Der Bevölkerungsrückgang
Jahr 40: Anfang November
9
An jenem Dienstagmorgen war ich um acht Uhr am Hauptbahnhof und hatte die obligatorische kleine Tasche für eine Übernachtung dabei. Der von uns geplante Ablauf war ebenso alt wie ein Spionagefilm aus dem letzten Jahrhundert – diese spezielle Variante hatte Mark mit Hilfe von Yvettes Zugfahrplan ausgetüftelt. Ausländische Studenten sind für Dinge wie Zugfahrpläne nützlich, die kein Einheimischer je besitzt.
Am Fahrkartenschalter kaufte ich eine verbilligte Tagesrückfahrkarte – laut, jedoch nicht demonstrativ laut – zu einem Ort im Norden, wo es ein größeres IVF-Versuchszentrum gab und somit einen Grund für meinen Besuch. Der Zug stand rauchend und abfahrbereit am Bahnsteig. Ich bestieg ihn, schloß mich in einer Toilette ein, nahm die beiden Schutzschilde aus meiner Tasche und legte sie mir auf Hals und Hand. Dann ging ich den Gang entlang, bis ich ein Abteil mit wenigen und weiblichen Reisenden fand. Ich verzog das Gesicht, betrat das Abteil hastig, brummelte etwas davon, daß ich vor einem Liebhaber auf der Flucht war, und verließ es auf der anderen Seite. Die Frauen mußten mir nicht unbedingt glauben, sie sollten nur keinen Lärm schlagen. Sie taten es nicht. Es wäre auch sinnlos gewesen.
Das Besteigen des nächsten Zugs war schwieriger. Der Türgriff befand sich außer Reichweite über mir, und die Waggonseite war glatt, aber auf Bodenhöhe gab es außen Stufen, und es gelang mir, mit einem Sprung und einiger Mühe daraufzugelangen. Ich schloß die Tür gerade im Augenblick, da der Zug, den ich verlassen hatte, abfuhr. Ich durchquerte den zweiten Zug, fand den Nahverkehrszug, den ich benötigte, auf dem nächsten Bahnsteig, blieb darin und kaufte eine Fahrkarte beim Schaffner, als er vorbeikam. Nach drei Haltepunkten stieg ich aus, wartete einige Minuten und bestieg daraufhin einen Zug in die Richtung, in die ich wirklich wollte, nach South Foreland, wobei ich erneut eine Fahrkarte beim Schaffner kaufte.
Ich saß da und ließ die Welt an mir vorüberziehen. Wenn alles nach Plan verlaufen war, war ich verschwunden. Angenommen, man spürte mir nach, so hatte ich ihre Spürgeräte abgeschüttelt. Ich hatte eine Zugfahrkarte erstanden, einen Zug bestiegen und war verschwunden – ein Effekt, den sie einer Interferenz zuschreiben konnten, dem abschirmenden Metall des Wagens. Wenn sie mir vertrauten und jemanden anriefen, der meine Wanze am anderen Ende des Wegs wieder aufspüren sollte, so befänden sie sich in Schwierigkeiten, und wenn sie mir nicht vertrauten und sogleich eine Suche in Gang setzen, so befänden sie sich noch immer in Schwierigkeiten – sie konnten im ganzen Land nach mir suchen und hatten keine Wanze, der sie folgen konnten.
Ich erzähle das deshalb so ausführlich, weil ich mich ganz genau daran erinnere, welches Vergnügen es mir bereitete, sie zum Narren zu halten. Ich konnte mir nicht vorstellen, weshalb ich es für schmutzig gehalten hatte. Der Mechanismus war die reinste Freude, diese Tür und jene Tür, diese Fahrkarte und jene Fahrkarte – ebenso wie die einfache Tatsache meines Verschwindens. Ich war nirgendwo. Ich existierte nicht. Die Illusion war großartig, aufregend, ein neuer Anfang. Ich saß da und sah die Welt an mir vorbeistreichen und fühlte mich einzigartig frei.
Das Gefühl war nicht von Dauer. Die Welt, die an meinem Abteilfenster vorüberzog, das waren die Vorstädte, daraufhin riesige, ebene Felder, bis zum Horizont in große Schollen gepflügt, grau im Frost unter einem noch graueren Himmel. Vor mir lagen eine dreistündige Bahnfahrt und bei meiner Rückkehr die Ministerin, Marton und Sergeant Milhaus. Ich war einzigartig frei.
Wir hatten Anna nicht zur Schule gehen lassen. Nach dem falschen Alarm vom Vortag ging ich keine Risiken ein. Mark blieb bei ihr zu Hause – er mußte an seinem UV-Artikel arbeiten. Bis wir Anna an einen sicheren Ort bringen konnten, würde sie das Haus nicht verlassen und nie allein sein. Ich hatte selbst bei ihr bleiben und Mark auf diese Reise schicken wollen, aber er hatte seit unserer Hochzeit vor sieben Jahren kein Wort mehr mit Mama gewechselt, und er kannte sie sowieso kaum. Und die Insel, zu der ich fuhr, hieß auch nicht umsonst ›Nomansland‹: obgleich es nicht völlig das bedeutete, was es besagte – es gab männliche Mitglieder der Gemeinschaft, die in der Schule unterrichteten –, stünden die Chancen gut, daß unbekannte Männer, die an den Schultoren auftauchten, wieder heimgeschickt wurden.
Mama war seit etwa zehn Jahren dort. Oma, die an der Klosterschule unterrichtet hatte, jedoch niemals Nonne geworden war, war jetzt tot. Sie war nicht alt gewesen, und sie war letztes Jahr gestorben, an nichts Besonderem. Laut Notarzt: Herzversagen. Ich vermißte sie noch immer sehr, insbesondere, wenn ich gute Nachrichten mitzuteilen hatte, aber wenn sie ihre Gründe gehabt hatte, respektierte ich sie. Vielleicht hatte sie mit siebzig, nach einem vierzigjährigen Leben in einem widersinnigen Bevölkerungsrückgang, die Nase voll gehabt. Andererseits versagten Herzen aus ihren eigenen, geheimen diastolischen Gründen.
