ZWEI


 

 

Das Schulman-Haus war noch ein Stück die Straße hinauf. Beim alten Schuppen der Küstenwache nach links, dann die erste rechts. Es war riesig. Er konnte es nicht verfehlen.

In einem Schauer aufspritzenden Splitts war er weggefahren und hatte sie stehen lassen. Sie hatte ihm etwas nachgerufen, aber er hatte nicht hingehört. Hatte es nicht versucht. Er war Scudder Laznetts Junge. Man sah es ihm kilometerweit an.

Im Laufe von siebzehn Jahren hatte er eine Identität aufgebaut, zum Guten oder zum Schlechten. Die Leute anerkannten sie: Geschäftskollegen, Freunde, Emma und die Mädchen vor ihr. Er anerkannte sie selbst. Das Gesicht im Spiegel, das Bündel der Eigenschaften, alles unverwechselbar. Nicht ideal, ganz gewiß nicht, aber sein eigen. Im Laufe von siebzehn Jahren, zum Guten oder zum Bösen, manchmal durch Zufall, aber meistens durch Absicht, selbstgemacht im tiefsten Sinne des Wortes. Ein Mann ohne äußere Bezugspunkte.

Und nun sollte dies alles mit ein paar freundlichen Worten von einem unbefangenen Mädchen weggenommen sein? Scudder Laznetts Junge. Scudder Laznetts Gesicht. Was noch von Scudder Laznett?

Er wußte, daß er sich dem Mädchen gegenüber schlecht benommen hatte, und dachte daran, umzukehren und sich zu entschuldigen, aber was konnte er sagen? Du hast mein Selbstgefühl zerstört? Ich hatte mich für einzigartig gehalten, vollkommen wie aus Jupiters Stirn in dieser Welt entsprungen, und du hast mich zerstört? Das heißt, meine Eitelkeit ist zerstört, denn Scudder Laznett ist nur ein Mann wie jeder andere, mit Tweedjacken und Sonntagsessen, Familienbesuchen, Gelächter; weit mehr, sicherlich, als einer, der bloß herumschreit, häßlich und unrasiert, mit Speichel um sich sprüht und grotesk fuchtelt? Denn dies, so ungerecht war die Erinnerung, war das einzige Bild, das in seinem Gedächtnis reale Substanz hatte …

Also kehrte er nicht um. Und wenn Grace und er wieder zusammenkämen, was wahrscheinlich war, da die Landzunge eine überschaubare Bühne war, würde er Scudder Laznetts Junge sein, und Maudies Junge, was man ihm, wie die Dinge lagen, zugute halten würde.

Er fuhr statt dessen weiter, bog bei dem alten Schuppen der Küstenwache nach links und nahm dann die erste Seitenstraße nach rechts. Was ihn erwartete, waren Erklärungen, nichts Schlimmeres. Nicht die Frage, wer er war, denn diese war im Alter von vierunddreißig Jahren hinreichend beantwortet. Aber möglicherweise einige der Ursachen.

Die Schulman-Villa war riesig. Er erinnerte sich deutlich an sie. Zehn Schlafzimmer, alle mit Blick auf den Ozean, die Wohnräume des Personals im Mansardendach nicht mitgerechnet. Und ein Erdgeschoß, in dessen Räumen der alte Schulman Gesellschaften für zweihundert Personen gegeben hatte, ohne daß jemand sich beengt gefühlt hätte. Und in alledem klapperten Scudder und Maudie Laznett herum. Verrückt … Allerdings konnte man auch von ihm sagen, daß er in seinem Haus über der Stadt herumklapperte. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Es war ein ungewohnter Gedanke.

Die Straße endete in einer kurzen, kiesbestreuten Zufahrt, die einen Halbkreis um eine Gruppe von drei alten Pechkiefern beschrieb, welche sich dreißig Meter oder höher erhoben, bevor sie ihre mächtigen schwarzgrünen Kronen ausbreiteten. Das Gras unter ihnen war bedeckt mit langen braunen Nadeln. Hinter ihnen ragte das Haus auf, ein Bauwerk, das Flügel um Flügel und Anbau um Anbau, Giebel und Balkon, Ecktürmchen und Mansardenfenster, Terrasse und Wintergarten über vier Schulman-Generationen hin zuversichtlich gewachsen war und nun mit seinen hochgemauerten Kaminen und Zedernschindeln zu einem altertümlichen und einheitlichen Silbergrau verwittert war. So daß es nur weit mehr ein natürlicher Bestandteil der Landzunge schien, ein Auswuchs moosigen, zerklüfteten Gesteins, denn als bloßes Menschenwerk aus Mauersteinen und Schalungsbrettern.

Der letzte der Schulmans, Winton Schulman III., der alte Schulman genannt, war im 29er Jahr gestorben. Pete erinnerte sich, die Nachricht von seiner Mutter gehört zu haben, daß es irgendwo einen Vetter zweiten Grades gebe, der bereits mehr Häuser habe, als er gebrauchen könne, und daß das ganze Anwesen, mit Mobiliar, Ausstattung und allem, zu einem Spottpreis zum Verkauf stehe. Vier Jahre später, das Haus war noch immer unverkauft, hatte Scudder Laznett die günstige Gelegenheit erkannt und sich erbötig gemacht, einzuziehen, um nach dem Rechten zu sehen. Er hatte dem Erben einen Brief geschrieben: Möwen nisteten in den Schornsteinen und blockierten Dachrinnen und Ablaufrohre, die Stürme hätten Dachschindeln fortgetragen und den Eichhörnchen Zugang verschafft. Dann habe der Schnee eine oder zwei Verandaüberdachungen eingedrückt, und in den einstigen Dachkammern der Bediensteten hausten Fledermäuse.

Der Vetter zweiten Grades, der ganzen Sache überdrüssig und klug genug, in Scudder das kleinere Übel zu sehen, hatte eingewilligt. Das war vor neun Jahren gewesen, und seither hatten die Laznetts dort gewohnt.

Als Pete nun zum Haus hinauffuhr, glaubte er auf der breiten Veranda eine Bewegung zu sehen. Einst mußte es Moskitonetze gegen die Stechmücken gegeben haben, aber dieser wie gewisser anderer, spermischer Angelegenheiten hatte sich mittlerweile die Ultraschalltechnik angenommen, und jetzt war die Veranda offen, kühl und schattig unter dem von geschnitzten Holzsäulen getragenen Vordach. Und dort auf der Veranda stand, wie auf einem alten Druck, ein hochlehniger Schaukelstuhl, und in dem Schaukelstuhl, alle Bewegungen plötzlich angehalten, ein alter Mann: struppiges graues Haar, blauer Overall, schmutzigweiße Turnschuhe. Ganz still, nur ein helles Glänzen tief in jeder Augenhöhle zeigte, daß er nicht schlief.

Pete hielt den Wagen an und starrte. Scudder Laznett? Sein Vater? Das mußte er sein. Er wartete. Der Augenblick kam zur Ruhe, gerann. Die Sonne stand hoch am Himmel, eine gleichförmig grelle, tote Helligkeit verbreitend. Nichts regte sich. Nur die vom Duft der Kiefernnadeln erfüllte Luft trug ihm Geräusche von Bewegung zu, vom weichen Rauschen der Brandung unten an der Küste, auf der anderen, seewärts orientierten Seite des Hauses.

