EINS


 

 

EINEN HIMMLISCHEN GOLDENEN HUPPELTAG!

Pete Laznett, nackt und unrasiert, starrte verdrießlich aus dem Badezimmerfenster zu den gigantischen Buchstaben auf, die in gemächlichen Wellenbewegungen über den Himmel zogen. Sein Haus war in der besten Wohngegend der Stadt – tatsächlich der einzigen, die heutzutage bewohnt war –, hoch auf einem Hügel über dem Geschäftsviertel und dem alten Hafen, so daß die Buchstaben fast auf gleicher Höhe mit seinem Fenster waren. Er konnte die Drähte sehen, die sie miteinander und mit dem anmutigen, von Sonnenenergie angetriebenen Luftschiff an ihrem Anfang verbanden.

Pete Laznett kratzte sich mit finsterer Miene. Von welcher Art der Eindruck unschuldiger Begeisterung auch sein mochte, der dieser Botschaft möglicherweise innewohnte, er wurde zunichte gemacht von dem scharlachroten Markenzeichen CHI, das für Cordwainer Huppel International stand und deutlich sichtbar an der schnittigen Flanke des Luftschiffes prangte. Und sie fingen früh an, weiß Gott … Noch nicht sechs Uhr, und schon waren sie dabei … Angewidert wandte er sich vom Fenster, ließ Wasser ins Becken einlaufen, wusch und rasierte sich. Er wich dem eigenen Blick im Spiegel aus. Es war einer jener Morgen, da er es vorzog, anonym zu bleiben.

Seit vielen Jahren war der erste Montag im August der beliebteste aller internationalen Feiertage: der Huppeltag. Es war der große Tag der Familienfeiern, der Tag, an dem alle Leute ihre Angehörigen besuchten oder sie mit Aufmerksamkeiten bedachten. Und dieser Augusttag des Jahres 2039 sollte sich als noch bedeutsamer erweisen, bezeichnete er doch die fünfzigste Wiederkehr des Tages, als Conrad Huppel seine historische Entdeckung gemacht hatte. Daher der Goldene Huppeltag. Und daher, sollte jemand es womöglich vergessen haben, der durch die Luft wallende Glückwunsch EINEN HIMMLISCHEN GOLDENEN HUPPELTAG!

Normalerweise hatte Pete Laznett nichts gegen ungeschminkten Kommerzialismus, solange er sich in Grenzen hielt. Auch hatte er nichts gegen Conrad Huppels Erfindung – er machte die ganze Zeit davon Gebrauch und hatte es während seines ganzen Lebens als Erwachsener so gehalten. Der Huppeltag war jedoch eine andere Sache: er verabscheute ihn. Die offizielle Begründung der Huppeltagsbesuche war nach CH International zweifacher Art: Kindesliebe, die er zu diesem späten Zeitpunkt nicht vorzugeben wagte, und die Dankbarkeit des Kindes, von den Eltern in die Welt gesetzt worden zu sein, was ihm auch schwerfiel. Nicht, daß Pete mit dem Schicksal, am Leben zu sein, gehadert hätte – das Leben war gut, und er hatte seine Freude daran, aber er sah darin keinen Grund, Maudie und Scudder dankbar zu sein. Für sie war die Elternschaft kaum eine gemeinsame und großzügige Entscheidung gewesen. Sie hatten ihn in die Welt gesetzt, weil sie waren, was sie waren. Die Welt war weitergegangen, und sie nicht. Sie waren einfache Leute. Sie hätten nicht anders handeln können.

Nein, der einzige wahre Grund zur Dankbarkeit war, daß sie es mit dem einen Kind, ihm, hatten genug sein lassen – allzu oft vermehrten sich Leute ihrer einfachen Art wie Kaninchen. Da ihre Schlichtheit einen puritanischen Beigeschmack hatte, waren sie möglicherweise abgeneigt gewesen, die nötige leidenschaftliche Vereinigung noch einmal auf sich zu nehmen. Für welch betrüblichen Zustand er ihnen wirklich dankbar war – menschliche Beziehungen waren schon ohne Geschwister kompliziert genug. Eine derart unaufrichtige Dankbarkeit wäre jedoch ein unwürdiger Grund für einen Huppeltagsbesuch.

Er hatte sein Zuhause und die Eltern vor siebzehn Jahren verlassen und seitdem nicht wiedergesehen. Anfangs war er aus Bitterkeit ferngeblieben; später war Verlegenheit an ihre Stelle getreten; und in jüngster Zeit Schuldgefühle. Und während dieser ganzen siebzehn Jahre hatte er ihnen nur die unbedeutendsten Geschenke geschickt. So kam es, daß der Huppeltag unheilvolle Gespenster auferstehen ließ und an sein schlechtes Gewissen rührte. Er verabscheute ihn.

An diesem Morgen des 6. August 2039 war Pete Laznett jedoch frühzeitig aufgestanden. Er wollte trotz allem seine Eltern besuchen. Am Huppeltag besuchte jedermann seine Eltern, oder schickte ihnen wenigstens ein besonderes Geschenk. So war es im Sinne des alten Huppel.

Pete überquerte den Treppenabsatz zu seinem Ankleidezimmer. Behutsam öffnete er die Tür zum Kleiderschrank, durchsuchte leise die an der Stange hängenden Jacken und Hosen und wählte einen nüchternen Straßenanzug aus. Geräuschlos zog er sich an. Emma, gütiger Himmel, blieb diskret im Bett und tat, als ob sie schliefe. Die Wahrheit, obwohl er sie lieber nicht gesagt hatte, war, daß es ihm lieber gewesen wäre, wenn sie diese Nacht in ihrer eigenen Wohnung verbracht hätte. Er fühlte sich schon so gereizt genug, ohne obendrein ihre taktvolle Unterstützung ertragen zu müssen. So war er auf Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer geschlichen und hatte so getan, als wisse er nicht, daß er sie geweckt hatte. Und nun tat sie so, als hätte er es nicht getan.

Sie waren jetzt schon lange beisammen, annähernd drei Jahre. Er gedachte eine Woche oder so auszubleiben und wußte, daß er sie vermissen würde. Die letzten zwei Huppeltage war sie bei ihren Leuten gewesen, und er hatte sie begleitet, Emmas Eltern wohnten weniger als eine Fahrstunde von der Stadt entfernt. Sie waren großartig. Petes Eltern, auf der anderen Seite, wohnten unten an der Küste, gute vier Stunden Autofahrt entfernt. Und sie waren nicht großartig. Um ehrlich zu sein, als er seine Eltern vor siebzehn Jahren das letzte Mal gesehen hatte, waren sie ihm höchst lästig und verhaßt gewesen. Die ekelhaften alten Scheißer.

Mit siebzehn Jahren. Wie leichtfertig und frivol das gewesen war – wie abwertend und gleichgültig, diese Wendung. Damals aber hatte er eine durchaus zutreffende Beschreibung darin gesehen. Ihr Verbrechen hatte darin bestanden, daß sie ihn bedingungslos bis zur Besessenheit geliebt hatten, und einander überhaupt nicht. Liebe? Welch törichtes Wort. Man könnte eher sagen, daß sie einander für das Vorrecht, ihn aufzufressen, zu Tode getrampelt hätten.

Also war er fortgegangen. Und seine Bitterkeit war in Verlegenheit umgeschlagen, und seine Verlegenheit in Schuldgefühle, und er war ihnen ferngeblieben. Nun aber, nach siebzehn Jahren, wollte er zurückkommen. Er beabsichtigte vielleicht eine Woche zu bleiben, lange genug, um sich ein für allemal von ihnen zu lösen und dann seinen Weg weiterzugehen, ein freier Mann.

