Der Bevölkerungsrückgang
Jahr 40: Ende Oktober
1
Ich traute meinen Ohren nicht. Ich traute ihnen doch. Und Dr. Martons Show war so beschämend und schamlos zugleich, daß es mir tatsächlich einmal die Sprache verschlug. Er lächelte, er breitete die Hände aus, er starrte zur mit Zedernholz getäfelten Decke empor, er vertrat seinen Standpunkt nach allen Regeln der Kunst. Er bluffte. Während ich ihn beobachtete, wie er funktionierte, während ich ihn hinter seinem wertvollen antiken Schreibtisch sitzen sah, umgeben von seinem Arrangement aus Bildschirmen und Telefonen, seiner Maschinerie der Macht, fürchtete ich mich jäh vor ihm. Oswald Marton war der Chefsekretär der Ministerin. Wie es hieß, hörte sie auf ihn.
Ich verschränkte die Hände im Schoß. Die Knie hatte ich zusammengepreßt, den Saum meines weißen Laborkittels darübergezogen, und den Rücken hielt ich gerade aufgerichtet. Ich wartete kühl, ließ ihn einfach weitermachen. Ich war nicht irgendeine rotznasige Bürostute. Ich hatte gleichfalls Freunde und eine Position. Vielleicht wären ihm mein Schweigen sowie sein Wortschwall irgendwann peinlich.
Ihm? Marton? Oswald Marton und peinlich?
Ironie an der Sache war, daß ich meine Sekretärin rein aus Höflichkeitsgründen darum gebeten hatte, diesen Termin zu machen. Irgendwo hatte der Amtsweg offenbar eine falsche Richtung eingeschlagen, und ich hatte mich entschlossen, die Angelegenheit persönlich ins Reine zu bringen, ein ruhiges Gespräch mit jemandem zu führen und somit der Abteilung das Gesicht zu wahren. Ich wußte, wie Regierungsstellen arbeiteten. Es war nicht einfach, aber Maggi quetschte diesen Termin zwischen eine Voice-Over-Session mit den verdammten Fernseh-Leuten und eine Computer-Zeit, die ich bereits beim Zentralrechner des Instituts gebucht hatte. Sie gestattete mir siebenundfünfzig Minuten: dreißig Minuten fürs Hin und Zurück, sowie fünfzehn Minuten, während derer ich die Sache mit meinem Antrag bereinigen konnte.
Fünfzehn Minuten, wie sich jetzt herausstellte, die ausreichten, daß ich mir wie ein rotznasiges Schulmädchen vorkam.
Marton hatte seinen Vortrag beendet. Er schwieg, ebenso wie ich. Der Raum war ein Prachtstück, ausgelegt mit Zedernholz, reiche Schnitzarbeit. Er wirkte eher wie ein privates Arbeitszimmer und nicht wie ein Regierungsbüro. Ich vernahm entfernten Verkehrslärm, daraufhin das langsame Klopfen eines von Martins Fingern auf dem roten Leder seiner Schreibunterlage, während er meinen Blick erwiderte. Ich sagte nichts, und er auch nicht. Er wirkte beleidigend unbekümmert.
Nachdem er schließlich seine Ansicht klargestellt hatte, räusperte er sich und knipste ein weiteres seiner Lächeln an. »Tee, Dr. Kahn-Ryder?«
Ich schüttelte den Kopf. Es war eine winzige Bewegung gewesen, aber er hatte sie auf der Stelle bemerkt. Man mußte Marton niemals etwas zweimal sagen. Ich hatte irgendein Mädchen erwartet, irgendeine Büroangestellte; ich hatte den Chefsekretär der Ministerin persönlich bekommen. Chefsekretär Marton. Ein Mann. In jenen Tagen, vierzig Jahre nach Beginn des Bevölkerungsrückgangs, waren lediglich die obersten Etagen in der Hierarchie mit Männern besetzt. Sie mochten eine aussterbende Rasse sein, aber sie klammerten sich an die Macht.
Marton verfolgte die Sache mit dem Tee nicht weiter. Er setzte zu einer Wiederholung an.
»Offen gesagt, Dr. Kahn-Ryder, überrascht mich Ihre Anwesenheit hier.« Sie hatte ihn während der letzten zehn Minuten überrascht. »Die Aktennotiz der Ministerin war eindeutig. Bedauerlich, natürlich – niemand sagt einer so ausgezeichneten Wissenschaftlerin wie Ihnen gern nein.« Er befingerte erneut meinen Antrag. »Wie dem auch sei, es überrascht mich, daß Sie persönlich an die Öffentlichkeit gehen wollen. Die Forschungsergebnisse ihres Teams sind ganz klar unvollständig. Sie stützen Ihre Schlußfolgerungen nicht. Das International Patent Office würde uns auslachen. Vorzeitige Veröffentlichung ist…«
»Das überlassen wir doch besser dem IPO, Dr. Marton. Nicht Ihnen – und gewiß nicht auf Grundlage jener Zusammenfassung, die Sie dort vor sich liegen haben. Können Sie sich wirklich vorstellen, daß mich die World Health Organization im Dezember nach Paris eingeladen hätte, wenn…?«
»Die Abteilung arbeitet nicht in einem Vakuum, Dr. Kahn-Ryder. Wir holen Rat ein.« Er lehnte sich zurück und rieb sich erschöpft die Augen. »Wir haben Berater. Wir erfassen die wissenschaftliche Temperatur. Wir…«
»Berater? Was für Berater?«
»Angesehene Leute, Dr. Kahn-Ryder.« Erneut die weit ausgebreiteten Hände. »Leute, die auf Ihrem Gebiet arbeiten. Ich muß Ihnen nicht sagen, wie umfangreich die auf das Syndrom bezogene Forschung heutzutage ist. Ihnen fehlt es nicht an gut informierten Kollegen.«
»An Rivalen, meinen Sie…«
»O jetzt kommen Sie aber, Dr. Kahn-Ryder…«
Das war ein Fehler gewesen. Ich holte tief Atem und zählte innerlich bis zehn. Wie ich mit der Sache hier umging, war eine Katastrophe. Sie versuchten, mir die wissenschaftliche Freiheit zu nehmen, und ich hörte mich paranoid an.