Pete öffnete den Wagenschlag, zwang sich hinaus auf den Kies, warf die Tür hinter sich zu. Das Geräusch war winzig, belanglos. Er scharrte mit den Füßen, winkte, rief: »He!« Winzige Geräusche, die in der schweigenden Arena der Bäume augenblicklich erstarben. Nur das rhythmische Rauschen der Brandung, bis sein Vater unvermittelt aufstand und zum Rand der Stufen kam, die zur Veranda hinaufführten. Dort stand er einen Augenblick lang, sehr aufrecht, eine Hand an einer der Holzsäulen, die andere lose herabhängend. Ein alter Mann mit eckigem Kinn, hageren grauen Wangen unter überhängenden Brauen, sehr aufrecht, mit der steifen, wachsamen Eckigkeit eines alten Mannes. Eine Karikatur. Sein Vater.

Pete rief wieder: »He!«, dann wandte er sich um und schwang seinen Koffer vom Rücksitz des Wagens. Als er wieder hinsah, hatte sein Vater ihm den Rücken gekehrt und ging zurück ins Haus. Er ging den breiten, gepflasterten Weg zu den Stufen hinauf. Vor ihm öffnete sich die Tür in tiefe Schatten. Und seines Vaters Stimme, kräftig wie eh und je, unpassend und erschreckend vertraut, rief: »Maudie!« Rief: »Er ist gekommen, Maudie!« Rief: »Ich habe es dir gleich gesagt!« Rief: »Und nun ist er da, gottverdammich!«

Die Tür fiel zu. Die Veranda war leer, wieder still. Nur der Schaukelstuhl tickte leise, während er allmählich zur Ruhe kam. Pete ging weiter, trug seinen Koffer die Stufen hinauf in den Schatten. Er war nicht überrascht, beinahe beruhigt. Wenn man Scudder Laznetts Junge war, wußte man wenigstens, wo man stand. Keine Zweideutigkeiten. Familienbesuche, vielleicht, aber niemals die Tweedjacken, die Sonntagsessen, das Gelächter. Krank? Niemals. Im Sterben liegend? Natürlich nicht. Und sein ursprünglicher Vorsatz war so gut wie erfüllt: zurückgehen, sich frei machen und dann den eigenen Weg fortsetzen.

Selbst der Traum störte ihn nicht mehr. Wachträume waren für die Schwachen. Und er war Scudder Laznetts Junge.

Er stieß die Haustür auf und ging hinein. Eine Eingangshalle, halbdunkel wie eine Höhle, mit unbestimmten, ans vergangene Jahrhundert gemahnenden Umrissen von niedrigen Teakbüffets und Ledersesseln und kühlen, nüchternen Abstrakten in breiten Chromrahmen. Konische Ständerlampen. Und eine auf das funktionale Skelett reduzierte Treppe, die zu einer blendend hellen, vom Sonnenschein durchstrahlten Galerie hinaufführte.

Er stellte den Koffer neben sich, rief: »Mutter?« Irgendwo im Obergeschoß, sehr entfernt, schlug eine Tür zu. Sein Vater, dachte er, der die üblichen fünf Zentimeter Fichtenholz zwischen sich und jede Form von Verwicklung legte.

Er rief wieder, diesmal lauter: »Mutter?«

»Bin in der Küche!«

Passend. Aber: »Wo, zum Teufel, ist die Küche?«

»Geh deiner Nase nach, Junge! Oder hast du vergessen, wie eine gute Fischsuppe mit Muscheln riecht?«

Er schnupperte. Und über dem Geruch von Teakholz, Fichte und Leder ein leiser Duft von Meer, würzig und zart. Nein, er hatte es nicht vergessen. Er ging zögernd weiter, durch riesige Räume, getäfelt mit gebleichtem Zedernholz, kaum wahrgenommen, mit brokatbezogenen Sofas und aus Treibholz gefertigten Lampen und protzig gemauerten Kaminen, Fenstern, die gefüllt waren mit Meer und Himmel, bis er zu einem in weiß gehaltenen Speisezimmer mit durchgehenden Fenstern kam, und jenseits davon, in einem komplizierten Museum von einer Küche, seiner Mutter.

Von den Gesprächen am Bildschirm hatte er geglaubt sie zu kennen. Aber nicht ihre Maße, ihre Kleinheit, ihre dickliche Bedeutungslosigkeit. Sie stand an einem langen elektrischen Herd, und als sie sich zu ihm umwandte, schien sie allen Müttern gleich, die er je kennengelernt hatte. Den Müttern anderer Jungen, die in geblümten Schürzen an elektrischen Herden und Anrichten standen. Siebzehn Jahre, die seinem Vater so wenig genommen hatten, vielleicht etwas körperliche Fülle, das Fleisch von den Wangen, hatten dies aus ihr gemacht.

»Also bist du gekommen«, sagte sie.

Und er war unvorbereitet. »Ich … ich hatte es versprochen.«

»Scudder sagte auch, daß du kommst. Aber ich hatte nicht darauf gezählt. Wir alle haben unser Leben zu führen.«

Er suchte nach Worten. »Es ist lange her.«

»Junge, Junge …« Sie kam einen Schritt näher. »Also bist du wirklich gekommen.«

Nun ging er zu ihr. In einer Hand hatte sie eine lange rot emaillierte Schöpfkelle, und hinter ihr dampfte es aus großen Stahltöpfen auf dem Herd. Sie hob ihm eine feuchtheiße Wange entgegen, daß er sie küsse.

Er küßte sie.

Plötzlich hatte er beide Arme um sie gelegt und drückte sie an sich. Sie war rundlich, fest und kräftig. Sie roch nach Essen und frisch gewaschenen Kleidern. Er umarmte sie mit verzweifelter Heftigkeit. Ihr Scheitel reichte ihm kaum bis zum Kinn. Er ließ seine Wange auf ihrem spärlichen, straff zurückgekämmten grauen Haar ruhen, schloß die Augen und drückte sie an sich, bis er durch den Oberteil ihrer geblümten Schürze ihren Herzschlag fühlen konnte.

Der Augenblick verging. Er öffnete die Augen und sah sich in diesem komplizierten Museum von einer Küche eine stämmige alte Frau mit einer roten Schöpfkelle in der Hand umarmen, eine Fremde. Er war erstaunt, verlegen, froh. Denn sie war unleugbar seine Mutter.

Er ließ sie los und trat zurück. »Es ist lange her«, wiederholte er. »Gut siehst du aus.«

Sie lächelte. »Scudder ist es, zu dem du willst«, sagte sie.

Es war eine seltsame Bemerkung, aber sie schien sie für ausreichend zu halten.

Sie wandte sich wieder ihren Kochtöpfen zu, tauchte den Schöpflöffel ein und rührte um. »Du bist gewachsen«, sagte sie über die Schulter. »Ich sagte immer, daß du noch wachsen würdest, aber er wollte nichts davon wissen. Jetzt, da du so groß bist wie er, wird er es glauben müssen.«

Sie trug das Haar im Nacken zu einem kleinen Knäuel zusammengesteckt, der tatsächlich mehr aus Haarnadeln als aus Haar bestand. Er starrte auf die Haarnadeln. Scudder ist es, zu dem zu willst … Sie war immer undurchsichtig gewesen, ihre Worte, ihre Absichten. Natürlich war er seines Vaters wegen gekommen. Eine Erinnerung?

Es waren wirklich mehr Haarnadeln als Haar. »Wie geht es ihm?«

»Scudder? Er wird schon herauskommen, wenn er soweit ist.«

»Es wird keinen Ärger geben, nicht wahr – ich meine, weil ich hier bin?«

»Ärger?« Sie hob die Schöpfkelle und wandte sich ihm zu, kostete vom Inhalt.

