Der Bevölkerungsrückgang
Jahr 23: Ende Juli

6

Daniel lehnte an der hinteren Wand des vom Sonnenlicht erhellten Hörsaals, gähnte und blickte unauffällig zur Uhr oberhalb des Podiums. Elf Uhr dreißig. Die zweistündige Vorführung würde noch weitere dreißig Minuten lang dauern. Als ob zwei Stunden, oder auch vier oder vierzig, diese Mädchen auf die Wirklichkeit des Lebens in einem moslemischen Scheichtum vorbereiten könnten. Er wußte das. Er hatte mit Unteroffizieren gesprochen, die dort stationiert gewesen waren. Gott sei Dank war er jetzt bei der Militärpolizei und mußte sich um eine Abkommandierung ins Ausland keine Sorgen mehr machen. Sie brauchten alle Militärpolizisten, die sie bekommen konnten, hier zu Hause. Den weisesten Schritt, den er je unternommen hatte.

Er war auf dem Weg ins Nirgendwo gewesen – vor fünf Jahren hatte er angefangen, und er war noch immer Rekrut gewesen. Der Kompaniechef hatte ihn nie ausstehen können. Ein schwuler Intelligenzbolzen, der seine Anträge auf Fortbildungskurse einen nach dem anderen abgeschmettert und die Ergebnisse jener Kurse manipuliert hatte, die er absolviert hatte. Hatte aus ihm eine Art Halbidioten gemacht. Er wäre vor die Hunde gegangen, und nur sein langer Dienst hatte ihn davor bewahrt, mit den Mädchen mitzumischen. Und so sicher wie das Amen in der Kirche wäre er bei diesem Golf-Kommando mit dabei gewesen.

Jetzt, nach erst sechsmonatiger Zugehörigkeit zur Militärpolizei, hatte er einen Streifen und blieb zu Hause, ein ständiges Mitglied des Ausbildungsstabs im Hauptquartier. Das blaue Mützenband hatte ihm seinen Stolz zurückgegeben. Militärpolizisten waren von anderer Art: sie gehörten zur alten Armee, als sie noch ein Tummelplatz für Männer gewesen war, Flittchen kaum toleriert wurden. Es gab jetzt Flittchen bei der MP, eine Bande von Lesben, aber sie erkannten ein Paar glänzend gewichster Stiefel wieder, wenn sie eines sahen, und auch einen militärischen Haarschnitt und eine Haltung, die der Welt ins Auge sah, und behandelten einen nicht wie einen Idioten.

Das Ausbildungszentrum lag in einer Stadt einige hundert Kilometer nördlich der Hauptstadt. Es war altmodisch, allererste Sahne, und es gefiel ihm. Er war kein reiner Militär. Da er mit Papa und Harri aufgewachsen war, gab es in seinem Leben Platz für gepflasterte Straßen und kunstvolle Architektur sowie ein gelegentliches Konzert, wenn es nicht zu schwer war. Und Harri war jetzt auf dem staatlichen Kolleg in der Hauptstadt, nicht weit weg. Er war mit dem Zug hingefahren und hatte nachgesehen, wie sie sich machte. Kolleg, zum Teufel – aber sie war noch immer dieselbe Harri.

Sie war mit einem anderen Mädchen, Liese, in einem hohen Haus in der Nähe des Schlosses zusammengezogen. Liese spielte gern den Boss, und das hatte Harri nötig. Nicht bis in die Nacht hinein auf, und richtig zubereitete Mahlzeiten. Mama war ebenfalls einige Male oben gewesen, und Liese hatte ihr gefallen – die blöde Frau hatte ihr einen Stapel Gott-die-Mutter-Bücher dagelassen. Liese war nicht Daniels Typ, aber das waren auch nur wenige Flittchen. Er hielt sich für wählerisch.

Er streckte den Rücken und schob sich von der Wand weg. Trotz der Klimaanlage klebte ihm das Hemd an den Schulterblättern, wo er sich angelehnt hatte. Das Klima stimmte hier am Ort nicht: die Stadt lag in einem Tal, und es konnte verflucht heiß sein.

Auch schlimm, was UV-Strahlung betraf. Er fächelte sich mit seiner Kappe Luft zu. Der heruntergeleierte Vortrag ging weiter. Wohin diese armen Mädchen gingen, war es freilich weitaus heißer. Die Armee lieh sie an eine der Ölgesellschaften aus. Sie sollten die Moslem-Flittchen schützen, die auf ihren Ölquellen arbeiteten. Ihre Männer, die dort jetzt ziemlich dünn gesät waren, schafften die Arbeit nicht, und sie gefiel ihnen auch nicht. Und sie schnitten sich ins eigene Fleisch, weil sie lieber die Busse beschossen, welche die Flittchen herankarrten, statt einfach weiter Öl zu fördern. Daniel verstand das nicht. Wenn die Frauen den Job erledigen konnten, sollten sie’s doch tun. Das geschah auf der ganzen Welt.

Für die Armee zumindest waren diese Moslem-Verträge allerdings ein gutes Geschäft. So konnte sie eine Anzahl Hi-Tech-Apparate anschaffen, denen kein Steuerzahler seinen Segen gegeben hätte. Deren Sorgen waren die schrumpfende Bevölkerungszahl und die Rezession. Und das Syndrom. Seine Schwester würde sich beeilen müssen, wenn sie’s schaffen wollte.

Das Telefon auf dem Tisch hinter dem Vortragenden läutete. Er brach ab, den Zeigestock in der Schwebe, entschuldigte sich bei seiner Zuhörerschaft und trat zum Tisch. Es war ein Zivilist, ein Arabist, der in weißen Wüstengewändern und Turban angetreten war, um die Mädchen an diesen Anblick zu gewöhnen. Fünfundneunzig Minuten hatte sein Vortrag schon gedauert, und viele hatten sich noch immer nicht daran gewöhnt. Sie rutschten auf ihren Plätzen hin und her und kicherten hinter vorgehaltenen Händen. Daniel scharrte mit den metallbeschlagenen Stiefeln und räusperte sich warnend. Das Kichern erstarb.