Ich nahm einen neuen Anlauf. »Tut mir leid, Chefsekretär Marton, aber innerhalb des breiten Forschungsspektrums beim MER-Syndrom ist mein Gebiet einzigartig. Es gibt keine angesehenen Leute, die darauf arbeiten. Und das ist nicht lediglich meine Eitelkeit – Sie wissen ebensogut wie ich, daß das stimmt.«
Er wollte mich unterbrechen, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Und, was noch mehr zählt, selbst wenn diese Leute tatsächlich darauf arbeiten, so glaube ich einfach nicht, daß irgendeiner davon – auf Grundlage der Daten, die Sie hier haben – es wagte, seine Meinung zur Hinlänglichkeit meiner Forschungen abzugeben. Das muß bis zum vollen Text des Artikels warten, dessen Veröffentlichung ich plane. Und die Verantwortung für diesen Artikel liegt bei mir, Chefsekretär. Das muß so sein. Nicht bei Ihnen, nicht bei der Ministerin, nicht bei der Abteilung – bei mir. Das muß so sein.« Ich war jetzt wieder verärgert aufgesprungen und beugte mich über seinen Schreibtisch. »Es muß so sein, weil es mein Ruf ist, der auf dem Spiel steht, Chefsekretär. Nicht Ihr Ruf, nicht der Ruf der Ministerin, nicht der Ruf der Abteilung – mein Ruf!«
Er starrte zu mir auf, beobachtete mich aufmerksam. Jetzt, zum Winteranfang und um fünf Uhr nachmittags, war das vorhanglose Fenster hinter seinem Sessel ein glänzender, schwarzer Spiegel. Ich sah mich darin, wie ich mich vorbeugte, und ebenso sah mich Dr. Marton. Ich war zu heftig. Ich war zu schrill, mein Haar war zu kurz geschnitten, mein weißer Laborkittel war zu zerknittert – ich war direkt vom Institut über das Aufzeichnungsstudio hergekommen, hatte keine Zeit gehabt, mich umzuziehen –, und der Piepser an meinem Revers war zu pompös. An einem Dienstagnachmittag um fünf Uhr, und weitere zwei Stunden vor sich, die sein offizieller männlicher Arbeitstag noch dauerte, würde mich Chefsekretär Marton verabscheuen. Ich war die Neue Frau. Sehr bald, falls man die Ursache des Syndroms nicht entdeckte, würde ich die Erde beerben. Und bis dahin, so lange er lebte und atmete, täte Chefsekretär Marton alles in seiner Macht Stehende, mich zu demütigen.
In der höflichen halben Minute, die er wartete, um sicherzugehen, daß ich fertig war, erkannte ich dies alles: wie nämlich wichtige Themen von Dingen wie Kleidung, Haaren, Heftigkeit und geschäftsführenden Assistenten abhängen. Ich erkannte es natürlich viel zu spät.
Noch immer kann ich nicht gut mit Leuten umgehen, und zur damaligen Zeit war ich einfach schrecklich. Sechsunddreißig Jahre alt, und so wenig hatte ich gelernt. Mein Mann Mark hatte mit dem Auge des Journalisten Marton nach einem kurzen Treffen charakterisiert: ein kleiner Mann, und vielleicht nicht ganz vom richtigen Fach, war Dr. Marton ehrgeizig und intelligent genug gewesen, diese Handikaps nicht zu überkompensieren. Er bewegte sich gemessen, sprach leise und kleidete sich mit zurückhaltender Eleganz. Er hatte einen Bürosessel ausgewählt, über dessen Armlehnen er die kurzen Beine legen konnte, als ob sie lang wären, so daß er schmale, handgearbeitete Schuhe und einen kleinen Abschnitt seiner grauen Seidensocken zeigen konnte. Und während das vorzeitige Ergrauen des Haars möglicherweise natürlich war, zeigten die Iris seiner sehr braunen und glänzenden Augen die winzigen Narben einer kürzlich erfolgten chirurgischen Korrektur. Das Image zählte.
Mark hatte in einem kurzen Augenblick erfaßt, daß Marton eine Macht darstellte. Er hatte sich und die Welt fest im Griff. Er war beeindruckend. Und gefährlich.
Wie sonst jedoch hätte ich an jenem Tag in seinem nach Zedern duftenden Büro mit ihm verfahren sollen? Uns beide mit dümmlichen Kinkerlitzchen und albernem Gekicher beleidigen?
»Die Schwierigkeit bei euch Wissenschaftlern ist«, sagte er gerade, »daß euch ein Sinn für Proportion fehlt. Trotz eurer großen Fähigkeiten bleibt ihr – vergeben Sie mir – seltsam naiv. Was in Ihrem Fall um so seltsamer ist, wenn man den Beruf Ihres Gatten in Betracht zieht. Von einem Wissenschaftsjournalisten« – er hielt genüßlich inne – »das ist Mr. Kahn doch, glaube ich? – hätte ich erwartet, daß er mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht.«
»Mark ist nicht da. Ich habe das noch nicht mit ihm besprochen.« Ich hielt gleichfalls inne. »Noch nicht.«
Marton konnte diese Worte als zarte Drohung auffassen: eine faire Erwiderung seines zarten Spotts. Er tat es lieber nicht.