Pete zuckte die Achseln. »Er schien nicht sehr erfreut, mich zu sehen.«

»Nicht genug Salz.« Sie machte wieder kehrt und streckte die Hand nach dem langen Holzregal über dem Herd aus, auf dem in langer Reihe altmodische Porzellantöpfe standen.

»Ich sagte, er scheint nicht sehr erfreut, mich zu sehen.« Es mußte, in Gottes Namen, doch möglich sein, vernünftig miteinander zu reden, Fragen zu stellen und Antworten zu bekommen, selbst nach siebzehn Jahren.

»Scudder freut sich wirklich. Er wird herauskommen, wenn er soweit ist.«

»Es beruhigt mich, das zu hören. Es ist schließlich nicht einfach – auch nicht für mich.«

»Er hat seit zehn aufgepaßt. Das zeigt, wie erfreut er ist.« Sie streute Salz in ihre Töpfe. »Was mich angeht, ich zählte nicht darauf. Wir alle haben unser Leben zu führen.«

Die Worte wiederholten sich. Sie hatte sie tausendmal in ihrem Kopf vor sich hingesagt, in dem riesigen alten Haus, wenn sie ihrer Arbeit nachgegangen war. Er begriff, daß sie sie schützten, vor dem Nachdenken. Und nun vor dem Kontakt. Er erinnerte sich seiner Umarmung und verspätet fiel ihm auf, wie sie einfach gewartet hatte, die Schöpfkelle in der Hand, bis er fertig wäre. Auch in seinem Kopf kehrten die Wort wieder, und aus ähnlichem Grund. Dornen. Dickichte. Er hätte ein Dummkopf sein müssen, zu glauben, es würde einfach sein.

Er trat neben sie. Sein Vater konnte warten. »All diese Fischsuppe«, sagte er. »Wen erwartest du zum Essen? Die halbe Einwohnerschaft der Landzunge?«

»Du vergißt das Hummerpicknick zum Huppeltag.«

»Das was?«

»Draußen auf der Landspitze. Das Hummerpicknick zum Huppeltag. Jemand muß für die Fischsuppe sorgen.«

»Natürlich. Das Picknick.« Er hatte es wirklich vergessen. Fischsuppe mit Muscheln, frisch gekochten Hummer, Mais. »Das tun sie noch immer?«

»So sind sie. Bloß sind sie jetzt wir, Junge.«

Die Laznetts, die es in der Welt zu etwas gebracht hatten – das erste Mal, daß sie Gefühl zeigte.

»Bringt Basil immer noch den Hummer?«

»Basil ist weggezogen. Jetzt macht es Hartford. Du erinnerst dich an Hartford?«

»Den kleinen Hart? Natürlich erinnere ich mich an ihn. Was ist aus seinem Vater geworden?«

»Niemand lebt ewig. Hartford ist einunddreißig – so groß wie du, würde ich sagen.«

Der kleine Hart. Der mickrige kleine Hartford Ganz, für alle Zeit auf dem Klassenfoto fixiert, Verfasser von Liebesbriefen an Effie Googins, die sie nicht einmal geöffnet hatte. Er konnte nicht einunddreißig sein. In diesem Kümmerling war nichts gewesen, was einunddreißig hätte werden können.

»Was macht eigentlich Effie Googins?«

»Effie ist weggegangen. Lebt in der Stadt. Was in aller Welt bringt dich auf Effie Googins?«

»Sie war in Harts Klasse. Ich dachte nur.«

Seine Mutter verließ den Herd, trug die Schöpfkelle zur Spüle und hielt sie unter den Wasserhahn. »Wenn du es wissen mußt, Junge, Effie bändelt mit Karl Sandheim an. Arbeiteten beide für Harry Carpenter, bis er starb. Dann übernahmen sie die Postagentur, bis sie aufgelöst wurde. Darauf fing sie mit Jake Platt an, und sie zogen beide in die Stadt. Wie ich hörte, geht sie jetzt mit Josh Candel – der mit dem alten Meikeljohn immer die Müllabfuhr besorgte.«

Sie trocknete sich mit heftigen Bewegungen die Hände an der Schürze. Pete beobachtete sie. Er fragte sich, ob sie allein so urteile, oder ob ein Mädchen hier oben auf der Landzunge wegen einiger Liebschaften noch immer allgemein in Verruf kommen konnte. Arme Effie Googins – Karl, Jake und Josh, in siebzehn langen Jahren, und alle bekannt und numeriert. Und Harry Carpenter tot. Und was war mit dem alten Meikeljohn – machte er noch immer die Müllabfuhr? Aber Pete fragte nicht: er hatte genug von Namen, und von den traurigen, unzeitgemäßen Gesichtern, die zu ihnen gehörten.

»Ich habe viel nachzuholen«, sagte er. »Es ist lange her.«

»Nicht unsere Schuld, Junge. Du hättest bloß …« – seine Mutter brach ab, ging zurück zu ihrem Elektroherd. »Nimm einen von den Töpfen und trag ihn hinaus zu den Stufen, ja? Millie muß jeden Augenblick kommen, sie abzuholen.«

Sie selbst nahm den zweiten Topf und trug ihn zur äußeren Tür. »Ich hatte gelobt, daß ich dich nie bedrücken wollte. Aber ich wußte, daß es nicht einfach sein würde.« Sie öffnete die Tür. Auf dem Weg hinaus, ohne sich umzuwenden, setzte sie hinzu: »Wir müssen weitermachen, Junge. Tut mir leid.«

Nicht einfach. Nein. Pete nahm den zweiten Topf vom Herd und folgte ihr. Sein Instinkt riet ihm, sich zu entschuldigen, aber wofür? Schuldzuweisung war eine sterile Beschäftigung. Und eine halbe Lebenszeit war jenseits des Bedauerns.

Er stellte den Topf neben ihrem auf die Stufe. »Was nun?« fragte er.

»Ich hole den dritten Topf, und Millie bringt den Siedekessel. Da schütten wir alles hinein.«

Sie ging wieder hinein, um den letzten großen Topf mit Muschel- oder Fischsuppe zu holen, und ließ ihn vor der Tür auf dem Hof zurück. Durch die Küchentür gelangte man auf einen kleinen gepflasterten Hof, der von hölzernen Nebengebäuden, Garagen, Werkstätten, Holzschuppen umgeben war. Ober den Garagen erhob sich ein steil gegiebelter Uhrturm. Das Zifferblatt, viereckig und häßlich, hinter Glas, zeigte zehn nach zwölf. Das Brandungsgeräusch war laut hier draußen, und durch einen Torbogen zu seiner Rechten war die Schafinsel zu sehen. Im schmalen Schattenstreifen gegenüber hockten schläfrige Hühner.

Seine Mutter kam zurück. »Millie hat sich verspätet. Sie soll mit ihrem Derzeitigen Krach haben. Warum diese Leute nicht zur Ruhe kommen, werde ich nie begreifen.«

Pete nahm ihr den Topf ab und stellte ihn zu den anderen auf die Stufe. »Ich dachte«, sagte er, »hier draußen auf der Landzunge sei alles zur Ruhe gekommen.«

Bis auf Effie Googins natürlich. Die auch zur Ruhe gekommen war, aber auf andere Weise.

»Zur Ruhe gekommen? Die Zeit ist dagegen, Junge.«

Er überlegte, ob er sich auf eine Diskussion einlassen sollte; sie lebte in der Vergangenheit: heutzutage konnte man wählen. Beständigkeit war die Devise. Es kam darauf an, zu wissen, was man wollte, und dabei zu bleiben. Aber er blieb still. Zur Ruhe kommen hatte für sie offenbar verschiedene Bedeutungen, je nachdem, ob sie den Begriff auf Millie Carter oder auf sich selbst anwendete. So mochte sie als Zwang oder Beengung empfinden, was ihm Freiheit bedeutete.