Der Vortragende sah von seinem Telefon auf und fragte: »Ist hier ein Corporal Ryder anwesend?«

Daniel sprang in Hab-Acht-Stellung. »Sir.«

Der Vortragende sah zu ihm herüber, sprach ruhig mit dem Anrufer und legte wieder auf. »Sie werden im Kompaniebüro erwartet, Corporal. Da ist ein Ferngespräch für Sie. Es ist wohl ziemlich wichtig.«

Daniel runzelte die Stirn. »Von Rechts wegen bin ich bis Mittag hier, Sir.«

»Ich habe Sergeant Breitholmer gesagt, Sie seien auf dem Weg, Corporal.«

Daniel verließ den Hörsaal. Er hoffte, der Mann wußte, was er tat. Ein Zivilist, der versuchte, auf eigene Faust siebenundachtzig Armeeflittchen unter Kontrolle zu halten – man durfte nicht weiter darüber nachdenken.

Er setzte seine Kappe fest auf und eilte im Laufschritt den Weg hinter der Offiziersmesse hinab und weiter über den Paradeplatz. Als er das Kompaniebüro erreichte, schwitzte er. Er hielt inne, um sein Erscheinungsbild im Spiegel neben der Tür zu überprüfen, straffte die Kordel um seinen Hals und marschierte hinein.

Ein Sergeant saß am Schreibtisch. Daniel atmete gleichmäßig. »Corporal Ryder, Miss.«

Sie lächelte und wies zu einem der kleinen Telefonzellen hinüber. »Ich stell Sie durch. Es war Ihre Mutter, Corporal. Wir haben gesagt, wir würden sie zurückrufen.«

Er nahm die Kappe ab und zerdrückte sie besorgt. »Irgendeine Ahnung, worum es geht?«

»Eine Familienangelegenheit. Sie hat sich nicht näher geäußert.«

Er nickte, betrat den Raum, schloß die Tür und setzte sich an den Tisch. Es sah nicht gut aus. Verfluchte Frau! Ein Raum für ihn allein – zehn zu eins, daß das Mädchen Bescheid wußte und es nur nicht sagte. Draußen auf dem Paradeplatz versammelte sich die Wache für den mittäglichen Appell. Das einzige Fenster war hoch oben und klein, aber es stand offen, und Daniel hörte, wie die Männer unterdrückt miteinander sprachen und mit den Füßen stampften. Er wünschte ihnen Glück – der diensthabende Offizier war eine richtige Sau.

Er wartete, die Handflächen flach auf dem Tisch. Das Telefon läutete. Er hob den Hörer hoch.

»Mama?«

»Daniel? Es ist dein verfluchter Vater, Daniel. Es ist dein verfluchter, verrotteter, lausiger Vater.«

»Harriet? Es ist dein verfluchter Vater, Harri. Es ist dein verfluchter, verrotteter, lausiger Vater.«

Harriet starrte die gelben Jasminblüten an der Wand draußen vor Karls Fenster an. »Ich mag es nicht, wenn du so was sagst, Mama. Du weißt, ich mag es nicht.«

»Ich weiß, du hast dich stets für ihn eingesetzt. Sieh mal, ob du dich jetzt für ihn einsetzen kannst.«

»Was hat er getan?«

»Was er getan hat? Er hat sich umgebracht, verdammt noch mal. Das hat er getan.«

Harriet schloß die Augen. Was konnte sie erwidern? Sie glaubte ihrer Mutter aufs Wort.

»Er hat auch noch eine ziemliche Schweinerei draus gemacht. Er hat eine Flasche mit irgendwelchem Zeug von Brandt gestohlen und ist dann in die Wälder auf der anderen Seite des Flusses hinaufgegangen. Aber er hat nicht das Richtige erwischt und sich die verrottete, lausige Kehle verbrannt.«

Harriet drückte die Stirn an das kühle Glas des Fensters. »Ich komme sofort, Mama.«

»Sie haben ihn gerade erst gefunden. Ich hab Daniel Bescheid gesagt. Dein Vater war auf Nachtschicht, hat sich wie immer abgemeldet. Ruhig, sagt der Mann, aber das ist nichts Ungewöhnliches. Aber er ist nicht nach Hause gekommen. Ich war krank vor Sorge.«

»Ich hab gesagt, ich komme sofort, Mama.«

»Sie haben ihn gerade erst gefunden. Scheußlich. Sieht aus, als ob das Zeug nicht mal seinen Magen erreicht hätte. Ich hab Daniel Bescheid gesagt. Sie sagten, es hätte eine Weile gebraucht, bis er tot war.«

»Ich bin da, so schnell ich kann, Mama. Danno kommt auch?«

»Was hast du denn gedacht? Du kennst deinen Bruder. Nette Entschuldigung für ’n bißchen Ausgang. Urlaub aus dringenden familiären Gründen nennen sie’s. Das ist zum Lachen.«

Harriet preßte die Augen fester zusammen. Halt den Mund, halt den Mund, halt den Mund!… Schütte deine Schuldgefühle und deinen Kummer über jemand anderen aus, du blöde Kuh! Sie entspannte sich. Nein. Schütte beides über mich aus. Danno wird seinen Anteil schon erhalten haben. Wer ist denn sonst noch da? Oma? Nein, schütte beides über mich aus.

»Bis heute abend, Mama. Gegen sechs, vermutlich. Hängt von den Zugverbindungen ab.«

»Eine Frau, die ihren Hund ausführte, hat ihn gefunden. Hat ihre Schuhe vollgekotzt. Und er hat ihr einen Scheck hinterlassen. Keinen Brief für mich, nur einen Scheck. In einem Umschlag: ›Damit es leichter für den ist, der mich findet‹. Lieber Gott! Nicht viel, aber sie hat’s sich vermutlich verdient.«

»Ich mach mich dann jetzt auf den Weg.«

»Ich habe sie noch nicht gesehen, aber ich habe mit ihr gesprochen, und sie sagt, kein schöner Anblick. Der gute alte Johan, macht bestimmt daraus ’ne richtig schöne Schweinerei.«

»Es ist gerade zwölf durch, Mama. Ich gehe so rasch zum Bahnhof hinüber, wie ich kann. Halt die Ohren steif, Mama. Tschüs!«

»Ich werde eine Frau von der Kirche oben für die Beerdigung holen. Unsere Gründerin, sie ist frei. Das ist Margarethe Osterbrook. Und sag mir nicht, das hätte er nicht gewollt. Er ist draußen, der verfluchte Mistkerl!«

»Mama, ich muß los. Ich leg jetzt auf. Tschüs.«

»Der hiesigen Vikarin macht’s nichts aus. Alle können ihre Räumlichkeiten benutzen. Ökumenisch – so heißt das. Nicht, daß sie eine eigene Gemeinde hätte, die es wert wäre, daß man darauf auch nur spuckt, was ich so höre.«

»Ist schon in Ordnung, Mama. Du sprichst mit ihr. Ich bin um sechs bei dir. Tschüs.«

Sie knallte den Hörer auf die Gabel und wandte sich vom Fenster ab. Die Bücher auf Karls kühlen weißen Regalen standen noch immer an ihren Plätzen. Seine Bilder blickten sie ruhig an. Sein Füller lag noch immer auf seinem Notizblock vor der Tastatur auf dem Schreibtisch. Nichts hatte sich verändert. Die antike Standuhr neben der Tür tickte noch immer.