»Sie sollten seinen Rat annehmen. Er wird gewiß dasselbe wie ich sagen. Im Grunde liegen der Ministerin Ihre Interessen am Herzen. Es ist reichlich Zeit. Vorzeitige Veröffentlichung wäre für keinen von uns gut. Was ist falsch daran, ein zusätzliches Testprogramm durchzuführen, das sich an unserem Memorandum orientiert? Drei Monate, sechs Monate… Dr. Kahn-Ryder, es ist doch bestimmt besser, sicher zu gehen, als es später zu bereuen?«
»Was daran verflucht falsch ist, ein zusätzliches verfluchtes Testprogramm durchzuführen, Chefsekretär, ist, daß es verflucht noch eins nicht notwendig ist.« Ich hatte verloren. Und ich verschwendete meine Zeit… ich hatte schon lange vor meiner Ankunft hier verloren. »Und weiterhin, Chefsekretär, ist es überhaupt nicht ihre verfluchte Angelegenheit. Wissenschaftliche Freiheit, Chefsekretär – das steht in meinem verfluchten Vertrag. Ich sollte völlige wissenschaftliche Freiheit haben.«
Er legte das Kinn auf die zusammengelegten Fingerspitzen. »Ah, ja. Ihr verfluchter Vertrag…« Diese Wiederholung vernichtete mich. Er hatte einfach eine weitere unflätige Frau aus mir gemacht. »Und wo wir schon von Verträgen sprechen… wie es scheint, muß ich Sie an einen anderen Vertrag erinnern. Sie haben, glaube ich, das Nationale Sicherheitsprotokoll unterzeichnet? Den ’97er Zusatz eingeschlossen?«
»Das war eine Formalität. Sie selbst haben es mir gesagt, Chefsekretär. Alle staatlichen Angestellten müssen das tun. Es war eine Formalität.«
»Allerdings, das war es. Aber dank der Autorität einer so simplen Formalität sind oftmals schon Köpfe gerollt, Dr. Kahn-Ryder. Ich rede jetzt natürlich von der Vergangenheit…« Er seufzte, was mir zeigen sollte, daß er sich keinen Scherz erlaubte. »Aber Sie verstehen sicher, was ich sagen wollte. Es wäre in der Tat sehr unglücklich, wenn Sie die Empfehlung der Ministerin mißachten würden.«
»Empfehlung? Mehr war es nicht? Ich muß zugeben, ich hätte es für etwas mehr… etwas mehr…« Mir erstarb die Stimme. Ich wußte nicht, warum ich mir überhaupt die Mühe gab.
Mein Mitstreiter auch nicht. Er blickte auf seine Uhr.
»Sie zwingen mich zu offenen Worten, Dr. Kahn-Ryder…«
»Ja«, warf ich rasch ein. »Ja, das tue ich. Zum Besten Ihrer Seele, Dr. Marton. Nur dies eine Mal – um zu sehen, wie es sich anfühlt.«
Ich hatte etwas in ihm entfacht. Er hievte sich hoch, hob meinen Ordner auf und stach damit verärgert in die Luft. »Offen gesprochen, Ma’am, wenn ein Wort des Materials in diesem Antrag an die Öffentlichkeit gerät, werden Sie ernstlich in Schwierigkeiten geraten. Und ich meine nicht ein sofortiges und vollständiges Kappen der Regierungszuschüsse… Das kleinste Leck, und selbst wenn Sie eine Zeitschrift fänden, die gewillt wäre, das Risiko einzugehen, und Sie würden das volle Gewicht des Gesetzes zu spüren bekommen. Das Sicherheitsprotokoll darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen, Dr. Kahn-Ryder. Sie haben das akzeptiert, als Sie die Arbeit für den Staat vorgezogen haben.«
Ich hatte prinzipiell die Arbeit für den Staat vorgezogen, weil ich – törichterweise, wie es jetzt schien – daran geglaubt hatte, daß politische Restriktionen weniger drastisch seien als kapitalistische Restriktionen.
Er warf die Akte auf den Tisch. »Kehren Sie in Ihre Abteilung zurück. Beherzigen Sie meinen Ratschlag und halten Sie sich an das, wovon Sie etwas verstehen. Von Forschung verstehen Sie etwas. Legen Sie Ihren Antrag, entsprechend gestützt, in sechs Monaten wieder vor. Und bis dahin…« Er hielt jäh inne, starrte mich nachdenklich an und senkte die Stimme. »Glauben Sie mir, meine Liebe, eines Tages werden Sie uns dafür dankbar sein, Sie davor bewahrt zu haben, einen Narren aus sich zu machen. Die Zeit ist auf unserer Seite. Bringen Sie Ihren Krempel in Ordnung, und er ist Material für den Nobelpreis. Meine Ministerin weiß das genau. Erledigen Sie Ihre Hausarbeit ordentlich, und Sie werden ihre vollstmögliche Unterstützung erhalten.«
Ich stand ebenfalls auf. Der Mann war zu durchsichtig – zuerst die Peitsche, dann das Zuckerbrot. Erschrecke die kleine Dame mit gräßlichen Drohungen zu Tode und schicke sie daraufhin mit dem Versprechen von Ruhm und Reichtum fort. Das Problem bestand lediglich darin, daß ich meine ›Hausarbeit‹ bereits erledigt hatte – mein ›Krempel‹ war bereits in Ordnung. Unser Team am Institut hatte die Ergebnisse das ganze letzte Jahr über und noch länger bestätigt. Nichts blieb mehr zu tun – ich war zur Veröffentlichung bereit.
Ich würde veröffentlichen.
Vorsichtig wich ich zurück, weg von Marton. Ich mußte aufpassen. Er war nicht dumm – eine zu rasche Kapitulation hätte er durchschaut.
»In sechs Monaten, Dr. Marton, kommt die Unterstützung durch die Ministerin möglicherweise zu spät. Es zählt, wer als erster durchs Ziel geht, und meines Wissens wird uns in sechs Monaten jemand aus dem privaten Sektor zuvorgekommen sein. Die Patentrechte werden anderswohin gegangen sein, zu Brandt vielleicht oder zu Unikhem. Was wird die Ministerin dann den Steuerzahlern über die sechs Millionen erzählen, die sie von deren Geld in meine Arbeit gesteckt hat?«
Er legte meine Akte in eine Schreibtischschublade und verschloß diese sehr umständlich. Jetzt trat er um den Schreibtisch herum und legte mir väterlich eine Hand auf die Schulter. Er hatte gewonnen, er konnte es sich leisten, großzügig zu sein.
»Sie sind Wissenschaftlerin, meine Liebe. Überlassen Sie uns die Politik. Und vertrauen Sie unseren Verbindungen – wir werden die ersten sein, denen es zu Ohren kommt, wenn etwas Derartiges droht.«
Er drehte mich um, und wir begannen mit dem weiten Spaziergang zur Tür. Ich sagte: »Mir gefällt es gar nicht, so wie jetzt einen Maulkorb umgelegt zu bekommen. Ich muß Sie warnen, daß ich kundigen anwaltlichen Rat einholen werde.«
Er lächelte tolerant. »Bitte, tun Sie das! Ich bin zuversichtlich, daß jeder Anwalt bestätigen wird, was ich Ihnen gesagt habe.«
»Und was soll ich den Organisatoren der WHO in Paris sagen? Sie haben mich eingeladen, im Dezember einen Artikel abzuliefern. Was soll ich denen sagen?«
»Sagen Sie Ihnen, Sie werden kommen. Es ist eine große Ehre. Und Sie können doch gewiß etwas zusammenschustern .«
Etwas zusammenschustern… mir wurde speiübel, und ich trat zur Seite, mich von ihm zu lösen. Seine Hand verweilte kurz auf meinem Hals und fiel dann weg.
