vermisse dich. Pete Liebling, bitte komm bald zurück! Pete Liebling, ich schaffe es nicht. Pete Liebling, all dieser ausgeglichene Scheiß. Ich schaffe es einfach nicht. Er hatte die Briefe oben in seiner Schublade, unter den Hemden versteckt. Er wußte genau, was sie aussagten. Er hatte es die ganze Zeit gewußt, was der Grund war, warum er nie geantwortet hatte.

Andere. Millionen von anderen, und eine von ihnen Emma. Auswählen und aufpicken war etwas für die Vögel. Die Sache war, wenn man sehr viel Glück hatte, zu wissen, was man wollte. Und sehr zu hoffen, weil man es nicht verdiente, daß Emma es auch wollte.

Eine ordentliche Lösung? Maudie hätte es gefallen. Auch Scudder war in seiner Weise ordentlich.

Eine zu ordentliche Lösung? Nur die Zeit konnte es erweisen. Genauer gesagt, die nächsten Minuten. Emma arbeitete durch, holte sich ihr Mittagessen aus dem Automaten vor ihrem Büro, im Empfangsbereich der Klinik. Pete griff zum Telefon und wählte die Nummer ihres Büros. Er lauschte den Signalen, und nach dem vierten Ton meldete sie sich.