Mama war jetzt eingekleidete Nonne. Armut, Keuschheit, Gehorsam… Armut und Keuschheit machten ihr bestimmt nichts aus – sie hatte Dinge nie als Eigentum betrachtet, und Sex war so verwirrend für sie gewesen, daß ein Leben ohne ihn auf heiligem Grund und Boden eine Erleichterung darstellte (die Homo-Phase war sicherlich nur ideologisch begründet gewesen) –, aber Gehorsam mußte ihr sehr schwerfallen. Daß sie daran festhielt und darunter gedieh, war sowohl Mama als auch der Gründerin des Ordens zuzuschreiben. Bei meinem einzigen kurzen Kontakt mit Margarethe Osterbrook anläßlich Papas Beerdigung hatte mich ihre robuste Spiritualität beeindruckt. Sie hatte einen langen Weg von der öligen Vehemenz während meiner Kindheit zurückgelegt. Selbst Fernsehpredigerinnen können sich entwickeln.
Eigentlich hatte sie ihren Orden gar nicht richtig gegründet. Er war ihr vielmehr aufgrund öffentlicher Nachfrage zugefallen. Für die Töchter von Gott der Mutter gab es jetzt Klöster in siebenundzwanzig Ländern. Selbst keine Nonne, gab Osterbrook den Klöstern völlige Selbständigkeit der Leitung, während sie weiterhin predigte und ständig umherreiste. Bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen ich über ihre Fernsehclips gestolpert war, hatte ich den Eindruck gewonnen, daß sie ihre Gefolgsleute zweifellos liebte, sie jedoch nicht sonderlich mochte. Das verlieh ihren Worten eine erfrischende Schärfe.
Bei meiner Ankunft in Nomansland erwartete ich, als Mutters berühmte Tochter, ein nicht gerade übertriebenes Willkommen. Klöster sind niemals Orte der Schwäche – es benötigt Härte, um Leute auf sogar nur halbwegs friedliche Weise zusammenleben zu lassen –, und ein Kloster, das auf Margarethe Osterbrooks Lehre beruhte, wäre ebenso hellwach und gewitzt wie jedes andere.
Der Zug fuhr ganz schön schnell über die flache südliche Ebene – 500 Kilometer in gerade mal etwas mehr als zwei Stunden –, und stieg dann jäh hinauf zu den Bergpässen der Küstenscheide. Dort oben hatte der November Fuß gefaßt, und die baumlosen Nordflanken der Gebirgskämme waren von Schnee gestreift. Der Zug fuhr über steil abfallende Serpentinen, und nur der leere Raum raste unterhalb meiner Fenster dahin. Falken kreisten, und ein winziger Fluß wand sich durch den fernen Talgrund. Die graue Bewölkung wurde dünner und ließ eine weiße Sonne durchscheinen. Der Zug erreichte den höchsten Paß und schwang sich auf der anderen Seite im Zickzack hinab. Uns voraus lagen tief drunten die Inseln vor dem South Foreland – Nomansland die nächstgelegene und größte. Umgeben waren sie von schneeweißer Gischt in einer schwarzen See. Die Gischt blitzte auf zwischen Baumstämmen, steilen Felsauswüchsen, den Giebeln alter Jagdhütten und verschwand dann, als der Zug weiter hinabstieg.
Am Bahnhof wartete ein Bus, der mich über die Brücke zur Insel bringen sollte. Die Stadt auf dem Festland, ein altes Fischerdorf, blühte und gedieh jetzt, nachdem die Anlage der Meeresenge die harte körperliche Arbeit auf Frauenmaße herabgeschraubt hatte, und Fraueninitiativen hatten internationale Übereinkünfte erwirkt, nach denen die Fischbestände in den nördlichen Meeren wieder aufgestockt werden konnten. Die Straßendecken der Stadt wurden jetzt geheizt und trocken gehalten, und mein Bus kam an einem riesigen, überdachten Sportstadion mit Schwimmbad vorüber, das bei meinem letzten Besuch noch nicht dort gewesen war. Der Bevölkerungsrückgang hatte den Mannschaftssportarten schwere Zeiten beschert, aber Einzelwettbewerbe standen so hoch im Kurs wie eh und je.
Nomansland war die einzige Insel, die noch immer mit South Foreland durch eine Brücke verbunden und bewohnt war. Weltweit sinkende Bevölkerungsraten hatten die anderen Inseln entvölkert. Als meine Großmutter zum erstenmal nach Nomansland gekommen war – damals hieß es Pakke –, gab es dort Farmen, ein großes, privates Internat sowie ein ganzjährig bewohntes Dorf. Jetzt war nur noch die Schule verblieben. Man hatte sie ausgebaut, so daß sie einer Anzahl von neunzig Personen, Nonnen wie auch Mädchen und Schulpersonal, genügte.
Der Bus setzte mich draußen vor den Klostertoren ab, an der Kehre auf der Klippenspitze am Ende der Insel und der kilometerlangen Brücke. Ich war einziger Fahrgast gewesen, und als der Bus wieder zum Festland zurückfuhr, blieb ich einen Augenblick lang auf dem gemeißelten rotschwarzen Fels der Fahrbahn stehen, benommen von der Stille, während es in meinen Beinen noch immer von den Rädern und dem Motorgeräusch summte. Nur der Wind tönte mir zischend in den Ohren, sowie die leisen Geräusche der See auf dem Fels tief unten. Winterliches Sonnenlicht schien durch die Wolken, hob das Weiß der wie ein Pfeil wirkenden Brücke und das Orange des Busses, klein wie ein Punkt, scharf hervor, während er ins Unsichtbare entschwand.