»Sie sind uns doch nicht etwa böse, meine Liebe?« Noch immer lächelnd. »Manchmal ist es Teil meines Jobs, den großen Vater zu spielen. Ich genieße es nicht, das verspreche ich Ihnen.«
Ich glaubte ihm nicht. Es gefiel ihm. Als ich mich im Türrahmen umdrehte, war mein Lächeln gleichermaßen falsch. »Väter genießen es selten«, meinte ich zu ihm und war verletzter, als ich gedacht hätte. »Mein Vater hat es dermaßen genossen, das Ganze, daß er sich umgebracht hat. Luftröhre zerstört. Am eigenen Erbrochenen erstickt. Sie haben meine Akte gelesen, also wissen Sie das längst.« Ich warf einen Blick auf die Uhr. »Vielen Dank, daß Sie mir Ihre Zeit geschenkt haben, Dr. Marton. Zumindest weiß ich jetzt, woran ich bin.«
Er hielt die Hand noch immer erhoben. Bereits beschämt über mich schüttelte ich sie. Papas Selbstmord mit ins Spiel zu bringen war billig. Es war kaum Oswald Martons Schuld gewesen. Warum schwärte es dann noch, selbst nach siebzehn Jahren?
Wir trennten uns. Wenn er die Absicht gehabt hatte, eine letzte Warnung anzubringen, sagte ihm mein brüskes Benehmen, daß er sich deutlich genug ausgedrückt hatte. Er schloß die Tür hinter mir, und ich eilte davon, wobei meine flachen Absätze leise auf dem Marmorfußboden quietschten.
Ich kochte. Ernste Porträts von Präsidenten glitten vorüber, sowie hin und wieder nationale Bergketten unter optimistisch rosafarbenem Schnee. Der rosafarbene Schnee munterte mich auf. Ich würde veröffentlichen. Ich hatte mich entschieden. Mit oder ohne Erlaubnis der Ministerin. Wenn nicht beim Kongreß in Paris, dann zu irgendeiner anderen Gelegenheit. Ich würde mein Recht auf wissenschaftliche Freiheit in Anspruch nehmen. Was könnten sie tun? Sobald ich veröffentlicht hätte, würde es die Ministerin nicht wagen, mich strafrechtlich zu verfolgen. Die Weltmeinung wäre auf meiner Seite. Ich bräuchte noch nicht einmal ihre verfluchten Gelder – die großen Pharmakonzerne, Brandt, Unikhem, würden einander auf die Füße treten. Ich könnte mir aussuchen, wo und mit wem ich arbeiten wollte. Ich könnte in die Schweiz gehen. Dort bezahlten sie am besten.
Draußen im Foyer fand ich ein Telefon. Ich wollte mit Mark sprechen, ihm von Marton berichten, aber als ich daheim anrief, war er nicht dort. Yvette hob ab. Sie war gerade mit der Zubereitung von Annas Abendessen beschäftigt. Mark war auch nicht bei den Science News – die Zentrale sagte, er sei unterwegs auf einem Job und könne nicht angebiept werden.
Natürlich war er nicht dort. Er war draußen auf dem Land, recherchierte wegen seines Artikels über UV-Strahlung. Er hatte mir an diesem Morgen gesagt, wo er sich befände und daß wir nicht mit dem Abendessen auf ihn warten sollten.
Ich legte den Kopf an die Innenseite der Telefonzelle. Mir schwirrten die Gedanken. Ich mußte mit jemandem reden, mich jemandem anvertrauen, auf den ich mich verlassen konnte. Jemand, der mir einen Rat geben könnte. Ich mußte meinen Ärger herauslassen, und jemand mußte mir sagen, daß ich recht hatte.
Die Uhr im Foyer des Ministeriums sagte, daß ich bereits hoffnungslos hinter meinem Zeitplan herhinkte. Ich sollte mit dem Institut Kontakt aufnehmen und den Leuten sagen, sie sollten meine Computerzeit freigeben. Dort hingen stets welche in der Hoffnung auf eine Stornierung herum.
Ich hatte einen Geistesblitz – ich würde meinen Bruder anrufen. Es war ein tapferer Gedanke: genaugenommen redeten wir nicht miteinander, genaugenommen redeten wir aber auch nicht nicht miteinander. Und er arbeitete beim Sicherheitsdienst, wäre also imstande, mir einen Rat zu geben. Er arbeitete bei einer privaten Firma, aber er konnte sich bestimmt gut vorstellen, welche Geschosse das Ministerium auf mich abfeuern konnte.
Ich rief seine Nummer auf meinem elektronischen Notizbuch auf. Ich telefonierte nicht oft genug mit ihm, daß ich die Nummer auswendig wußte. Oft genug? Einmal, vielleicht, in den vergangenen vier Jahren… Auf jeden Fall war er dieser Tage außerhalb der Stadt stationiert, im Hauptquartier von NatSich draußen in South Forest, also war die Vorwahlnummer fast so lang wie die Anzahl der Kilometer zum Mond und wieder zurück. Ich las sie vom Display ab und steckte meine Karte wieder ein. Der Bildschirm in der Zelle war klein und zerkratzt, aber ich bezahlte die Zusatzgebühr. Ich fragte mich, wie es Danno ging. Vor vier Jahren war er auf dem besten Weg gewesen, fett zu werden.
Wir standen einander nicht nahe. Na ja, wir standen einander nahe, aber das hatte niemand gewußt.
Danno war nicht in seinem Büro. Sobald ich am Computer vorbei war, hielt mich die junge Frau bei NatSich auf. Vor Fingais Höhle und Seemöwen in der Totale vor einem unwahrscheinlich blauen Himmel fiel sie über Colonel Ryder her. Erneut dachte ich an die Reserviertheit zwischen Daniel und mir. Erneut kam ich zu dem Entschluß, daß der Grund für ihr Vorhandensein nicht bei mir lag. Außer daß ich vielleicht erwachsen geworden war. Ich war stets die Pfiffige gewesen, aber das hatte ihm merkwürdigerweise nie etwas ausgemacht. In den alten Tagen war er sogar stolz darauf gewesen. Was also war geschehen?
