Der Bevölkerungsrückgang
Jahr 20: Mitte Juni

4

Harriet spreizte die Finger und streckte sie, bis die Bänder im Handrücken und in den Gelenken knarrten. So junge Hände, hatte Julius zu ihr gesagt. Süße sechzehn und noch nie geküßt. So geschmeidig werden sie nie mehr sein.

Sie schlug eine Seite zurück und fing von vorne an. Der Prokofieff war wuchtig, rasche, volle Akkorde, viel Bewegung: nach einer halben Stunde am Keyboard schmerzten ihr die Arme. Sie liebte das Stück, aber jetzt konzentrierte sie sich auf die Bewegung als solche und hoffte, daß sich die Einzelheiten von selbst ergäben.

»Es reicht!« Über das Hämmern hinweg vernahm sie Julius’ Protest und hörte auf. »Du wirst müde.«

»Nein.« Sie beugte sich vor, um die Musik genauer in Augenschein zu nehmen. »Es ist bloß so, daß ich anscheinend nicht…«

»Dann werde ich müde.« Er erhob sich vom Hocker neben ihr. »Teezeit.«

Sie kam nach der Schule hier herauf nach Eckett, um Stunden zu nehmen – es war ein langer Nachhauseweg, aber sie blieb stets zum Tee, selbst heute, wo sie ruhelos war und sich auf das Wiedersehen mit Daniel freute. Sie schätzte jeden Augenblick, den sie in Julius’ und Ankas schäbigem alten Haus verbrachte. Es war ein Steingebäude, vor dem Ersten Weltkrieg erbaut, und stand auf einem prächtigen Platz, der nach seinem Designer Eckett benannt war. Er war von Bäumen gesäumt und schattig im Sommer, einstmals ein exklusives Erschließungsgebiet hoch droben über dem Hafen, jetzt schäbig und heruntergekommen, getrennt von der Stadt durch häßliche, sich immer weiter ausbreitende Sozialbauten. Es war ihre Zufluchtsstätte vor der Welt.

Das Wohnzimmer der Stollmans, wo Julius seine Stunden gab, war alles, was das Wohnzimmer ihrer Mutter nicht war: es hatte eine hohe Decke, der flämische Stuck oben war grau und spinnwebverhangen, und es war groß genug sowohl für Julius’ riesigen Bösendorfer nebst der übrigen elektronischen Keyboards als auch für schwarze Samtstühle und -sofas mit riesigen, daunengefüllten Kissen sowie schwarze Kaffeetische, alles im schrecklichen Stil der 80er Jahre. Auf dem Boden lag ein großer, rotgemusterter türkischer Teppich, der so zerknittert, staubig und durchgewetzt war, daß er zusammen mit dem Haus entstanden sein mochte. In einer Ecke führte eine im Stil der Nach-Jahrtausendwende laminierte Wandtreppe aus Ulme durch ein Loch im Fußboden zu einem düsteren Halb-Keller und zur Küche. Die abstrakten Bilder auf den metallisch schwarz-silbern gestrichenen Wänden, von denen die Farbe abblätterte, zeigten zumeist feuerrote, heiße Farbkleckse, ausgefranste Scheiben und Rechtecke: neben dem antiken Marmorkamin hatten die Stollmans eine überlebensgroße fotografische Vergrößerung mit sepiafarbenen Klecksen und Punkten von Anka Stollman in ihren Tagen als Sängerin aufgehängt, und ein monumentaler, vergoldeter Vogelkäfig, gegenwärtig leer, die Tür geöffnet, baumelte an einer Kette neben den bis zum Fußboden reichenden Fenstern im Hintergrund. Diese öffneten sich auf einen wackeligen Balkon mit überladenem, schmiedeeisernem Geländer, der, einstmals weiß, in einen Dschungel von Garten hinabführte, worin kaum Blumen wuchsen, sondern langes Gras und immergrüne Bäume und Büsche, die wie Wellen gegen den Balkon schlugen.

Es war ein Zimmer, eine Lebensweise, die Harriets Mutter bei ihrem ersten und einzigen Besuch, als sie Harriets Stunden arrangiert hatte, skandalös und bedrohlich gefunden hatte. »Man erzählt sich eine Menge Unsinn über das künstlerische Temperament, Kind. Wenn man hübsche Sachen besitzt, ist man dafür verantwortlich, sich darum zu kümmern.«

An Anka Stollmans Stelle, das wußte Harriet sehr gut, hätte sich ihre Mutter völlig anders um die Sachen gekümmert. Wenn sie sich zum Schwimmen umzog, beispielsweise, hätte Bess Ryder zunächst vorsichtig ihre drei bescheidenen Ringe abgestreift – ein dünner, goldener Ehering sowie ein Ring mit echten Diamanten, den Johan ihr zum ersten Hochzeitstag geschenkt hatte, und ein Skarabäus, den sie von ihrer Mutter zum achtzehnten Geburtstag erhalten hatte. Wenn man ertrinkt, sagte sie, und deine Leiche wird geborgen, dann werden dir so gut wie immer die Ringe gestohlen, also ließ sie diese stets in einem ihrer Schuhe am Strand zurück. Bei mehreren Gelegenheiten hatte Danno sie ›gestohlen‹, einfach nur, weil er ihr Gesicht sehen wollte, aber er hatte sie nachher stets zurückgegeben. Bess achtete auf ihre Sachen.

Julius stieg in die Küche hinab, den Tee zuzubereiten, und zog den Kopf unter der Biegung der Treppe ein, als er verschwand. Harriet blickte erneut auf die Musik, spielte halbherzig ein paar Takte und hörte dann auf. Sie hätte unter der Woche alle Zeit der Welt, wenn sie von der Schule direkt nach Hause ginge, und zwar in der Stunde, ehe Mama von der Arbeit zurückkehrte. Im Haus auf der Parade war das Klavier, ein aufrecht stehendes japanisches Modell, hinter das Sofa im oberen Wohnzimmer gequetscht worden. Mama beklagte sich niemals richtig über den Lärm, aber manchmal seufzte sie, und Harriet konnte es ihr nicht verübeln. Nirgendwo im Haus konnte man dem Lärm entrinnen.

Das winzige Haus war Danno gleichfalls ein Ärgernis gewesen. Er war seit sechs Monaten nicht mehr daheim gewesen, aber vielleicht war die Armee daran schuld. Er würde irgendwann an diesem Abend eintreffen, er hatte Freigang am Wochenende und käme vielleicht etwas spät – es war nicht weit, aber er durfte nicht vor fünf Uhr die Kaserne verlassen. Sie freute sich sehr auf seinen Besuch. Weswegen, wußte sie nicht so recht. Er war in diesen Tagen ein Fremder geworden, aber seit seinem Anruf, der seine Ankunft ankündigte, dachte sie an wenig anderes. Sie wollte ihn sehen: er war ihr Bruder. Auch gab es am Samstag eine Disco, und er würde sie vielleicht mitnehmen. Das Tauziehen um jeden Mann unter vierzig war unmöglich, und sie war es leid, mit Mädchen zu tanzen.

Danno war jetzt etliche Jahre in der Armee. Die Streitereien zwischen ihm und seiner Mutter waren immer widerlicher geworden; so war es kein Wunder, daß er ging, sobald die Armee ihn haben wollte. Papa war nicht erfreut gewesen, hatte jedoch die Notwendigkeit eingesehen.

Julius’ Kopf und Schultern tauchten über dem Fußboden auf. »Was macht der Chemiekurs?«

»Schwer, Julius.« Sie schnitt eine Grimasse. »Alles hängt dermaßen voneinander ab. Und er steht dem Üben im Weg.«

»Hab ich mir doch gedacht, daß da was ist. Bist du nicht mehr mit dem Herzen dabei?«

»Wobei? Medizin oder Musik?«

Er trat eine Stufe höher und stützte sich auf die Unterarme. »Neulich habe ich gelesen, Harriet, daß es in lediglich zwei Kubikzentimetern Ejakulat vielleicht eine Million Spermen gibt. Das sind ganz schön viele Menschen. Und es ist noch immer lang hin, bis der letzte alte Tattergreis das nicht mehr hinkriegt. Mindestens dreißig Jahre. Legt man die gegenwärtige Sammelrate zugrunde, werden wir bis dahin schlicht für ewig Menschen auf Eis haben… Ich meine damit, weswegen sollte man sich die Mühe geben, nach einer Behandlung zu forschen?«

»Nicht Menschen, Julius. Nur Frauen.«

»Ist das wirklich so schlimm? Alles in allem genommen ist die Welt bereits netter geworden. Und der Verlust männlicher Embryos reduziert die Bevölkerung.«

Es war ein Spiel, das er mit ihr spielte. Advocatus diaboli. Heute konnte sie sich nicht darüber ärgern. Vielleicht hatte er recht.

»Vielleicht haben Sie recht.«

»Vielleicht auch nicht.« Er hob eine der üppigen Brauen, auf die er so stolz war. »Was ist dann mit Musik? Davon ist mehr aufbewahrt als von diesem ganzen Sperma. Wer benötigt weitere Pianisten?«

»Hab ich Ihnen gesagt, daß Danno übers Wochenende kommt?«

Er grinste. »Schon gut. Hab begriffen.« Der Kessel unten in der Küche begann zu pfeifen. »Tatsächlich gibt es Platz genug für beides. Viele ausgezeichnete Wissenschaftler sind…«

Sie fiel ein. »… sind auch ausgezeichnete Musiker.«

Sie lachten beide.

»O je… also wiederhole ich mich. Ich bin auch so ’n alter Furzknoten, der junge Leute fragt, wie sie auf der Schule in Chemie weiterkommen. Das ist der Preis, den du für den Kontakt mit einer aussterbenden Lebensform bezahlst.« Er tauchte die Stufen hinab und tauchte wieder auf. »Selbst das stimmt nicht. Es wird jede Menge alter Männer geben, die dich überleben werden. Die jungen Männer, die wirst du nicht mehr zu Gesicht bekommen.«

Er kehrte nach unten zurück, und das Pfeifen hörte auf. Harriet entknotete ihre Beine unter dem Klavierhocker, stand auf und wanderte zum offenen Fenster hinüber. Schockartig wurde ihr klar, daß sie sich langweilte. Sie hätte nicht bleiben sollen. Das Warten auf einen Tee, den man nicht haben wollte, war langweilig.

Sie blickte auf den Dschungel-Garten hinaus. Ein Ablenkungsmanöver fiel ihr ein.

»Polly?« rief sie in den tiefsten Tönen, die ihr zur Verfügung standen. Es sollte nach Julius klingen. Und dann, in zwei aufsteigenden Tönen: »Polly?«

Nichts geschah. Niemals geschah etwas, wenn sie rief. Aber der Versuch konnte nicht schaden.

Junge Leute, hatte er gesagt. Sie kam sich nicht so jung vor.