Ich wandte mich den Toren des Klosters zu. Sie bestanden aus Riffelglas in schmalen Rahmen und waren von innen erleuchtet, so daß an einem grauen Tag wie diesem der Bogengang in der hohen Wand der Schule Willkommen verheißend wirkte – trotz der bedrückenden Inschrift Nomansland, die darüber eingemeißelt war. Und jenseits, oberhalb der Mauer, ragten drohend die Dächer und Türmchen des alten Klostergebäudes auf, einstmals eine sommerliche Zufluchtsstätte der königlichen Familie. Die Tore mochten zerbrechlich und nutzlos erscheinen, aber dank der modernen Materialien und moderner Elektronik waren sie gewiß keins von beidem. Nicht, daß sie sehr vieles hätten draußen halten müssen – und drinnen hielten sie lediglich die wenigen Schülerinnen, die geil genug waren, den langen Fußmarsch zum Festland (kein Busfahrer würde sie mitnehmen) und zu den groben und bereiten, allzu groben und allzu bereiten, Liebhabern auf sich zu nehmen, die sie dort finden würden. Nein, die Funktion der Tore paßte zu den darüber eingemeißelten Buchstaben, bestätigten diese. Nomansland: Gott die Mutter war in Ihrem Himmel, und die Welt war völlig in Ordnung.
Warum dann wollte ich Anna hierher schicken, ich, die ich keines dieser Angebote akzeptierte? Ich zuckte die Achseln. Weil ich, verdammt noch mal, keine andere Alternative hatte.
Ich trat vor. Bei meinem letzten Besuch bei Mama hatte sich eine kleine Pforte automatisch bei meiner Annäherung geöffnet, und eine Stimme vom Band hatte mich hineingebeten zu einer vierschrötigen Nonne hinter einem Schalter. Als ich heute an den Toren ankam, geschah gar nichts. Die Pforte war noch immer vorhanden, und daneben befand sich jetzt ein diskreter kleiner Klingelknopf. Ich drückte darauf. Nach einer angemessenen Pause wurde das Tor von einer hübschen, eindeutig nicht vierschrötigen Nonne geöffnet. Die Klosterpolitik war eine andere geworden. Kein Blenden mehr mit Wissenschaft. Technik war ›out‹, das menschliche Gesicht ›in‹. Das war wohl auf die Eltern gezielt. Technischen Schnickschnack hatten sie sich seit langem abgewöhnt, und dies war im wesentlichen eine Schule.
Ein Schild auf der linken Brust der Nonne identifizierte diese als Tochter Annika. Sie nahm mich sanft beim Arm und führte mich zur Rezeption, wo sie mich nach Namen und Absicht fragte. Sie ging auf den Zehen, schlängelte sich mit der Grazie eines Menschen mit schwarzem Judogürtel dahin. Unter der neuen Ordnung nahm man nur wenige Risiken in Kauf.
Mama arbeitete in der Küche und in der Video-/Holo-Bibliothek. Meiner Erfahrung nach konnte sie leicht für ein fünfzehnminütiges Gespräch mit ihrer Tochter im Gesprächszimmer losgeeist werden. Wollte man mehr, mußte man zuvor schreiben oder anrufen. Ich buchte Mama für mein übliches kurzes Treffen und bat daraufhin Tochter Annika, mit dem Büro der Äbtissin des Klosters Kontakt aufzunehmen, da ich unbedingt mit Ihrer Ehrwürden zu sprechen hätte. Mama konnte mir einen Rat geben, wie ich Annas Fall dem Sanktuarium präsentieren sollte, aber nur die Äbtissin des Klosters konnte die Sache genehmigen.
Annika runzelte entzückend die Stirn – ihre Haut war erlesen, von der Röte von Engelsgesichtern auf Seidenmalerei – und sagte mir, daß derart kurzfristige Anfragen ungewöhnlich seien, sie jedoch täte, was sie könnte. Sie tippte auf Knöpfe, sprach, hörte zu und berichtete, daß ich Glück hätte – die Äbtissin würde sich mit mir während der Ruheperiode nach dem Essen treffen. Man würde mich zur Mahlzeit mit dem Schulpersonal im Refektorium willkommen heißen und vorher – sie klingelte mit einer kleinen Messingglocke – würde mich eine Novizentochter zu einem der Gesprächsräume bringen, wo meine Mutter, Tochter Elizabeth, rasch zu mir käme.
Ich dankte ihr. Ringsumher im Kloster murmelte es; Füße scharrten, Stimmen ertönten und gelegentliche Ausbrüche von Kindergelächter. In der Ferne spielte jemand Klavier, begleitete ein Cello. Die Nonne, die auf die Glocke hin kam, war eine hübsche junge Frau, deren sexuelle Ausstrahlung durch den geschorenen Kopf und das triste braune Hemd nicht im geringsten beeinträchtigt wurde. In einer Welt, in der sie wahrscheinlich zölibatär lebte, bot sie ihre Sexualität Gott der Mutter dar. Ich hoffte, sie würde es bis zur Einkleidung schaffen, aber die stürmischen langen Schritte und die feuchte Fülle ihrer Lippen verhieß Schwierigkeiten. Und die verlangenden Blicke, die sie den Kleidern unter meinem Mantel zuwarf, dem grauen Wildlederanzug und der einfachen, hochgeschlossenen Jerseyjacke, die ich bescheiden genug für die Äbtissin gehalten hatte. Ich mußte meinen Mantel sowie zumindest den rechten Handschuh anbehalten: sie tarnten die Abschirmung über meinen Wanzen.
Die Novizin führte mich von der Rezeption über einen gepflasterten, viereckigen Hof zum Hauptverwaltungskomplex des Klosters und verließ mich in einem Gesprächszimmer, das ich vorher noch nicht gesehen hatte. Es stammte völlig aus dem vergangenen Jahrhundert. Chintz und dunkle Eichentische mit geschwungenen Beinen, ein guter Canaletto-Druck oberhalb des zeitgenössischen Kamins sowie eine gute Aussicht aufs Meer. Jedoch stand ein kürzlich installierter Kaffeeautomat dort, und die Novizin hatte gesagt, ich könne mich bedienen, also tat ich es. Ich stand beim Fenster, die Tasse in der Hand, und blickte aufs Meer hinaus. Auf die Freiheit. Ich dachte an den entschiedenen Klick des Verbundglastors hinter mir sowie an meinen Impuls, mich umzudrehen und mit den Fäusten gegen das Glas zu hämmern. Vermutlich gab es hier drin Leute, die das Klicken des Tors behaglich fanden.