Er war ziemlich plötzlich zu der Entscheidung gelangt, erst vor fünf Tagen, und sie hatte, so überraschend es scheinen mochte, nichts mit Emma zu tun. Danach hatte sie ihn allerdings ermutigt. Sie sagte, sie habe lange genug einen Verwandtenverleih betrieben, und es sei höchste Zeit, daß er sich selbst welche zulegte. Und eine Woche Trennung würde ihnen beiden guttun … Nichts davon war ihm sonderlich vorgekommen, aber er blieb bei seinem Entschluß, und dies hauptsächlich wegen der letzten Video-Einblendung seiner Mutter.

Er mußte es zugeben: sie hatte ihn so weit gebracht, daß er sich sorgte. Was sie gesagt und mehr noch, was sie nicht gesagt hatte, war ihm Anlaß zur Beunruhigung. Er hatte gelernt, mit seinen Schuldgefühlen zu leben, aber echte Sorge um seine Eltern war etwas Neues. Die ekelhaften alten Scheißer … – er war jetzt älter und klüger: hatten sie eine derart gedankenlose Abfuhr wirklich verdient?

Seine Mutter blendete sich heutzutage ziemlich oft ein, niemals aber sein Vater. Pete hatte längst aufgehört, es zu erwarten.

Maudie Laznett, stocksteif aufgerichtet für die Kamera, die Hände im Schoß gefaltet (zusammengekrampft?), das Haar so straff zurückgekämmt und zum Knoten gesteckt, daß es schmerzte, in dem vertrauten, mit rotem Samt bezogenen Sessel vor dem vertrauten dunklen Hintergrund aus vornehmer Eichentäfelung und den Kalblederrücken ungelesener Bücher, angetan mit ihrem allerbesten Gespräch-mit-dem-Sohntag-Kleidern. Er kannte es alles auswendig.

»Warum mußt du denn darauf bestehen, in dieser himmelschreienden Stadt zu bleiben, Junge?«

Das kannte er auch auswendig, himmelschreiende Stadt, aber es berührte ihn trotzdem angenehm. Ihre Sprachmuster teilte sie mit niemandem. Auch seine Antwort war die immer gleiche. »Es gefällt mir hier. Ich mag die Stadt.«

Und sie: »Das kannst du nicht. Das kannst du einfach nicht, Junge. Das gibt es gar nicht.«

Darauf er: »Komm schon, Mutter – wann warst du zuletzt hier? Zwanzig Jahre muß es wohl her sein.«

»Eher vierzig. Aber Städte verändern sich nicht.«

»Aber die Leute. Erstens einmal gehen sie fort.«

»Die mit Verstand tun es. Zurück bleiben nur die Verrückten – verrückt wie du. Gehen durch die leeren Straßen.«

»Gehen durch die von Gedränge freien Straßen.« Immer wieder machte er sich die Mühe, wußte selbst nicht, warum. »Und wohnen in den schönsten Häusern. Du solltest sehen, wo ich wohne, Mutter. Es ist …«

»Wir haben auch ein feines Haus, Junge. Siehst du all diese Ledereinbände – richtiges Leder, wirklich. Dies ist nicht mehr die Ferry Lane, es ist die Schulman-Villa. Du erinnerst dich an die Schulman-Villa.«

Er erinnerte sich gut. Zehn Schlafzimmer, die Wohnräume des Dienstpersonals nicht mitgerechnet. »Die Stadt ist großartig, Mutter. Da gibt es Restaurants, Kunstausstellungen, hübsche Mädchen, richtige Theater …«

»Das Haus vom alten Schulman. Du mußt dich daran erinnern. Millionär war er.«

»Mir gefällt die Stadt, Mutter.«

Sie machte eine Pause. »Wir haben hier oben auch schöne Mädchen, weißt du.«

Sie kannte das Drehbuch so gut wie er. Manchmal schien sie eine Zeile ausgelassen zu haben, aber die schob sie dann später nach.

Nun war seine Frage fällig. »Wieviel Mädchen?«

Und sie antwortete: »Genug.« Bedeutungsschwer.

Damit meinte sie zwei oder drei, so daß ein unausgesprochenes Urteil über seinen unmoralischen Lebenswandel darin enthalten war, über die Unmoral der Welt. Zwei oder drei waren sicherlich genug für jeden anständigen Mann … Aus diesem Grund hatte er eine Zeitlang versucht, ihren Einblendungen auszuweichen. Bis sie die Gewohnheit angenommen hatte, ihre Video-Einblendungen in seine Arbeitszeit zu verlegen.

Trotzdem, das Drehbuch war das Drehbuch. »Wieviel Mädchen?« fragte er.

Und sie antwortete nicht, sagte nicht »Genug«, sagte überhaupt nichts.

Statt dessen nahm sie die Hände auseinander und zupfte erstaunlicherweise am Saum ihrer besten Sohntags-Strickjacke.

Schließlich, kaum hörbar: »Scudder würde sich freuen, wenn du heraufkämst.«

»Scudder?« Scudder Laznett? Er bemühte sich, diese neue Abweichung zu verarbeiten. Gewöhnlich kam die Einladung später, verbunden mit dem Vorwurf. Aber ohne Scudder zu erwähnen. Sein Vater wurde nie hineingezogen.

»Du meinst, dir würde es gefallen?«

»Das weißt du, Junge.«

Viel zu schnell. Also blieb das andere. Eine gewisse Neugierde regte sich, aber in diesem Stadium kaum mehr.

»Sag mal, Mutter – wie geht es ihm?«

»Scudder?« Es schien sie jetzt eine Anstrengung zu kosten, auch nur den Namen wiederzuerkennen. »Ich glaube, er ist unterwegs. Jemandes Datenanschluß, jemandes Fernseher. Du weißt, wie es geht.«

Vielleicht wurde sie taub. »Nicht wo, Mutter – wie geht es ihm?«

»Scudder? Flink wie ein Eichhörnchen. Jedenfalls keine gegenteiligen Bemerkungen.«

Wie immer, die eingefleischte Gleichgültigkeit von sechsunddreißig Jahren unheiliger Ehe. Alles bis aufs Haar genau. Aber sie wurde nicht taub. Und er konnte die Untertitel so gut lesen wie jeder andere. Wenn sie ihm das erste Mal nicht geantwortet hatte, dann deshalb, weil sie nicht gewollt hatte.

Natürlich mußte sie eine Veränderung in seinem Vater bemerkt haben, falls es eine solche gegeben hatte, und zumindest einen Anschein von Sorge erkennen lassen, nach sechsunddreißig Jahren. Vielleicht also war es das. Vielleicht war Scudder krank.

»Ich werde kommen.«

»Wirklich?«

»Ich werde am Montag kommen.« Keine Frage. Wenn Scudder krank war, wenn sein Vater krank war, war es nicht mehr als seine Pflicht und Schuldigkeit. »Das ist der Goldene Huppeltag, in Gottes Namen. Ich werde am Montag kommen.«

»Und die Woche bleiben?«

Sein Vater krank. Womöglich lag er im Sterben. »Und die Woche bleiben. Natürlich.«

Maudie befingerte ihren besten Sohntags-Seidenschal. »Ich fragte nur wegen des Zimmers.« Sie schien auf einmal schüchtern, als bedauere sie ihren Eifer. »Nicht, daß es an Platz fehlte, aber ich werde eins herrichten müssen.«

»Das wäre großartig. Ich freue mich darauf.«

Er konstruierte bereits Begründungen. Siebzehn und siebzehn, ein Wendepunkt … vielleicht der rechte Zeitpunkt, um zurückzukommen, sich ein für allemal zu befreien, und dann weiterzumachen. Klare Verhältnisse schaffen. Unsentimental, einem kranken, vielleicht sterbenden Vater bei weitem vorzuziehen. Und siebzehn war wirklich eine merkwürdige, sonderbare Zahl.