»Harri? Ich bin den ganzen verfluchten Weg gelaufen, Harri.« Er sprang ins Bild. »Sag nichts. Jemand ist gestorben. Das ist’s. Wer also? Dein verfluchter Kanarienvogel, stimmt’s?«
»Wir haben keinen Kanarienvogel«, erwiderte ich. »Annie hat eine Katze. Elvis. Wegen seiner Sünden.«
»Wer also dann?« Er spähte in die Kamera: noch immer jener vierschrötige, einfache, argwöhnische Mann, noch immer faltenlos, jetzt, mit vierzig, etwas weniger verwirrt, aber noch immer derselbe Danno. »Irgend jemand muß gestorben sein. Ich schimpfe nicht umsonst auf Telefonanrufe.«
Und dieselbe Bitterkeit. Aber nicht nur ich hatte ihn nicht angerufen – er hatte mich auch nicht angerufen.
»Vielleicht will ich einfach bloß mit dir reden, Danno.«
»Ich höre, Harri. Red weiter… wieviel?« Er griff nach der Brieftasche in seiner dunkelblauen Uniformjacke. »Ich bin immer verrückt nach einem hübschen Gesicht gewesen.«
Scheißdreck! Ich brauchte seine Hilfe, aber nicht so sehr. Ich war ihn niemals um Geld angegangen. Vor dem heutigen Tag war ich ihn nie um etwas angegangen. »Schon gut, Kumpel. Laß schon gut sein!« Hinter ihm war ein kleines Büro zu sehen, dessen Tür offenstand, dahinter waren Gewehrständer. »Geh zu deinen lärmenden Spielzeugen zurück, Danno. Ich habe dich unterbrochen, wie ich sehe.«
Ich griff nach dem Abschaltknopf.
»Bleib dran! Bleib dran… Harri, tut mir leid. Ich hab bloß ’n Witz gemacht. Es war bloß ’n Witz.«
Nie im Leben war es ein Witz. Aber bei mir war mal wieder die Sicherung durchgebrannt, und ich wußte auch den Grund dafür. Schuldgefühle. Warum hätte ich ihn auch sonst vier Jahre zu spät anrufen sollen, außer daß ich etwas gewollt hätte? »Tut mir auch leid, Danno. Ist ein schlimmer Tag gewesen… ich muß wirklich reden.«
Er ließ sich auf der Kante des Schreibtischs nieder. »Schön. Schön…« Sein Bauch war dick, jedoch nicht lebensbedrohlich. »Ich hab meinen Mädels fünf Minuten freigegeben. Um fünfzehn Minuten werden sie jedoch auch nicht böse sein.«
»Ich sehe keine Mädels, Danno.«
»Du hast mich unten in der Halle überrascht. Ich leite eine Gruppe Rekruten bei ihren Schießübungen.« Zum Beweis hielt er ein Paar Ohrschützer hoch. »Unter uns gesagt, Harri, als Schützen sind die samt und sonders Nieten. Und das ist kein Sexismus; so was nennt man jungfräuliche Karten. Unpenetrierte Ziele. Zehn Nullen bei zehn Schüssen. Kaum zu glauben.«
Er wurde wieder der Alte: traf mich, nach vier Jahren, mit seinen machohaften Äußerungen. Forderte mich zum Widerspruch heraus, was ich stets getan hatte. Insgeheim. Vielleicht nicht so insgeheim.
»Ich stecke in der Tinte, Danno.«
»Ich sag’s dir, für die Hälfte von denen ist ein Schießeisen so was wie ein Mode-Accessoire.«
»Ich brauche einen Rat, Danno. Deinen Rat. Siehst du, ich habe ein wenig geforscht, und ich möchte die Ergebnisse veröffentlichen, und sie wollen mich daran hindern.«
Ich sah, daß er sich zusammenriß. »Wer will dich daran hindern?« Er runzelte die Stirn. »Für wen arbeitest du dieser Tage eigentlich? Ich sehe dich im Fernsehen herumtönen, meine Schwester, die berühmte Wissenschaftlerin, aber…«
»Ich arbeite für die Regierung, Danno. Für das Wissenschaftsministerium. Und sie schlagen mir das Sicherheitsprotokoll um die Ohren, nebst irgendeinem Zusatz, der…«
»Siebenundneunzig? Nun, den ganz bestimmt. Ich meine, da du für sie arbeitest, hast du ihn unterschrieben, nicht?«
»Muß ich wohl. Ich hab ’ne Menge unterschrieben. Sie können mich einsperren, schätze ich, aber… Habe ich nicht irgendwelche Rechte, Danno? Wenn nicht als Wissenschaftlerin, dann einfach als Bürgerin? Würde der Europäische Gerichtshof…?«
»Halte mal kurz die Luft an, Harri! Sofort. Das mein ich wirklich, verdammich. Whow!«
Der Bildschirm wurde leer. Ich wartete. Wir hatten die Verbindung nicht verloren – ich bekam noch immer Ton. Er hatte die Linse abgedeckt, vielleicht seine Mütze darüber gehängt. Ich wartete. Um mich herum im Foyer des Ministeriums eilige Schritte. Telefone läuteten, Lifttüren öffneten sich zischend.
Das Bild kehrte zurück: Daniel, die Tür hinter ihm war jetzt geschlossen. »Harri? Zunächst, Harri, wenn sie das ’97er bemühen, bist du mit deinen Rechten am Ende. Du hast keine. Sie haben dich fester zugeschnürt als einer Nonne ihre…«
Er brach ab. Selbstzensur? Wegen mir? Wegen mir keine Fotzen? Hatten wir beide uns also so sehr verändert?
»Zweitens, Harri, gehe ich davon aus, daß du von einer Zelle aus anrufst und daß du deine Karte benutzt.«
»Natürlich.« Die zensierte Fotze hatte mich aus der Fassung gebracht. »Wie anders wäre ich zu dir durchgekommen? Ich stehe offenbar noch immer auf deiner Zugangsliste bei NatSich, und meine Karte paßt, also…«
Also… Der Cent fiel. Der Euro ebenfalls. Er sagte mir gerade, wenn NatSich meinen Stimmabdruck in einer Nanosekunde mit meiner Eurocard vergleichen konnte, dann konnten die Wachhunde des Ministeriums dies ebenfalls tun. Er sagte mir gerade, daß ich von jetzt an gezeichnet wäre. Telefonieren käme nicht mehr in Frage, nicht einmal von zu Hause. Wir hatten seit Jahren mit Eurocard bezahlt – das war einfacher. Sie war gleichfalls großartig dazu geeignet, Gespräche automatisch anzuzapfen. Die Karte weckte den Computer, und der Computer weckte die Zapfstelle.