Ich hatte dem Impuls widerstanden. Ich war auf Stippvisite. Anna, mir sehr ähnlich und ebenfalls auf Stippvisite, würde dem Impuls auch widerstehen.
Es klopfte an der Tür. Ich rief etwas, und Mama trat ein. Sie strahlte.
»Harriet. Was für eine liebe Überraschung! Wie schön, dich zu sehen.«
»Mama… du siehst großartig aus.« Es stimmte. Sie brauchte das Tor und sein Klicken. Sie ließ ihren Ärger draußen, den nagenden Ärger. Das Klicken sagte ihr, daß sie zu Hause war. Die lachende Mama war das Mädchen, in das sich mein Vater verliebt hatte. Sie war die glücklichste Frau, die ich kannte. Sie gehörte hierher, wo sie diente und niemals enttäuscht wurde. Gott die Mutter und Jesus hatten durch die weise Vermittlung der Äbtissin ihr wildes Pochen am Tor geprüft, hatten Grenzen für sie gezogen, ihr Selbstachtung verliehen. Sie zu besuchen war ein Vergnügen.
Sie war ebenfalls ein wenig schwachsinnig. Kein Alzheimer-Schwachsinn, mit achtundfünfzig, sondern ein schwachsinniger Schwachsinn.
Wir umarmten einander. »Harriet – ich habe dir soviel zu erzählen. Und wie geht’s der kleinen Anna? Fängt bald mit der Schule an, schätze ich. Meine Göttin, wie sie wachsen!«
Bei jedem Treffen brachte ich sie auf den neuesten Stand der Dinge, aber sie glitt immer wieder zurück. Die Welt draußen hatte an jenem Tag für sie angehalten, da sie ihrer für Jesus und Gott die Mutter entsagt hatte. Psycho-Engineering hätte das Problem vielleicht gelöst – das war das Gebiet meines Nachbarn Peter Simpson –, aber die Ärztin des Klosters sah wenig Vorteile darin, und ich stimmte mit ihr überein. Mama brauchte die Loslösung. Da sie so lange das Gefühl gehabt hatte, im Fahrersitz der Welt zu sitzen, konnte sie vielleicht die Vorstellung nicht ertragen, daß die Welt ohne sie weiterfuhr.
»Und Mark – wie geht’s ihm? Hat er für euch eine angemessene Wohnung finden können?«
Bei ihrem letzten Besuch hatten wir im Appartement gewohnt. Sie hielt es nie für ›angemessen‹, sie, die ihre Kinder im eigenen Haus hatte großziehen können.
»Mark geht’s gut, Mutter. Er schickt dir liebe Grüße.« Wir ließen uns am Tisch nieder und hielt darüber hinweg Händchen. »Wir haben jetzt ein großes Haus, Mama, mit Garten und Garage. Und eine nette französische Studentin, die uns bei der Hausarbeit hilft.«
Ich schindete um ihrer willen Eindruck, nicht wegen mir. Das tat ich bei jedem Besuch, und sie war stets hocherfreut.
»Ein Au-Pair-Mädchen, Harri? Bist du sicher, daß das weise ist? Mark ist, wie ich weiß, nicht wie andere Männer, aber er ist nur ein Mann.«
Ich entgegnete, wie stets, daß ich Mark völlig vertraute und daß er, falls er fremdgehen wollte, dazu nicht Yvette benötigte – denn aufgrund von AIDS und des Bevölkerungsrückgangs kam in der Stadt inzwischen auf hundert Frauen ein Mann.
»Hab ich’s nicht gewußt, Liebes. Heutzutage geht es bei den Videos für die Bibliothek anscheinend nur noch um Sex. Ich frage die Äbtissin, wenn ich irgendwelche Zweifel habe. Sie ist eine vernünftige Frau.«
Wie stets sagte ich ihr nicht, daß ich Mark einmal gewarnt hatte. Ich hatte ihm gedroht, daß ich ihn wohl, als Geste der weiblichen Solidarität, ausleihen müsse, wenn er seine Pflicht bei den Spermenbanken nicht erfüllte. Natürlich tat er es, so daß meine Solidarität niemals auf die Probe gestellt wurde.
»Anna ist jetzt schon eine Weile in der Schule, Mama. Sie ist fünfzehn und so schön, daß du’s nicht glauben würdest.«
»Unsinn. Mütter halten ihre Töchter stets für schön.« Sie blickte mich scharf an. »Das ist nicht immer ein Rezept zum Glücklichsein, Harri.«
Das war neu und erheiternd. Es deutete an, daß ich für sie jetzt so weit im mittleren Alter stand, daß sie sich vorstellen konnte, ich sei eifersüchtig auf meine schöne Tochter. Ich ging rasch darüber hinweg.
»Wegen Anna bin ich hergekommen, Mama. Ich möchte sie eine Zeit lang hier im Kloster unterbringen. Gibt’s da irgendwelche Haken? Bezahlung, zum Beispiel – akzeptiert die Gemeinschaft Spenden, oder wäre die Äbtissin brüskiert?«
»Anna? Hier unten? Wann soll sie kommen?«
Ich räusperte mich. »Morgen«, gab ich zu.
»Mitten im Schuljahr?«
»Wenn das für die Äbtissin in Ordnung ist.«
»Und für wie lange?«
»Weiß ich nicht.«
Ich hob entschuldigend die Schultern. Wenn ich es erklären müßte, täte ich es, und zwar wahrheitsgemäß, aber es wäre nicht einfach, und es wäre für Mama nicht besser, wenn sie es wüßte.