Julius kam mit einem beladenen Teetablett die Stufen herauf. Eine zerkratzte Silberkanne, seltsame Tassen und Kännchen aus Knochenporzellan. »Wie ich gesagt habe. Die ganzen jungen Männer… aber das Schlimme ist, ich trauere nicht um sie. Ich sollte es natürlich. Es wäre einfacher, wenn ich schwul wäre. Ein berühmter alter König der Literatur – ich will mich nicht daran erinnern, wer es war –, hat einmal gesagt, er könne jungen Männern alles vergeben, weil sie so schön seien. Ich beneide ihn.« Er trat vor und setzte das Tablett auf dem Kaffeetisch ab. »Harriet, findest du junge Männer schön? Du bist anscheinend weiblich, geschlechtlich reif und nicht merkbar lesbisch – findest du junge Männer schön?«

Sie dachte darüber nach. »Ich hätte gedacht, er meinte attraktiv.«

»Ein literarischer Gentleman, Harriet. Ich denke, wir sollten ihm glauben, daß er meinte, was er sagte.«

»Dann kann ich keine Antwort geben. Nicht bei Männern. Sie mögen schön sein, ich weiß es nicht. In meinem Alter steht da der Sex im Weg.«

Julius war entzückt. »Für ihn offenbar auch. Wer es auch immer war.«

Aber Harriet dachte noch immer nach. Eine ernsthafte Frage verlangte eine ernsthafte Antwort. »Ich frage mich, was er ihnen vergeben zu müssen glaubte. Jungen Männern, meine ich. Ist es nicht vielmehr so, daß die alten Männer die schrecklichen Dinge tun?«

Sie sah ihn an, wie er über dem Teetablett stand. Er war selbst ein alter Mann. Aber er würde ihre Worte nicht persönlich nehmen. Nicht Julius.

Er tat’s auch nicht. »Du hast natürlich recht. Ich fürchte, mein anonymer Aphoristiker und ich haben Spaß gemacht. Die Verbrechen junger Männer beschränken sich auf Pickel sowie auf einen Übereifer, Anführern zu folgen.«

Harriet wandte sich ab, zum Fenster hin. Sie akzeptierte, daß Julius gerne angab, aber sie wünschte, er würde sie nicht soweit bringen, daß sie sich manchmal so schwer fühlte. So infantil. Nicht jung – infantil.

»Ruf doch bitte Polly für mich, Julius!«

Er trat hinter ihr hinaus auf den Balkon. »Polly?« Sein Ruf war opernhaft und ohrenbetäubend. »Polly?«

Ein Antwortgekrächz kam aus den Bäumen am anderen Ende des Gartens, und schließlich flog ein grauer Papagei torkelnd aus den Blättern. Ein Vogel, der in den kurzen Sommermonaten draußen lebte. Er flog unbeholfen heran und landete mit klappernden Klauen auf dem Balkongeländer. Er zuckte mit den Schwanzfedern, legte sie an und blickte daraufhin Julius funkelnd an, zunächst mit dem einen Auge, dann mit dem anderen, wobei sein Kopf mit festen, schöpfenden Bewegungen ruckartig hin und her ging.

»Besuch für dich, Polly«, sagte er. »Besuch.«

Der Vogel gab entsprechende Laute von sich. Es war ein staubiger, sehr schlichter kleiner Papagei von unentdecktem Geschlecht (er hatte niemals Eier gelegt) mit rosafarbenen Füßen und leuchtend orangefarbenen Iris in den schmalen Augen mit den doppelten Lidern. Wie stets war Harriet sowohl fasziniert als auch abgestoßen. Sie kehrte ins Zimmer zurück und setzte sich, nahe beim Teetablett mit der Platte voller englischer Kekse, vorsichtig auf die Sofakante, damit sie nicht in den Kissen versank. Polly kletterte die Stütze eines Geländers herab und folgte ihr, mühsam einen Fuß vor den anderen setzend. Harriet zerbrach einen Keks und hielt ihr ein Stück hin. Polly nahm es mit einer Klaue und transportierte es in ihrem furchterregenden Schnabel, der aussah wie ein mittelalterliches Visier. Als sie ihn öffnete, wurde ganz kurz eine dicke, purpurfarbene Zunge sichtbar.

Julius setzte sich in den gegenüberliegenden Sessel, wobei er ihn ärgerlich in eine erträgliche Form knuffte. »Verdammtes Ding… Dein Bruder kommt heute abend nach Hause, hast du gesagt?«

Der Papagei schlich näher heran. Harriet ließ ihn nicht aus den Augen. Sie nickte. »Heute, am späten Abend.«

»Ich meine mich zu erinnern, daß es ihm in der Armee gefällt.«

»Sehr sogar.« Danno hätte wohl alles gefallen, was ihn von Mama wegbrachte. Das jedoch sprach sie nicht laut aus. Nicht einmal Julius gegenüber. »Ich glaube, er gehört gern irgendwo dazu. Und der Schneid. Regiments-Tradition – so was in der Art.«

»Wie alt ist er – zwanzig? Ist gerade das richtige Alter.«

»Er wird’s zu seiner Lebensaufgabe machen.« Sie hatte den Verdacht, daß Julius ihren Bruder herablassend behandelte. »Er macht gerade einen Kurs in fortgeschrittenen Waffensystemen.«

»Mein Gott!«

Polly hatte den Schnabel weit genug geöffnet, daß sie vorsichtig Harriets rechten Schuh packen konnte. Harriet fühlte sich von zwei Seiten attackiert. Sie redete nicht gern mit Leuten über Danno. Und Polly packte jetzt fest zu, drückte leicht ihren großen Zeh, während sie mit bösartigem Blick zu ihr heraufstarrte.

»Sie haben nach der Schule gefragt, Julius, nach Chemie. Die ist wirklich schwer. Aber wissenschaftliches Forschen, das möchte ich tun.«

»Natürlich mußt du das. Ich habe nicht überlegt. Tut mir leid.« Er hatte ihre beiden Zwangslagen bemerkt.

Nachdem er sie aus der einen befreit hatte, hievte er sich im Sessel hoch, packte Polly, hakte sie von Harriets Schuh los und brachte sie in ihren Käfig. Er schloß die Tür und verriegelte sie. Für einen so kleinen Vogel war Polly merkwürdig angsteinflößend.

Julius wandte sich wieder ihr zu. »Schwer, sagst du? So schwer, daß du dir Sorgen um den Abschluß machen mußt?«

»Nicht wirklich.« Die Abschlußprüfungen lagen Ende Juli, noch sechs Wochen hin. »Ich bin ein Jahr voraus. Es sind bloß diese neurotischen Lehrer. Sie wollen einen dazu bringen, die Beste zu sein, um sich damit auszusöhnen, daß sie weniger sind.«

»Das ist hart, Harriet.«

»Das ist wahr. Sie wissen, daß ich bestehen werde. Warum sollte das eigentlich nicht ausreichen?«

Julius setzte sich wieder, schenkte Tee ein und blickte sie nachdenklich an, nicht, weil er keine Antwort hätte, klar, sondern weil er mehrere Antworten hatte und eine auswählte. Ein melodiöses Ich bin’s-Pfeifen vom Flur her ersparte ihm die Entscheidung. Der Papagei wiederholte es genau – das war sein einziger Versuch, etwas nachzuahmen – und kletterte aufgeregt seitwärts an den Käfigstangen auf und nieder.

Die Vordertür fiel ins Schloß, und Anka erschien im Wohnzimmer, den Sonnenhut tief über den Augen. Sie war beladen mit Einkaufstaschen.

»Teezeit«, sagte Julius zu ihr. »Ich bin mir so sicher gewesen, daß du’s schaffst, da habe ich dir eine Tasse hingestellt.«

Anka hängte ihren Hut an den Türknauf, stapelte ihre Taschen am oberen Treppenabsatz, holte aus einer davon eine Pflaume und stopfte sie vorsichtig zwischen die Stäbe von Pollys Käfig. So sehr sie der Papagei auch liebte, er liebte es mehr, Leuten Stücke aus dem Finger zu hacken. Anka flüsterte ihm etwas zu, das Harriet nicht verstand.

Anka Stollman hatte keine Stimme. Wenn sie die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte, so pfiff sie: daraufhin flüsterte sie. Sie besaß einen Stimmsynthesizer, den sie verabscheute und nie benutzte. Die Laute, die er produzierte, waren aus ihrem Gesang auf den Pop-CDs der neunziger Jahre hergeleitet, und ein Element, das Altern vortäuschte, war ebenfalls eingebaut. Julius sagte, es sei überzeugend, sie jedoch verabscheute ihn noch immer.

Harriet verstand den Grund. Es war nicht ihre Stimme, anders als ihr Flüstern. Wenn man sich darauf konzentrierte, war Anka Stollmans Geflüster das ausdrucksvollste weit und breit. Sie hätte einen Verstärker benutzen können, aber das wies sie ebenfalls von sich: sie sagte, damit höre sie sich an wie der Geist in Hamlet.

Ankas Stimmverlust war das Ergebnis eines verpfuschten frühen biotechnischen Implantats. Ein Radiomikrofon. Etwa fünfzehn Jahre vor Beginn des Bevölkerungsrückgangs war sie groß herausgekommen, und sie war Julius bei einer Aufnahmesitzung begegnet. Er saß an den Keyboards, letzte Zuflucht für Pianisten, nachdem die klassische Konzertplattform sozusagen zu nichts geschrumpft war. Grund hierfür waren die Weltrezession, Raum-Multiphonics, populistische Regierungen, ganz wie man wollte. Drei Monate später zogen sie zusammen, und sechs Monate danach ging ihr Implantat kaputt. Die Bioverbindungsstränge begannen, an Stellen zu wachsen, wo sie es nicht hätten tun sollen, und als man es bemerkte, konnte man sie lediglich noch dadurch entfernen, indem man zugleich den größten Teil ihres Stimmapparats mit den Mikrofonen entfernte.

Eine Weile lang gab Julius Klavier- und Keyboardstunden in der Stadt, dann kamen sie hierher. Sie hatte Gespür gehabt und während ihrer goldenen Tage ein wenig beiseitegelegt, und in den ersten Jahren, nachdem ihre Stimme hinüber war, hatte sie mehr denn je verkauft. Fast so gut, wie an einem goldenen Schuß zu sterben, hatte ihr Agent gesagt. Aber es hatte nicht angedauert. Jetzt malte sie – die abstrakten Bilder im Zimmer waren von ihr –, und sie hatte die Zeichensprache erlernt, so daß sie an einer Schule für Gehörlose ein paar Kilometer die Küste hinab Kunst lehren konnte. Harriet fand sie wunderbar.

Harriet liebte Julius, aber Anka hielt sie für bewundernswert und wunderbar.

Anka setzte sich ordentlich auf das Sofa neben ihr. Die Kissen dort bereiteten Anka niemals Probleme: sie hatte diese schon längst zu Objekten ihres überlegenen Willens gemacht.

»Harriet – es freut mich, dich erwischt zu haben. Bitte sprich doch ein paar Worte mit deiner Mutter, mir zuliebe, ja? Sie organisiert noch immer ihren Rettet-die-Babies-Fond?«

Harriet nickte.

»Und der hat was mit Erziehung zu tun, daß man die Kleinen nicht einfach wegputzt oder so etwas in der Art?«

»… Er versucht’s zumindest.«

Anka bemerkte ihr Zögern. »Offensichtlich lassen sich chinesische Mütter nicht davon abhalten, ihre weiblichen Säuglinge wegzuwerfen, auch wenn sie erfahren, daß es keine männlichen Säuglinge mehr geben wird. Aber er gibt sich wenigstens Mühe… Wenn ich’s recht verstehe, sind moslemische Mütter gleichfalls damit beschäftigt.«

»Nicht ganz. Dort sind’s die Männer.«

Anka seufzte. »Na ja, wenn man eine Religion haben muß, so hat deine Mutter offenbar die richtige herausgepickt.«

»Also, Anka.« Julius schenkte ihr Tee ein. »So meinst du es doch gar nicht. Der Sexismus des vergangenen Jahrhunderts ist schlimm genug gewesen, ohne daß die verdammte Gott die Mutter Ihren Senf dazu gegeben hat.«

»Zumindest hat Sie Jesus als Rollenmodell geschickt.«

»Ja – mit seinem ›Frau, was habe ich mit dir zu schaffen‹?«

»Das ist nicht fair«, protestierte Harriet. »Mama hat gesagt, das wäre später hinzugefügt worden.«

»Also, offen gesprochen, wenn die Bibel Gottes Wort ist, so hätte ich von Ihr erwartet, daß Sie sie besser in Schuß hält.«

»Bitte!« Ankas Lächeln nahm dem Zischen etwas die Schärfe. »Könnten wir zu Mrs. Ryders Fond zurückkehren, Julius?«

Ein Gespräch mit Anka zog ein erhebliches Senken der eigenen Lautstärke mit sich. Da sie bei ihrer Mutter lebte, gefiel es Harriet, aber es verlieh den trivialsten Gesprächen etwas Stilles und Eindringliches.