Er zeigte über den Hof. »Du hältst Hühner, sehe ich.«

»Hab das bei einem Mann noch nie gemocht. Herablassendes Gerede, meine ich.« Ihre Stimme war ohne Nachdruck, aber ihr Blick suchte den seinigen und hielt ihn fest. »Ich bin kein Dummkopf, Junge. Behandle mich nie, als ob ich es wäre.«

Er schwindelte. »Wie meinst du das?«

Und wurde von der geräuschvollen Ankunft eines großen gelben Kombiwagens im Hof gerettet. Oder dachte es.

Aber: »Ich meine, ich brauche deshalb nichts für Liebenswürdigkeiten übrig zu haben. Das war nie so. Der eine lebt so, der andere so. Wenn du glaubst, daß ich unrecht habe, sag es!«

Der Kombiwagen wendete, setzte ruckartig zurück und rutschte ein Stück über das Pflaster, ehe er zum Stillstand kam. Seine Mutter winkte der Frau am Steuer zu. »Tu mir den Gefallenjunge!«

Sie ging auf den Wagen zu und öffnete die breite Hecktür. »Du hast dich verspätet, Millie«, sagte sie.

Pete blieb bei der Haustür und sah zu, wie die drahtige Frau mit den kurz gekräuselten grauen Locken die Tür aufstieß und die Beine herausschwang. Millie Carter – Weihnachts-Freßkörbe für die ganze Ferry Lane …

Sie ging zum Heck des Wagens, wo seine Mutter bereits einen großen Siedekessel aus Aluminium herauszog. »Du tust mir leid, Maudie Laznett.« Sie faßte mit an, und gemeinsam stellten sie den Kessel auf die Pflastersteine. »Wird es dir nie zuviel, so recht zu haben?«

»Eines Tages vielleicht, meine Liebe. Schließlich ist es das einzige wirkliche Vergnügen, das mir geblieben ist.«

Pete sah zu und hörte sie miteinander scherzen. Der eine lebt so, der andere so. Sein Glaubensbekenntnis. Seit siebzehn Jahren hatte er sich nicht mehr so zurechtgewiesen und abgefertigt gefühlt.

»Steh nicht so herum, Pete! Bring einen von den Töpfen! Du erinnerst dich an meinen Jungen, Millie? Gerade gekommen.«

Er hob den nächstbesten Topf auf und ging zum Wagen.

»Deinen Jungen? Ob ich mich an deinen Jungen erinnere? Maudie ich schwöre dir, daß ich echte salzige Tränen vergoß, als er fortging.« Sie ergriff ihn bei den Schultern, wich dem Topf aus und küßte ihn auf beide Wangen. »Und sieh ihn dir an! Hübscher und stattlicher denn je. Die Stadt hat ihm gut getan. Wirklich, Maudie!«

Er schwankte. »Freut mich, Sie zu sehen, Mrs. Carter.«

»Ist er nicht ein lieber Kerl? Und wie es mich erst freut, dich zu sehen, Pete.«

»Die Fischsuppe wird im Kessel besser aufgehoben sein als auf den Steinen«, sagte meine Mutter.

Er schüttete den Inhalt des Topfes hinein und kehrte um, die beiden anderen zu holen.

»Heute morgen gekommen? Wie findest du es hier? Nichts hat sich geändert. Die Jahre hinterlassen ihre Spuren, natürlich. Wir alle werden älter.«

»Sie nicht, Mrs. Carter. Sie werden nicht älter.«

Sie sah wie hundert aus. Als nächstes würde er sich mit dem Ärmel die Nase wischen.

»Und wie das duftet! Deine Mutter macht einfach die beste Fischsuppe. Ich bin neunundvierzig, Pete, feierte kürzlich zum sechsten Mal meinen neunundvierzigsten Geburtstag. Oder war es das siebte Mal, Maudie?«

»Das achte, meine Liebe. Aber wer zählt schon nach?«

»Und heute ist Goldener Huppeltag. Und du bist da, und wir alle sind da, und du kommst gerade recht zu unserem Huppeltags-Hummeressen.«

Meine Liebe, in der Tat. Zu Mrs. Millie Carter aus der hintersten Ferry Lane. Seine Mutter wollte sich offenbar bestätigen. Und der Himmel bewahre ihn vor dem Huppeltags-Hummeressen!

»Ich habe eine lange Fahrt hinter mir, Mrs. Carter, und der Feiertagsverkehr … Ich dachte … nun, vielleicht könnte ich einfach …«

»Aber du bist eingeladen. Ich will nichts davon hören. Du kannst uns von deinem Leben in der Stadt erzählen. Ich hörte, mit der neuen selbststeuernden Kabinen-U-Bahn klappt es nicht recht. Und ich möchte, daß du Gaston kennenlernst. Wie lange wirst du bleiben? Er ist Frankokanadier, und wir haben noch unsere Flitterwochen. Er mag junge Leute – du wirst ihn großartig finden!«

Der Kessel war voll, und er schraubte den Deckel fest und half ihnen, den Kessel wieder in den Wagen zu heben.

»Trotzdem, Mrs. Carter, ich glaube wirklich …« Ein Blick über die Schulter zu dem weitläufigen riesigen Haus bestärkte ihn in seinem Zögern. Irgendwo da oben, hinter einer geschlossenen Tür, schwankend zwischen Groll, Verlegenheit, Furcht … »Mein Vater. Vielleicht sollte ich lieber nur …«

»Tu das, Junge!« Seine Mutter schlug die Hecktür zu. »Geh und hol ihn heraus! Bring ihn mit!«

Sie nahm ihre Schürze ab, bündelte sie zusammen und gab sie ihm. »Dann werden wir jetzt fahren, Junge.« Sie ging schon zur anderen Seite des Wagens. »Das Hummeressen beginnt um eins. Bis dann!«

Sie stieg ein. Millie Carter, nicht faul, stieg auch ein. Der gelbe Kombiwagen schoß aus dem Hof und die Zufahrt hinunter. Pete stand da, lächelte kläglich und mußte einräumen, daß sie ihre Sache gut gemacht hatte. Er mußte es seiner Mutter lassen: ein Minimum an Anstrengung, ein Maximum an Ergebnissen. Dann hob er die leeren Töpfe auf und trug sie ins Haus zurück.

»Scudder?«

Er stand in der halbdunklen Eingangshalle, am Fuß der Treppe.

»Diese Frauen lassen nicht locker, Scudder! Wir müssen zu ihrem verdammten Hummeressen gehen, ob es uns gefällt oder nicht!«

Auf keinen Fall wollte er das Haus durchsuchen, von einer geschlossenen Tür zur nächsten schleichen. Groll, Verlegenheit, Furcht – was immer es war, Scudder mußte sich früher oder später damit auseinandersetzen, warum also nicht jetzt?

»Was du tust, kann warten, Scudder. Wir haben eine Verabredung mit der besseren Gesellschaft.«

Und der hilfreiche neue Name. Von Mann zu Mann, ein anderer Vater, ein anderer Sohn. Beide mit verschieden erinnerten Kümmernissen, vielleicht konnten sie einen neuen Anfang machen.

»Ich brauche dich, in drei Teufels Namen. Diese Millie Carter wird mir die Haut abziehen.«

Er wartete. Eine Tür wurde geöffnet. Schritte. Sein Vater stand auf der Galerie am Kopf der Treppe und schaute herab.