Offensichtlich war Mama auf irgendeiner wichtigen Ebene nicht schwachsinnig und verstand das, denn sie stellte keine Fragen.
»Es kommt vor«, sagte sie. »Eltern, die plötzlich ins Ausland müssen… Bei den schulischen Dingen kenne ich mich nicht aus, aber die Gemeinschaft verweigert nie eine Spende.« Sie lehnte sich zu mir herüber und senkte die Stimme. »Sag ihr, daß Anna hier Zuflucht suchen muß. Bei so etwas kann sie sich nie verweigern.«
Sie lachte verlegen und blickte sich um, als ob sie das Gesprächszimmer für verwanzt hielte. Ich bezweifelte das. An einem Ort wie diesem hier war Vertrauen wichtig.
»Ich fange wohl lieber nicht mit einer Lüge an, Mama. Ich…«
»Natürlich nicht, meine Liebe.« Sie tätschelte mir die behandschuhte Hand. »Dieser Vorschlag von mir war häßlich. Sag ihr einfach, du hast familiäre Gründe.« Erneut flüsterte sie. »Dann wird sie glauben, es hat etwas damit zu tun, deine Ehe zu retten…«
Sie richtete sich auf, funkelte mich an und sagte laut: »Es hat nichts damit zu tun, deine Ehe zu retten, nicht wahr?«
Ich lachte. »Nein, Mama. Das verspreche ich. Mark und mir geht es gut…«
»Dann ist es in Ordnung.« Sie entspannte sich und klopfte sich mit einer für eine geschorenen Nonne seltsam matronenhaften Geste auf die Brust unter ihrem braunen Hemd. Daraufhin stützte sie die Ellbogen auf den Tisch und sah mich erwartungsvoll an.
»Wie geht’s dir also, Mama?« fragte ich. »Was macht Tochter Pasquale?«
Tochter Pasquale, die in der Küche arbeitet, war das Kreuz, das Mama trug. Sie war eine fette, fröhliche Person, die keine Ahnung hatte, wie man etwas richtig machte. Sie räumte die Geschirrspülmaschine falsch ein, und Mama mußte hinter ihr herräumen.
»Pasquale geht’s nicht gut, Harri. Sie verliert an Gewicht. Ich mache mir Sorgen um sie…«
Ich hörte mir ihre Symptome an, die vorgeschriebene Behandlung und die Gebete, die für sie gesprochen wurden. So, wie die beiden ersten Sachen sich anhörten, waren die Gebete für sie die beste Hoffnung. Arme Tochter Pasquale, und arme Mama…
Unsere fünfzehn Minuten neigten sich dem Ende zu. Eine taktvolle Warnglocke erinnerte uns daran, und Mama stand auf. Wir umarmten uns erneut, und sie schritt rasch zur Tür. Dort hielt sie inne.
»Hast du etwas Neues von deinem Bruder erfahren, Harri?«
Ich dachte daran, wie oft ich als Ärztin erlebt hatte, daß die wichtigste Frage sich als nachträglicher Einfall getarnt hatte.
»Nicht viel, Mama. Du weißt, wie er ist. Ich habe ihn letzte Woche angerufen. Ihm geht es anscheinend gut.«
»Nein, Harri.« Sie wandte sich mir zu. »Ihm ging es anscheinend nicht gut. Ihm geht es anscheinend nie gut. Du kommst hierher, und du hältst mich für dumm, und sagst mir, alles ist in Ordnung. Jedem geht es gut. Aber ich bin nicht dumm, und es geht nicht jedem gut.«
Sie erschreckte mich. Sie stand mit dem Rücken zur Tür, die Hand auf dem Knauf. Nur so, dachte ich, fühlte sie sich sicher genug, um diese Dinge zu sagen.
»Daniel geht’s nicht gut. Du denkst, ich erinnere mich nicht, aber ich tu’s. Jeden Tag erinnere ich mich daran, wie ich auf dem Knie deines Vaters gesessen habe, Harri, und du hast auf dem anderen Knie gesessen, und dein Vater hat Daniel in sein Zimmer hinaufgeschickt, und ich habe seinen Schmerz gesehen, und ich bin glücklich gewesen. Das war in unserer Küche. Das ist jetzt lange her, aber ich bin glücklich gewesen. Er hatte dir wehgetan, mit dem einen oder anderen, und es machte mich glücklich zu sehen, daß ihm dafür seinerseits wehgetan worden war.« Sie lenkte den Blick ab und starrte an mir vorbei aus dem Fenster und das Meer dahinter. »Daniel geht’s nicht gut. Niemals. Niemals.«
»Das ist Unsinn, Mama.« Ich war wütend. Ich sah, wohin sie das führte; es führte sie in Richtung auf ein allzu großes Schuldgefühl. »Es kann jedem gut gehen. Hör zu, Mama – es liegt an ihnen. Es liegt wirklich an ihnen.« Ich glaubte das. Ich glaube es noch immer.
Mamas Blick konzentrierte sich wieder. »Du bist hart, Harri. Du bist meine Tochter, und ich liebe dich sehr, aber ich muß das sagen. Du bist hart.« Sie tastete hinter sich umher und öffnete die Tür. »Ich hoffe, die Äbtissin stimmt zu, die kleine Anna hier aufzunehmen. Es wird mir gefallen, sie zu sehen. Und Harriet – wenn du das nächste Mal mit Daniel sprichst, sag ihm, ich hätte nach ihm gefragt… auf Wiedersehen, jetzt. Gott segne dich.«
Die Tür schloß sich hinter ihr. Erstaunt warf ich mich in den Sessel. Wie, zum Teufel, war das denn gekommen? Mama war völlig meschugge geworden. Natürlich war ich hart. Das Leben war hart. Verdammt hart.
Ich war nicht erstaunt. Erstaunt war das Wort, das ich wähle, aber in Wirklichkeit war ich zerstört. Der Wiederaufbau benötigte seine Zeit.