»Die Künstler im Kolleg« – Anka nannte sie niemals ihre Schüler: sie behauptete, ebenso Schülerin zu sein wie sie – »möchten eine Ausstellung machen, Geld für den Fond sammeln. Einer von ihnen hat in der Lokalpresse einen Artikel über deine Mutter gelesen.«

Harriet wurde nervös. Mamas gute Werke waren eine Plage – insbesondere, weil sie dafür sorgte, daß man sie nicht übersehen konnte. Harriet liebte ihre Mutter, und sie kamen gut miteinander aus, aber es wäre ihr lieber gewesen, wenn sie ihre Mutter als ein wenig plemplem hätte abschreiben können. »Wenn ich das nächste Mal komme, bringe ich ein paar Prospekte vom Fond mit.«

»Wobei mir einfällt«, warf Julius, das Thema wechselnd, ein. »Laß den Prokofieff bis nächste Woche ein wenig liegen. Es liegt nur an den Fingern. Arbeite statt dessen am Ravel. Und etwas an freier Assoziation. Das Ohr läßt sich allzu leicht festlegen, findest du nicht, Anka, Liebes?«

Sie sprachen über Musik. Anka fiel etwas ein, sie schoß zu ihren Einkaufstaschen hinüber und kehrte mit einer Schallplatte zurück. Dieser Tage war sie winzig und huschte wie ein Eichhörnchen umher. Sie legte die Platte auf den Plattenspieler.

»Insbesondere Harriet sollte das hier hören. Ich habe sie vor Wochen bestellt – sie ist gerade frisch eingetroffen.«

Das Zimmer war erfüllt von einer mit erlesener Leichtigkeit gesungenen Palestrina-Motette. Der Chor schwebte über den dünnen, merkwürdig gehauchten oberen Stimmen. Etwas dergleichen hatte Harriet noch nie zuvor gehört. Die Musik war schmerzhaft schön, kristallklar, unirdisch, jedoch leidenschaftlich. Als ihr aufging, daß es sich um eine historische Aufnahme handeln mußte und die Sänger wohl Knaben waren, überfiel sie ein heftiges Gefühl des Verlusts. Sie hatte andere Gefühle des Verlusts aufgrund des Bevölkerungsrückgangs verspürt, sie hatte geweint, wenn sie Filme über Teenager-Liebe im Fernsehen angeschaut hatte, dies hier war jedoch ein Gefühl des Verlusts anderer Kategorie. Ein Verlust, der in einem Sinn nicht einmal wirklich war – sie hätte diese Musik wieder und wieder hören können –, dennoch ein Verlust, der ihr zum erstenmal im Leben vor Augen führte, wie die alte Welt, die Welt vor dem MERS, wie die alte Welt zu Ende gegangen war.

Sie ließen die Platte bis zum Ende durchlaufen. Palestrina, Monteverdi, Tallis, Vivaldi, am liebsten hätte sie sie für immer weiterlaufen lassen. Aber es war sechs Uhr durch, und sie mußte heimgehen.

Sie sammelte ihre Notenblätter vom Klavier. Draußen im Flur holte Julius ihr den Sonnenhut von dem verzierten Eckpfosten aus Fichte am Fuß der Treppe. »Laß den Prokofieff sein«, erinnerte er sie. »An deinen geschickten Fingern Gefallen zu finden, ist schön, aber du mußt mehr von dir verlangen.«

Er öffnete die Vordertür, küßte sie leicht auf die Stirn, und sie lief über die Zufahrt davon. Die Magie des Gesangs war vorüber. Was für einen Unsinn er redete! Der Ravel verlangte weitaus mehr von ihren Fingern als der Prokofieff.

Es war Anfang Juni, die Sonne stand noch immer hoch an einem klaren Himmel. Selbst hier oben über dem Hafen rührte sich kein Hauch. Harriet verlangsamte ihren Schritt, sie ging im Schatten der ornamenthaften Kirschbäume, die den Platz umsäumten. Gerüche nach Liguster, Steinkraut und gemähtem Gras lagen in der Luft. Sie schritt jetzt leicht aus, von Ferse auf Zehe. Das Schweigen war kostbar. Es war zu spüren wie ein Kribbeln auf dem Gesicht.

Der Platz öffnete sich am Ende auf eine Kreuzung, einen Friedhof, und dann fingen die Sozialbauten an. An Winterabenden ging Julius mit ihr durch das dunkle Labyrinth identischer dreigeschossiger Wohnblocks aus braunen Ziegeln mit gelben Schindeln. Flache, minimalistische Vorsprünge ragten über flachen, minimalistischen Türen hervor, hohes Gras sproß unter zerbrochenen Fensterscheiben. Zerbrochenes Plastikspielzeug quoll aus Mülltonnen hervor, abgebrochene Roßkastaniensprößlinge waren noch immer an ihre Stützpflöcke festgebunden, und gelegentlich gab es rings um die zerbröselnden Betonhöfe Gruppen verschlossener Garagen, denen es an Autos mangelte, jedoch nicht an inoffiziellen Bewohnern. In unregelmäßigen Abständen standen Straßenlaternen, viele davon waren zerstört, und man hörte von Gewalttätigkeiten dort, von Vergewaltigungen, Raub und aufgeschlitzten Mädchengesichtern. Schreckliche Dinge.

Im Sommer gab es auch Gewalttätigkeit, aber nicht solange es hell war, also durfte Harriet das Grundstück nach ihren Unterrichtsstunden allein durchqueren. Sie war nie belästigt worden, aber sie trabte wachsam dahin. Oftmals hingen hier junge Leute herum, doch sie kamen ihr nicht in die Quere.

An diesem Tag aber…

»Heh – Blondie… wie spät haben wir’s denn?«

Sie hatte sie im Wartehäuschen vor sich sitzen sehen, wie sie die Beine baumeln ließen, und hatte nicht weiter hingeschaut. Hinter dem Wartehäuschen zog sich eine Reihe Garagen bis zur Straße hin.

»Was ist los, Blondie? Biste taub oder was? Sag uns mal die Uhrzeit!«

Es waren drei Jungen und zwei Mädchen, und die Mädchen kicherten. Sie konnte weitergehen. Keiner von ihnen hatte sich gerührt. Aber weiterzugehen schien hochnäsig zu sein. Sie wandte sich um und sah sie an.

»Es ist zwanzig nach sechs.«

»Danke.«

Die Jungen waren natürlich überhaupt keine Jungen mehr. Sie waren älter als Danno, älter als zwanzig, und sie grinsten über etwas, das sie nicht verstand. Sie saßen da im Wartehäuschen, dann kam ein Zwischenraum, und dann sie draußen auf dem Bürgersteig. Sie kam sich noch immer hochnäsig vor. Der Zwischenraum, und sie in ihrer Kleidung und die anderen in ihrer. Die Mädchen waren einfach Mädchen, die nach der Schule herumhingen, aber die Jungen waren alt genug, daß sie etwas Besseres zu tun haben sollten. Jobs? In diesen Tagen, für Jungen? Bestimmt.

Ihr ging auf, daß sie von ihnen noch immer als Jungen dachte. War das hochnäsig? Sie wandte sich um und wollte weitergehen.

»Heh, Blondie – solltest du nicht dein Dingsbums tragen?«

Das verstand sie auch nicht, außer, daß darin irgendwo eine Bedrohung lag, die sie entschlossen machte. Brüsk ging sie davon. Füße mit weichen Sohlen näherten sich rasch. Weiteres Gekicher.

Die Jungen bauten sich in Reih und Glied vor ihr auf. Der Dünne lehnte sich geistesabwesend an eine weiße Garagenmauer, der Fette scharrte mit den Füßen im Rinnstein, der Boss stand ihr in der Mitte gegenüber. Und die beiden Mädchen standen hinter ihr. Sie waren jetzt still. Harriet blieb stehen. Sie mußte stehenbleiben.

»Was wollt ihr?«

Der Boss: »Ich hab gesagt, solltest du nicht was anhaben?«

Sie wollte keine Angst haben. Es war heller Tag, und gegenüber waren verschnörkelte Fenster mit offenen Läden. Angst zu haben war ebenso hochnäsig, wie hochnäsig zu sein.

Der Boss lachte. »Was wir wollen? Was wollen die meisten Leute? Gebraucht werden, würd ich sagen, verdammt noch mal. Würd’st du nich auch sagen, daß die meisten beschissenen Leute, verdammt noch mal, gebraucht werden wollen?«

Worauf wollte er hinaus? Sie hatten sie nicht auf der Straße angehalten, um mit ihr über den Sinn des Lebens zu reden. Sie wollten Harriet dämlich erscheinen lassen. Sie gab keine Antwort.

»Darum hab ich dich gefragt, ob du nicht dein Dingsbums tragen solltest. Mein Name is Brak, übrigens. Ohne ›c‹. B-r-a-k.«

Er streckte die Hand aus. Sie schüttelte sie.

»Harriet Ryder.« Ihr eigener Name veranlaßte sie dazu, sich kriecherisch zu verneigen. »Also, was sollte ich tragen?«

»Du wirst bemerkt haben, Harriet Ryder, daß das hier keine nette Gegend ist, verdammt. Frei heraus gesagt, es ist eine wenig wünschenswerte Gegend. Eine äußerst wenig wünschenswerte Gegend.« Er genoß die von ihm gewählten Worte. Das gefiel ihr – sie hatte gleichfalls viel für Sprache übrig. »Keine Gegend, die der persönlichen Sicherheit dienlich ist. Daher rührt unser Wunsch, gebraucht zu werden. Nur solltest du zunächst den Button tragen.«

»Den was?«

»Den Button. Weißte, was ich meine? Den Vertrauens-Button.«

Jetzt wußte sie, was er meinte. Vertrauens-Buttons waren eine Idee aus den Städten. Im Grunde handelte es sich dabei um eine Schutzgelderpressung, nur daß es weniger um Geld als vielmehr um Demütigung ging. Männerbanden streiften in den ärmeren Straßen umher und boten jeder Frau ›Schutz‹ an, die einen großen, fluoreszierenden Button mit zwei darauf gedruckten stilisierten niedergeschlagenen Augen trug. Die Männer sagten, diese Augen bedeuteten Vertrauen, aber alle anderen wußten, daß es sich um Unterwerfung handelte. Buttons waren in Geschäften erhältlich – darin konnte die Polizei nichts Ungesetzliches erkennen –, und Frauen, die sie nicht trugen, beschworen allerdings Ärger herauf. Viele weigerten sich, sie zu tragen, und diese Frauen endeten in den Notaufnahmestationen der Krankenhäuser. Aber das war in der Stadt. Harriet war nie der Einfall gekommen, sich zu fragen, was sie an deren Stelle täte.