Eltern blieben immer Eltern. Wie alt war Papa gewesen? Vierundzwanzig Jahre älter als sie. Dreiundvierzig. Dreiundvierzig…

Warum?

Sie wußte, warum.

Sie setzte sich und stand sofort wieder auf. Sie mußte zum Bahnhof. Einige Sachen in die Tasche werfen. Gott sei Dank wurden Anrufe für sie von Lieses Wohnung in Haldanes herübergeschaltet. Gott weiß, wann sie ansonsten davon gehört hätte. Karl. Sie mußte Karl erreichen. Vielleicht käme er mit. Sie konnte nicht allein gehen. Er mußte mitkommen.

Wie lange wären sie weg? Wer würde Gnasher füttern? Sie mußte Liese erreichen, sie dazu bewegen, daß sie sich um die Katze kümmerte. Liese mochte ihn nicht besonders, aber das war halt Pech. Liebe mich, so liebe auch meine Katze.

Was sonst noch? Sie mußte Danno anrufen. Nein. Bei der Basis bis zu ihm durchzukommen, benötigte eine Ewigkeit, und er mochte bereits gegangen sein. Was also sonst noch?

Schwarz. Mama würde von ihr erwarten, daß sie Schwarz trüge. Was hatte sie da? Irgendwas Konventionelles. Die Kirche von Gott der Mutter war sehr konventionell.

Sie bemerkte, daß sie sich nicht aus dem Stuhl beim Fenster gerührt hatte. Sie zwang sich, ins Zimmer zu gehen, wo sich nichts verändert hatte, und nahm dabei ihre Veränderung mit sich. Man nannte es einen Todesfall in der Familie. Sie beugte sich über Karls Schreibtisch und hob seinen Telefonhörer hoch. Sie rief Admin an, bat sie, ihn anzubiepen, und wartete, wobei sie das Telefon anstarrte.

Was, wenn er nicht vorbeikäme und sie ohne ihn gehen müßte? Sie suchte seinen Füller und schrieb auf seinen Notizblock: Karl, mein Lieber… Wo war er? Seine Vorlesung endete an jenem Morgen um elf Uhr. Selbst, wenn es Fragen gab, hätte er längst zurück sein sollen. Karl, Liebling, ich muß nach Hause. Da hat es einen Todesfall in der Familie gegeben. Das konnte sie nicht schreiben. Sie riß das Blatt ab, zerknüllte es und versuchte es erneut. Karl, Liebling, ich muß nach Hause zu meiner Mutter. Papa hat sich umgebracht, und…

Ihre Schreibmuskeln brannten durch. Die Schreibmuskeln in ihren Fingern und in ihrem Kopf. Sie nahm den Notizblock und wanderte damit in Karls Arbeitszimmer auf und ab, suchte nach einer Stelle, wo sie ihn hinlegen konnte, damit er ihn nicht übersähe. Schließlich brachte sie ihn zu seinem Schreibtisch zurück.

Sie las: »Papa hat sich umgebracht.« Sie hatte geschrieben ›meine Mutter‹. Hätte sie nicht schreiben sollen ›mein Vater‹? Nein, es war nicht unfair. Wegen ihrer Mutter, wegen des unausweichlich folgenden Streits hatte sie Papa niemals von Karl erzählt, und jäh war die Tatsache, daß er nichts von Karl gewußt hatte, das Allerschrecklichste. Das Allerschrecklichste, bereits tot zu sein und nicht zu wissen, daß seine Tochter einen schönen schwarzen Professor liebte und dieser sie liebte. Eine weitere Schuld auf der Schuldenliste ihrer Mutter, auf der Liste, deren Existenz ihrer Mutter unbekannt war.

Natürlich hätte sich nichts geändert. Sie war bereits so glücklich gewesen, und er hatte es gewußt – so glücklich, am College ihrer Träume zu sein, die beste Studentin des Jahrgangs, den erträumten Kurs fürs Leben eingeschlagen zu haben –, daß das zusätzliche Glücksgefühl, das Karl bedeutete, das zusätzliche Glück, auch nichts mehr ausgemacht hätte. Sie hatte von seiner Traurigkeit gewußt, sich jedoch geweigert, die Verantwortung hierfür zu übernehmen. Sie weigerte sich noch immer. Er war älter als sie, ein großer, erwachsener Mann. Kinder waren nicht für ihre Eltern verantwortlich. Er hatte Selbstmord begangen, weil ihn niemand brauchte und weil er sich selbst nicht brauchte. Armer Papa.

Nein. Das war gestern. Heute hieß es arme Mama. Und armer Danno. Vielleicht am meisten armer Danno. Papa war tot, und Papa war tot, und Papa war tot, und… die Uhr neben der Tür schlug halb eins. Und was noch?

Sie wußte es nicht. Außer, daß sie ins Schlafzimmer gehen und einige Sachen in eine Tasche werfen mußte.

Karl rief um zwölf Uhr fünfundvierzig an.

»Liebling, ich war oben im Labor. Was ist?«

Sie ließ die Finger durchs Haar laufen. »Labor? Du hättest nicht im Labor sein sollen. Du hattest eine Vorlesung. Du hättest nicht im Labor sein sollen.«

»Du bist etwas angespannt, Liebling. Ich mußte mich um diese DNA-Sache kümmern. Hast du vergessen. Passiert schon. Sag Karl jetzt – weswegen bist du so angespannt?«

Seine Stimme war sanft. Das brachte sie zur Vernunft. »Mein Vater hat sich umgebracht.« Sie konnte es aussprechen. »Ich muß nach Hause. Kommst du mit?«

»Sich umgebracht? Wie schrecklich!«

»Allerdings. Kommst du mit?«

»Deine arme Mutter. Du Arme. Hat jemand deinem Bruder Bescheid gegeben?«

»Mama. Sie hat zuerst bei ihm angerufen. Kommst du mit?«

»Ich versuche, nachzudenken, Schatz. Es wird eine Beerdigung geben?«

»Mama macht alles fest. Ich hab nicht gefragt, wann.«

»Natürlich nicht. Wann fährst du?«

»Gleich jetzt. So rasch ich kann. Kommst du mit?«

»Wann fährt der Zug?«

»Ich weiß es wirklich nicht. Sie fahren alle Stunde.« Sie horchte in das Schweigen. Karl dachte nach, und ihr wurde klar, daß sie es ihm sehr schwer machte. »Du kannst nicht mitkommen. Was könntest du deinen Studenten sagen? Es könnte Tage dauern.«