»Ich würde dich niemals drängen, Junge«, sagte Maudie abwiegelnd. »Nicht, wenn du zu tun hast.«

»Ich werde Arbeit mitbringen. Ihr habt doch Bildschirm-Querverbindungen, nicht?«

»Zehn Kanäle. Darauf kannst du dich bei Scudder verlassen.«

»Dann werde ich also meine Arbeit mitbringen. Bis Montag, dann. Um die Mittagszeit.«

»Nur, wenn du auch wirklich nichts Besseres vorhast, Junge.«

Um sieben Uhr dreißig war er aus dem Haus. Er hatte zuvor gefrühstückt und seinen Inspektor angerufen, um ihm zu sagen, wo er im Notfall zu erreichen wäre. Unvermeidlich bekam er den automatischen Anrufbeantworter der Geschäftsspiele, ein Videoband von irgendeiner Sekretärin, die ihn aufforderte, eine Botschaft zu hinterlassen: selbst die Spiele machten am Huppeltag zu – Vermögen blieben ungemacht, Steuerabschreibungen unabgeschrieben. Ganz fanatische Spieler mußten sich mit ihren Heimkassetten begnügen, doch waren diese wenigstens an der Realität orientiert und bis zu einem bestimmten Grad selbstprogrammierend, eine enorme Verbesserung gegenüber den alten Spielfilmen.

Er ging nicht hinauf, um sich von Emma zu verabschieden. Da er noch immer vorgab, sie nicht wecken zu wollen, wäre es nicht nett, sie zu stören. Er hatte ihr nichts von Scudder erzählt, noch von seinem Plan, die Eltern zu besuchen, um sich endgültig von ihnen zu befreien. Und erst recht nichts von dem seltsamen und für ihn faszinierenden Zusammentreffen: seinem ersten Besuch seit siebzehn Jahren. Siebzehn und siebzehn – er war jetzt vierunddreißig, und ein paar Monate nach seinem siebzehnten Geburtstag, am Huppeltag des Jahres zweitausendzweiundzwanzig, hatte er endlich das Elternhaus verlassen. Es war eine bittere Ironie gewesen, gerade an diesem Tag fortzulaufen, wenn alle anderen die Eltern besuchten oder besondere Geschenke sandten. Aber die Ironie war unbeabsichtigt gewesen, untergegangen in anderen, verzweifelteren Überlegungen …

Siebzehn und siebzehn jedoch, hier schloß sich der Kreis … Irgendwie hatte es eine Richtigkeit an sich. Aber nicht eine, über die er mit Emma hätte sprechen mögen. Tatsächlich hatte er ihr sehr wenig erzählt. Warum auch, und wozu des Aufhebens? Schließlich tat er nichts Ungewöhnliches. Alle besuchten am Huppeltag ihre Angehörigen oder schickten ihnen Geschenke. Nach CH-International entsprach dies dem Wunsch des Gründers der Gesellschaft, der weltabgeschieden auf seiner Hebrideninsel lebte. Conrad Huppel, Retter der Zivilisation …

Pete selbst hatte seine Zweifel, ob der alte Mann sich so oder so darum scherte. Als Mann der Wirtschaft glaubte er zu durchschauen, von welcher Art Conrad Huppels wahre Motive gewesen waren, damals in den halsabschneiderischen achtziger Jahren. Leistungsbewußtsein und Ehrgeiz hatten sicherlich eine Rolle gespielt, aber weit mehr das leidenschaftliche Verlangen, es vor Erreichen des vierzigsten Lebensjahres zum Milliardär zu bringen.

Huppeltage, die Wiederherstellung der Elternschaft von einer undankbaren Mühsal zu einem ehrenvollen Stand …

Nichts davon würde ihm in den Sinn gekommen sein. Noch – um ehrlich zu sein – die Rettung der Zivilisation. Damals nicht und wahrscheinlich nicht einmal heute. Wer, in Gottes Namen, sah sich als Retter der Zivilisation, außer vielleicht irgendwelche machtbesessenen Verrückten? Und Conrad Huppel war kein machtbesessener Verrückter, sondern bloß ein sanfter Mitteleuropäer mit Brille, der den Bedarf an dem Produkt erkannt und im August des Jahres 1989 das Glück gehabt hatte, in einem kleinen Laboratorium zu arbeiten, das dem Zentrum für myoelektrische Gliedmaßenrehabilitation in Roehampton bei London angeschlossen war. Sicherlich hatte er die grundlegende Idee beigesteuert, doch wäre es ihm schwergefallen, etwas daraus zu machen, hätte er nicht auf einer jener vielen unendlich langweiligen Cocktailparties Sithel Cordwainer kennengelernt und wäre er nicht hinlänglich betrunken gewesen, sich ihm anzuvertrauen.

Professor Cordwainers Fachgebiet war die männliche Fruchtbarkeit gewesen, und insbesondere die Auswirkungen bestimmter, von elektronischen Anlagen emittierten, Ultraschallwellen auf die Keimzellen. Der Zusammenhang war ihnen beiden sogleich rauschhaft klar gewesen: Huppel hatte die Elektronik gehabt, Cordwainer die Auswirkung auf die Keimzellen. Es konnte über den Martinis kein Problem gewesen sein, das eine so zu steuern, daß es das andere hervorrief. In vino veritas.

Der Rest war Mythos. Zunächst hatten sich die unvermeidlichen Verleumder eingestellt. Sie hatten Huppel ›Mister Supersex‹ genannt, und sein Gerät den teuersten Vibrator der Welt. Außerdem galt Empfängnisverhütung beim Mann allgemein als nicht durchsetzbar. Aber darum kümmerte sich CH-International. Sie schob Cordwainer, der ohnedies ein alter Wüstling war und bald darauf starb, in den Hintergrund und schwindelte die sperma-abtötende Wirkung durch ausgefeilte Wortwahl so zurecht, daß sie vom spendenden auf das empfangende Organ überzugehen schien. Und schließlich versah sie Conrad Huppel mit selbstloser Hingabe und jahrelangem Streben nach dem großen Ideal. Dies alles machte ihn nicht nur zum Milliardär, ehe er das vierzigste Lebensjahr erreicht hatte, sondern auch zum Retter der Zivilisation, und darin steckte – wie in jeder vernünftigen Verkaufsstrategie und in jedem erfolgreichen Mythos – ein Körnchen Wahrheit. Denn wie man die Sache auch sehen mochte, das Cordwainer-Huppel-Gerät hatte die Zivilisation gerettet. Pete war gleichwohl bereit, eine Wette einzugehen, daß Huppel damals selbst kein Kostverächter gewesen war und daß sich daran auch auf seiner Hebrideninsel bis in die Gegenwart nichts geändert hatte. Und manches sprach dafür, daß er für die Zivilisation keinen Pfifferling gab.

Mißmutig warf Pete seine Reisetasche auf den Rücksitz seines Wagens. Kleider für eine Woche und nicht einen Tag mehr. Um der endgültigen Loslösung willen, sieben Tage, in denen von seinem Vater erwartet werden durfte, daß er sich festgelegt und entweder gesundete oder starb.