»Ich meine, Harriet Ryder, heutzutage laufen hier genügend rauhe Typen herum. Und wenn du deinen Button tragen würdest, dann würden ich und meine Freunde gebraucht. Wir würden auf dich aufpassen. Ich meine, die meisten Männer sin’ liebenswerte Burschen. Ich meine, ein nettes Mädchen wie du kann den meisten Männern vertrauen. Wirklich vertrauen. Was schadet’s also?«

Er sprach nicht übertrieben. Er hatte im Fernsehen gesehen, wie bessere Schurken sprachen. Inzwischen bepißten sich die Mädchen hinter ihr vor Lachen – einhundert zu eins, daß sie ihre Buttons trugen –, aber Brak und seine Freunde lächelten bloß. Aber auch so war alles so entsetzlich relaxed und cool.

Harriet war hier draußen auf der Straße, die Sonne schien, gegenüber waren Fenster mit Schnörkeln und Rolläden, in der Ferne tauchte jetzt sogar ein Mann auf, der seinen Hund Gassi führte, und sie hatte eine Scheißangst. War entsetzt.

»Wenn du einer der liebenswerten Burschen bist«, sagte sie, »warum würdest du dich nur dann um mich kümmern, wenn ich einen dieser Buttons trage?«

»Ja. Warum. Ich meine, was sind das für Mädchen, die sie nicht tragen? Nur Huren und Lesben. Sie können für sich selbst sorgen. Ich meine, was ist denn so verkehrt an ein bißchen Vertrauen zwischen zivilisierten Menschen?«

»Verdammte Huren.« Der fette Junge im Rinnstein hob den Blick von den Füßen. »Das dämliche Baby is’ gestorben, weißte?«

Der Junge, der an der Wand lehnte, warf ein: »In meiner Zeitung war ’n Foto.«

»Meine Zeitung hat gesagt, Fotos wär’n nich’ erlaubt, verdammt.«

»Dann die Vorstellung eines Künstlers. Es war ein Ungeheuer. Auf der Titelseite. Es war ein verdammtes Monster.«

Ihr ging auf, daß sie über die letzte fehlgeschlagene SIR-Empfängnis sprachen. Sie gaben ihr die Schuld dafür. Ihre Biologielehrerin sagte, daß immer wieder SIR-Experimente, Versuche mit unterdrückter Immun-Reaktion durchgeführt wurden. Gelegentlich sickerte ein Ergebnis durch. Bis zum heutigen Tag waren Immununterdrücker derart toxisch, daß man zwar männliche Föten implantieren konnte, daß aber auch keiner davon länger als ein paar Stunden überlebt hatte.

»Lächerlich«, sagte sie. »Es hätte gar keinen Eindruck eines Künstlers geben können. Es wäre mikroskopisch klein gewesen.«

»Armer, kleiner Kerl.« Der Hagere. »Auch wenn er’s nich gewesen war, wäre euch Hurenbande das doch gleich gewesen.«

Brak blinzelte ihr zu. Er stand auf ihrer Seite gegen die Massen an Idioten dieser Welt.

»Du trägst deinen Vertrauens-Button, Harriet Ryder, weil, wenn du’s nicht tust, werden die ekelhaften Männer da draußen über dich herfallen.«

Er streckte die Hand aus, seinen Blick in den ihren gekrallt, und nahm ihr sanft die Notenmappe ab. Wie hypnotisiert ließ sie sie los. Er trat zurück, öffnete die Mappe und nahm einige Seiten des Prokofieff heraus. Er warf einen kurzen Blick darauf. »Sehr schön.« Sein Blick kehrte zu ihr zurück. »Ich hab stets was für tolle Musik übriggehabt. Sehr schön, wirklich.«

Er zerriß die Blätter in zwei Hälften, daraufhin sorgfältig in Viertel und Sechzehntel. Als der Papierstapel zu dick war, um ihn nochmals zu zerreißen, stopfte er ihn in die Mappe zurück und reichte sie ihr.

»Damit du’s nicht vergißt, Harriet Ryder. Ein zarter Wink. Nächstes Mal trägst du deinen Button. Dann werden die fiesen Männer nicht über dich herfallen.«

Die Mädchen hinter ihr waren jetzt ruhig. Brak ging dicht an ihr vorüber zu ihnen, gefolgt von Fett und Hager. Er hinterließ eine schwache Spur eines teuren Aftershaves. Harriet wartete. Sie sammelte ihre Kräfte, während die kleinen Geräusche, die die anderen verursachten, das Scharren von Ärmeln und Hosenbeinen, sich allmählich entfernten.

Sie sah ihnen nicht nach. Sie konnte es nicht. Sie war kaum imstande zu stehen, so stark war ihre Furcht gewesen. Brak fühlte sich plötzlich zu allem in der Lage. Sie wußte nicht, wozu. Zu allem.

Schließlich ging sie zitternd weiter die Straße hinab in die Stadt. Eine Schiffssirene heulte auf der anderen Seite des Hafens, und der Laut hallte von den steilen Bergen wider. Sie fuhr heftig zusammen. Von ihrem Standpunkt aus, oben auf dem Eckett-Gelände, konnte sie die Hafenmündung nicht sehen.

Als sie die Harbour Street hinabgelaufen war, passierte das Schiff gerade Town Quay. Ein eleganter japanischer Frachter, der flußaufwärts zu den Molen glitt, ein Motorsegler mit röhrenförmigen Segeln aus einer Metallegierung, der sich, unbeladen, hoch über den hiesigen Yachten und Fischerbooten auftürmte. Das ehemalige Gewerkschaftshaus – das Wort war noch immer über dem Eingang eingemeißelt – war in ein staatliches Sperma-Sammel-Zentrum umfunktioniert worden, und Männer kamen aus den Warteräumen, um zuzuschauen. Solche Schiffe waren selten: die Tongruben im Inland waren fast erschöpft.

Harriet wartete auf dem Kai unterhalb der Jahrtausendwende-Uhr, bis das Schiff vorüber war, und ging daraufhin langsam zu dem Abfallkorb am Geländer und schüttete die zerrissenen Notenblätter aus ihrer Mappe hinein. Sie verstand jetzt, weswegen Mädchen ihren Müttern nie erzählten, wenn sie vergewaltigt worden waren. Sie würde Mama nichts von Brak erzählen. Es war zu widerlich.

Sie ging heim. Danno würde in wenigen Stunden eintreffen. Es war sein erster Besuch seit Weihnachten, und sie hatte sich seit Wochen darauf gefreut.

Zwei Jahre bei der Armee hatten Daniel fülliger werden lassen. Sie hatten einen pickeligen Halbwüchsigen genommen und, seinen eigenen Worten zufolge, einen Mann aus ihm gemacht. Zur Armee zu gehen war ganz und gar seine Idee gewesen, die beste, die er je gehabt hatte. Während der kleine Automatikzug die eingleisige Strecke vom Umsteigebahnhof den Windstrohm River entlang hinabtrudelte, lehnte er sich wohlig im Sitz zurück, gähnte und streckte sich. Er musterte sein Erscheinungsbild, angefangen von einem vor sich ausgestreckten olivbraunen Ärmelaufschlag, weiter den Ärmel entlang, dann die Jacke mit dem Ledergürtel, weiter hinab zu der Hose mit den messerscharfen Bügelfalten und schließlich die schwarzen, auf Hochglanz gewichsten Stiefel.

Einige Burschen wurden mit einem Schlag zu Zivilisten. Das konnte er sich nicht vorstellen. Schließlich schämte er sich nicht, Soldat zu sein.

Er streckte sich erneut und drückte dabei seine Stiefel gegen die Unterseite des leeren Sitzes gegenüber. Seine Nackenmuskeln knarrten, und er spürte innerhalb seiner Uniform sich selbst als absolute Gegebenheit. Er besetzte sie, füllte sie aus, wie er sonst nichts ausfüllte. Er war an jenem Abend der einzige Fahrgast im Zug: die Fahrt am Fluß entlang, die er stets geliebt hatte, gleich ob Winter oder Sommer, gehörte ihm allein. Er bekam einen Steifen. Sich jetzt einen runterholen wäre großartig. So was wie ’ne kleine Feier. Aber es wäre Verschwendung. Jeder Kubikzentimeter wurde benötigt. Er sollte es fürs Sammelzentrum aufheben.

Er zog Arme und Beine wieder ein, beugte sich vor und sah aus dem Fenster. Flüchtige Blicke zwischen den Kiefern hindurch zeigten ihm, daß Flut war, so daß der Windstrohm bis zu den Ufern unterhalb der Bäume gefüllt war. Die Sonne stand jetzt unter dem westlichen Horizont, das Wasser war still, dunkel und geheimnisvoll. Während der Zug dahinfuhr, hörten die Bäume auf, und er hatte einen ungetrübten Blick auf riedbedeckte Schlammkissen und einen halb untergetauchten Hulk nahe dem gegenüberliegenden Ufer. Der steile Hügel darüber war bis zum Horizont aufgeforstet worden. Größtenteils waren es verkrüppelte Eichen, die sich schwarz vor dem glühenden Opalhimmel abhoben, und die Silhouette einer gewundenen Reihe von Stromleitungsmasten kennzeichnete die Straße. Selbst durch das Zugfenster konnte er die Stille dort draußen spüren.

Nichts änderte sich. Hier oben war er als Kind Kanu gefahren. Sie hatten auf diesem alten Hulk gespielt, waren von Stechmücken gepeinigt worden und hätten beinahe den Gezeitenwechsel versäumt. Damals hatte es dort ein Ruderhaus gegeben. Er starrte mit zusammengekniffenen Augen hinüber. Dort stand noch immer ein Ruderhaus. Nichts änderte sich. Er korrigierte sich in Gedanken. Menschen veränderten sich. Er veränderte sich.

Der Zug fuhr wieder zwischen Bäumen, dann zwischen feuchten Felsklippen entlang und nahm eine Abkürzung über eine Flußschleife. Riesige Farne streiften die Wagenfenster. Ein Wasserfall tauchte auf, weiß schimmernd auf grünem Moos, und war im nächsten Augenblick wieder verschwunden. Die Felsklippen lehnten sich gegeneinander, vereinigten sich oben. Nach der Düsternis des Tunnels wirkte das Zwielicht des Flußtals so hell wie am Tag. Ein Reiher flog schwankend auf riesigen Flügeln heran und suchte nach einem Platz, wo er sich niederlassen konnte. Daniel atmete seine Kindheit ein. Hier war sie nicht so schlecht gewesen. Hier war er vielleicht auch nicht so schlecht gewesen.

Der Zug schwankte leicht an einer Abzweigung, der zu den Brandt-Laboratorien führte. Von hier an bis zum Meer hinab war der Windstrohm ausgebaggert worden und wurde im Winter eisfrei gehalten, und ein schickes Forschungsschiff der Firma, die Schornsteine in den Brandt-Farben Blau und Weiß, lag im Kanal vor Anker. Einst hatte Daniel geglaubt, bei Brandt einen Job zu bekommen, wie sein Vater. Aber Papa hatte einen Universitätsgrad – und selbst dann, sieh mal, was die Arbeit bei Brandt aus ihm gemacht hatte! Man mußte entweder sechs Doktortitel haben oder im Marketing top sein.

Am jenseitigen Flußufer lagen Häuser zwischen den Bäumen. Ihre Fenster leuchteten wie Lichtpunkte, und unten auf Höhe des Wassers strahlten die Girlanden der farbigen Lampen auf der Mole des Yacht-Clubs, deren Spiegelung im Wasser durch die unbestimmbaren Formen der Yachten reicher Männer verdeckt wurde. Das war erstklassiges Zeugs, Zeugs für bewaffnete Wächter, erstklassiger sogar als der städtische Yacht-Club mit seiner zweihundertjährigen Geschichte. Neiderfüllt war Daniel herangepaddelt. Die Wächter hatten ihn durch Rufe verscheucht, aber niemand konnte ihn daran hindern, neidisch zu sein.