»Ich muß ihnen gar nichts sagen. Das ist ein Notfall.«

»Und dann der Dekan. Nein, Karl – ich hätte nicht fragen sollen.«

»Doch, doch. Es geht um uns, Schatz. Dafür sind wir da.«

»Nein, Karl – von dir hängt ein ganzes Sommersemester ab. Ich komme ganz gut allein zurecht.«

»Natürlich. Aber ich möchte mitkommen.«

»Du kannst nicht. Ich hätte nicht fragen sollen.«

»Nun ja…«

»Ich ruf dich an, sobald ich dort bin.«

»Seinen Vater zu verlieren ist etwas Schreckliches. Unterschätze das nicht!«

»Ich muß los, Karl.«

»Vielleicht sollte ich dich am Bahnhof verabschieden.«

»Bahnhofsabschiede sind furchtbar.«

»Da hast du recht.«

»Ich ruf dich an, sobald ich dort bin.«

»Ich bestehe darauf. Und ich bin die ganze Zeit über bei dir. Ja?«

»Ja.«

»Hab dich lieb, Schatz.«

»Ich dich auch.«

Sie legte auf. Sie war nicht dumm. Er hatte nicht mitkommen wollen, und sie nahm es ihm nicht übel. Sie selbst ging ja nur wegen Mama, und er hatte sie noch nicht einmal kennengelernt.

Sie rief Liese an, ehe sie ging, aber dort nahm niemand ab. Harriet wäre an diesem Morgen gleichfalls nicht zu Hause gewesen, wenn sie sich nicht dazu entschlossen hätte, einen Arbeitskreis über Genetik sausen zu lassen und ihre Aufzeichnungen niederzuschreiben. Gnasher war nicht da – ein schattiges Beet Katzenminze unten an der Straße nahm ihn bei dem heißen Wetter in Anspruch –, also ließ sie sein Futter draußen auf Karls Terrasse stehen. Daraufhin nahm sie eine Straßenbahn zum Bahnhof.

Es gab eine Umleitung. Irgendeine Anti-Parthenoge-nese-Gruppe hatte eine Bombe durch ein Fenster des Forschungszentrums mitten in der Stadt geworfen. Sie war nicht explodiert, aber die Gegend wurde abgesperrt, während NatSich sich darum kümmerte. Die Polizei kümmerte sich schon längst nicht mehr um Bomben. Es gab große Vorbehalte gegen das Klonen, gegen das, was die Revolverblätter ›Jungfrauen-Geburten‹ nannten.

Trotz der Verspätung erwischte Harriet den Zug um ein Uhr dreißig.

Jenseits der Außenbezirke der Stadt waren die Felder der Zentralebene staubig und bleich unter der hochsommerlichen Sonne. Dies war der dritte heiße Sommer in Folge. Heiße Sommer und bitterkalte Winter. Die Leute sprachen von Sonnenflecken, von der Ozonschicht, von Änderungen des Golfstroms. Harriets Interessen lagen bei der Mikrobiologie. Sie hatte keine Meinung.

Während der Zug südwärts zur Küste rollte, überfiel sie ein jäher Gedanke: ihr Vater war tot, und sie hatte nicht geweint. In den Büchern hieß es, Weinen sei eine gesunde Reaktion. Therapeutisch. Sie entschloß sich, bis zur Beerdigung darauf zu warten. Wie es sich angehört hatte, würde ihre Mutter Papa beerdigen lassen. Trotz Margarethe Osterbrook und der Kirche von Gott der Mutter entschloß sich Harriet, die Beerdigung das Ihre tun zu lassen und dabei eine Träne oder zwei zu verdrücken. Dafür waren Beerdigungen da.

Am Knotenpunkt stieg sie in den Zubringerzug, der durch das steile Windstrohm-Tal fuhr. Es war Ebbe, die Schlammbänke dampften in der Hitze. Als der Zubringer Brandt International passierte, blickte Harriet unverwandt auf den Fluß hinaus, weg von dem dunklen, bedrohlich wirkenden Wald oberhalb von Brandts spitzen Dächern. Nicht, daß er noch immer dort gewesen wäre.

Ihre Tasche war nicht schwer, sie hatte nichts Schwarzes finden können, und sie schwang sie leicht, als sie am Cafe ›Zum Neuen Jahrhundert‹ vorüberging. Sie hatte ihrer Mutter gesagt, sie sei gegen sechs Uhr da. Sie kam etwa zehn vor sechs.

Daniel war ihr zuvorgekommen. Als sie die Vordertür öffnete, hörte sie ihn und Mama unten in der Küche streiten. Sie ging die Treppe hinab und ließ ihre Tasche lautstark in ihrem Schlafzimmer auf der anderen Seite des Flurs zu Boden fallen, ehe sie zu ihnen ging. Sie hatten sie gehört. Danno lehnte ruhig am Fenster, sah hinaus, und Mama räumte klirrend die Spülmaschine aus und warf Küchenschranktüren zu. Sie sah schrecklich aus. Eine erloschene, verbogene, durchgeweichte Zigarette hing ihr von der Unterlippe herab. Danno war in Zivil, trug kurze Hose und T-Shirt: er hatte seine Uniform seit seinem allerersten Besuch nicht zu Hause getragen. Manche Dinge lernte er.

Mama veranstaltete weiterhin Lärm. »Harriet. Gott sei Dank bist du hier, Kind. Endlich jemand Vernünftiges. Du mußt mir sagen, was zu tun ist. Sie versuchen, sich aus Papas Pensionsansprüchen herauszuwinden.«

Scheiße. »Nicht jetzt, Mama. Wir werden später darüber reden.« Danno hatte ihnen noch immer den Rücken zugekehrt. Er hatte sich nicht gerührt. »Hallo, Danno. Tag.«

»Hallo, Harri.«

Er blickte sich nicht um. Er weinte. Stellvertretend für sie und Mama. Es war eine therapeutische Reaktion.

Sie hörte sich selbst. Jesses, was waren sie für eine Familie! Was für ein Familienmitglied war sie, was für eine Schwester, Tochter! Sie durchquerte den schattigen Raum, lehnte sich neben Daniel an und legte ihm den Arm um die Schultern. Er griff schmerzhaft nach ihrer Hand.