Das Ministerium hätte auch Marks Karte gespeichert. Ich mußte ihn unbedingt warnen.
»Wenn du also meinen Rat hören willst, Harri, so lautet er, reg dich ab.« Er zeigte jemand Imaginärem außerhalb der Kamera den Stinkefinger. »Vergiß den Europäischen Gerichtshof. Wenn das Ministerium nein sagt, stehen die Chancen gut dafür, daß das Ministerium genau weiß, was es tut.«
»Meinst du?«
»Du hast mich um meinen Rat gebeten. Das ist mein professioneller Ratschlag.«
»Okay.« Das Wort blieb mir fast im Hals stecken, aber ich mußte glaubwürdig wirken. »Ich werde tun, was du gesagt hast. Ich bin kein Märtyrer-Typ. Abgesehen davon, was täte Annie, wenn ihre Mutter im Gefängnis säße? Und Mark…«
»Was ist mit meinen Aussichten auf Karriere? Berühmte Wissenschaftlerinnen überlebe ich. Fernseh-Greens auch. Knackies überlebe ich nicht.«
Ich lachte. Ich mußte es einfach tun – er war ein schrecklicher Schauspieler, aber wir sahen denselben jüdischen TV-Comic.
»Vielen Dank für den Rat, Danno. Ich werd brav sein.«
»Schön. Schön… Schließlich werden sie dich verwanzt haben.« Verwanzt? So bald nicht – man verwanzte Gesetzesbrecher auf Bewährung, und außerdem benötigte man dazu eine behördliche Genehmigung. Für Zapfstellen allerdings auch. Er sagte mir, daß sie mich hatten, gleich, wie ich’s drehte und wendete. »Wenn du den Zusatz unterschreibst, Harri, hat er dich in den Klauen… Wie geht’s dir ansonsten so? Was macht Mark? Und die kleine Annie?«
»Uns geht’s ziemlich gut. Annie ist nicht so klein. Sie wird bald fünfzehn. Und wie geht’s dir?«
»Besser denn je.«
»Und Bert?«
»Bert geht so dahin.«
Bert Breitholmer war ebenfalls Officer beim NatSich. Sie teilten eine Etagenwohnung, seitdem Danno beim NatSich angestellt worden war. Ich war ihm nie vorgestellt worden, aber ich hatte ihn einmal auf der Straße gesehen. Er war älter als Danno, eine überwältigende Gegenwart, und ich hatte geglaubt, zwischen ihnen wäre etwas Sexuelles. Mark sagte, Kuppelei sei Teil des weiblichen Verlangens nach Kontinuität, aber falls Bert noch immer vorhanden wäre, hätte ich möglicherweise doch recht.
Wir warteten. Einer von uns beiden hatte jetzt die Chance, etwas Richtiges zu sagen. Ich hätte ihm sagen können, daß ich Papas Selbstmord ins Spiel gebracht und mir gewünscht hatte, ich hätte es nicht getan. Er hätte mir etwas von seinem Leben mit Bert erzählen können. Wir hätten Neuigkeiten von unserer verrückten Mama in ihrem Insel-Kloster austauschen können. Wir hätten darüber reden können, warum wir nie miteinander redeten.
»Nun, Harri… Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen.«
»Natürlich. Tat gut zu plaudern.«
»Ja.«
»Tun wir nicht oft genug.«
»Du bist eine beschäftigte Dame.«
»Das ist keine Entschuldigung.«
»Scheiß Entschuldigungen. Wenn du Entschuldigungen brauchst, heißt das, es gibt keine.«
»Wer hat das gesagt?«
»Keine Ahnung. Ich hab’s getan. Tschüs, Harri.«
»Bis dann mal, Danno.«
Er legte auf. Wir beide wußten sehr gut, wer das gesagt hatte. Es waren Papas Worte gewesen.
Einen Augenblick lang stand ich in der Zelle und brütete über den traurigen Dingen, die Familien zustießen. Dann verdrückte ich mich durch das Foyer das Ministeriums. Halb erwartete ich, von den Wächtern aufgehalten zu werden, wegen des ’97er Zusatzes, aber sie ließen mich durch.
Draußen auf dem Bürgersteig schrie ein Zeitungskiosk einen weiteren Karate-Mord heraus, den sechsten, die sechste junge Frau, der die Kehle eingedrückt worden war. Janni Wintermann. Der Mord war keine Nachricht wert – Frauen starben oftmals gewaltsam –, lediglich die Methode. Immer mal wieder, ohne erkennbares Muster, eine eingedrückte Kehle. Ein Karateschlag, der den Medien zu ihrer billigen, oberflächlichen Schlagzeile verhalf, Karate-Killer… Arme Janni Wintermann. Ich sparte mir das Geld, dachte an Anna und war froh, daß nur wenige der Morde hier in der Stadt geschehen waren.
Ich schlug den Kragen gegen die Kälte hoch, eilte über die Straße und stieg in eine Straßenbahn, die in meine Richtung fuhr. Eine zwanzigminütige, beruhigende Fahrt, Gummireifen auf Gummischienen, bis zum Beginn unserer Nachbarschaft. Ich versetzte mich in einen neutralen Zustand. Das war ein nützlicher Kniff. Sich zu überlegen, was als nächstes zu tun wäre, wenn ich mit Mark gesprochen hätte, dafür blieb noch genügend Zeit. Im Augenblick dachte ich über den nahenden Winter und über die Langlaufski nach, die wir Anna versprochen hatten.