Seine Fahrt war fast vorüber. Die strahlend erleuchteten Molen kamen in Sicht. Ein Frachter mit japanischer Flagge wurde gerade vertäut, dicke Schläuche ergossen sich in seinen vorderen Laderaum. Jahrhundertelange Forschung, sagte Papa, und für eine Vielzahl von Pharmazeutika gibt es noch immer keinen besseren Grundstoff als die hiesige Tonerde. Als Daniel ein junger Bursche gewesen war, hatte auf einem weiten Gebiet rings um die Molen dick der weiße Staub gelegen. Er trocknete einem den Mund aus, wenn man ihn aufhob und daran leckte. Jetzt, da die Gruben allmählich erschöpft waren, durfte kein Gran entweichen.

Der Zug fuhr ratternd über weitere Weichen, vorüber an der verwirrenden Maschinenlandschaft und hinein in einen letzten kurzen Schwall intensiver Dunkelheit, ehe er vor dem Bahnhof verlangsamte. Daniel stand auf und setzte sich den Rucksack auf. Niemand würde ihn abholen. Er hatte behaupten können, seine genaue Ankunftszeit nicht zu wissen. Er wollte wirklich nicht, daß ihm Geplauder die ersten Augenblicke verdarb.

Der Zug blieb stehen. Er trat auf den Bahnsteig hinab und ging stampfenden Schritts zum Bahnhofsgebäude hinüber. Es war nach acht, und die Straße war verlassen. Ein einziges Methanol-Taxi wartete an der gelben Linie. Er mied es und machte sich auf den Weg in die Stadt. Den Rücken gerade gehalten ging er federnd dahin, den Rucksack auf den Schultern.

Er war daheim. Dies waren seine Tage in der Schule. Im Cafe ›Zum Neuen Jahrhundert‹ stippte an einem Tisch ein blasses junges Wrack – dem Aussehen nach hatte er AIDS – Brot in seinen Becher mit etwas darin, und die Bedienung hinter der Theke sah Fernsehen. Er marschierte weiter. Nichts änderte sich. Er veränderte sich.

Die Stations-Disco hinter dem Cafe hatte geschlossen. Sie kündigte eine Show für den morgigen Abend an, Samstag, die um 20 Uhr 30 beginnen würde. Alle wären willkommen, ganz bestimmt gäbe es weder Alkohol noch Drogen im Lokal. Er ging nicht oft in Discos. Nicht mehr. In der Armee gab es Besseres zu tun. Die Armee hielt einen auf Trab.

Er ging die Front Street entlang, an der Disco und dem Back Quay vorüber, durch die Stadt und über die Parade zu seinem Haus. Er setzte den Rucksack ab, wühlte nach seinem Schlüssel, öffnete die Tür. Er war jetzt ein Mann. Im Flur war es dunkel, Stimmen tönten von der Küche herauf. Bei jeder Rückkehr war das Haus kleiner. Es roch nach Feuchtigkeit. Er ließ seinen Rucksack liegen, ging leise die Stufen hinab und spähte durch die offene Küchentür. Alle waren sie da, und nur die Katze auf dem Kühlschrank, die Augen weit geöffnet, hatte ihn gehört.

Er trat vor. »Stellt euch neben die Betten!«

»Danno…« Harriet warf sich ihm in die Arme.

Seine Mutter blickte von ihrer Tätigkeit am Abwaschbecken auf. »Lieber Gott, wen haben wir denn da! Den Obersturmbannführer.«

Die Zeit blieb stehen.

Jene Frau…

Sein Vater legte die Zeitung nieder. »Du siehst großartig aus, Danno. Willkommen daheim.«

Der Augenblick ging vorüber. Daniel vergaß ihn.

Harriet wühlte in seinen Taschen. »Wo ist mein Geschenk?«

»Hätte ich dir eins mitbringen sollen? Ich hätte gedacht, du wärst beleidigt. Ich meine, wo du jetzt sechzehn bist und so.«

»Schweinehund. Das heißt also, du hast keins?«

»Nun ja…«

»Wo ist dein Rucksack? Es ist in deinem Rucksack.«

Sie stolperte nach oben, um ihn zu suchen. Es war das Mindeste, was sie tun konnte. Mama machte sie so traurig. Den ganzen Abend über, seitdem sie von der Arbeit gekommen war, hatte sie mit der Zubereitung von Dannos Lieblingsessen verbracht, aber das war das Leichtere. Das erzählten einem die Zeitschriften. Deinen eigenen Sohn zu mögen war etwas völlig anderes.

Harriet riß an den geheimnisvollen Riemen des Rucksacks. Er hatte ihr ein Geschenk mitgebracht, also mußte sie es tun.

Daniel folgte ihr hinauf. War sie wirklich sechzehn? Sie hatte Titten, kleine, er sah sie, aber sie benahm sich nicht so, als ob sie welche hätte. Er umarmte sie von hinten, half ihr daraufhin bei den Schnallen. Sie war einfach noch immer ein Kind. Gute alte Harri.

Ihr Geschenk war eine Mundharmonika. Sie war auf eine geschwungene Metallstange gesetzt, die man um den Hals legte, damit die Hände frei waren. Die Idee war, sie sollte lernen, darauf zu spielen und sich damit auf dem Klavier zu begleiten, was ihren tuntigen alten Lehrer aus der Fassung bringen sollte. Harriet umarmte ihn erneut und versuchte, ihn mitzuschleifen, weil sie es am Klavier im Wohnzimmer ausprobieren wollte, aber er gab Zeichen, nickte, sie sollten zurück nach unten zu Mama und Papa gehen.

Sie nahmen die Mundharmonika mit, und später spielte er ihnen etwas vor. Er hatte geübt und ›Red River Valley‹ und ›Ridin’ Old Paint‹ auf Lager. Es war hübsch. Harri würde es natürlich lernen, aber im Augenblick konnte sie überhaupt nicht darauf spielen.

Harriet lernte es nie. Insgeheim verabscheute sie die Geräusche, die die Harmonika von sich gab, und sie versteckte ihr Geschenk in ihrer Schublade hinter den Pullovern. Sie blieb dort, bis Harriet im folgenden Sommer alles ausräumte, um aufs College zu gehen.

Am nächsten Morgen blieb Daniel lange im Bett. Mama arbeitete am Samstag freiwillig oben in der AIDS-Beratungsstelle für Familien, und sie hatte vor kurzem Harriet dazu bewegen können, ihr zu helfen. MERS hatte die Frauen gegen AIDS immun gemacht, und die bereits Infizierten befanden sich anscheinend in einer permanenten Remission. Offensichtlich stieß der Mechanismus, der männliche Embryos abstieß, auch das AIDS-Virus ab. Und wenn Gott die Mutter in Ihrer Weisheit so gnädig war, sagte Mama, dann war das Mindeste, was Harriet und sie tun konnten, etwas in die gemeinsame Kasse zurückzuzahlen.

Was hieß, daß Daniel und sein Vater allein im Haus blieben. Papa verbrachte einige Stunden damit, seine Notizen der Woche aus dem Labor niederzuschreiben, und dann nahmen sie ein frühes Mittagessen beziehungsweise spätes Frühstück zusammen ein.

Sie kochten, aßen und erzählten einander kauend von ihrer Arbeit. Daniel war nicht in den Kurs für fortgeschrittene Waffensysteme aufgenommen worden – was etwas damit zu tun hatte, daß er sich zu spät in die Listen eingetragen hatte, sagte er. Statt dessen versuchte er es bei einem Kurs in speziellen Anti-Terror-Techniken. In der heutigen Armee war jeder Spezialist für irgendwas. Das machte sie so großartig.

Bei Johan Ryders Arbeit oben bei Brandt ging es um Hummerzucht. Das gegenwärtige Problem bestand darin, sie daran zu hindern, einander in Stücke zu schneiden, wenn sie so intensiv gehalten wurden.

»Ist doch einfach, Papa. Einfach ihre Klauen anpflocken.«

»Sie brauchen ihre Klauen. Ohne sie können sie keine Nahrung packen und würden verhungern. Denk nach, Danno.«

Daniel hob die Schultern. Es gefiel ihm nicht, wenn man ihm etwas sagte. Ihm war es wie eine perfekte, gute Antwort vorgekommen.

Johan rührte seinen Tee um. »… Beruhigungsmittel funktionieren nicht. Hummer müssen die ganze Zeit boshaft sein, sonst ist ihnen alles egal. Sie verkümmern einfach.«

»Solche Burschen gibt’s in der Armee auch.«

»Ganz recht. Solche Burschen gibt’s überall.«

Daniel stopfte weiteres Brot in den Toaster. Sein Vater hatte diese Art, den Dingen eine neue Richtung zu geben. Er konnte nie den Finger darauf legen, aber er fühlte sich unbehaglich dabei.

Gegen Mittag gingen sie aus, in die Pelikan-Bar auf dem Town Quay. Eine Anzahl von Daniels Freunden aus seiner Zeit vor der Armee war dort. Sie sprachen über Ereignisse in der Stadt, von denen er jetzt nichts mehr wußte, und über Frauen. Sie akzeptierten seinen Vater als einen der ihren. Allgemeiner Konsens war, daß der Bevölkerungsrückgang eine verdammt großartige Sache war. Natürlich war es verflucht schrecklich, Weibern beim Fußballspiel zuzusehen. Scheiße. Aber sie würden bald eine Therapie finden, nur unterdessen bekämen die Frauen, verdammt noch mal, buchstäblich nicht genug davon.

Bei der dritten Pinte bemerkte Daniel, daß sein Vater bereits unsicher auf den Beinen stand. Er war nicht daran gewöhnt, zur Mittagszeit zu trinken. Er war nicht ans Trinken gewöhnt. Daniel überschlug, wie alt sein Vater war. Vierzig? Nein, zweiundvierzig. Das war nicht alt. Er entschuldigte sie beide und nahm Johan mit nach draußen. Sie setzten sich mit ihren Bierkrügen auf eine Bank in die Sonne. Der Kai war bevölkert von Bootsverleihern und Touristen, und Seemöwen schlugen geräuschvoll mit ihren Schwingen.

Johan starrte die Leute an. Er wirkte sehr niedergeschlagen.

»Papa? Einen Euro für deine Gedanken?«

»Ist die Sache nicht wert.«

Daniel blickte weg. Es waren Frauen auf dem Kai. Wie er sie so ansah, bemerkte er, daß es stimmte: sie konnten nicht genug davon bekommen.

»Danno? Ich hab mich gefragt, Danno, du… willst doch Kinder haben?«

»Eines Tages, natürlich.«

»Nur Mädchen?«

»Warum nicht? Kinder sind Kinder.«

»Das stimmt nicht.« Sein Vater beugte sich vor. Schweiß stand ihm auf dem Gesicht. Er sah so beschissen aus. Daniel bat Gott, er könne ihm helfen. »Natürlich lieben Männer ihre Töchter, Danno. Aber sie hoffen auf Söhne. Es ist das Abgeben, verstehst du?… Ich weiß, daß ich’s getan habe.«

»Also hast du mich bekommen.«

»Du wirst deinen Weg schon finden. Mehr kann ein Mann nicht tun.«

»Ja.« Es hörte sich an wie eine Entschuldigung. Daniel leerte sein Glas. So hatte er es nicht gemeint. »Habe ich dir erzählt, daß ich zu einem Fernmeldekurs gehe?«

»Anti-Terror, hast du gesagt.«

»Das auch.« Er stand auf. »Dasselbe noch mal?«

Sein Vater schüttelte den Kopf und zuckte dann die Achseln. »Warum nicht?«

Söhne gaben ihren Vätern Getränke aus. Das taten Söhne.