»Er hat’s jetzt überstanden«, flüsterte sie. Daniel gab keine Antwort. Er zitterte am ganzen Körper.

»Warum später darüber reden, Kind? Warum nicht jetzt? Jetzt führ dich mir gegenüber nicht auch noch blauäugig auf, Harri. Diese Dinge sind wichtig.«

»Natürlich sind sie wichtig, Mama. Ich meinte einfach bloß…«

»Das Leben geht weiter, Harri. Oder ist das ein zu trivialer Gedanke für dich?«

Sie drückte Daniel die Schultern und küßte ihn linkisch auf die Wange. Dann ging sie in den Raum zurück.

»Wegen Papas Altersvorsorge.« Mama hatte auch ihre Bedürfnisse. »Brandt mag sich winden, aber sie werden sie ganz bestimmt herausrücken. Heutzutage zeigen sie ausgesprochen gern das fürsorgliche Gesicht des Kapitalismus. Es würde keinen guten Eindruck hinterlassen, eine arme, unschuldige Witwe an den Bettelstab zu bringen…«

Daniel hielt es nicht aus. Er zog die Schultern ein, während sie weiterredeten. Eine arme, unschuldige Witwe – lieber, Tränen vergießender Jesus, sie tanzte gerade auf Papas Grab.

Er sah zum Hafen hinaus. Wie konnte das alles aufhören? Die kleinen Schiffe unten auf dem Wasser sprangen ihm ins Auge, jedes einzelne hell und klar. Die Häuser auf der anderen Seite wirkten so nahe, daß er sie hätte berühren können. Das war wirklich. Tod war unwirklich. Papa konnte nicht aufhören. Das war völlig sinnlos.

Sie tanzte auf Papas Grab – sie rief Oma an, sie rief die Vikarin an, sie rief Brandt an, sie rief einen Anwalt an, sie rief ein Blumengeschäft an, sie rief wegen der Beerdigung an, sie rief das Krankenhaus an, sie rief die Polizei an, sie rief die Lokalredaktion der Zeitung an. Irgendwie überstand er den restlichen Abend. Harriet fabrizierte eine Mahlzeit aus der Tiefkühltruhe. Sie holte im ›Pelikan‹ sein Bier. Sie aßen zusammen am Küchentisch. Das Essen schmeckte wie Sägemehl, das Bier wie Pisse. Er konnte es nicht mit ansehen. Er wollte den Fernseher einschalten, doch Harri schüttelte den Kopf, wobei sie verstohlen auf ihre Mutter blickte.

Der Sergeant hatte ihm eine Woche Urlaub wegen einer dringenden Familienangelegenheit gewährt, er hatte gesagt, Daniels Mutter würde in dieser schweren Zeit seine Unterstützung benötigen. In Hab-Acht-Stellung im Kompaniebüro hatte Daniel ihm geglaubt. Aber, wie er irgendwo gelesen hatte, aus der Ferne war alles vom Zauber umgeben. Er würde gleich nach der Beerdigung gehen.

Seine Mutter hatte die Beerdigung auf morgen, elf Uhr vormittags, angesetzt. Es war kein großer Clan aus Familie und Freunden zu versammeln, lediglich Mrs. Hand von nebenan, die bei seiner Ankunft bei seiner Mutter gewesen war, und Oma, die bereits unterwegs war. Und irgendwer von der bescheuerten Kirche seiner Mutter, der den Gottesdienst abhielt. Sobald das vorüber war, wäre er auf und davon.

Er hielt sich an seinem Bier fest und merkte, daß es ihm in den Kopf stieg. Zur Schlafenszeit war er hinüber. Harriet half ihm die Stufen hinauf in sein Zimmer. Er fühlte sich deswegen mies – Harri hatte ihren Papa ebenfalls verloren, und sie war nur ein Kind.

Beim Erwachen am Morgen war sein Vater noch immer tot.

Bald nach dem Frühstück traf Oma von ihrer Insel ein. Sie war die ganze Nacht lang unterwegs gewesen, aber sie kümmerte sich um die drei, sogar um Harri, die den Tag völlig fertig angefangen hatte, kaum in der Lage, die Augen zu öffnen. Oma ließ Daniel das Wohnzimmer umräumen und seine Mutter und Harri Salate und Soßen mit Meeresfrüchten zubereiten, falls jemand nach dem Gottesdienst mit ihnen nach Hause käme. Sie bestellte den Motor-Leichenwagen ab. Papas Leichnam befand sich oben im Krankenhaus, auf dem Hügel oberhalb des Friedhofs, also konnten sie den alten Handwagen mit den hohen, schmalen Holzrädern benutzen. Oma kam aus der Stadt, aber sie war altmodisch: gab es für eine Sache eine örtliche Tradition, so wählte sie diese.

Daniel wußte, daß er den Wagen zu lenken und möglicherweise den größten Teil der Schieberei zu erledigen hätte, aber er protestierte nicht. Oma brachte ihn nicht so auf die Palme wie seine Mutter. Seitdem er zur Armee gegangen war, hatte er sie nicht gesehen, und in seiner Erinnerung war sie beträchtlich älter. Als erstes erzählte sie ihm bei ihrer Ankunft, wie leid ihr alles täte und wie traurig es wäre, daß sein Vater keine Familie hatte, die bei seiner Beerdigung anwesend war, und dann fragte sie ihn, ob er die Wünsche seines Vaters kennen würde. Als er erwiderte, seines Wissens nach hätte sein Vater keine Wünsche gehabt, funkelte sie seine Mutter an, als ob sie nicht überrascht wäre. Die Kinder auf ihrer Insel hatten wahrscheinlich Glück mit ihrer Lehrerin.

Als es Zeit für den Wagen wurde, war er froh, daß Oma darauf bestanden hatte. Die Sonne schien auf Papas Sarg, die Blumen und die glänzenden schwarzen Räder des goldgeränderten Wagens, und er war stolz darauf, ihn zu schieben. Harriet ging neben ihm, eine Hand ruhte auf dem Wagengeländer. Dahinter kamen seine Mutter mit Oma: das war Teil der Tradition.

Obgleich seine Mutter auch einen kleinen Sieg errungen hatte. Margarethe Osterbrook, die Gründerin ihrer Kirche, führte, in Blau gekleidet, ihre kleine Prozession an. Eine weitere verfluchte Frau. Es kümmerte ihn nicht – irgend jemand mußte ihnen sagen, was zu tun war. Sie hatte draußen vor dem Leichenschauhaus des Krankenhauses gewartet. Sie schüttelte ihm die Hand und fragte ihn, ob er an der Grabstätte ein paar Worte sprechen wolle. Er verneinte. Er hätte es gern getan, aber er brachte es nicht fertig. Sein Herz war noch schlimmer gebrochen als gestern.