Unser Haus befindet sich in einer, wie ich zugeben muß, erstklassigen Gegend. Ein großes Haus aus dem vergangenen Jahrhundert, traditioneller Stil, schwarz und rot gestrichen, L-förmig. Eine breite, erhöhte Veranda füllt das L aus. Die Fenster im Obergeschoß sind tief unter das Dachgesims und die verschnörkelten Giebelbretter gesetzt. In jenem Oktober hatten wir gerade die Fensterläden frisch gestrichen und die Sturmschilde rund um die Veranda gesetzt. Wir waren bereit für den Schnee. Das Haus steht auf einem niedrigen, grasbedeckten Hügel und ist vor seinen Nachbarn durch ausgewachsene Fichten und Silberbirken geschützt, und es hat eine Doppelgarage, Relikt aus den ölreichen Jahren. Zur damaligen Zeit stand ein einziger, kleiner Saab-Honda darin. Wir waren berufstätig, Mark und ich, und hatten uns gut herausgemacht. Wenn ich irgendein Verlangen danach verspüre, mich für das Haus und die erstklassige Gegend zu entschuldigen, dann wegen der Gegend. Sie ist zu fein. Es gibt keine Sicherheitsabschirmungen wie in manchen Gegenden, aber es hätte sehr wohl welche geben können, berücksichtigt man die Anzahl von Kontakten, welche die meisten von uns mit Lebewesen aus Fleisch und Blut haben. Es gefiel mir nicht, Anna so abgehoben großzuziehen, und Mark auch nicht, aber wir wollten sie auch nicht in der wirklichen, bösen Welt des Bevölkerungsrückgangs großziehen.
Ich lief die Stufen zur Veranda hinauf, die Eurocard in der Hand. Ich hatte das Institut noch nicht wegen meiner ungenutzten Computerzeit angerufen, und ich mußte die Sache mit meiner Programmdirektorin besprechen. Natalya Volkov war wegen ihrer Erfahrung auf dem Gebiet der Geburtshilfe bei mir, eine große, vernünftige Frau aus der russischen Föderation, aber sie hatte ein Geschick in der statistischen Analysis gezeigt, das sie doppelt wertvoll machte. Vielleicht arbeitete sie gerade an einer Sache, so daß sie das übernehmen und nutzen konnte, was von meiner Zeit am Zentralrechner noch übrig war.
Yvette räumte gerade die Küche auf, und Anna war oben, wusch sich die Haare. Beide würden ausgehen. Yvette zum Essen in die Stadt mit ihrem neuesten, ältlichen Freund, und Anna zu einem Mädchen gleich die Straße hinauf – sie und Jessica machten zusammen ihre Hausaufgaben für Physik. Jessicas Vater war ein britischer Psycho-Engineerer, mit dem wir uns gelegentlich auf Dinner-Parties trafen. Mark war noch nicht daheim.
Ich rief Natya an, und wir machten etwas fest. Ich erinnere mich nicht an Einzelheiten, und es spielt auch keine Rolle. Die Geschehnisse am späteren Abend jenes Tags waren so unerwartet und so entsetzlich, daß ich mich nur sehr undeutlich an die Zeit unmittelbar davor erinnere. Eine Weile lang spielte ich Klavier, um abzuschalten, dann kam Anna herunter, und wir setzten uns und besprachen die üblichen Dinge, und ich dachte, wie ungewöhnlich schön sie an jenem Abend war. Ihr Vater war Schwarzer gewesen, und sie hatte seine glänzenden dunklen Augen und meine nordische Knochenstruktur geerbt: ihre golden schimmernde Haut strotzte vor Gesundheit, und ihr frischgewaschenes Haar hatte von uns beiden das Beste erhalten und fiel in blauschwarzen, glänzenden Wellen bis auf die Schultern. Ich weiß, ich brüste mich anscheinend mit meiner Tochter, als ob ich für alles verantwortlich wäre, aber dazu hatte ich zu lange auf dem Gebiet der Genetik gearbeitet. Es ist kein Stolz, es ist eher eine Feier – das Entzücken einer Lotteriegewinnerin, die ihr Glück einfach nicht zu fassen vermag.
Also sprachen wir miteinander, und ich dachte, wie schön sie an jenem Abend war, und Elvis kam auf seine imposante Weise herein und machte es sich auf ihrem Schoß gemütlich – ein schrecklicher Name für eine Katze, aber Anna hatte mit sieben Jahren diese Wahl getroffen; da machten die Videofirmen gerade Reklame für Presleys Jahrgang – und dann war es für sie an der Zeit, sich auf den Weg zu ihrer Freundin hinauf zu machen.
Wir wissen erstaunlich viel über die Generationen unmittelbar vor uns, bis hin zu Presleys Generation und noch weiter zurück. Hundert Jahre ihres Lebens, manchmal minutiös bis ins Detail. Ihre Rituale waren bewahrt, ihre Ängste offenbart, ihre Ambitionen bloßgelegt. Wie traurig, daß ihre Erfahrung für uns so wenig von Nutzen ist!
Aber ich drücke mich vor dem, was als nächstes geschah. Ich fürchte mich davor, und ich drücke mich davor. Als nächstes geschah, daß Yvette in die Stadt fuhr, Anna die Straße hinauf zu ihrer Freundin ging, ich das Abendessen zu mir nahm, das im Ofen auf mich wartete und die Glocke am Vordereingang ertönte. Und als ich durch den Türspion hinaussah, stand da eine junge Frau auf der Stufe, eine kurzhaarige Blondine etwa meines Alters, in einem adretten, nicht unfemininen grau-grünen wollenen Anzug, die eine Karte mit ihrem Bild darauf hochhielt. Neben dem Bild stand in Großbuchstaben SPU, daneben jede Menge anderes Zeug sowie das Staatswappen.
»Sergeant Milhaus«, sagte sie durch die Gegensprechanlage. »Special Police Unit.«
Mein erster Gedanke war, daß Mark etwas zugestoßen war. Ich ließ sie ein.
»Ich bin ins Wissenschaftsministerium versetzt worden«, sagte sie zu mir. »Ist Ihr Gatte zu Hause?«
Erleichtert schüttelte ich den Kopf.
»Und Ihre Tochter?«
Sie hatte eine unangenehme Stimme, scharf und fordernd, häßliche Vokale.
»Sie ist ebenfalls weg.«
Sie hörte die Frage aus meiner Äußerung heraus. »Ich möchte einfach nicht, daß wir unterbrochen werden. Können wir uns mal unterhalten?«
Ich führte sie in mein eigenes kleines Zimmer, ausgerechnet dorthin, wo ich zuvor mit Anna gesessen hatte. Elvis beäugte sie vom Sofa aus, erhob sich jedoch nicht. Eine Polizistin’ aus dem Ministerium so rasch nach meinem Gespräch mit Dr. Marton: da mußte es einen Zusammenhang geben. Nun gut, mein Gewissen war rein. Bislang.