»Ich laß mich nicht anschreien, hast du gehört? Ich muß diesen Bildschirm richten.«

»Der Bildschirm kann warten. Ich bin von weither gekommen. Und vielleicht nicht zu früh. Aber spuck mir nicht bloß ins Gesicht, ja?«

»Und nicht zu früh. Das hast du gesagt.«

»Gut. Dann schmeiß mich raus! Aber verkriech dich nicht einfach!«

Theatralisch. Aber sie mußten miteinander reden. Zeit verging. Pete konnte sich nicht vorstellen, was in seines Vaters Kopf vorging. Der alte Mann stand am Kopf der Treppe, bewegungslos, dunkel vor der Helligkeit der Galerie, das Gesicht fast unkenntlich. Schließlich richtete er sich auf.

»Muß mich umziehen«, sagte er. »Wenn wir zu diesem gottverdammten Hummerpicknick gehen, muß ich mich umziehen.« Er wandte sich ab.

Pete eilte ihm nach, die Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend. »Was meinst du, kann ich so gehen?«

Scudder blieb in der Türöffnung stehen, musterte ihn von oben bis unten. »Sie werden nicht wissen, wie ihnen geschieht.«

Er ging weiter in das anstoßende Schlafzimmer, und Pete folgte ihm. Der Raum, eingerichtet mit Mahagonimöbeln des 19. Jahrhunderts, gab den Blick über die See frei. Dort lag die Schafinsel, flach und sehr grün, umrandet von einer dünnen weißen Brandungslinie. Die Wände des Raumes waren silbrig-blau tapeziert und zeigten geprägte Rocailleverzierungen. Das Bett, bemerkte Pete ohne Überraschung, war ein Einzelbett.

»Hübsch habt ihr es hier«, sagte er.

»Deiner Mutter gefällt es.« Scudder knöpfte die Träger vom Latz seines Overalls. »Werde eine Dusche nehmen. Dieser Zirkus geht erst um eins los, nicht?«

»Um eins. Das sagte sie.«

Während sein Vater sich auszog, saß Pete auf einem samtgepolsterten Stuhl mit feiner Messing-Einlegearbeit auf Lehne und Armstützen.

»Es ist unglaublich, Scudder, dich nach den Jahren in der Ferry Lane so zu sehen. Großartig. Ich kann nicht sagen, wie sehr ich mich für euch beide freue.«

Sein Vater riß sich die Turnschuhe von den Füßen und schleuderte sie über den Chinesischen Seidenteppich. »Das Beste daran ist, daß ich für alles das keinen Handschlag gearbeitet habe. Es fiel mir in den Schoß. Manchmal glaube ich, die Welt steht kopf.« Er ließ den Overall in einem Knäuel am Boden liegen und ging zur anderen Seite des Zimmers, wo eine Tür in ein Bad aus schwarzem Marmor führte. »Zu viele Dinge, zu wenig Leute – nichts hat mehr einen Wert.«

»Mutter sagte mir einmal, du hättest hier ein Wohnrecht auf Lebenszeit.«

»Und ob ich es habe. Sie und ich – schriftlich.« Scudder hielt inne. »Für dich ist nichts drin, wohlgemerkt. Alles fällt an irgendeinen reichen Kerl unten im Süden, wenn wir nicht mehr sind.«

»Was wird dann damit geschehen?«

Sein Vater zuckte die nackten eckigen Schultern. »Wir halten nur den Verfall auf. Das Haus wird unsere Lebenszeit aushalten, nicht viel mehr. Aber eine erstklassige Lage …« Sein Blick begegnete Petes und hielt ihn fest. »Natürlich wird ein bißchen auf der Bank sein. Das heißt, wenn ich nicht zuerst sterbe und deine Mutter den Rappel kriegt und auf Weltreise geht. Nicht, daß du es nach allem, was ich gehört habe, brauchen wirst.«

Es hätte eine versteckte Anklage sein können. Pete beschloß, es nicht zu glauben. »Ich komme zurecht. Nichts von dieser Art, aber ich beklage mich nicht.«

Besitz, Geld, Vermögen. Garderobengespräche. Aber für Pete, mit seinem Vater, eine neue Erfahrung, die ihn anrührte. Eine, auf die er nicht vorbereitet gewesen war.

Er sagte: »Ihr hättet mal herunterkommen können, du und Mutter, und selbst sehen.«

Scudder kratzte sich die Brust. »Sie ist eingewurzelt, glaube ich. Die kriegst du hier nicht raus.« Er zog die Unterhose aus und ging unter die Dusche.

Pete lehnte sich zurück und beobachtete seinen Vater durch das Milchglas. Der magere, ungebeugte Körper des alten Mannes hatte ihn beeindruckt. Möglicherweise war das auch beabsichtigt gewesen. Nun, das machte ihm nichts aus. Sie wußten so wenig voneinander. Als er die Treppe heraufgestiegen war, hatte er auch den Bauch eingezogen. Scudder Laznetts Junge. Wie die Dinge sich entwickelten, mochte es zwischen ihnen sogar klappen.

Aber krank? Dem Tode nahe? Nach allem Anschein ausgeschlossen. Vielleicht hatte er mißverstanden, weil er unbedingt eine Erklärung gesucht hatte. Siebzehn Jahre waren genug. Er war natürlich erfreut, daß sein Vater so wohlauf schien. Aber eine nörgelnde Enttäuschung blieb. Er war gekommen, vorbereitet auf ein Drama, nicht auf Garderobengespräche, die vertraulich schienen, es aber nicht waren.

Also rief er kühn: »Wie geht’s dir eigentlich?«

Der gläserne Spritzschutz glitt zurück. »Was sagst du?«

»Ich fragte, wie es dir geht.«

Sein Vater drehte die Dusche ab und langte nach einem Handtuch. »Viel zu tun«, sagte er.

»Das weiß ich. Ich meinte, dir selbst. Gesundheitlich.«

»Eins habe ich in meinem langen Leben gelernt: man soll andere nie fragen, wie es ihnen geht. Es besteht die Gefahr, daß sie es einem erzählen. Und dann steht man da und macht ein dummes Gesicht.«

Scudder trocknete sich ab, bis die grauen Haare auf seiner Brust und am Unterbauch wie Drahtwolle abstanden.

»Geh vorher noch zur Toilette. Ich habe schon unter der Dusche gepinkelt.«

Sie passierten einander in der Türöffnung. Pete benutzte die Toilette, dann zog er die Jacke aus, schob die Ärmel hoch und wusch sich am Waschbecken.

Sein Vater war offensichtlich zu einer Entscheidung gelangt. Was immer seinen früheren Rückzug verursacht hatte, war jetzt abgetan. Er hatte eine Einstellung gefunden. Vielleicht hatte die Anrede Scudder – die unkommentiert geblieben war – geholfen … Er wartete, sah zu, wie das Wasser in den Abfluß lief. Als er zurückdachte, wurde ihm auf einmal klar, daß sie ihn nicht ein einziges Mal mit dem Namen angeredet hatten. Das Junge seiner Mutter war mit monotoner Häufigkeit gekommen, mehr Interpunktion als Anrede. Aber von seinem Vater, nichts.

Als er ins Schlafzimmer zurückkam, stopfte Scudder Laznett ein frisch gebügeltes blaues Hemd in eine dunkelblaue Hose. Er bückte sich, um sein knopfgroßes Funksprechgerät vom Overall loszumachen, dann richtete er sich auf, blickte in den Spiegel und fuhr sich mit der Hand leicht über die fünf Zentimeter borstigen grauen Haare.