Harriet, die sich an Margarethe Osterbrook vom morgendlichen Frühstücksfernsehen her erinnerte, war angenehm überrascht von ihr. Die zuckrige Predigerstimme war ein Bluff gewesen, oder sie war vielleicht nicht mehr darin geübt. Sie war stämmig und wirkte vernünftig. Sie hatte ein kräftiges Gesicht und sanfte Hände, ein Aushängeschild für Gott die Mutter. Sie war alles, was die arme Mama nicht war. Und sie hatte Danno ihren Tribut als Herrn des Hauses gezollt, für Margarethe Osterbrook eine merkwürdige Geste, wie aus dem letzten Jahrhundert.

Auch war sie willens, Papas Selbstmord anzuerkennen und hinzunehmen. »Deine armer Vater hatte Probleme gehabt, denen er sich nicht stellen konnte«, sagte sie kurz angebunden. »Gott jetzt auch noch hinzuzufügen wäre lieblos, glaube ich – so etwas sollten wir von Ihr nicht erwarten. Und er ist auf jeden Fall durch Ihre Hand gestorben, nicht durch die eigene.« Sie lächelte. »Wie wir alle.«

Harriet ging neben dem Wagen, eine Hand berührte leicht sein Geländer: und durch das Geländer und die schweren, von den Achszapfen gestützten Wagenbretter und den Sarg berührte sie ihren Vater. Sie hatte ihn sich oben im Krankenhaus nicht angesehen, hatte es nicht gewollt. Dank ihres Medizinstudiums war sie an Tote gewöhnt, und sie waren um so vieles weniger als die Lebendigen, daß sie den Sinn nicht eingesehen hatte. Sie hatte Bilder ihres Papas im Kopf, die weitaus mehr waren. Das Geländer des Wagens zu berühren war mehr. Sie spürte das Gewicht seines Körpers, der jetzt ein Leichnam war. Er war schwer. Er war ein ziemlich großer Mann gewesen, und jetzt war er ein ziemlich großer Leichnam.

Sie hörte ihre Mutter und Oma hinter sich ruhig miteinander sprechen, eine alte Frau und eine jüngere Frau. Jetzt hörten sie sich nach dem an, was sie waren -Mama war Omas Tochter. Kaum zu glauben. Vergangenen Sommer war Harriet draußen auf Omas Insel gewesen, ehe sie aufs College gegangen war. Die Zahl der Schüler an der Schule, wo Oma unterrichtete, schrumpfte, und die Schule würde womöglich schließen müssen. Sie hatte Oma in ihrem Leben nicht sehr häufig gesehen, aber sie liebte sie wahrscheinlich mehr als jeden anderen, mehr sogar als Karl. Sie schrieben einander Briefe, und vielleicht half es, daß sie einander nicht trafen. Sie hatte Oma gleich von Karl geschrieben, nachdem sie zum zweiten Mal miteinander geschlafen hatten. Daß sie neunzehn war und er fünfundvierzig und schwarz. Oma hatte nicht so getan, als ob sie das billigen würde, aber sie hatte Mitgefühl gezeigt. Was sollte man denn tun, wenn es keine Männer im eigenen Alter mehr gab, mit denen man Sex lernen konnte?

Sie lernte den Sex mit Karl sehr gut. Als sie jünger gewesen war, hatte Papa mit ihr über die Ähnlichkeiten von Männern und Frauen gesprochen. Karl zeigte ihr die Unterschiede. Daß er schwarz war, half ihr dabei: der Kontrast zu ihrem Weiß-Sein gefiel ihr. Sein muskulöser Hals erregte sie, seine großen, bleichen Hände, sein erstaunlicher Penis. Ihr gefiel die Vorstellung, daß seine Schwärze in ihr war, und sie wollte so sehr ein Baby von ihm, insbesondere jetzt, da Papa tot war, aber sie war erst neunzehn, zu jung, und sie wußte nicht, was er sagen würde. Sie glaubte nicht, daß er Babies mochte.

Mrs. Hand von nebenan wartete an der Grabstätte. Ebenso wie die Stollmans, Julius und Anka. Sie nahm sie zur Kenntnis, lächelte, ging jedoch nicht zu ihnen hinüber. Sie erinnerte sich nicht, wann sie zuletzt Klavier gespielt hatte: seitdem sie Karl kannte, überhaupt nicht mehr. Sie hatte sie nicht gebeten zu kommen, was schade war, vieles war schade. Auch ihre Mutter, da war sie sich gewiß, hatte sie nicht um ihr Kommen gebeten. Aber sie wohnten nur einen Schritt weit weg, auf dem Gelände, das Eckert hieß, und alle in der Stadt wußten, was hier geschah.

Viele, viele blickten mit kleinen, dunklen, blitzenden Augen über die niedrige Friedhofsmauer. Hatte sie je zu dieser Stadt gehört? Unter ihnen, jedoch abseits, ebenso neugierig wie sie, stand die hiesige Vikarin in einem großzügigen geblümten Kleid. Harriet erkannte sie nur deshalb, weil sie ziemlich auffällig ein kleines, schwarzes, ledergebundenes Buch mit einem vergoldeten Kreuz auf dem Einband in Händen hielt.

Im Leichenschauhaus des Krankenhauses hatte ein Portier bei Papas Sarg geholfen. Jetzt gab es hier nur die Familie, und Mama war von keinem Nutzen. Julius Stollman trat vor, und Anka. Sie ließen den Sarg zwischen den Seitenwänden des Wagens herausgleiten. Margarethe Osterbrook hielt sich abseits, sie durchblätterte das eigene schwarze, ledergebundene Buch. Harriet war froh darum. Margarethe Osterbrook war eine Fremde.

Das Grab war auf traditionelle Weise ausgehoben worden. Auf der einen Schmalseite war eine Schräge, über welche sie den Sarg hineingleiten ließen, gehalten an einer breiten schwarzen Borte. Margarethe Osterbrook sagte zu ihnen: »Die Menschheit, geboren aus dem Schoß einer Frau, hat nur eine kurze Zeit zu leben und kennt viel Kummer…«

Seemöwen kreisten über ihnen. Kinder waren auf dem Schulhof unten an der Straße, und beider Schreie vermengten sich.