Er fuhr mit zurückgeklapptem Verdeck in seinem Straßenanzug, korrekt und nüchtern wie ein Geschäftsreisender. Emma hätte vorgeschlagen, daß er etwas Bequemeres tragen sollte – das hieß, bequemer für Scudder und Maudie. Aber Emma war wieder eingeschlafen, und er trug zu seiner eigenen Bequemlichkeit einen korrekten Straßenanzug. Als er losfuhr, zeigte der Himmel ein einförmiges Grau, aber die Wettervorhersage hatte für den Vormittag Aufheiterung und Sonnenschein versprochen. Die halbe Stadt, so schien es, war mit ihm unterwegs, zwei und drei Seite an Seite auf der Ausfallstraße, eine Erinnerung an die schlimmen alten Tage des vorigen Jahrhunderts, vor seiner Zeit. Ferienstimmung lag in der Luft. Die Autofahrer begrüßten einander sogar mit kameradschaftlichen Hupsignalen: »Fro-hen Hup-pel-tag!« Pete antwortete hie und da mit heiterem Winken und verteilte ein dem Anlaß gemäßes Lächeln.

Bald ließ er die Stadt hinter sich und durchfuhr den breiten Gürtel bestellten Ackerlandes, der aus den längst verlassenen Vorortsiedlungen zurückgewonnen worden war. Anmutige Felder, mit Hafer, Gerste und Weizen bestellt, wechselten mit schönen jungen Laubholzbeständen. Seine Verdrießlichkeit verflog. Die Strecke war ihm vertraut, voll von glücklichen Erinnerungen. Er hatte sie schon Hunderte von Malen benutzt, wenn er an Winterwochenenden zum Skilaufen nach Norden gefahren war. Dann lenkten die Wegweiser ihn nach rechts, der Küste zu, in traurigeres, halbvergessenes Land. Siebzehn Jahre waren eine lange Zeit.

Am Rand der ersten Kleinstadt auf seiner Strecke verlangsamte der Verkehr, kam zum Stillstand, kroch weiter, geriet wieder ins Stocken. Blasmusik wehte herüber, ein fröhliches Schmettern und Trompeten. Pete stand auf, stützte sich auf die Windschutzscheibe. Über die Dächer der vor ihm haltenden Wagen sah er eine Menschenmenge mit Fahnen und Spruchbändern die baumbestandene Straße entlangziehen. Andere standen in nachbarschaftlichen Gruppen vor ihren ordentlichen, weiß gestrichenen Holzhäusern, während Kinder auf ihren elektrischen Fahrrädern zwischen den Gruppen herumkurvten. Der Himmel hatte aufgeklart. Zwischen den Bäumen waren Wimpel aufgezogen, alle trugen ihre Vereinstrachten, und an der Spitze zog die Kapelle, deren Mitglieder sich im synkopierten Rhythmus ihrer Musik wiegten.

Jenseits des Umzugs war der Stadtplatz zu sehen, wo Verkaufsstände die Rasenfläche zu Füßen der unvermeidlichen patriotischen Statue bedeckten, überschattet von der neugotischen, weiß gestrichenen Kirche. Die Kirchentür stand offen, der Pastor auf den Stufen davor, wo er offenbar die Ankunft der Parade erwartete.

Die Frau im Wagen hinter Pete hupte, nicht ungeduldig: »Fro-hen Hup-pel-tag!« Die Kolonne vor ihm hatte sich in Bewegung gesetzt und eine Lücke gelassen. Pete setzte sich hastig hinter das Lenkrad und fuhr langsam weiter. In der Sonne außerhalb der Baumschatten stand die Luft heiß und reglos, und es roch nach Feiertagsbraten, frischer Farbe und gemähtem Gras. Die harmlose Einfalt dieses Festtagspublikums ging ihm zu Herzen. Eine andere Welt … Aber die Leute fühlten sich wohl dabei. Es kam darauf an, zu wissen, was man wollte, und dabei zu bleiben.

»Warum mußt du unbedingt in der Stadt bleiben, Junge?«

Weil es ihm gefiel. Weil er sie mochte. Wirklich.

Endlich erreichte er den Umzug und überholte ihn. Als er gleichauf mit der Blaskapelle war, drückte er auf die Hupe und riskierte einen ungewissen Fanfarenton, der jedoch in den holperigen Umptatas unterging. Dann beschleunigte er und war bald wieder auf dem Land. Die ansteigende Straße erklomm die bewaldete Böschung eines niedrigen Hügels, aber die Stadt, ihre Gerüche und ihre unschuldige Geschäftigkeit blieben gegenwärtig, ließen ihn nicht los. Er seufzte. Jeder ist seines Glückes Schmied … Dann sah er unter sich zu seiner Rechten, abgeschirmt von einer dünnen Baumkulisse, das automatisierte Industriegebiet der Stadt. Ein erfreulicher Anblick: also war selbst diese christliche Gemeinde mit ihren weiß gestrichenen Holzhäusern ein praktischer, sozioökonomischer Organismus, selbstgenügsam wie andere Gemeinden. Ganz unabhängig von den wenigen hochbezahlten Sachverständigen und Spezialisten, die ihre Gutachten und Beratungen durch Video unter die Leute brachten, betrieb diese Gemeinde ihre eigene automatisierte Industrie und verdiente sich damit den Unterhalt. Er fühlte sich besser. Die Welt, seine Welt, ergab wieder einen Sinn.

Der Verkehr, bereits stark zurückgegangen, seit Pete von der Hauptstraße abgebogen war, dünnte in dem Maße aus, wie er sich über schmale Nebenstraßen verwandtenwärts verteilte. Pete fuhr ruhig und gelöst, ließ sich das Haar vom Sommerwind zausen. Sogar die Landzunge, wo seine Eltern lebten, war selbstgenügsam und verdiente den eigenen Unterhalt, wenn auch nur um Haaresbreite. Hummerfang, etwas Landwirtschaft, der Heimatklub für Touristen, einheimisches Dienstleistungspersonal wie sein Vater. Vielleicht war man in mancher Weise abhängiger, als es wünschenswert gewesen wäre, aber man kam zurecht.

Sein Vater, Scudder Laznett, hatte einen Reparatur- und Wartungsdienst für Datenanschlüsse, Ausdruckstationen und Bildschirmgeräte. Er hatte sein Handwerk bei der Armee gelernt und betrieb es seit vierzig Jahren. Das Wunder dabei war, daß es ihm gelungen war, mit den Entwicklungen Schritt zu halten: die Elektronik hatte seit den neunziger Jahren einen weiten Weg zurückgelegt. Aber Scudder war ein hartnäckiger alter Teufel. Und er hatte immer behauptet, daß ein Mann mit einem klaren Verstand hinter alles kommen könne, was andere Leute entwickeln und bauen konnten. Das galt natürlich nicht für Computerentwicklungen. Niemand unternahm auch nur den Versuch, ihnen auf die Spur zu kommen, also befand Scudder sich in guter Gesellschaft. Und in den Ersatzteilverzeichnissen fand er sich besser zurecht als die meisten.

Scudder Laznett – im Jahre 1971 auf der Landzunge geboren, als der Ort noch hauptsächlich aus vornehmen Sommerhäusern und Landsitzen bestanden hatte. Und dort war er auch aufgewachsen. Und hatte, abgesehen von fünf heimwehkranken Jahren beim Militär, sein ganzes Leben dort verbracht. Obwohl er es niemals so ausgedrückt haben würde, kam das Leben auf der Landzunge in seinen Augen dem Zustand göttlicher Gnade näher, als irgendein Sterblicher erwarten durfte.