Als er mit dem Bier zurückkehrte, hatte sich Johan anscheinend nicht von der Stelle gerührt.

»Hummer«, murmelte er. »Arbeite mir die Seele aus dem Leib für Hummer.«

Daniel setzte sich, gab ihm ein volles Glas und hob das seine.

»Prost!«

»Luxusgüter für Luxusmenschen, Daniel. Ich meine, das hilft nicht so ganz dabei, die hungernden Millionen zu ernähren.«

»Heul mit den Wölfen, Papa. Sieh mich an. Und was hast du gerade gesagt? Wir tun, was wir können.«

»Hab ich das gesagt?«

»Fast.«

»Dein Vater ist selbstgefällig, Daniel. Du solltest nicht auf ihn hören.«

Auf wen sonst, verdammt noch mal? »Du bist in Ordnung, Papa.«

Daraufhin hätte vielleicht irgend etwas geschehen sollen. Daniel wollte es so. Er konnte es sich bloß nicht vorstellen. Väter und Söhne. Irgend etwas.

Statt dessen: »Nein, Daniel… ich verschwende meine Zeit. Uns bleibt nur noch so wenig Zeit, dir und mir, uns Männern, und wir haben soviel nachzuholen. Macht dir das keine Angst?«

»Was?« Scheiß doch drauf. Scheiß doch auf alles! »Du meinst den Bevölkerungsrückgang? Sie werden eine Therapie finden. Das tun sie immer.«

»Ich glaube nicht. Zwanzig Jahre Forschung, die allergrößte potentielle Geldmaschine, welche die Industrie je erlebt hat, und nicht mal das kleinste bißchen.«

»Sie warten auf Harri, Papa. Noch ein paar Jahre, dann wird sie’s ihnen zeigen.« Er boxte seinen Vater leicht auf die Schulter. Was für eine verdammt lausige Art und Weise, seinen Samstag zu verbringen!

Aber Johan hörte nicht zu, er war zu seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt. »Es macht mir Angst, Daniel. Das Leben, das ich vergeudet habe. Man kann etwas aus Liebe tun, und man kann etwas aus Schwäche heraus tun. Zwischen Menschen, meine ich. Ehemänner und Ehefrauen… das muß ich dir nicht sagen, ausgerechnet dir. Du hast es durchgemacht. Hast du’s nicht durchgemacht?«

Daniel funkelte ihn an. Das war widerlich. Dafür war er nicht auf Urlaub gekommen.

Sein Vater verstand. Er lehnte sich zurück, legte den Kopf an die Mauer und starrte über den Hafen hinaus. »Tut mir leid. Teufel noch mal, ich hab zuviel getrunken. Aber nicht deswegen tut es mir leid. Du wirst daran gewöhnt sein… Nein. Es tut mir leid, Daniel, weil ich bin, was ich bin, und niemals ›nein‹ zu ihr gesagt habe. Und ich habe es Liebe genannt. So einfach ist das. Nicht um deinetwillen, nicht um irgend jemandes willen habe ich niemals ›nein‹ zu ihr gesagt. Allmächtiger Christus…«

Er schüttelte den Kopf, raffte sich auf, schüttete aus, was in seinem Glas noch übrig war, und beugte sich über Daniel, eine Hand auf der Banklehne. »Drei Pints hat’s gebraucht, bis ich soweit war. Ist das nicht kläglich? Und jetzt bist du bei der Armee, und Gott weiß, was du über alles denkst, wenn du irgendwas denkst. Also werde ich jetzt nach Hause gehen, und ich schaff’s schon allein, du brauchst mich nicht zu begleiten, und wenn es Zeit zum Abendbrot ist, wird nichts von allem hier geschehen sein… Aber es tut mir leid, daß es geschehen ist. Es tut mir wirklich leid.«

Daniels Ärger welkte dahin, und wie versteinert starrte er ihm nach, als ob es einen blendenden Tunnel von Jahren hinabginge, bis hin zu einer Zeit, die er nicht näher bestimmen konnte, einem Ort, den er nicht wiedererkannte. Tut mir leid. Niemals soll dir etwas leid tun. Auslösende Worte. Nichts anderes vernahm er. Die Zeit waren alle seine Jahre, der Ort war überall. Niemals soll dir etwas leid tun. Was er war, was er geworden war und warum.

Langsam kehrte er zurück. Er wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Was war er denn überhaupt? Ein Soldat in der, verdammt noch mal, feinsten Armee der Welt, und der letzte seiner Art. Sechs Wochen nach ihm waren bloß noch Mädchen gekommen. Mädchen, verflucht noch eins. Armeemädchen, Huren und Lesben.

Das Glas seines Vaters stand noch immer auf der Bank. Er wischte es zu Boden und trat es gegen die Mauer, wo es zerbrach. Dann ging er wieder zu seinen Freunden in die Bar und zu einem richtigen Besäufnis zurück.

Harriet und Bess kehrten gegen halb drei von der AIDS-Beratungsstelle nach Hause zurück. Dannos Zimmer war leer. Papa schlief ungewöhnlicherweise oben auf dem Wohnzimmersofa. Für Harriet war ein Brief auf dem Drucker eingetroffen. Sie nahm ihn und ging in ihr Zimmer hinab, um aus den Kleidern zu kommen, die Mama passend fürs Büro hielt. Der Brief war von Oma, Bess’ Mutter. Oma hatte nie geheiratet oder regelmäßig einen Mann um sich gehabt; Johans Eltern waren beide tot. Sie waren bei einem Bombenanschlag auf ein Frauenkrankenhaus draußen auf der Straße umgekommen; weitere Tanten oder Onkel gab es nicht. Außerhalb ihrer unmittelbaren Familie war Oma jetzt Harriets einzige lebende Verwandte.

Sie teilte mit, daß sie vorzeitig in den Ruhestand treten würde. Sie hatte das ganze Leben lang im Bibliotheksdienst gearbeitet, aber ein vor kurzem verabschiedetes Gesetz hatte das Pensionsalter für Männer auf siebzig Jahre heraufgesetzt, wobei weitere fünf Jahre Verhandlungsspielraum bestanden, und Oma sagte, somit hätte sie mit ihren achtundfünfzig Jahren keinerlei Aufstiegschancen mehr. Daher schied sie vernünftigerweise aus.

Oben im Wohnzimmer erhoben sich Stimmen. Harriet faltete den Ausdruck entlang der Perforation und legte ihn auf die Kommode, so daß sie die zweite Seite lesen konnte, während sie den Rock auszog. Oma verkaufte ihr Haus. Sie dachte daran, auf einer Insel draußen vor South Foreland zu leben – die Insel, auf der sie die letzten drei Sommerferien verbracht hatte. Die Vorstellung einer kleinen Gemeinschaft sagte ihr zu, und es bestand die Möglichkeit, an der dortigen Grundschule eine Halbtagsstelle anzutreten. Ob Harriet sie für verrückt hielte?

Der Lärm oben schwoll an. Grimmig kämmte sich Harriet das Haar. Sie fand Oma brillant. Genau in diesem Augenblick war eine Insel kilometerweit entfernt äußerst anziehend.

Sie zog eine lockere Hose und bequeme Schuhe an und lief schnurstracks nach oben ins Wohnzimmer. Sie wollte es hinter sich bringen. Ihre Eltern erstarrten: es war, als ob ihre rohe, übertriebene Haltung ewig währte, und sogar der Ausdruck auf ihren wütenden, häßlichen Gesichtern.

Julius sagte, die Welt wäre liebenswürdiger. Harriet sah das nicht so. Das Problem waren weder Männer noch Frauen. Das Problem war anscheinend der Ärger – er setzte sich entweder in Macht um oder nicht.

Rasch fragte sie: »Papa – weißt du, wo Danno ist?«

Sie machten weiter. Mama sagte: »Dein Vater ist betrunken.«

Er breitete die Arme aus. »Ich hab das nicht geleugnet. Mein Argument war, ob das an einem Samstagnachmittag wirklich so schrecklich ist.«

Harriet verabscheute sie. Insbesondere verabscheute sie in diesem Augenblick sein schrecklich. Mama so mit Worten ins Gesicht zu lachen zeugte so von Schwäche. »Wo ist Danno?«

»Ich hab ihn im Pelikan zurückgelassen, Harri. Natürlich könnte er inzwischen woanders sein.«

Ihre Mutter lachte höhnisch. Richtig höhnisch. »Wenn er sich noch auf den Beinen halten kann.«

»In dieser Hinsicht brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Mutter. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß unser Danno ein Mann mit beträchtlicher Erfahrung beim Trinken ist.«

Harriet verschwand, lief Türen schlagend aus dem Haus und die Straße hinab. Mutter war ein weiterer Hohn. Er wußte genau, daß Bess das nicht ausstehen konnte. Johan gewann diese Kämpfe jedoch nie. Anschließend sah er sich selbst zu klar.

Daniel war nicht weitergezogen. Harriet fand ihn im Pelikan, ein Glas in der Hand, dennoch sicher auf den Beinen und nicht betrunken.

»Harri. Du hast mich gefunden. Großartig. Harri – das ist Douglas. Du erinnerst dich an Douglas? Laß dir von mir eine Coke spendieren.«

Sie erinnerte sich an Douglas. Er war oft hier. Nach dem Abgang von der Schule hatte er einen Job an den Molen gefunden. Er hatte behaarte Arme und hielt sich für den Typen mit dem größten Sexappeal in der Stadt.

»Jesses, Harri, sieh nicht so drein! Er benimmt sich heute erstklassig. Nicht wahr, Doug, Junge?« ›Doug Junge‹ gab keine Antwort. Glatt fuhr Daniel fort: »Ist Papa gut nach Hause gekommen? War er sternhagelvoll? Bloß an dem Zeug gerochen, mehr hat er nicht getan, und schon sternhagelvoll… Doug ist drinnen geblieben. Du hast ihn nicht gesehen, Doug. Sternhagelvoll.«

»Auf mich wirkte er in Ordnung. Er hat auf dem Sofa geschlafen, als wir von der Beratungsstelle heimgekommen sind.« Mehr sagte sie nicht. »Und ich hätte liebend gern eine Coke.«

Sie wußte nicht, wovor sie Danno schützte. Nicht Dougs Anwesenheit hatte ihr Einhalt geboten. Vielleicht schützte sie sich selbst. Daniel bestellte die Coke sowie ein weiteres Bier für Douglas und sich selbst. Douglas nahm sein Bier nicht. Er hatte bislang kein Wort gesprochen, und ihr wurde klar, daß er bewußtlos war. Auf den Beinen, die Augen offen, grinsend, jedoch bewußtlos.

»Ich wollte mich nicht aufdrängen, Danno…« Sie war hier, weil das dem Haus vorzuziehen war. Sie improvisierte: »Ich bin hergekommen, weil… nun ja, ich hab einfach wissen wollen, ob du irgendwas für heute abend geplant hast.«

Danno blickte sie von der Seite her an. »Orgien, kleine Schwester. Du solltest nicht fragen. Alle Huren in der Stadt. Wie alles Gute sind sie im Dutzend billiger.« Er hob sein Glas. »Prost!«

Sie trank ihre Coke. Sie hatte nicht improvisiert, sie hatte über den heutigen Abend nachgedacht, seitdem sie von seinem Kommen erfahren hatte. »Ich meinte vorher, vor den Huren.«

Er riß sich zusammen. Sie war nicht Mama, er mußte sie nicht anmachen. Was würde ihr heute abend am besten gefallen? Armes Kind, in diesem gottverlassenen Nest gab es nicht viel für sie. Nur der eine Ort, wirklich.