»… Wir wachsen und werden geschnitten wie Blumen, kurz ist unsere Freude, jedoch kostbar. Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben: bei wem sollen wir Trost finden als bei Dir, Allmächtige Mutter?«

Schaufeln lehnten an dem langen Erdhaufen. Sie reichte sie sanft den beiden Männern und den fünf Frauen, die um das Grab herum standen, wie Pfänder der Erinnerung. Harriet trieb ihre Schaufel in die trockene, körnige Erde. Die ersten Schaufeln Erde, die auf den Sarg fielen, verursachten ein hohles, polterndes Geräusch.

»Nun, da es der Allmächtigen Göttin in Ihrer großen Gnade gefallen hat, die Seele Ihres geliebten Sohnes Johan Ryder zu Sich aufzunehmen, übergeben wir seinen Leichnam der Erde: Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub…«

Die Sonne stand hoch, auf dem Friedhof gab es keinen Schatten, und Harriet schwitzte. Die anderen um sie her waren geschäftig. Mamas kleine Hackversuche wurden kräftiger, als sie ihren Rhythmus fand. Danno war in einer Art Raserei. Das Grab füllte sich rasch.

Harriet schwang ihre Schaufel wie ein Bauer: und inmitten des Todes, dachte sie, sind wir vom Leben umgeben. Und sie schwitzte, bückte sich und schaufelte, schaufelte und klopfte die Erde zu einem langen, schmalen Hügel, der auf den Leichnam darunter hinwies, und sie weinte. Sie hatte es nicht für möglich gehalten, aber genau dafür waren Beerdigungen da.

Daniel war gestolpert, und einer seiner Schuhe war voller Erde. Er stand auf dem anderen Fuß, während Margarethe Osterbrook ihr Gebet beendete.

»Wir sagen Dir Dank, daß es Dir gefallen hat, unseren Bruder Johan aus dem Elend dieser sündigen Welt hinwegzunehmen, und wir bitten Dich, daß bald die Zahl Deiner Auserwählten erreicht und die Erfüllung Deiner Ziele hier auf Erden vollendet ist…«

Jetzt waren Leute vom lokalen Fernsehen da, spät, aber sie waren nicht wegen Johan Ryders Beerdigung gekommen: die Kameras der Misttypen waren auf Margarethe Osterbrook gerichtet. Daniel wartete, bis sie ihr Gebet beendet hatte, und humpelte dann davon. Hinter sich hörte er, wie sie Fragen beantwortete:

»Ich bin hier, weil ich gebraucht werde und weil es zum Glück einen freien Platz in meinem Terminkalender gab.

Nein, ich kenne Johan Ryder nicht persönlich, aber Bess Ryder ist jetzt seit fünfzehn Jahren Mitglied der Kirche von Gott der Mutter.

Ja, ich glaube daran, daß Selbstmord eine Sünde ist, aber Gott die Mutter lehrt uns, die Sünde zu hassen und den Sünder zu lieben.«

Daniel verließ den Friedhof. Er humpelte an der Schule vorüber, wo es jetzt ruhig war, und die School Lane entlang zum städtischen Spielplatz. Er setzte sich auf den Bronzesockel der Statuen der beiden Kinder, zog den Schuh aus, der ihm Schmerzen verursachte, und entleerte den Kies. Er setzte sich, den Schuh in der Hand, und starrte auf den Ozean hinaus.

Er würde nicht ins Haus unten zurückkehren, zu Soßen mit Meeresfrüchten und zu seiner Mutter, die dabei war, sich ihrer lahmen Berühmtheit anzubiedern. Er würde schnurstracks zum Bahnhof gehen, sich den ersten Zubringerzug und am Umsteigebahnhof einen Expreßzug zur Kaserne zurück nehmen. Er hatte wenig bei sich gehabt, ein paar Sachen in einer Tasche, und Harri konnte sie ihm nachschicken. Es gefiel ihm nicht, sie einfach so zurückzulassen, sie hatten noch gar nicht miteinander gesprochen, aber das war nicht seine Schuld: die Hälfte der Zeit stand Harri anscheinend auf der Seite jener Frau. Vielleicht, weil sie noch immer ein Kind war, nahm sie Partei für ihre Mutter.

Er zog sich den Schuh wieder an und lehnte sich an die Bronzebeine der Kinder. Sein Kopf paßte unter den ausgestreckten Arm des Jungen. Im Vergleich zur Kraft der Kinder, die unverrückbar jahrelang in Wind und Regen, Eis und Schnee dagestanden hatten, fühlten sich seine Knochen gefährlich zerbrechlich an. Erde auf Papas Sarg zu schaufeln war das Schwierigste, was er je getan hatte. Seine Knochen waren aus Glas, und wenn er daran rüttelte, würden sie zerspringen. Allmächtiger Christus, er wünschte, er könnte jetzt wieder in der Kaserne sein, ohne die Mühe, die es bereitete, dorthin zu gelangen.

»Daniel? Daniel, mein Sohn, warum hat er das getan?«

Daniel schloß die Augen. Er drehte sich um und umarmte die Körper der Kinder, klammerte sich daran. Klammerte sich daran.

»Es ist nicht fair, Daniel. War ich wirklich so schrecklich?«

Ja, Mama. Ja, du warst schrecklich. Du bist schrecklich. Frauen sind schrecklich. Du bist die schlimmste.

»Du gibst doch nicht mir die Schuld, nicht wahr, Daniel, für die Tat deines Vaters?«

Er öffnete die Augen. Es war wie ein Traum, einfach so, als ob er aus weiter Entfernung auf den Spielplatz hinabblickte, auf sich selbst neben den Statuen, auf seine Mutter, die allein auf dem gelben Sommergras steht, auf seine Schwester am Eingang zum Spielplatz, die zusieht, dann auf die School Lane und die Schule und dahinter auf den Friedhof, auf die winzigen Fernsehleute und die winzige Margarethe Osterbrook in ihrem blauen Gewand. Er sah sich zu, wie er die Statuen sehr vorsichtig losließ und aufstand. Wenn er an seinen Knochen rüttelte, würden sie zerspringen. Er ging um die Statuen herum zu seiner Mutter. Er sah sich selbst, wie er sie anblickte, sie wirklich anblickte, ihre abscheulichen Kleider und ihr abscheuliches Gesicht.