Für den heranwachsenden Pete von vierzehn, fünfzehn, sechzehn Jahren war das Leben auf der Landzunge die Hölle gewesen.

Er fühlte eine Spannung in den Fingern, die das Lenkrad hielten, und lockerte seinen Griff. Die Leute waren eben verschieden. Manchen Jungen hätte es vielleicht gefallen, aber nicht ihm. Was hatte der Ort zu bieten, um Gottes willen. Langweilige Bäume, langweilige Felsen und einen langweiligen, drei Kilometer langen Strand. Sand, nichts als Sand. Und dahinter Dünen. Mehr Sand … Es war nicht einmal so, daß sein mit den Schaltkreisen verheirateter Vater ein Kenner der Natur und ein Vermittler interessanten Wissens und abenteuerlicher Überlieferungen gewesen wäre. Ein Zustand göttlicher Gnade vielleicht, aber Gott allein wußte, warum. Mitgeschleppt zu diesen endlosen Spaziergängen, immer das gleiche, den langweiligen Strand entlang und wieder zurück. Stillschweigend, und mannhafte Fürze, und dann, noch in sicherer Entfernung vom Haus, der unvermeidliche Stimmenfang.

»Nicht, daß deine Mutter es nicht gut meint, versteh mich recht, Junge. Aber du bist kein Kind mehr, du siehst selber, wie die Dinge liegen.«

Sicherlich sah er selber, wie die Dinge lagen. Aber seinem Vater gegenüber hätte er ein solch betrügerisches Einvernehmen niemals zugegeben.

Während der einzige – und vorzuziehende – Verrat seiner Mutter, wenn Scudder nicht da war, eine strenge, verkniffene Linie um den Mund und um ihr Leben war, und ein Gespräch über andere Dinge.

Und wenn nicht die Freuden der Natur, was dann? Ein reizvolles Leben? Für die Reichen vielleicht, in ihren weitläufigen Villen, die zwischen den Kiefern über der Felsküste verstreut lagen, aber kaum für die Laznetts. Für die Laznetts gab es Ferry Lane – winterfest gemachte Wohneinheiten, die Quartiere nützlicher Leute wie Gärtner, Hausmeister, Handwerker, Müllfahrer, Hummerfischer, Ingenieure zur Reparatur elektronischer Geräte.

Der alte Großvater Laznett, Handwerker, im Sommer Schmarotzer und Angeber, im Winter betrunken, immer drauf und dran, in den sonnigen Süden zu übersiedeln, ohne es jemals zu tun, war eines Nachts im Januar, als Pete zehn Jahre alt gewesen war, in eine Schneewehe gefallen und am Morgen, als sie ihn ausgegraben hatten, steif wie ein Brett gewesen. Und Scudder Laznett, Wartung und Reparatur von elektronischen Anlagen, lebte dreißig Jahre nachdem Conrad Huppel die Welt der Zivilisation gerettet hatte, noch immer in der Ferry Lane und arbeitete die Stunden, die andere ihm vorschrieben.

Und wenn nicht reizvolles Leben, was dann? Kontinuität? Wahrhaftig ein Zustand der Gnade, heutzutage. Aber sicherlich nicht damals, vor zwanzig, dreißig, vierzig Jahren, als Veränderung alles war? Pete zuckte die Achseln und lächelte. Verhielt es sich so, dann war ausgerechnet Scudder Laznett ein Mann gewesen, der seiner Zeit voraus war. Derselbe weite Himmel, dieselben Kombinationen von Dächern und felsigen Ausläufern, derselbe Schnee im Winter und dasselbe staubige Gras im Sommer. Und sogar dieselben Leute … Ein Mann der zweiten Generation, auf der Landzunge zu Hause und grimmig zufrieden. Kontinuität. Wirklich ein Zustand der Gnade. Aber es gab andere Mittel zum gleichen Zweck, sagte sich Pete und trat auf die Bremse, als er zu schnell in eine Kurve ging. Jeder ist seines Glückes Schmied. Es kam darauf an, zu wissen, was man wollte, und dabei zu bleiben.

So hielt er es. Er erreichte seine eigene Kontinuität. Das war möglich. Fünf Jahre am städtischen College, drei Jahre Handelspraktikum bei der Zentralen Industrieverwaltung und seitdem erfolgreich auf der Stufenleiter der Geschäftsspiele. Alles im gleichen überschaubaren Rahmen von einigen Quadratkilometern. Kontinuität.

Und nun war Scudder Laznett, der kein Recht dazu hatte, krank, lag vielleicht im Sterben.

Aber Pete fuhr weiter. Kehrte nicht um. Fuhr weiter.

Nach der scharfen Biegung führte die Straße in gerader Linie einen langen Damm entlang. Zu beiden Seiten erstreckten sich Salzsümpfe. Unregelmäßige Tümpel mit brackigem Wasser lagen zwischen weiten Flächen von Bastard-Schilfrohr, so weit das Auge reichte. Seine Farbe veränderte sich mit der Entfernung von herbem Grün zu Blau und Grau, das am Horizont an einen stumpf silbrigen Streifen stieß, wahrscheinlich der Ozean. Dies mußte schon die zweite Schilfrohrernte in diesem Jahr sein. Ungefähr ein Monat fehlte noch zur Erntereife. Wahrscheinlich hofften die Leute, daß die Nachtfröste noch so lange auf sich warten lassen würden. Irgendwo landeinwärts mußte es eine automatisierte Fabrik geben, die aus dem Schilfrohr proteinreiches Kraftfutter herstellte und die Rückstände zu Preßbriketts verarbeitete.

Im Norden und Süden markierten ferne dunkle Waldstreifen die Grenzen des Sumpfgebietes, über dem die Luft in der Hitze flimmerte. Reiher wateten in den Brackwasserteichen. Und der Himmel war riesig, wolkenlos, erschreckend in seiner nicht zu vermarktenden Unermeßlichkeit.

Als Pete zum Ende des Salzsumpfes kam, sah er den gewundenen Lauf eines Gezeitenstromes, der in einer seeartigen Erweiterung zwischen schlammigen Ufern endete. Zwei weiße Boote mit blaugestrichenen Schandeckeln lagen festgemacht ein gutes Stück von einem gebleichten hölzernen Anlegesteg an ihren Ankerbojen. Und zwischen den Bäumen am Ufer stand ein niedriger Schuppen mit einem Blechdach. Seine Wände waren weiß und blau gestrichen, daß es zu den Booten paßte, und davor lagen aufeinander gestapelte Hummerkörbe und Haufen von orangefarbenen Fischernetzen. Abseits eine Wäscheleine, Hemden und Hosen, steif wie Bretter. Rotgewürfelte Hemden und verblaßte blaue Drillichhosen. Auf der Zufahrt, die sich durch den Baumbestand zur Landstraße schlängelte, stand ein kleiner Lastwagen mit altersschwach durchsackender Federung, die Hinterachse auf Ziegelsteinen aufgebockt, daneben im zertretenen Gras eine Auswahl von Werkzeug. Die Tür des Schuppens stand offen, und eines der Fenster zeigte staubige Gingangvorhänge.

Ein Leben. Ganz. Eines Menschen Leben. Und nichts regte sich.

Die Wahl getroffen.