»Nehmen Sie doch bitte Platz!« Ich winkte leicht. »Setzen Sie sich auf Ihre vier Buchstaben!«
Oder sie war womöglich das Ergebnis meines Telefonats mit Danno. In diesem Fall hatten sie sehr prompt reagiert – wir hatten es vor weniger als zwei Stunden beendet. In beiden Fällen jedoch hatte ich noch immer ein gutes Gewissen. Gleich, welche dunklen Absichten ich hegen mochte, ich hatte nichts Unrechtes getan.
Sergeant Milhaus wählte das andere Ende des Sofas, nicht das von Elvis. Ich setzte mich in den Sessel gegenüber.
»Hübsche Katze«, meinte sie und holte ein zusammengefaltetes Dokument aus der Innentasche ihrer Jacke. »Ich komme zur Sache, Dr. Ryder.«
»Dr. Kahn-Ryder.« Kahn ist natürlich Marks Name. Gewöhnlich bestehe ich nicht darauf, aber angesichts der Vokale dieser Frau benötigte ich alle Geschosse, die ich bekommen konnte. Ich nahm sie nicht ernst, sehen Sie. »Dr. Kahn-Ryder.«
Sie nahm die Verbesserung nicht zur Kenntnis. Sie entfaltete das Dokument und hielt es mir entgegen. »Dies ist Ihre Unterschrift?«
Ich blickte darauf. Es war sie anscheinend. »Ja.«
Sie durchblätterte rasch das Dokument, hielt es mir wiederum entgegen. »Und das hier?«
»Erneut ja.« Ich wußte jetzt, worauf sie/die Ministerin hinauswollte.
»Und Sie wissen, worum es sich bei diesem Papier handelt?«
»Es ist das Nationale Sicherheitsprotokoll. Und sein ’97er Zusatz.«
»Exakt. Ganz exakt.« Sie faltete das Protokoll zusammen und steckte es wieder in die Tasche. »Die Ministerin hatte befürchtet, Sie würden es nicht wiedererkennen, Dr. Ryder.«
Sie sprach das Wort widdärärrkännän aus. Aber das ging mich nichts an. Ich erinnerte sie höflich: »Dr. Kahn-Ryder«, und wartete.
»Die Ministerin hatte befürchtet, Sie könnten alles vergessen haben.«
»Ganz und gar nicht. Und falls ich es getan hätte, so hat mich ihr Chefsekretär heute nachmittag freundlich daran erinnert.«
»Das ist schön. Das ist sehr schön. Es freut mich, das zu hören.« Sie streckte Elvis eine Hand entgegen, wobei sie das lavendelfarbige Chintz ermutigend mit ihren stumpfen, empfindlichen Fingernägeln kratzte. Seine Augen weiteten sich, und er streckte eine getigerte Pfote aus, um nachzuforschen. »Hübsche Katze«, sagte sie erneut.
Eine Frau, die Elvis mochte, konnte nicht völlig schlecht sein, dachte ich. »Er gehört meiner Tochter«, meinte ich zu ihr.
»Ja. Ihr Name ist Anna, glaube ich. Ich habe keine Tochter.« Sie packte Elvis und hob ihn sich aufs Knie. Ohne Protest, schlaff wie ein altes Fuchsfell, ließ er es mit sich geschehen. »Heutzutage können Töchtern häßliche Dinge zustoßen«, sagte sie im Plauderton, während sie ihn unterm Kinn streichelte. Seine Lieblingsstelle. Sergeant Milhaus kannte sich mit Katzen aus, daran bestand kein Zweifel.
»Wir sind vorsichtig«, erwiderte ich. »Und hier draußen in den Vorstädten besteht keine große Gefahr, daß…«
»Sehr häßliche Dinge, falls sich ihre Mütter nicht benehmen.« Sie sah herüber, begegnete meinem Blick. »Die Ministerin möchte Sie das wissen lassen.«
Jäh war mir speiübel. Das war’s also. »Die Ministerin droht mir?«
»Ganz und gar nicht. Das wäre gegen das Gesetz. Eher eine freundliche Warnung. Die Sache ist die, wenn es um die staatliche Sicherheit geht, dann werden ihre Untergebenen manchmal das, was Sie vielleicht übereifrig nennen würden. Sie nehmen die Staatssicherheit sehr ernst, Dr. Ryder… Dr. Kahn-Ryder. Und das macht sie übereifrig.«
Elvis hatte entzückt den Kopf zur Decke gehoben. Dann ertönte ein schwaches Klicken, und eine Messerklinge erschien in Sergeant Milhaus’ anderer Hand. Beide Ärmel hatte sie von den Handgelenken zurückgeschoben, und ehe ich mich hätte rühren oder einen Laut von mir geben können, schnitt sie ihm rasch die Kehle durch. Blut spritzte über den Teppich. Sie hielt ihn fest, während er zitterte und keuchte. Blut strömte unablässig, und nicht ein Tropfen davon fiel auf Sergeant Milhaus. Wie gelähmt sah ich schweigend zu und starb dabei mit ihm. Schließlich hörte es auf. Für eine nicht allzu große Katze war es eine überraschend große Menge Blut gewesen.
Ihn sorgfältig von sich weghaltend beugte sich Sergeant Milhaus vor und erhob sich, wobei sie die muskulösen Oberschenkel benutzte. Völlig unter Schock sah ich ihr zu, neugierig darauf, was sie als nächstes täte. Sie ließ sich auf die Fersen nieder und legte Elvis ziemlich sanft in die Lache seines Bluts.
Mir zitterten die Hände. Sie packte eine davon, drehte sie um und untersuchte die Handfläche. »Eltern können sehr achtsam sein«, meinte sie, »aber sie können nicht die ganze Zeit über achtsam sein. Und niemals genügend achtsam.« Sie legte meine Hand zusammen, tätschelte sie und reichte sie zurück. »Ich finde schon allein hinaus.«
Sie richtete sich vorsichtig auf und schritt zur Tür.
»Tut mir leid wegen des Teppichs. Ich werde sehen, daß man Ihnen die Rechnung erstattet, wenn Sie sie beim Ministerium einreichen.«
Sie ging davon. Ich hörte sie erfolgreich an den automatischen Schlössern am Vordereingang hantieren, dann schloß dieser sich hinter ihr, und das Haus war still.