»Zeit für einen Klaren, bevor wir gehen.« Er blickte im Spiegel zu Pete. »Oder bist du immer noch anti? In den alten Zeiten warst du ein ganz frommer kleiner Bastard.«

»Großvaters Beispiel reichte, um jeden zum Anti zu machen.« Pete lachte. Es war nicht gefährlich, diese Anspielung zu machen. »Aber das ist lange her.«

Wenn schon ein gesundheitsschädliches Laster, dann zog er das Rauchen den harten Spirituosen vor, die seines Vaters Generation noch immer in sich hineingoß. Aber jetzt war nicht die rechte Zeit, es zu sagen. Gemeinsam verließen sie das Schlafzimmer. Oder einstweilen vielleicht nur nahe beieinander. Als er über die Schulter blickte, sah Pete den Overall seines Vaters noch immer am Boden liegen, die Turnschuhe, wo er sie hingeschleudert hatte, seine Unterhose auf den Fliesen in der offenen Badezimmertür. Er erinnerte sich an die aufgeräumte Ordnung des Raumes, als sie gekommen waren. Augenscheinlich war seine Mutter im Aufheben und Aufräumen so unverdrossen wie eh und je.

Sie gingen die Treppe hinunter.

»Wenn ich an deinen Großvater denke, der war nie ein echter Hiesiger, von der Landzunge. Wohlgemerkt, ich bin froh, daß er keiner war, aber er hätte aufhören und weggehen sollen.«

Wie ich, dachte Pete. »Was ist ein echter Hiesiger?«

»Ein Kerl, der zu bösartig und filzig ist, um anderswo zu leben.«

Zu glatt, eine vorgefertigte Antwort, die er sich vor langer Zeit zurechtgelegt hatte und bei der er seitdem geblieben war, aus Sicherheitsgründen. Hände weg! Was Pete verstand und ihn, wie alle anderen, hingehen ließ.

Das Erdgeschoß lag in einem ungewissen Licht. Die umgebenden Bäume und überdachten Veranden auf zwei Seiten filterten das Tageslicht. Dabei war es kühler als dieser Umstand allein erklären konnte. Eine Wärmepumpe irgendwo im Dachgeschoß, wahrscheinlich, und jedes Zimmer mit einem eigenen Lomparex. Kostspieliges Wohnen: Extraktionsanlagen für Partikel geringer Masse kamen teuer, aber sie ersparten eine Menge Mühe mit dem Staubwischen. Er fragte sich, was seine Mutter mit ihrer Zeit anfing, wenn sie nicht staubwischen mußte. Sie räumte auf, natürlich. Aber in der Ferry Lane schien der Kampf gegen den Flugsand ihre Hauptbeschäftigung gewesen zu sein.

»Bourbon?« Sein Vater stand an einem mit Flaschen beladenen Tisch in der Fensternische eines blauen, in italienischem Stil der Jahrhundertwende eingerichteten Zimmer. »Es ist auch Scotch da, wenn dir der lieber ist.«

»Ein Jim Beam wäre mir recht.«

Sein Vater fummelte mit Eiswürfeln, dann reichte er ihm ein Glas und prostete ihm zu. »Auf das Wiedersehen.«

»Auf das Wiedersehen.«

Besitz, Geld, Eigentum – und nun Spirituosen. Wenigstens hielt er mit. Vielleicht würden sie eines baldigen Tages sogar dazu kommen, miteinander zu reden.

Er trank seinen Bourbon und blickte umher. »Wo wohnt ihr eigentlich – wenn ihr keine Gäste habt, meine ich. Sicherlich nicht hier drinnen.« Das Zimmer war ein eingeplantes Monument, das auf die Ohs und Ahs des geführten Rundgangs wartete.

»Hier drinnen? Ich sage dir, hör auf deine Mutter, dies ist Gottes eigenes Empfangszimmer.« Scudder füllte sein Glas mit Gin auf. »Nein – wir haben unsere eigenen Zimmer. Meins ist oben. Ich hätte es dir zeigen sollen, als wir dort waren.«

»Macht nichts. Es ist Zeit genug.«

»Ja.« Scudder schien daran zu zweifeln. »Du bleibst also?«

»Ich dachte, eine Woche oder so, wenn es …«

»Fein. Großartig – bleib, solange du willst … Hier, laß dir nachschenken!«

»Nein, danke. Wirklich nicht …«

»Aber du hast kaum angefangen.«

»Trotzdem, ich möchte lieber nicht …«

Als er zurückwich, der beharrlich nachdrängenden Whiskeyflasche auszuweichen, wurden sie beide von einem scharfen, knatternden Ton aus Scudders Funksprechgerät unterbrochen. Ein P6 – höchste Priorität. Scudder schaltete ein, fragte aber nicht einmal. »Rufen Sie später«, sagte er vorsichtig. »Nach vier, vielleicht.«

Dann bot er Pete abermals die Flasche an. »Bist du sicher?«

»Ganz sicher, danke.«

»Nun komm schon …!«

Aber Pete war besorgt. Er hatte den Ton wiedererkannt. »Hör zu, du brauchst nicht auf mich Rücksicht zu nehmen! Das hörte sich ziemlich wichtig an.«

»Es kann warten.« Scudder ging gemächlich zum Tisch zurück, stellte die Flasche weg und sah auf seine Uhr. Das Funksprechgerät blieb still. »Sie machen sich alle wichtig … Wollen wir dann gehen? Es ist kurz vor eins. Und sicherlich gibt es eine Schlange von hier zur Hölle und zurück.«

Pete widersprach nicht. Es gab Bestimmungen für die Behandlung von Prioritätsfällen, lieber Himmel. Mißachtung konnte einen die Lizenz kosten. Auf der anderen Seite wäre ein echter P6-Ruf wahrscheinlich nicht so gehorsam verstummt. Er folgte seinem Vater aus dem Haus.

Scudder stand auf den Verandastufen und beschirmte seine Augen mit der Hand. »Dein Wagen gefällt mir«, sagte er. »Werden aber gehen. Beine wurden lange vor Rädern erfunden, wie deine Großmutter zu sagen pflegte.«

Pete hatte seine Großmutter nie gekannt. Sie war in den schwierigen achtziger Jahren gestorben, in einem Benzinkrawall umgekommen, oben an der Großtankstelle.

Es hatte Leute auf der Landzunge gegeben, die gesagt hatten, damals habe sein Großvater angefangen zu trinken. Aber es gab andere, die behaupteten, der alte Laznett habe es schon Jahre vorher mit der Flasche gehabt, was auch der Grund dafür gewesen sei, daß seine hübsche kleine Frau oben an der Tankstelle gewesen sei: sie hätten das Benzin gebraucht, und er sei nicht in der Verfassung gewesen, es zu holen.

Sie gingen an seinem Wagen vorbei die Zufahrt hinunter. Vater, Mutter, Großvater, Großmutter … – längst vergessen geglaubte Erinnerungen. Hinweise auf Kontinuität. Bereicherung oder Fesseln, das wußte er noch nicht. Aber er hatte wenigstens riskiert, sie zurückkehren zu lassen.