Plötzlich, das ärmliche Anwesen lag schon fast hinter ihm, überkam Pete ein Gefühl vollkommenen Wiedererkennens. Ungebeten, unwiderstehlich. Er bremste abrupt, lenkte den Wagen zum Fahrbahnrand, setzte zurück. Er starrte hinüber. Dann schaltete er die Zündung aus und verließ den Wagen. Die Luft war unbewegt und heiß. Er lehnte sich gegen den verwitterten Zaun aus Pfosten und Latten am Straßenrand. Stille. Hoch über ihm der Ruf von Wildgänsen, das ferne dünne Sausen ihrer Flügelschläge. Ein Wagen fuhr mit leise summender Turbine vorüber. Die Stille kehrte zurück.

Er erinnerte sich an diesen Ort. Schon einmal hatte er hier haltgemacht, als er unterwegs nach Süden gewesen war, hatte an diesem selben Zaun gelehnt. Vor siebzehn Jahren.

Wut hatte ihn während jener ersten Stunde vorwärtsgetrieben. Wut außerhalb jeden Gedankens, jeder Vernunft. Wut und ein Verlangen nach Vergeltung hatte ihn durch die weiten Kurven der Landstraße getragen. Auch Furcht vor dem, was er getan hatte. Vor den Folterungen, die sich daraus ergeben mochten.

Allmählich war seine Wut mit der wachsenden Distanz der zurückgelegten Kilometer abgekühlt, und das Verlangen nach Vergeltung hatte einer selbstgerechten Befriedigung Platz gemacht, die von Selbstmitleid nicht ganz frei gewesen war: Jetzt werden sie es bereuen, die alten Teufel. Jetzt, da es zu spät ist, wird es ihnen leid tun … Schließlich war nur die Furcht geblieben.

Er hatte den Wagen ausrollen lassen und haltgemacht. Hier. Er war ausgestiegen, mit zitternden Knien. Er hatte sich an den Zaun gelehnt … Und er hatte zu dem weiß gestrichenen Schuppen hinübergeschaut, zu der kleinen Bucht am Ende des Gezeitenstroms, zu den Booten und dem Sumpfgebiet, das sich bis zum fernen silbrigen Horizont erstreckte.

Eine Weile hatte er nichts davon wahrgenommen. Hatte nur seinen Vater gesehen, endlich aus der Zuflucht seiner Arbeit gerissen, den geordneten Reihen seiner Werkzeuge, der Werkbank, der abwehrenden Präzision von Meßverstärker und Kapazitätsdiode, wie er zuletzt aufgesprungen war und ihn angebrüllt hatte, häßlich, unrasiert, Speichel versprühend, grotesk mit den Armen fuchtelnd. Und seine Mutter hatte nicht eine Träne vergossen, hatte schweigend in der Tür zu seinem Zimmer gestanden, während er seine Sachen aus dem Schrank gerissen und hitzig in Koffer und Reisetasche geschmissen hatte. Trockenen Auges auf der Bretterveranda vor der Tür, als er den Gebrauchtwagen aus fünfter Hand beladen hatte, den sie ihm drei Monate zuvor an seinem siebzehnten Geburtstag geschenkt hatten. Trockenen Auges neben dem Briefkasten bei der Pforte, ohne zu winken, das Haus mit dem braunen Schindeldach still hinter ihr, als er explosiv davongebraust war. Aus einem Grund, einem Vorwand, an den er sich nicht einmal mehr erinnern konnte.

Schweigen und Tränenlosigkeit – ihre einzigen Waffen, ihr Stolz, ihr grausamster Vorwurf. Während Scudder Laznett außer Sicht geblieben war, ohne Zweifel wieder an seiner Werkbank, beim Zusammenlöten von Drähten, dem Herstellen von Verbindungen. Und der alte fette Labrador hatte träge im Schatten gelegen und kaum den Kopf gehoben.

Eine Weile hatte er nur diese Bilder gesehen, nichts sonst. Und die Furcht. Bis sein Sinn sich allmählich geöffnet hatte. Eine Wäscheleine, Hemden und Hosen, rotgewürfelte Hemden und verblichene blaue Drillichhosen. Boote, die im tiefen Wasser vor dem verwitterten hölzernen Anlegesteg vertäut waren. Nicht seinen Vater, nicht seine Mutter, nicht sich selbst. Unregelmäßige Brackwassertümpel zwischen niedrigen grünen Polstern junger Schilfrohrspitzen, so weit das Auge reicht.

Er erinnerte sich, daß er nichts darin gesucht und keine seelenerschütternden Schlüsse daraus gezogen hatte, wenigstens nicht bewußt. Und die Furcht war geblieben. Denn die Furcht war so wirklich und vernünftig wie die aufgestapelten Hummerkörbe und die Haufen der orangefarbenen Fischernetze. Aber sein Vater und seine Mutter waren zu bloßen Verzerrungen geworden. Und er selbst, zornig, rachsüchtig, auch eine Verzerrung.

So daß er später, als er bereit gewesen war, und ausgesöhnt, sich vom Zaun hatte abwenden und die Fahrt fortsetzen können. Seine Furcht hatte er als einen verständigen, in keiner Weise gefährlichen Reisegenossen mitgenommen.

Und mit ihr eine neue, weisere Empfindung: Trauer.

Pete blieb eine Weile an den Zaun gelehnt stehen und starrte hinüber. Nichts blieb. Die heimischen Schilfgräser waren der Wissenschaft zum Opfer gefallen und einer gezüchteten Hybridform des Schilfrohrs gewichen. Die Trauer war vergessen, überlagert. Und auch die Hummerkörbe, die Netze, die Hemden und Hosen, die weiße und blaue Farbe konnten nach siebzehn Jahren nicht dieselben sein. Und die Furcht?

Auch sie hatte sich verändert. Auf einmal schien es ihm, als ob der Bewohner des Schuppens jeden Augenblick zum Vorschein kommen könnte. Der Gedanke riß Pete aus seiner Erstarrung und veranlaßte ihn, daß er sich rasch umwandte. Er wollte den Mann nicht sehen, wagte es nicht. Er hatte ihn damals nicht gesehen, und so durfte er ihn auch jetzt nicht sehen. Er durfte ihn nicht kennen, sein Gesicht, seine Gestalt, seine ungezwungenen Bewegungen, wie er mit den Füßen stampfte und sich streckte und gähnte und sich anschickte, die Reparatur seines altertümlichen Lastwagens zu beenden. Ein ganzes Leben, gewählt und gelebt, war zuviel, und siebzehn Jahre eine zu lange Zeit.

Er ging rasch zum Wagen, setzte die Reise fort, ließ seine Furcht zurück und nahm als Reisegefährten nur eine erinnerte Trauer mit.

Nichts blieb. Er kehrte heim. Zu Vater und Mutter. Einem anderen Heim, einem anderen Vater, einer anderen Mutter. Ein anderer Er. Und jeder trug eine anders erinnerte Trauer in sich herum. Dornen. Dickichte … Die Befreiung würde nicht einfach sein.

Er hätte natürlich ein Dummkopf sein müssen, wenn er jemals geglaubt hätte, daß es einfach sein würde.

Er war.

Ein Dummkopf.

Aber er kehrte nicht um.

Die Straße schlängelte sich die Küste entlang, eine Stunde Fahrt, vorbei an Hinweisschildern auf winzige Fischereihäfen, Wintersportgebiete, Touristenmuseen, durch duftende Nadelwälder, vorüber an ausgedehnten Kartoffelfarmen und verlassenen Einkaufszentren. Pete betrachtete ihre verfallenden Reste. Weiter südlich hätte man solche Ruinen beseitigt und weggeräumt, aber wen kümmerte es hier oben, wo es soviel Land und sowenig Leute gab? Jeder Ort hatte von jeher seine Ruine gehabt, oder auch deren zwei, und sie boten einen romantischen, trostreichen Anblick – ausgenommen in jenem verrückten halben Jahrhundert, als man allenthalben gebaut und abgerissen, abgerissen und gebaut hatte. Ein paar Ruinen schadeten niemand. Die Touristen, genug von ihnen, aber nicht mehr als genug, kamen sowieso, und die Einheimischen hatten längst gelernt, nicht hinzusehen. Fleckenlosigkeit war etwas für andere Gegenden, für andere, auffälligere Temperamente.