»Weil, wenn du frei bist«, fuhr sie fort, »da habe ich gedacht, wir könnten vielleicht…«

»Einige Kumpels zum ›Mensch ärgere dich nicht‹ einladen?«

»Nicht ganz das, was ich im Kopf hatte, Danno.«

»Dann einander vor dem Fernseher das Haar kämmen?«

»Ich hasse dich, Danno. Ich schwöre, ich werde nie…«

»Für ein Tänzchen in der Bahnhofs-Disco vorbeischauen?« Er grinste sie an. »Fängt um halb neun an? Ganz bestimmt keine Drogen oder Alkohol im Laden?«

Sie umarmte ihn. »Du glaubst, du kommst so lange ohne zurecht?«

»Ich könnte es versuchen.«

Auf einmal war sie verlegen. »Dann würd ich sehr gern dorthin.«

Douglas sackte allmählich zusammen. Er hätte auch noch länger aufrecht stehenbleiben können, aber ihn hinauszubugsieren war für beide als Unterbrechung von Nutzen. Harriet hatte sich zu sehr über Dannos Einladung gefreut, und Danno hatte sich zu sehr über Harriets Freude gefreut. Sie stützten Douglas beim Verlassen der Bar, wobei er mit den Beinen pflichtschuldig Gehbewegungen vollführte, und legten ihn auf eine Bank in der Sonne. Es half ihnen dabei, voranzuschreiten; ein wenig reifer zu werden.

Daniel hatte seine und Dougs Pints drinnen auf der Theke stehenlassen. Er konnte sich nicht vorstellen, weshalb er sie bestellt hatte. Drei Uhr nachmittags war eine verdammt blöde Zeit für ein Besäufnis.

Harriet andererseits dachte, während sie Douglas’ Füße auf der Bank arrangierte, über den armseligen kleinen Versuch ihres Vaters nach, sich zu betrinken. Das hatte eine wichtige Frage zur Folge, und jetzt, mit Douglas als Mittelsperson, erschien es wie eine gute Zeit, sie zu stellen.

»Danno… sind Mama und Papa jemals glücklich gewesen, was meinst du? Miteinander glücklich, meine ich? Du bist vier Jahre älter als ich. Du hast sie früher erlebt. Erinnerst du dich?«

»Glücklich?« Er schlich sich bereits davon. »Das ist vielleicht ’ne Frage.«

»Ich weiß. Und es tut mir leid. Aber sie ist wichtig.«

»Wichtig.« Er sah sich mit flackerndem Blick um. »Warum fragst du dann nicht sie?« Er mußte entfliehen.

Sie sah seinen Schmerz. »Tut mir leid, Danno.«

»Soll dir nicht leid tun, Harri. Niemals soll dir was leid tun.« Es kam einfach so heraus. Aus dem Nirgendwo. Er blickte auf seine Armbanduhr. »Wann gibt’s Abendessen?«

»So um sieben rum, denke ich. Wie immer.«

»Bis dann, Harri. Und sag Mama, daß ich nicht zu spät komme.«

Er entfernte sich rasch. Glücklich? Er war betrunkener, als er gedacht hatte. Jede Minute würde er sich jetzt die Seele aus dem Leib kotzen. Er verfiel in ein torkelndes Laufen.

Harriet rief ihm nach: »Was ist mit Douglas? Wir können ihn nicht einfach dort liegenlassen…«

Aber sie konnte es wohl tun. Und Danno wartete auch nicht. Sie ließ ihn ziehen. Vielleicht mußte er selbst einige Fragen klären. Aber wenn er sie heute abend lediglich in einer brüderlichen Geste ausführte, so würde sie sich weigern, deswegen ein schlechtes Gewissen zu haben. Hätte es irgendein besseres Angebot gegeben, er hätte es angenommen. Dessen war sie sich gewiß.

Langsam ging sie nach Hause. Mama hatte inzwischen wohl gewonnen, und Papa wäre zerknirscht. Aber wenn sie um ihretwillen zusammenblieben, so wäre das eine weitere Tatsache, angesichts derer sie sich weigern würde, ein schlechtes Gewissen zu haben. Einzeln für sich liebte sie jeden von beiden aus vollem Herzen. Waren sie zusammen, so fiel das schwerer.

Fünf Discos waren von Dannos Kaserne im Hauptquartier der Armee mit einer billigen Taxifahrt erreichbar. Verglichen mit jeder einzelnen davon war die hier ein Witz. Er war in seine schärfsten Klamotten gestiegen, und er hätte sich die Mühe sparen können. Der DJ war so umfangreich, daß man ein Regiment über ihn hinwegmarschieren lassen konnte, die Holos waren nicht synchron, die Light-Show war prähistorisch, die Lautsprecher waren verknistert und die Live-Band war eine Katastrophe. Vor zwei Jahren hätte er sie großartig gefunden, jetzt wußte er’s besser.

Er lehnte sich an eine Säule und erstickte schier in dem Gemisch aus billigem Parfüm und noch billigeren Deos, während Harri mit einem Burschen tanzte, der alt genug war, daß er ihr Vater sein konnte. Er mußte das nicht tun. Noch zehn Minuten, und er würde sich verpissen, eine passable Bar suchen. Harri hätte es besser wissen sollen – er würde es ihr sagen müssen. Das hier war das letzte Loch. Es stank ihm, wie sie einen Narren aus sich machte.

Dann schob sie sich durch die Menge, das Haar im Gesicht, die Wangen gerötet, und sie bewegte sich noch immer zur Musik. In den blitzenden Streifen aus Licht und Dunkelheit griff sie nach seiner Hand. Er zögerte. Sie wirkte wie zehn. Was soll’s, zum Teufel – nur ein paar Minuten lang. Er wollte sie nicht enttäuschen.

Drei Stunden später war er wie ausgewrungen. Sie wollte ihn nicht gehen lassen. Sie berührten sich selten, doch sie hielt ihn mit dem Blick fest, und nie zuvor hatte er eine solche Lebendigkeit darin gesehen. Einen solchen Drive. Während der letzten beiden Jahre hatte er viel an seiner Tanzerei gearbeitet, und die Frauen, mit denen er ausging, bewunderten das. Heute abend widmeten weder Harri noch er dem einen Gedanken. Andere Typen klatschten sie ab, aber nicht für lange, und währenddessen wartete er auf sie. Sie war ein großartiger Kumpel. Ein erstaunliches Kind.

Um Mitternacht gingen sie zum Erfrischungsbereich hinüber, besorgten sich riesige Gläser mit dem fluoreszierenden, grün-gelb marmorierten Zeugs, das die Kids in jenem Jahr tranken, und gingen nach draußen, um frische Luft zu schnappen. Die Nacht war warm und sehr dunkel, der Himmel bedeckt, der Mond noch nicht aufgegangen. Sie schlenderten die wenigen hundert Meter zum Back Quay hinüber, wo für die Nacht die letzte Fähre über den Hafen ablegte. Sie sahen zu, wie das Mastlicht des kleinen Motorschiffs kleiner wurde und verschwand. Von jetzt an mußten die samstäglichen Nachtschwärmer von der anderen Seite die Town-Quay-Fähre benutzen.

Sie setzten die Ellbogen auf das Geländer unterhalb der Straßenlaterne. Zur halben Tide schien das Wasser sehr weit unten zu sein, es stieg und fiel in langsamen, öligen Wirbeln. Sein Schlappen war der einzige Laut: das und der schwache Beat der Musik aus der Disco. Sie waren allein, isoliert in dem leuchtenden Kegel der Lampe über ihnen.

»Denkst du über alles das hier nach, Danno?« Sie wollte Gemeinsamkeiten finden, die sie teilten. »Ich weiß, ich werd’s tun. Woran erinnerst du dich, wenn du wieder bei der Armee bist?«

Er zuckte die Achseln. »An nicht sehr viel.« Die Armee war eine andere Welt. Verschlossene Tore. Er blickte sie von der Seite her an: sie würde das nicht verstehen. Sie war noch ein Kind. »Ich würde nur Heimweh bekommen«, sagte er vereinfachend.

»Heim-Weh?« Sie sprach das Wort deutlich in zwei Silben getrennt aus. »Ich hab von der Gegend geredet.«

Sie meinte, sie konnte sich nicht vorstellen, daß er sich um sein Zuhause grämte. Es war als Einladung gedacht, sich ihr anzuvertrauen, auf die er nicht einging. Sie hatte von ihm auch nichts anderes erwartet.

»Wie lange mußt du noch hierbleiben?« fragte er statt dessen. »Zwei Jahre? Und was dann – noch immer das College?«

»Ich muß es schaffen, Danno. Anders kann ich nicht das tun, was ich will.« Es war lächerlich, daß sie sich bei ihm dafür entschuldigen sollte, aufs College zu gehen. Und ihm nicht zu sagen, daß sie eine Klasse übersprungen und nur noch ein Jahr vor sich hatte. Sie war stets klüger als er gewesen. Daran konnte sie nichts ändern.

Offen gesagt, sie wollte nichts daran ändern.

Aber er hatte die Nuance sowieso nicht mitbekommen. »Meine Schwester, die berühmte Wissenschaftlerin.«

Sie lachten, und Harriet rückte näher. Sie schob ihren Arm in den seinen, und beide starrten hinaus auf das Lichtergewirr, das sich im Wasser spiegelte. Ihm fehlte soviel.

»Es gibt ein Problem, Danno. Es könnte den Kurs berühren, den ich einschlage. Siehst du, mir stehen zwei Wege zum Ziel zur Verfügung – die Ursachen oder die Ergebnisse. Ich muß mich entscheiden, welches davon das Wichtigere ist, nämlich die Symptome kurieren oder herausfinden, was ursprünglich falsch gelaufen ist.«

»Ich hab gelesen, es wäre ein Gas aus dem Weltall.«

»Nichts ist unmöglich. Es könnte vom zunehmenden UV-Licht herrühren oder ein Überbleibsel aus den Ölkriegen sein. Oder ein Virus, das schon immer vorhanden gewesen ist, wie HIV. Die Gaianer sagen, es ist eine natürliche, ökologisch begründete Reaktion auf die Überbevölkerung.«

»Dann ist das der Job für dich. Grab aus, was es ist, und du bist reich und berühmt.«

Sie runzelte die Stirn. Ihm fehlte soviel. Sie hatte gesagt, es gäbe zwei Herangehensweisen – er hätte das bemerken und auf ihre Erklärung warten sollen.

»Aber Ursachen herauszufinden erfordert Zeit. Sieh mal den Krebs. Also besteht die nützlichste Arbeit vielleicht darin, daß mehr Babies geboren werden. Die künstliche Befruchtung verbessern. Eine Lösung für Parthenogenese finden. Ansonsten könnten die Menschen knapp werden, ehe…«

»Wart mal einen Augenblick. Was für ’ne -genese?«

»Parthenogenese. PTG. Klonen. Jungfrauengeburt.«

»Kann ich mir nicht vorstellen.« Er wandte sich heftig ab, dachte an all jene Babies, die geboren würden, ohne daß ein Mann dazu nötig wäre. »Du meinst, das ist ein erster Schritt?«

»Sollte es sein. Mit Mäusen funktioniert’s.«

»Menschen sind keine Mäuse. Ich finde es widerlich.«

Und widerlich war, ging ihr auf, auch das, was sie gerade tat. Den hiesigen Bauern, den edlen Wilden, auf seine Meinung hin ausloten, weil sie von den Meinungen ihrer Karriere-Ratgeber nicht überzeugt war.