Bald danach läutete die Glocke des Refektoriums zum Essen. Ich blieb, wo ich war. Die Novizin kam, um nach mir zu sehen. Normalerweise hätte ich mich auf das Gespräch mit den Lehrerinnen gefreut, aber ich sagte ihr, ich sei nicht hungrig. Mama war völlig meschugge geworden, und ich konnte sowieso nicht mit Mantel und Handschuhen am Eßtisch des Personals Platz nehmen. Es war unwahrscheinlich, daß die SPU hier unten meine Wanzen überprüfen würde, aber ich sah keinen Zweck darin, das Risiko in Kauf zu nehmen. Meines Wissens nach konnte es eine landesweite Überwachung geben. Und Mama war völlig meschugge geworden.
Ich blieb ruhig in dem Gesprächszimmer und öffnete das Fenster, um frische Luft und Kühle hereinzulassen, schließlich trug ich Kleidung für draußen. Der Wind hatte abgeflaut, und die Luft war still, das Rauschen des Meers sanft. Und ich war hart. Nein. Aber Hannes Vrieland war dieser Meinung gewesen. Bei jedem Konflikt zwischen Ihrer Arbeit und Ihrer Tochter kann es nur ein Ergebnis geben. Ich saß an dem Tisch. Wie Mama erinnerte ich mich jenes Augenblicks in der Küche oberhalb des Hafens. Sie konnte mich noch immer erschüttern. Was, zum Teufel, würde ich der Äbtissin sagen?
Sie kam nach der Nach-Essens-Ruhezeit zu mir.
»Dr. Kahn-Ryder – willkommen in unserer kleinen Gemeinschaft. Und entschuldigen Sie, daß ich Sie habe warten lassen.«
»Warten lassen?« Ich war benommen. »Ich habe nicht gewartet.«
»Wie klug. Stets soviel Eile und Hektik. Ich sage meinen Nonnen, sie sollten die alte Schöpfungsgeschichte lesen. Ein allmächtiger Gott, der sich einen ganzen Tag für die Erschaffung des Lichts und der Dunkelheit zubilligt. Und der den ganzen siebten Tag ruht, obgleich wohl eine Million anderer Dinge Seine Aufmerksamkeit erfordert hätten. Es ist uns allen eine Lehre.«
Ich sammelte meine Gedanken. Darin lag etwas Wahres. Aber Allmacht hat mich stets beunruhigt – sie ließ so wenig von der Aufregung der Veränderung übrig.
»Also zur Sache. Ihre Mutter hat mir erklärt, weshalb Sie hier sind, Dr. Kahn-Ryder. Vielleicht können wir uns in meinem Arbeitszimmer unterhalten.«
Ich folgte ihr. Mamas Erklärungen konnten alles mögliche bedeuten. Die Äbtissin in ihrem blauen Wollgewand schritt flott aus und wies beim Gehen auf historische Züge des Gebäudes hin. Ich roch Weihrauch und kalten Steinstaub. Sie war alt, eine große, einfache Frau mit schwerer Kinnlade und tief in den Höhlen liegenden Augen. Ständig mahlte sie mit der Kinnlade, wenn sie nicht sprach, und auf einem Nasenflügel war ein Leberfleck, den sie sich hätte entfernen lassen können. Aber ihr Blick war aufmerksam, ihre Konversation sowohl sanft als auch befehlend, und ich respektierte sie.
Wir erreichten ihr Arbeitszimmer: kahle weiße Wände, ein Kruzifix aus Eisenholz, ein glänzend polierter Schreibtisch aus Ulme, Großdruck-Bildschirmverbindung zur Klosterbibliothek. Der Holzofen verströmte Wärme, und sie bot an, mir den Mantel abzunehmen. Ich zögerte, stimmte dann zu. Sie hatte ein Anrecht auf die ganze Geschichte.
Nachdem ich sie erzählt hatte, das Wesentliche, wie ich aufrichtig hoffe, schwieg sie eine lange Weile, beobachtete mich und mahlte langsam mit dem Kiefer. Dann nahm sie ihren Federhalter und kritzelte eine kleine Bemerkung auf das leere Blatt Papier auf dem Schreibtisch vor ihr. Sie starrte die Bemerkung an.
»Sie glauben, eine Heilbehandlung für das Syndrom entdeckt zu haben?«
»Entwickelt. ›Entdeckt‹ klingt so… so visionär.«
Sie nickte schwer und zeichnete einen Kreis um ihre Bemerkung. »Warum sollte unsere Regierung diese Heilbehandlung unterdrücken wollen?«
»Nicht notwendigerweise unterdrücken. Gewiß jedoch hinauszögern. Es gibt eine Anzahl möglicher Gründe. Am wahrscheinlichsten…«
»Entschuldigen Sie bitte, Dr. Kahn-Ryder. Das war eine unnütze Frage.« Sie zeichnete sorgfältig einen Kasten um den Kreis. »Regierungen haben selten Gründe, die Sie oder ich als solche erkennen würden.«
Sie musterte ihren Kasten und zeichnete eine kurze Linie weg von der Mitte der jeweiligen Seiten. Ich wartete.
»Ich könnte mir vorstellen«, sagte sie schließlich, »daß Sie viel Zeit in die… die Entwicklung dieser Heilbehandlung gesteckt haben.«
Ich nickte. »Auf die eine oder andere Weise mein ganzes Leben als Erwachsene.«
»Und deswegen ist jetzt Ihre Tochter in Gefahr?«
»Nein. Nicht wegen des Impfstoffs, sondern wegen der Reaktion des Wissenschaftsministeriums auf den Impfstoff.«
»Eine saubere Unterscheidung.« Sie verband die Enden der kurzen Linien miteinander, wodurch sie eine zweite, größere Schachtel im 45°-Winkel zur ersten erhielt. Sie sah sich den Effekt an, legte daraufhin den Federhalter nachdenklich nieder und stand auf. »Kommen Sie bitte mit!«
In einer Ecke ihres Arbeitszimmers befand sich eine schmale Tür aus Fichte, und dahinter stieg eine steinerne Wendeltreppe in etwas auf, das ein außen liegendes Türmchen sein mußte. Wir stiegen stetig empor, die Äbtissin voran, deren rotgeäderte Füße in den Sandalen von mir aus gesehen in Augenhöhe unter dem Gewand herausragten. In regelmäßigen Abständen kamen wir an schmalen Fenstern vorüber, die jetzt verglast waren und einen noch weiteren Ausblick auf die Klippen und das in der Ferne liegende Festland boten. Im Türmchen war es kalt, und es roch nach Spinnen.