Er fand, daß die verfallenden Supermärkte auch ihm nichts ausmachten. Er erinnerte sich an sie von früher. Nicht alle waren damals schon verlassen gewesen; einige hatten noch immer gegen den unerbittlichen Gang der Geschichte angekämpft: mit himmelhohen 3D-Anzeigetafeln und Sonderangeboten, die auf Fesselballons geschrieben waren, und einigen Fernsehstationen. Er zog sie so vor, wie sie jetzt waren, unaufdringlich und still, und war Conrad Huppel dankbar. Die Rettung der Zivilisation war ein langwieriges Geschäft, aber es ließ sich machen.

Ein drastischer Bevölkerungsrückgang war natürlich die Antwort gewesen. Aber das hatten alle seit mindestens vierzig Jahren gewußt und dennoch nichts dazu getan. Um eine Änderung herbeizuführen, waren drei zusammenwirkende Faktoren erforderlich gewesen. Erstens eine völlig sichere und verläßliche Technik der Empfängnisverhütung. Zweitens, ein starker Anreiz, davon Gebrauch zu machen. Und drittens, der geeignete historische Augenblick.

Sithel Cordwainer hatte die Technik bereitgestellt: einen Hochfrequenz-Ultraschallsender, der im Umkreis von einem Meter alle Spermien abtötete. Und Conrad Huppel, der Retter der Zivilisation, hatte den Anreiz geliefert: myoelektrische Vorrichtungen, welche die Orgasmus-Reaktionen eines Individuums empfingen und augenblicklich zurückspielten, wobei sie sie verstärkten und, nach der Wahl des Benutzers, eine Vielfalt von ausgedehnten, computererzeugten Überhöhungen aussetzten – angefangen von einem tröpfelnden Mini-Orgasmus, der praktisch unbegrenzt andauerte, bis hin zu einem betäubenden Schocker, der einem in zehn Sekunden das Schädeldach absprengte. Und weil er wahrhaftig der Retter der Zivilisation war, hatte Huppel die Dinge so miteinander verquickt, daß man das eine nicht ohne das andere haben konnte. Keinen Cordwainer ohne Huppel, und keinen Huppel ohne Cordwainer.

So hatten sie gemeinsam ein machtvolles Instrument entwickelt: eine empfängnisverhütende Methode, die nicht nur hundertprozentig wirksam war, sondern zugleich in der Anwendung sehr viel befriedigender als jede bloße Schwängerung herkömmlicher Art. Mit einem Wort, der höchste Genuß … – und dazu ökologisch vorteilhaft.

Dennoch war der dritte Faktor notwendig gewesen, um das Rezept zum Erfolg zu führen: der rechte historische Zeitpunkt, die richtige Kombination von menschlichem und sozialem Klima. Und die frühen 90er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hatten eine solche Kombination begünstigt.

Pete kannte die historischen Zusammenhänge. Zum fraglichen Zeitpunkt hatte die ungehemmte Vermehrung der Weltbevölkerung ein Ausmaß erreicht, daß der Weg in die Menschheitskatastrophe unausweichlich programmiert schien. Mit dieser Entwicklung war seit den 60er Jahren ein Verfall ethischer und sittlicher Normen einhergegangen. Eine von Zukunftsangst neurotische Menschheit, die in den überkommenen Werten ihrer zerfallenden Kultur keinen Halt mehr finden konnte, hatte sich, wahrscheinlich in dem Gefühl, daß es damit jeden Augenblick ein Ende haben konnte, dem Genuß zugewandt. Sensationen und Sinnenkitzel, Alkohol und Drogen waren gefragter denn je. Und von allem stand bei beiden Geschlechtern der Orgasmus hoch im Kurs.

Gleichzeitig gab es für jene, die ernster und verantwortungsbewußter dachten, Hunderte von gesellschaftlichen und politischen Bewegungen, und jede von diesen kämpfte ebenso verzweifelt wie vergeblich gegen die Unmöglichkeit an, etwas zu bewegen. Insbesondere die Frauen, von den Medien der Konsumgesellschaft zur Ware degradiert, unzufrieden mit der Wahl zwischen Kindern und Emanzipation, lehnten sich auf. Das Meinungsklima – von oben geprägt von neokonservativer Prüderie und Heuchelei – bedrängte sie, beides zu haben – aber das war, durch die schiere Mechanik der Sache, nicht möglich. Auch Männer waren unzufrieden: selbst unreif, umstellt von den falschen Idealbildern einer kommerzialisierten Unterhaltungsindustrie, kämpften sie nun um die Vorrechte ihrer vermeintlichen Überlegenheit, als versuchte jemand, sie ihrer Männlichkeit zu berauben. Pete kannte die historischen Zusammenhänge. Seine Generation wußte Bescheid. Sie hatte Anschauungsunterricht erhalten. Heutzutage lag die Betonung auf Teilhabe, und Gleichheit war für jene, die sie anstrebten, ohne weiteres erreichbar.

So war der historische Augenblick günstig gewesen, und Cordwainer und Huppel hatten zur rechten Zeit – und in letzter Minute – die Bühne der Menschheitsgeschichte betreten. Und so waren die scheinbar schon zum Untergang verurteilte Menschheit und ihre Zivilisation gerettet worden. Pete trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. Gerettet wozu? Er zuckte die Achseln. Für ein ruhiges, angenehmes Leben – und für die Spiele.

Er bog in eine Tankstelle ein und fuhr unter den Zapfautomaten, Benzin zu tanken, das er nicht brauchte. Er drückte sich. Noch war Zeit umzukehren, vor Dornen und Dickichten, vor einem Vater, der krank war, vielleicht im Sterben lag. Aber er war seiner Schuld müde. Und siebzehn Jahre waren eine geeignete Wendemarke – keine Entschuldigung, aber ein vernünftiger Augenblick in der Geschichte seiner Persönlichkeit, an dem er zurückkehren, sich loslösen und dann seinen Weg weitergehen konnte.

Also wartete er ungeduldig, bis der Automat fertig war und seine Ausweiskarte abgetastet hatte, um mit erneuter Entschlossenheit weiterzufahren.

Bis der Traum, der sich im Vorbeifahren an all den weiten Feldern und verfallenen Einkaufszentren unbemerkt gesammelt hatte, plötzlich über ihn hereinbrach.

Jedem anderen hätte es nichts bedeutet. Bloß eine Gruppe vernachlässigter Gebäude und das gelbe Blinklicht einer Kreuzung. Bankfiliale, C&C-Abholmarkt, Feuerwehr, Polizeirevier, Arztpraxis, Drogerie, Wasserturm, Schule. Alle offenbar noch in Benutzung, nahe beisammen, als suchten sie bei ihresgleichen Zuflucht vor der Weite der Landschaft. Und für ihn eine Traumwelt, seine Kindheit … Selbst Kates chinesischer Schnellimbiß. Die faule Kate mit der Hasenscharte und, wie gerüchteweise verlautete, einer falschen Brust. Aber sie wollte einem nie sagen, welche es war, dafür ließ sie einen fühlen, wenn sie einen mochte, aber nur mit einem Finger. Darauf durfte man raten, und sie lächelte ihr zusammengenähtes Lächeln und sagte es nicht. Ihr Imbiß war noch da, aber sicherlich nicht sie. Nicht nach siebzehn Jahren, lieber Gott, nein.