»Hast du von unserem UFO gehört?«

Pete erschrak. »UFO? Ich sah etwas, ja. Aber ich dachte, es sei ein Meteorit gewesen. Die Leute sagten es.«

»UFO oder Meteorit, jedenfalls hat es ein Mordsloch gemacht.«

»Ich weiß.« Er hatte die Bilder gesehen: Wissenschaftler, die um eine geschwärzte Fläche in dem wenige Hektar großen Naturschutzgebiet standen, das in der Mitte der Landzunge dem zerstörerischen Erschließungsfieber früherer Jahrzehnte entgangen war; Wissenschaftler, die mit einer Handvoll verzunderter Erde vor der Kamera posierten und zu wissen vorgaben, was es verursacht hatte. Bei ihrer nächsten Video-Einblendung hatte er seine Mutter danach gefragt, und sie hatte gesagt, es seien Kinder gewesen, die mit Feuerwerkskörpern gespielt hatten. »Ich hörte, es sollen Kinder gewesen sein, die mit Feuerwerkskörpern gespielt hatten.«

Sein Vater lachte und stieß erheitert mit dem Fuß in den Kies der Zufahrt. »Das größte Feuerwerk, das ich je gesehen habe, wenn es das war. Da ist ein Loch im Boden, mindestens zehn Meter tief. Und der Durchmesser – du solltest sehen, wie es die Bäume erwischt hat. Nicht verbrannt, wohlgemerkt – einfach verdampft.«

»War es nicht im letzten Winter?« Er war damals nicht so sehr interessiert gewesen. War es auch jetzt nicht. Das Loch stellte ein Geheimnis dar, und im allgemeinen mochte er keine Geheimnisse. Er konnte keinen Sinn in ihnen sehen.

»Am siebten Oktober. Kurz vor dem ersten Schnee. Etwas Elektrisches, würde ich sagen – machte jeden Bildschirm der Landzunge kaputt. Kostete mich Wochen, sie zu reparieren. Du solltest sehen, wie es die Bäume erwischt hat. Nicht verbrannt, nein – einfach verschwunden. In Luft aufgelöst.«

»Das … das würde ich mir gern ansehen, Scudder. Wirklich!«

Der alte Mann legte Pete den Arm um die Schultern. »Und du solltest es sehen. Ich werde es dir selbst zeigen.«

So gingen sie einträchtig die sandüberwehte Straße hinunter zum alten Schuppen der Küstenwache. Und alles, weil er Interesse an einem verwünschten Loch im Boden vorgegeben hatte. Aber es war eine Wirtshauskameraderie, die nicht von Dauer war.

Am Schuppen der Küstenwache bogen sie nach links und gingen weiter, hinaus zur Landspitze. Fahrzeuge parkten entlang den Straßenrändern und von überallher kamen die Leute zusammen, und Scudders Kameradschaft schrumpfte, und er ließ Pete einen Schritt zurück, und sein Gespräch – selbst über den UFO-Absturz – zerging zu nichts, und sie hätten die Fremden sein können, die sie waren.

Hummerpicknicks waren hier auf der Landspitze seit einhundertzweiunddreißig Jahren der Brauch. In den Grashang über den Felsen war eine Gedenktafel eingelassen, die des ersten Hummerpicknicks gedachte – angebracht von den Carters, deren Vorfahren angeblich dabei gewesen waren. Einhundertzweiunddreißig Jahre Muschelsuppe, Mais und Brot und gekochten Hummer frisch aus der Bucht, mit zerlassener Butter, und Bier für die Erwachsenen und Brause für die Kinder, und Spiele, und manchmal Musik … – alles eine Tradition der reichen Villen- und Sommerhausbesitzer.

Der Heimatklub gab eins, die Tennis-, Golf- und Jachtklubs gaben jeder eins, Pete erinnerte sich, daß seinerzeit sogar die Vereinigung christlicher Mütter eins veranstaltet hatte, und einmal im Jahr, am Huppeltag, gab der Bürgerverein der Landzunge eins. Zu dessen Mitgliedern die Laznetts – denn die Zeiten änderten sich, jawohl – nun unleugbar gehörten.

Pete sah, daß sein Vater ganz recht gehabt hatte: die Schlange vor der Essensausgabe erstreckte sich zwar nicht zur Hölle und zurück, aber doch mindestens fünfzig Meter auf die Straße hinaus. Er und Scudder stellten sich an, gemeinsam, aber jeder für sich. Er drängte nicht, es war Zeit genug: statt dessen beobachtete er die Leute. Und sah, daß für sie, im Gegensatz zum größten Teil der Bevölkerung, Selbstvertrauen und Zufriedenheit nichts Neues waren. Die Leute der Landzunge hatten fünf Generationen des Wohlstands hinter sich, fünf Generationen des Auswählens und Vorziehens, des Wissens, was man wollte und des Beharrens darauf. Und irgendwie sah man dies den Menschen an.

Nicht im Sinne von Weltmüdigkeit oder Lebensüberdruß, denn die Leute von der Landzunge waren niemals weltmüde, das schmeckte zu sehr nach kontinentaler Dekadenz, sondern von selbstverständlichem Anspruch. Von ihnen ging die ungebrochene Überzeugung aus, daß ihnen die guten Dinge von Rechts wegen zustanden, und nicht etwa durch sozialen Aufstieg, sondern kraft des Erbrechts an den Eroberungen der Vorväter. Sie waren, soweit sie zu diesem Kreis gehörten, ein selbstzufriedenes Volk, zwanglos im Umgang miteinander, zwanglos auch im Umgang mit der ganzen Schöpfung.

Es zeigte sich auch in einer unbetonten Konformität. Die Modefarben der Damen waren dieses Jahr Rosa und Smaragdgrün. Möglicherweise waren das jedes Jahr die Modefarben: rosa und smaragdgrün geblümte Kleider, rosa Blusen über smaragdgrünen Hosen. Und die Männer in weißen Hemden und vernünftigen Drillichshorts. Bei jungen Männern, deren Brustmuskulatur und Bizeps es vertragen konnten, sah man vereinzelt an Stelle von Hemden bunt aufgesprühte Farbenphantasien. Eine Konformität auch des Akzents und der Haltung. Man stand in der Sonne, man plauderte zwanglos, lachte ungezwungen. Wer die Essensausgabe passiert hatte, setzte sich zu Bekannten ins Gras, suchte Schatten unter den wenigen struppigen Kiefern und schlürfte die dicke heiße Suppe. Eine bunte Gesellschaft, heiter und ungezwungen.

Die Schlange rückte vor, und die Laznetts, Vater und Sohn, waren weder heiter noch ungezwungen. Scudder eingezwängt in sein Blau-in-Blau, Pete in seinem korrekten Straßenanzug.

Aber die Leute der Landzunge wurden selbst damit fertig.

»Hallo, Scudder. Ein seltener Anblick heutzutage.«

»Viel zu tun, Armon. Muß meinen Unterhalt verdienen.«

»Garstige Worte, Sir. Garstige Worte … Das Ihr Junge?«

Scudder starrte in den Staub vor seinen Füßen. »Armon Stace – mein Sohn Pete.«

»Frohen Huppeltag, Pete. Freut mich, Sie zu sehen.«

Pete schüttelte die dargebotene Hand. »Schönen Huppeltag, Mr. Stace.«

Er erinnerte sich an die Staces als an Leute, die den Sommer in ihrer Villa auf der Landzunge verbrachten. Armon mußte einer der Caddy-Brüder sein, die zwischen ihren Geschäften immer wieder für eine oder zwei Wochen heraufkamen. In der Ferry Lane waren sie immer mit einem geringschätzigen Unterton als die Caddy-Brüder bekannt gewesen, ununterscheidbar in ihren Zehnmeter-Limousinen. Jetzt hieß es Armon und Scudder.