Wenig Tugend konnte man jemandem zuschreiben, der so ungebildet war, seinem Bruder das Etikett ›Bauer‹ aufzukleben. Sie hatte Spielchen gespielt. Das war schlimmer als ihr Vater und sein ›schrecklich‹.

»Parthenogenese wird nie mehr als ein Notbehelf sein, Danno. Sie begrenzt den Genpool, und das ist auf lange Sicht gesehen sehr gefährlich.«

»Ja. Nun ja, ich bin noch immer der Ansicht, daß man sie verbieten sollte.«

Ihr Abend war vorüber. Sie hatte ihn mit ihren Spielchen verdorben. Sie trat einen Schritt von ihm weg und streckte die Hand aus. »Vielleicht wird sie auch verboten. Noch was Disco?«

»Wie du willst.«

Er wollte ebenfalls nicht. Sie schüttelte den Kopf. »Mir würde einfach bloß wieder heiß.«

»Kein Stehvermögen, das ist dein Problem.«

Wenn sie zwei Minuten früher gegangen wären, wären sie Brak und seinen Freunden nicht begegnet, die gerade die Rückseite des Kais von der Front Street her betraten. Aber jetzt…

»Hallo, ihr frisch Verliebten.« Es war ein Fernseh-Schlagwort. Er trat leise vor ins Licht, flankiert von Hager und Fett. Diesmal keine Mädchen. »Heiß, nich? Ich mein, für mitten in der Nacht.«

Harriet wich zurück in die Schatten am Geländer. Sie wollte nicht erkannt werden. Das oben auf dem Gelände war nicht geschehen.

Daniel taxierte die drei Männer. »Verpißt euch!« sagte er. »Wenn ich eine Wettervorhersage haben will, werd ich danach fragen.«

»Ein verständliche Reaktion, mein Freund. Tut uns leid, wenn wir was unterbrochen haben. Erledigen bloß unseren Job.«

»Das ist doch lächerlich. Was denn für ’n Job?«

»Mein Name ist Brak. Ohne ›c‹ – B-r-a-k. Wir sind eure freundlichen Aufpasser aus der Nachbarschaft.«

»Eher verdammte Voyeure.«

»Wie ich gesagt habe, mein Freund, tut mir leid für die Unterbrechung.«

»Ihr habt nichts unterbrochen. Und ich bin nicht euer Freund.«

Harriet hatte sich entspannt, und ihr Blick glitt zwischen ihnen hin und her. Sie war nicht wiedererkannt worden, sie war kaum bemerkt worden. Es war einfach bloß machohafter Unsinn. Sie waren wie Hunde. Früher oder später würden beide zurückweichen. Sie wünschte, Danno wäre nicht so, wie er war, aber er war so.

»Wir sollten jetzt nach Hause gehen, Danno.«

»O Danno…« Braks Imitation war nicht schlecht. »O Danno, jetzt hast du die Gelegenheit für einen Quickie verpaßt, Danno. Sie bittet dich, nach Hause zu gehen. Tschüs!«

»Halt dein verdammtes Maul!« Er war jetzt wütend und ließ das Geländer los. Dann kam er zum Entschluß, daß der Typ es nicht wert sei. »Du hast recht, Harriet. Zeit zum Abflug.«

Er nahm sie wieder an der Hand, und sie gingen davon. Zwei Schritte. Aber Brak hatte still und heimlich auf den Zehenspitzen einen Satz nach vorn getan, er hatte elastische Schuhe. Hatte seine Kumpane zurückgelassen, die sich noch immer in den Schatten herumdrückten.

»Hast du Harriet gesagt? Harnet Ryder?« Er blieb vor ihnen stehen und sah genau hin. »Ei, ei, ei. Harriet Ryder, und noch immer ohne ihren Vertrauens-Button.«

Daniel drückte sich an ihm vorbei. »Verpiß dich! Biste taub oder was?«

Brak legte Daniel eine Hand auf den Arm. Die anderen beiden waren neben ihn getreten. Umringt von den dreien hielt Daniel inne.

»Wir haben sie gewarnt, mein Freund. Es gibt keine Entschuldigung. Wir haben sie gewarnt, und sie hat nicht darauf gehört.«

Daniel riß den Arm los. »Und ich warne dich. Treib’s nicht auf die Spitze!«

Brak musterte ihn von oben bis unten. »Offen gesagt, Freund Danno, Typen wie dir gebe ich die Schuld. Typen wie dir, die mit Schlampen verkehren, die auf keine Warnung hören, wenn sie freundlich gemeint ist. Kein Niveau, Danno. Verstehst du, was ich meine?«

Daniel zielte aufwärts und trat ihm brutal in die Eier, wobei er ihn von den Füßen hob. Als er vornüber fiel, traf ihn Daniels Kopf zwischen die Augen. Der Angriff erfolgte so jäh und so gewaltsam, daß Braks Kumpane einen Augenblick lang zögerten. Dieser Augenblick reichte aus. Daniel schnappte sich den Hageren, warf ihn seitlich aufs Geländer und schlug ihm daraufhin wie ein Schmiedehammer ins Gesicht, so daß er rücklings über das Geländer stürzte und verschwand. Das Wasser nahm ihn auf, ertränkte seinen Schmerzensschrei.

Der andere Bursche fiel Daniel von hinten an, zerrte verzweifelt an ihm. Harriet war während des ersten brutalen Zweikampfs beiseitegestoßen worden. Sie wich zurück. Brak lag auf Händen und Knien, er keuchte und fluchte. Ihr Bruder konnte für sich selbst sorgen.

Die Hände des Fetten rissen an seinem Gesicht, er wollte ihm die Augen ausstechen. Daniel ließ die linke Hand unbeachtet, umklammerte die andere und riß sie nach unten. Als der Arm voll ausgestreckt war, hielt er jäh inne, und dann ertönte ein hörbares Klicken, und die Schulter war ausgerenkt. Der Bursche kreischte auf und bemühte sich heftig, sich zu befreien. Daniel ließ ihn los und trat beiseite. Der Fette wurde auf einmal sehr still, verzog qualvoll das Gesicht und beugte sich leicht vor, wobei er darauf achtete, das Schultergelenk nicht zu bewegen.

Entsetzt wich Harriet weiter zurück. In den Schatten drückte sie sich an eine hölzerne Hüttenwand. Der Kai unter den Straßenlaternen war wie eine Bühne, die drei jungen Männer darauf standen kurzzeitig in künstlerischer, melodramatischer Haltung da. Ringsum erhellten sich die überstehenden Fenster in den Häusern. Sie sah zu. Es mußte noch etwas geschehen – die Szene war unvollendet.

Daniel rührte sich zuerst. Er rieb sich die Knöchel und wandte sich zu ihr um. Hinter ihm schlich Brak sich geduckt heran, er hatte jetzt ein Messer in der Hand. Auf seinem Gesicht zeigte sich unter den Augen eine lange Blutspur. Harriet dachte nicht daran, ihren Bruder zu warnen. Die Handlung war irreal. Sie war Zuschauerin, Außenstehende. Sobald er in einer Entfernung war, daß er zuschlagen konnte, blieb Brak stehen und sprach ein einziges Wort, ein Wort, das sie nicht mitbekam, das jedoch ausreichte, Daniels Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Daniel ein Messer in den Rücken zu jagen hieße, ihn zu töten, und sie verstand jetzt, daß Brak verwunden, erschrecken, gesehen werden wollte, vor allem gesehen werden wollte.

Daniel fuhr zu ihm herum. Brak stieß die breite Messerklinge hier- und dorthin; Daniel sollte ihr folgen. Aufblitzend beschrieb sie kurze Bögen, wie Wunden in der Dunkelheit. Daniel beachtete sie nicht weiter. Schweigend, mit absoluter Unerschütterlichkeit und Effizienz, griff er an, eine Handlung, die Fleisch, Knochen und menschlichem Schmerz, das alles ihnen doch gemeinsam war, völlig Hohn zu sprechen schien. Er schlug mit aller Kraft auf Brak ein, ein erstaunlicher Angriff, der weit über den bloßen Überlebenswillen hinausging. Entgeistert stürzte Brak. Seine Messerhand öffnete sich. Seine Augen, sein Mund, seine Arme, sein ganzer Körper öffneten sich weit in instinktiver Kapitulation.

Fenster und Türen gingen auf. Leute spähten heraus, murmelten etwas. Unter ihrem und Harriets Blick setzte sich Daniel rittlings auf sein Opfer, schob Brak die Finger ins Haar und ließ seinen Kopf wiederholt und mit uneiliger Wildheit auf die Pflastersteine des Kais knallen, ein dumpfes und bereits feucht klatschendes Geräusch. Seine Beharrlichkeit verlangte von Harriet die Erkenntnis, daß die Show vorüber war: was ihr Bruder jetzt tat, war echt. Und auf den Steinen breitete sich eine Lache echten Bluts aus.

Sie trat vor. Das Geräusch ging weiter. Braks Kumpel, der fette Bursche mit der ausgerenkten Schulter, hatte den ersten Schock über seine Verletzung überwunden und hieb schimpfend und kreischend mit dem unversehrten Arm auf Daniel ein. Daniel beachtete ihn gar nicht. Unten am Fuß der Treppe zum Kai hinauf zog sich der Hagere lautstark aus dem Wasser. Leute schwärmten aus den Häusern. Harriet hockte sich hin. Ihr Gesicht war auf gleicher Höhe mit dem Gesicht ihres Bruders. Wieder und wieder stieß er Braks Kopf gegen die Pflastersteine.

»Danno?« sagte sie. »Danno?«

Er hörte sie. Langsam kehrte er aus seinem Traum zurück. Er hörte damit auf, Braks Kopf gegen die Steine zu schlagen, löste die Finger aus Braks Haar und wischte sie am Hemd ab, wo sie rote Streifen hinterließen, die er untersuchte. Er war nicht überrascht. Er erhob sich. Harriet versicherte sich, daß Brak bewußtlos war, jedoch noch immer atmete, und erhob sich ebenfalls. Keuchend lag Brak mit dem Gesicht nach unten da. Der fette Bursche sah ihn mit offenem Mund an. Sein Brustkasten hob und senkte sich, und die Augen waren wild.

Daniel schwang ein Bein über Braks Körper und ging davon. Harriet folgte ihm. Die Leute aus den Häusern traten brummelnd von einem Fuß auf den anderen, aber weder sie noch Braks beide Kumpane zeigten Neigung, dazwischenzugehen.

Harriet holte ihren Bruder ein, als er den Kai verließ. »Was soll ich tun? Einen Krankenwagen rufen?«

Er schüttelte den Kopf. Typen wie die verdienten alles, was sie erhielten. Jetzt spürte er die Erschöpfung bis auf die Knochen.

»Nee. Ich werd zur Polizei gehen. Ihnen sagen, was passiert ist. Du auch. Ich wette, die haben diese Burschen da auf der Liste. Auf jeden Fall, drei gegen einen, da können sie mich kaum beschuldigen, angefangen zu haben. Das Messer hilft natürlich. Vielleicht verleihen sie mir einen Orden.«

Er lächelte sie an. Jäh fröstelte sie.

»Das hast du schon mal gemacht, Danno.«

»Was?« Er brauchte nicht zu antworten. »Nee. Glaub kaum. Nie einen Grund dafür gehabt.«

Sie glaubte ihm nicht. Grund? Konnte es jemals einen Grund, irgendeinen Grund, für das geben, was sie heute nacht gesehen hatte?

Er ging voraus. Der Bursche hatte Harri haben wollen. Hatte Harri ficken wollen. Ein Kind wie Harri. Er hatte alles verdient, was er bekommen hatte.