Mit Herzklopfen bog er unter dem Blinklicht nach rechts, die Anhöhe hinunter. Reifen quietschten – doch nicht seine? Er fuhr schneller denn je. Dieselben Sommerhäuschen, aufgereiht zwischen den Bäumen. Dasselbe abblätternde Schild über den mit Brettern verschlagenen Fenstern des Galorium-Lagerhauses, das nicht mehr und nicht weniger verfallen schien. Aber der alte, weiß gestrichene Holzbau der Leihbücherei, mit pietätvollen Erkertürmchen und neugotischen Spitzbogenfenstern, beherbergte jetzt eine Kegelbahn. Vorher, im Traum, war es ein öffentlicher Datenanschluß mit Einrichtungen zur Video-Einblendung gewesen, ein kleiner, unbedeutender Unterschied. Anscheinend hatten die Einheimischen heutzutage ihre eigenen Bildschirmgeräte. Oder kamen ohne aus, weil sie es so wollten.

An der Brücke über den Fluß endete die Ortschaft. Ein paar Kartoffeläcker, gelegentlich ein verlassenes Farmhaus. Drei Kilometer weiter kam er zum Beginn der Landzunge.

Er hörte auf, sich Gedanken zu machen, auf einmal war es ihm gleich. Der Wagen fuhr wie von selbst. Durch hohe Strandkiefern sah er den Ozean wie durch Gitter. Die Strandkiefern waren alte Feinde. Das Gras am Straßenrand behauptete sich mühsam gegen angewehten Flugsand. Der Sand knirschte zwischen seinen Zähnen. An ihrem Anfang, der schmalsten Stelle, war die Landzunge einen halben Kilometer breit, auf einer Seite der Strand, auf der anderen die Muschelbänke, Schlammflächen und die Bucht. Wenn man stehenblieb, kroch einem der Schlamm um die nackten Füße hoch.

Bald hatte er die Spitze erreicht, einen unregelmäßig geformten Vorsprung, dicht bewaldet, mit felsigen Ufern. Angetriebener Blasentang dampfte in der Sonne, füllte seine Lungen mit dem Geruch von Fäulnis, Salzwasser und Jod.

Weiter und weiter, vorüber an der Abzweigung zur Ferry Lane, deren Häuser vom Grün überwuchert und allmählich wieder zu den Bäumen wurden, aus denen sie erbaut worden waren. Aber ein Splitter von den Eingangsstufen vor Nummer vier hatte sich in seinen mageren kleinen Hintern gebohrt, daß ihm die Tränen gekommen waren. Und dann der Golfklub, vier oder fünf Wagen, wo früher vor lauter Chrom kein Durchkommen gewesen war, aber derselbe geharkte Kies und dieselben weißen Holzpfosten mit Ketten dazwischen, auf denen zu schaukeln ein Verbrechen gewesen war. Dann der Golfplatz – Bälle zwischen den Bäumen, siebzig Cents für den Jungen, der einen fand. Hör mal, Junge, du ziehst es einem aber aus der Tasche. Ein regelrechter Dieb bist du, Junge – das schwöre ich zu Gott!

Ein Stück hinter dem Golfklub stand ein Mädchen am Straßenrand, einen Fuß auf der Bordsteinkante, und band sich den Schnürsenkel. Frisch wie der Frühling. Schattenlos unter der Mittagssonne.

Lebendig.

Er hielt am Straßenrand bei ihr, entdeckte, daß seine Handflächen schwitzten und schob sie unter die Schenkel. Er würde sie nach dem Weg fragen.

»Wohnen Sie hier?« rief er.

Sie zog die Schleife an ihrem Schnürsenkel fest, richtete sich ungezwungen auf. »He«, sagte sie. »Einen hübschen Huppeltag.«

»Zum Teufel mit Huppel! Ich fragte, ob Sie hier wohnen?«

Sie lachte. »Sehe ich wie eine Sommerfrischlerin aus?«

Er dachte, im Gegenteil, wie natürlich und ungezwungen sie aussah. Er zog die Hände unter den Schenkeln hervor. »Snob«, erwiderte er. »Woher wollen Sie wissen, daß ich nicht selber Sommerfrischler bin?«

»Natürlich sind Sie keiner.«

Er fühlte sich geschmeichelt, aber wie konnte sie so sicher sein? Sein Wagen mit dem Kennzeichen der Stadt, seine korrekten, Eltern distanzierenden Stadtkleider, sein geschäftsmäßiger Schnurrbart … für seine Begriffe war ihm der Besucher aus der Stadt auf hundert Meter anzusehen.

»Können Sie mir sagen, wie ich zur Schulman-Villa komme?«

Sie stand mit verschränkten Armen da und schaute ihn an. »Sie sind Pete Laznett.«

Er lächelte, begegnete ihrem Blick. »Das ist großartig. Haben Sie mit meiner Mutter gesprochen?«

»Die meisten Tage. Sie ist die Größte.« Das Mädchen strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Mädchen oder Jungen?« fragte sie.

»Mädchen«, sagte er abwesend, beschäftigt mit der Frage, wie seine Mutter für irgend jemand die größte sein könne. »Das heißt, wenn ich die Wahl habe.«

»Einstweilen haben Sie die Wahl, Pete Laznett. Haben Sie vor zu bleiben?«

Sie war gut. Warm und ungezwungen. Aber: »Hat meine Mutter es Ihnen nicht gesagt?«

»Ich habe sie nie danach gefragt. Maudie ist ein bißchen altmodisch in solchen Dingen.«

»Ich meinte, hat sie Ihnen nicht gesagt, daß ich bleiben würde?«

»Kein Wort. Sie sagte nicht mal, daß sie Sie erwartet. Ist Ihr Besuch eine Feiertagsüberraschung?«

»Nun … vielleicht hat sie es vergessen.« Kein Wort? Und sie sprachen die meisten Tage miteinander?

»Vielleicht.« Das Mädchen kam einen Schritt näher. Hinter ihr funkelte das Wasser der Bucht im Sonnenschein. »Ich bin Grace Shakewell.«

»Sehr erfreut.« Er streckte den Arm aus dem heruntergekurbelten Wagenfenster, und sie tauschten einen Händedruck. Aber der Gedanke an die Verschwiegenheit seiner Mutter schmerzte. »Was ist mit meinem Vater? Erwähnte er nicht, daß ich kommen würde?«

»Scudder? Der ist ein vielbeschäftigter Mann.«

Womit entweder nichts oder zuviel gesagt war.

Vielleicht spürte sie es. »Na ja«, sagte sie, »Sie werden weiterfahren wollen. Das Schulman-Haus ist noch ein Stück die Straße hinauf. Bei dem alten Schuppen der Küstenwache nach links, dann die erste rechts. Es ist riesig. Sie können es nicht verfehlen.«

»Danke.«

Natürlich konnte er es nicht verfehlen. Er kannte die Landzunge, jede Straße, jedes Haus, wie er sein eigenes Spiegelbild kannte. Er hatte aus ganz anderen Gründen gehalten.

Eine Frage blieb. »Wenn Ihnen niemand gesagt hat, daß ich kommen würde, wie wußten Sie dann, wer ich bin?«

Grace neigte den Kopf auf die Seite und musterte ihn aus schmalen Augen. »Sie sind Scudder Laznetts Junge. Das sieht man auf einen Kilometer. Wußten Sie es nicht?«