»Gerade erst angekommen, Pete? Ihre Mutter sagte mir, Sie lebten unten in der Stadt, seien eine große Nummer in Geschäftsspielen.«

»Von großer Nummer weiß ich nichts, Mr. Stace. Ich bin Schiedsrichter. Seit elf Jahren im Geschäft.«

»Da werden Sie es bald zum Koordinator bringen … Erzählen Sie, Pete! Auf welchem Gebiet sind Sie tätig? Was mich angeht, ich spiele den Rohstoffmarkt.«

»Ich bin in der Lebensmittelkonservierung. Anlagen zur Gammabestrahlung, Lomparexe, solche Dinge.«

»Schade. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir ein paar Tips geben. Mein Koordinator hat mich mit einer Knappheit an Kakaobohnen konfrontiert. Könnte freilich ein Manöver sein – daß ein anderer Mitbewerber Bestände zurückhält.«

»Der Rohstoff markt war schon immer riskant, Mr. Stace.«

»Richtig. Aber Sie kennen meinen Koordinator nicht. Der Kerl hat mehr Tricks auf Lager als eine Wagenladung Affen.«

»Er spielte nach den Regeln, genauso wie wir alle es tun.«

»Man muß daran glauben. Letztes Jahr war ich Branchendritter im nationalen Wettbewerb. Das würde ich nächstes Jahr gern übertreffen.«

»Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen.«

»War nur ein Scherz, Pete. Man darf nicht aus der Schule plaudern, ich weiß das … Nun, Scudder?« Das Stillschweigen des alten Mannes war gewachsen, wie eine giftige Wolke. »Bei Ihnen hat es ja keinen Zweck zu fragen, in welchem Spiel Sie sind. Sie sind ein vielbeschäftigter Mann.«

»Wenn ich es nicht wäre, würde ich trotzdem nicht spielen.«

»Kein Wettbewerbsgeist Scudder Laznett. Das ist Ihr Fehler.«

Pete lachte ungezwungen. Sehr ungezwungen. »Er trifft seine Wahl. Das schadet nichts.«

Er hörte sich an wie ein Altardiener der Spielgesellschaft, aber es war ihm gleich … Armon war einer der Caddy-Brüder. Und sein Vater war sein Vater.

Der ihn nicht brauchte. »Ich habe mehr Wettbewerbsgeist in meinem kleinen Finger, Armon Stace, als Sie in Ihrem ganzen Körper haben, bloß bewahre ich ihn mir für die Wirklichkeit auf.«

Armon Stace, einer der Sommerhausbesitzer und einer der Caddy-Brüder, legte dem alten Mann in schwerfälliger Freundlichkeit die Hand auf den Arm. »Wie Ihr Junge sagte, wir treffen unsere Wahl. Sie tun es auf Ihre Weise, Scudder. Ich tue es auf meine.«

Vielleicht hieß es jetzt Armon und Scudder, aber in Wirklichkeit hatte sich auf der Landzunge überhaupt nichts geändert.

Die Schlange rückte weiter vor.

Armon Stace wandte sich der älteren, rosa und smaragdgrün gekleideten Frau zu, die neben ihm stand, vertieft in ein Gespräch mit der smaragdgrünen und rosa Frau vor ihnen. »Amy, dies ist Scudder Laznetts Junge. Gerade aus der Stadt gekommen. Du erinnerst dich an Pete, nicht wahr?«

Dank langer Übung war es Amy ein leichtes, auf Verlangen augenblicklich das Thema zu wechseln. »Aber natürlich erinnere ich mich … Hallo, Pete – meine Güte! – wie Sie kräftig und groß geworden sind! Und was waren Sie für ein dünner kleiner Kerl. Und ein Schnurrbart! Ich wette, Sie haben alle Mühe, die Frauen abzuwehren.«

Ihr augenrollendes tantenhaftes Wohlwollen ekelte ihn an. »Warum sollte ich sie abwehren? Ist es nicht der fünfzigste Jahrestag unseres guten Huppel?«

Aber sie war feuerfest. »Erinnern Sie mich nicht daran, Junge. Erinnern Sie mich bloß nicht daran!«

Immerhin wandte sie sich ab und wieder ihrer Gesprächspartnerin von vorher zu. Und Armon mit ihr. Und Pete verspürte ein tiefes Mitgefühl für seinen Vater, der sich in der Schulman-Villa verkrochen hatte und nicht mehr in seiner eigenen Welt lebte, aber auch nicht in der ihrigen.

Endlich erreichten sie die Essenausgabe. Seine Mutter schöpfte ihre Fischsuppe aus dem Wärmekessel. Auch sie, wie er plötzlich bemerkte, in Rosa und Smaragdgrün. Er nahm ein Plastikschüsselchen, und sie füllte es.

»Dann hast du Scudder also ausgegraben«, sagte sie laut von der anderen Seite, als gelte es, ihre gegenwärtige Untertanentreue zu den anwesenden Vertretern der Oberklasse zu bekräftigen.

Die Bemerkung schien keiner Antwort zu bedürfen.

Als er weiterging, um sich vom Mais zu nehmen – einheimischer Ernte, an diesem Morgen frisch gesammelt –, hörte er sie hinter sich. »Wenn du schon hier bist, Scudder, würde es dir nicht weh tun, ein Lächeln zu zeigen.«

Er bekam seinen Mais und das Brot und den hellrot gekochten Hummer direkt aus dem Kochtopf auf den Pappteller und die Portion zerlassener Butter und eine Dose Bier von Millie Carter und zwei weiteren Frauen, die aufgereiht hinter den Tischen der Essenausgabe standen, und wanderte auf der Suche nach einem Sitzplatz davon. Sein Vater zog es vor, ihm nicht zu folgen, sondern machte es sich statt dessen am Rand der Felsen bequem, wo er auf die See hinausblickte. Pete verstand den Fingerzeig und hielt sich von ihm fern.

Die Luft summte von Gesprächen. Umgestaltung des Hauses, Großtaten bei den Spielen, Familienneuigkeiten. Und Touristen aus dem Heimatklub waren zu begrüßen, Wärme und Gastfreundschaft auf Armeslänge. Von allen Seiten drang es auf Pete ein. Er machte den alten Etheridge Saul aus, einst ihr Nachbar in der Ferry Lane, der seinen Unterhalt als Hausmeister in den Villen der Reichen verdient hatte. Nun trank er Bier mit einem Mann in weißem Hemd und Shorts, den Pete nicht erkannte. Etheridge im gelben Polyesteranzug. Wo hauste der alte Etheridge heutzutage? Wahrscheinlich oben im Van Dayton-Landhaus. Und der kräftige junge Mann, der die Hummerportionen einteilte und dessen Blick ihn flüchtig und ohne Wiedererkennen gestreift hatte, war der mickrige Hartford, Basil Ganz’ Sohn, nun sichtbare einunddreißig. Er suchte sich einen freien Platz auf der Rasenfläche, setzte sich nieder und hielt Ausschau nach Grace Shakewell, dem Mädchen am Straßenrand, konnte sie aber nicht finden und fühlte sich plötzlich einsamer, als er es seit Jahren getan hatte.

Zwischen den Köpfen und Schultern sah er seinen Vater am Rand der Felsen sitzen, dunkel vor dem erstaunlichen Blau des Ozeans und der dünn dunstigen Hügelkette auf der anderen Seite der Bucht, eine Hummerschere zerbeißen und Bruchstücke der Schale ausspucken. Auch allein. Irrtümlich stolz, irrtümlich verdrossen … Befangen in der Vorstellung, belagert zu sein. Aber ganz gewiß nicht einsam.

Und auf einmal kamen Pete die Worte seiner Mutter in den Sinn, und er verstand, was sie ausgedrückt hatten, und erschrak über ihre erbarmungslose Wahrnehmung. Scudder ist es, zu dem du willst. Und sie hatte recht gehabt. Krank oder nicht, in verschiedenen Irrtümern befangen, unleidlich, war es dennoch vor allem anderen in der Welt Scudder, zu dem er Zugang suchte.