Meine Begleiterin atmete angestrengter. Ich hoffte, daß sie diesen Aufstieg oftmals unternahm, am besten täglich, so daß ihr Herz an die Anstrengungen gewöhnt war. Die Stufen führten immer weiter in die Höhe. Ich wünschte, ich hätte sie gezählt. Ich hatte keine Ahnung, wie weit wir gekommen waren, aber mein eigenes Herz klopfte weitaus heftiger, als mir lieb gewesen wäre.
In einem dunklen Abschnitt des Turms blieb die Äbtissin stehen und hantierte längere Zeit herum, und dann öffnete sich eine Dachluke über mir und überflutete uns mit Licht und kalter, heller Luft. Sie ging hinauf, und ich folgte ihr hinaus auf das flache Bleidach des Türmchens, das von steinernen Zinnen umrandet war. Der runde Bereich hatte etwa einen Durchmesser von fünf Metern. Wir waren unglaublich hoch über der Insel. Als ich mich über das Steinwerk hinausbeugte und nach unten sah, hätte ich fliegen können. Ich hätte in einem Ballon sein können, der hoch über der Insel dahinfuhr, weit über den steilen, kupfergrünen Dächern und Kaminen des Klosters.
Die Äbtissin lehnte sich neben mir an. Beide waren wir, jäh und sehr machtvoll, Frauen. Zwei Frauen zusammen. Die Luft, ungewöhnlich für diese Höhe, war still. Die Äbtissin nahm mich beim Arm und schritt den vollen Kreis der Zinnen ab. Dabei sprach sie kein Wort und blickte stets nach draußen. Ich sah noch mehr Ozean, noch mehr Klippen, noch mehr Städte, noch mehr Berge, dann konnte es mein Bewußtsein umfassen. Wir trafen wieder bei unserem Ausgangspunkt ein.
»Ich habe Sie hierhergebracht«, sagte sie, »damit Sie schauen und horchen. Aber insbesondere horchen. Und wenn Sie gehorcht haben, werde ich Ihnen sagen, was Sie hören können.«
Ihre Augen glänzten. Unter der unerkennbaren Kuppel ihrer Gedanken strahlte ihr großes, altes, häßliches Gesicht. Ich gehorchte ihr. Ich schloß die Augen und lauschte. Weite Leere. Nichts rührte sich. Kein Vogel schrie. Kein Laut stieg von der Erde unten auf. Kein Laut. Nur das Blut, das in meinen Ohren sang.
Ich öffnete die Augen. »Sie meinen die Stille?« Ich verstand sie nicht. »Sollte ich sie hören?«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie hören Frieden, meine Liebe.« Ihre Stimme zitterte. »Frieden. Zum erstenmal im Leben der Menschheit ist auf diesem Planeten Frieden. Es gibt keine Kriege. Keine Kriege, nirgendwo auf dieser Erde.«
»Keine Kriege?« Ich verstand noch immer nicht. »Sie meinen das wörtlich?«
Sie lächelte. »O ja. Keine Kriege. Ganz wörtlich.«
Ich blickte an ihr vorüber, wieder hinaus auf die Meere und Berge. Was sagte sie da?
»Die Nachricht ist gestern eingetroffen.« Sie war jetzt ganz sachlich, blies sich in die knochigen Hände, um sie zu wärmen. »Unsere Kirche hat die weltweite Lage überwacht. Gestern erreichte man Übereinstimmung im letzten bekannten organisierten bewaffneten Konflikt – ein Streit um Wasserrechte in Zentralafrika. Mit der Unterzeichnung dieses Abkommens ist alles offiziell sanktionierte Blutvergießen in der Welt erloschen. Die Stille, die sie hören, ist die Stille des Friedens. Keine Schlachten, keine Verwundungen, kein Betrauern toter Helden. Frieden.«
Mir standen Tränen in den Augen. Aber eine ungläubige Stimme fragte: warum kein Medienereignis? Das Ende des Kriegs, und keine Kameras, Mikrofone, Reporter?
Indirekt gab mir die alte Frau Antwort. »Im vierzigsten Jahr des Bevölkerungsrückgangs«, sagte sie, »sind uns noch nicht die Männer ausgegangen, die Kriege befehlen. Uns sind die Frauen ausgegangen, die in ihnen kämpfen sollen.«
Ich nickte. Eine Entwicklung, die Männer fürchten würden, daher keine Forschung, die sie herbeiführen würde. Männer befahlen nicht bloß noch immer Kriege, sie befahlen letzten Endes vieles dessen, was wir taten. Deshalb kein Medienspektakel.
Ich wandte mich ab. Hart? War ich hart? Ich blickte über die zerfressenen Steine der Zinnen hinaus, horchte in die Stille hinein, horchte auf den Frieden. Ich spürte Freiheit. Es war, als ob eine ungeheuerliche Tyrannei zerbröckelt wäre. Der Krieg hatte ein Ende gefunden. Frauen hatten den Krieg besiegt.
Mein Glücksgefühl kühlte ab, wie Schweiß auf meiner Haut. Hatte mich die Äbtissin einfach bloß hier heraufgebracht, um ihre Freude zu teilen? Unten im Arbeitszimmer hatten wir von meiner Therapie gesprochen.
»Ich soll meinen Impfstoff rechtfertigen.« Meine Zunge lag mir wie Blei im Mund. »Das Syndrom hat uns sinkende Bevölkerungszahlen beschert, und jetzt das Ende des Kriegs. Ich soll meinen Impfstoff rechtfertigen.«
Sie blickte mich scharf an. Mir sank das Herz.
»Sie sind sehr ehrlich«, sagte sie. »Nur eine sehr ehrliche Frau würde versuchen, mir meine Stille mit Rechtfertigung und Unerläßlichkeit zu zerstören…« Der Ausdruck gefiel ihr. Sie kaute darauf herum, wurde nachgiebig, lächelte, wurde eine freundliche, kahle, alte Frau mit großen Zähnen, die ein schäbiges blaues Gewand trug.
»Ihre Mutter sagte mir, sie hätte einstmals Schauspielerin werden können. Ich ebenfalls. Darum sind wir hier heraufgekommen, wegen der Theatralik. Nicht wegen eines Katechismus.« Sie beugte sich näher zu mir. »Aber mir gefällt Ihre Intention. Sie sind ehrlich, aber mir gefällt Ihre Intention. Und natürlich werden wir Ihrer Tochter Schutz gewähren. Das ist unsere Pflicht. Wenn Sie ein Ungeheuer gewesen wären, könnten wir uns dennoch nicht weigern.«
Sie tätschelte mir die Hand mit der aufgeklebten Abschirmung. Bestärkend, wie eine Mutter ein verwirrtes Kind ermutigt – du kannst das schon! Und was es auch immer war, genau jenen Augenblick lang konnte ich es.
Ich hatte gedacht, wir würden wieder hinabgehen, aber sie hatte noch nicht genug von der Stille gehabt. Sie kehrte zu ihr zurück, wobei sie mich, da bin ich mir sicher, vergaß. Ich behielt meine ketzerischen Gedanken für mich, aber sie vermehrten sich. Kein Frieden, dachte ich, sondern vielmehr das Fehlen von Kriegen. Selbst so immerhin etwas. Ich stand neben ihr – was wäre, wenn meine durch den Impfstoff hergestellten Leiber vor eifrigen kleinen Soldaten nur so barsten? Was dann? Ich wußte es nicht. Ich war wieder aufrichtig.
Wir gingen die Wendeltreppe in das Arbeitszimmer der Äbtissin hinab. Ich sorgte dafür, daß Anna, von Mark hergebracht, am folgenden Tag gegen Mittag im Kloster aufgenommen würde. Ich schickte sie mit Mark, weil die Sache folgendermaßen stand: je rascher ich einen vollen Tag an meinem Artikel arbeiten konnte, desto rascher könnte Natur ihn veröffentlichen und desto rascher wäre die ganze Affäre vorüber. Und außerdem wäre er im Zug ein besserer Aufpasser für sie.
Wieder in Mantel und Handschuhen bat ich um eine Besichtigung der Schule. Anna erwartete nicht viel von einigen wenigen Wochen in einer Klasse an einer fremden Schule, aber sie hatte vernünftig gesagt, sie würde lieber Unterricht haben als herumsitzen und Däumchen drehen. Die Schule war sehr ordentlich. Sie glaubte deutlich an den Neuen Autoritarismus – sie hatte tatsächlich nie damit aufgehört, an den alten zu glauben. Schließlich hatte sie Oma beschäftigt, die niemals viel von der Benehmt-euch-völlig- ungezwungen-Mentalität des letzten Jahrhunderts gehalten hatte.
Nach der Besichtigung blieb ich noch lange genug, um der Äbtissin einen Scheck auszuschreiben, und verabschiedete mich dann. Mama bekam ich nicht mehr zu Gesicht. Sie verbrachte ihre Nachmittage in der Videobibliothek, und die Äbtissin sagte, sie nähme ihre Arbeit sehr ernst. Ihre Arbeit im Haus der Illusionen. Wenig änderte sich. Nur daß für Mama alles viel besser geworden war. Es war ihr gelungen, nur ein bißchen meschugge zu werden – Nord-Nordwest, wie Hamlet. Sie war hinausgetreten, aber sie konnte wieder eintreten, wenn die Ereignisse ihre Anwesenheit erforderten. Ereignisse wie Wahrheitsliebe. Was für die Nicht-Wahrheitsliebenden hart, jedoch großartig für Mama war. Glückliche Mama.
Hart? War ich hart?
Es war fünfzehn Uhr dreißig und dämmrig, als ich den Zug nach Hause bestieg. Eis glitzerte bereits auf seinem Dach. Die Nacht brach an, während wir in die Berge hinaufstiegen. Ich blickte mich einmal um, sah die Lichter draußen auf der Insel. Falls ich mit einem männlichen Fötus schwanger ginge, würde ich ihn behalten. Marks Sohn würde niemals ein eifriger kleiner Soldat werden, und wir würden alle Nicht-Soldaten benötigen, die wir bekommen könnten.
Vom Bahnhof aus nahm ich ein Taxi und entfernte unterwegs die Abschirmung von den Wanzen. Ich war ebenfalls, wie Mama, hinausgetreten, und jetzt trat ich wieder hinein. Sergeant Milhaus würde erfreut darüber sein, mich wiederzusehen.
Das Abendessen war im Eßzimmer angerichtet worden, ein Abschiedsessen für Anna, falls ich gute Nachrichten brächte. Ich teilte ihnen mit, daß die Äbtissin allem zugestimmt habe, worum ich sie gebeten hatte. Um das zu feiern, öffnete Mark eine Flasche. Morgen um diese Zeit befände sich Anna auf Nomansland in Sicherheit, und Mark wäre wieder zurückgekehrt, nachdem er sie auf die Insel gebracht hatte.
Wir glaubten daran. Ich sprach es ihnen gegenüber sogar aus. »Morgen um diese Zeit«, sagte ich, »wird Anna auf Nomansland in Sicherheit sein, und Mark wird wieder zurückgekehrt sein, nachdem er sie dorthin gebracht hat.«