»Seine Arbeit hat ihn unglücklich gemacht, Daniel. Nicht ich, seine Arbeit. Und der schreckliche Bevölkerungsrückgang.«

»Natürlich bist du’s nicht gewesen.« Der Traum hörte auf, und er war wieder bei sich selbst, sah sie an, ihr abscheuliches Gesicht. »Es war seine Arbeit. Er hat einmal mit mir darüber gesprochen. Es war seine Arbeit.«

»Du gibst nicht mir die Schuld?«

»Ich kehre jetzt in die Kaserne zurück. Natürlich gebe ich nicht dir die Schuld.«

»Wann sehen wir… wann sehe ich dich wieder?«

»Sehr bald.« Sie streckte die Hand nach ihm aus, aber er mied sie. Er konnte sie anlügen, aber berühren konnte er sie nicht. »Ich weiß es nicht. Sehr bald.«

Sie akzeptierte das anscheinend. Wenn es einen Gott gab, Mutter, Vater, irgendeinen Gott, wäre sie dort, wo sie stand, niedergestreckt worden, verdorrt, verschrumpelt, die Haut in Streifen vom Körper geschält.

»Halt die Ohren steif, Mama! Bis bald.«

Er ging um sie herum, an ihr vorüber und zu Harriet, die vom Tor aus zusah.

»Sag du es ihr, Harri«, meinte er. »Ich kann’s nicht.«

»Ihr was sagen? Für dich soll alles einfach sein, Danno. Ist es aber nicht.«

»Wenn sie anders gewesen wäre, wäre er noch immer am Leben. Ist das nicht einfach?«

»Wenn sie anderes gewesen wäre, wenn Brandt anders gewesen wäre, wenn du anders gewesen wärst, wenn ich anders gewesen wäre, wenn er an jenem Morgen den Bus zur Arbeit verpaßt hätte. Um Gottes willen, Danno, wenn er anders gewesen wäre.«

Harri war nur ein Kind. Sie stellte sich auf Mutters Seite. Sie verstand nichts.

»Dann geh ich jetzt. Du kommst ja bestimmt gut ohne mich zurecht. Sag Liese alles Gute von mir.«

»Paß auf dich auf, Danno. Paß auf dich auf…«

Sie legte die dünnen Arme um ihn, drückte ihn an sich, und er wollte nicht gehen. Sie brachte ihn wieder ins Lot. Nirgendwo sonst wollte er sein. Sie ließ ihn los, und er ging davon, die School Lane entlang, wandte sich nach rechts, zwischen dem Sicherheitsgeländer hindurch und ging die lange Stiege hinab. Unten, auf der Parade, schritt er, ohne innezuhalten, am Haus seiner Mutter vorüber. Ein schwarzes Band war an die Tür genagelt.

Er erreichte den Verbindungszug, und am Umsteigebahnhof den Expreßzug und nahm dann eine Straßenbahn vom Bahnhof zur Kaserne. Er bewegte sich achtsam, hielt Schocks von sich fern, ebenso die Geräusche und die scharfen Kanten.

Als er sich bei der Wache zurückmeldete, sah ihn der Sergeant. Sergeant Breitholmer trat aus seinem Büro. Er hatte stets ein Auge auf Daniel gehalten, und seit Daniels Beförderung zum Corporal hatte er stets versucht, Schwierigkeiten von ihm fernzuhalten.

»Du solltest nicht hier sein, Corporal. Ich habe dich auf Urlaub geschickt.«

»Ich bin zurückgekehrt, Sergeant.«

»Kannst nicht wegbleiben. Stimmt’s?«

»Stimmt, Sergeant.«

»Wegen dir habe ich den ganzen verdammten Dienstplan auf den Kopf gestellt, Corporal Ryder. Jetzt kann ich wieder von vorn anfangen.«

»Schicken Sie mich in die Küche, Sergeant. Da ist immer Platz.«

»Erzähl mir nicht, was ich zu tun hab, Junge. Du wirst dahin gehen, verdammt noch mal, wo man dich hinschickt.«

Er kehrte in sein Büro zurück, und Daniel ging weiter. Er duschte und wechselte in seine Uniform. Winzige Kieselsteine fielen aus einem seiner Zivilschuhe heraus. Er hatte sie nicht gespürt: sie waren unter die Einlegesohle geraten. Er sammelte sie auf, starrte sie an, wie sie auf seiner Handfläche lagen, und schleuderte sie dann durch den Raum. Er sah nach, wieviel Geld er in seiner Brieftasche hatte, und verließ die Kaserne, wobei er sich bewußt war, daß der Sergeant ihm beim Vorübergehen zusah.

Auf den Straßen der Stadt war es stickig, sie kochten in der letzten Sonne des Tags. Die Stadt lag in einem Tal, umringt von niedrigen, fichtenbewachsenen Hügeln, und die Julihitze hatte sich darin gefangen, so daß sie vor Staub und Schmutz knisterte. Er betrat die erstbeste Bar und versuchte, sich zu betrinken, aber sein Bewußtsein war zu sehr auf der Hut, und so konnte der Alkohol nicht hineingelangen. Er verließ die Bar, suchte den Stadtpark auf und setzte sich auf eine Bank neben dem künstlichen Wasserfall. Die Enten im Teich am Fuß des Falls lärmten geschäftig und spürten die Hitze nicht.

Ein junges Mädchen in einem hübschen Sommerkleid war über das Geländer der Fußgängerbrücke am oberen Rand des Wasserfalls gebeugt. Er sah, wie sie ihren Hut verlor, und er sah, wie er ins Wasser fiel, davontrieb, zwischen den Felsen des Falls hinabglitt und in den Teich am Fuß stürzte. Die Enten hackten danach, daraufhin schwamm er davon. Das junge Mädchen eilte über den Pfad hinab, suchte einen Stock, stellte sich ins Gras am Ufer des Teichs und angelte mit dem Stock, aber der Hut trieb ruhig in der Mitte des Teichs, und ihre Arme waren zu kurz.

Daniel beobachtete sie. Sie sah aus wie eine ehrbare junge Frau, überhaupt nicht auffällig. Bis heute gab es sieben Jahrgänge Frauen ohne die entsprechenden Jahrgänge Männer, also fehlte es ihm nie an Gelegenheiten, aber er hatte ihnen nie den Gefallen getan. Er ertrug es nicht, daß sein Sperma in einem Kondom oder im Innern irgendeiner Möse vergeudet wurde: er sparte ihn für die Spenderzentren auf, wohin er dreimal die Woche ging und wo er etwas Gutes bewirkte. Er wählte die staatlichen Zentren, wo man umsonst ablieferte, für sich allein in einem kleinen Raum. Private Zentren berechneten und boten Annehmlichkeiten, Spielzimmer, heiße Bäder, Helfer beiderlei Geschlechts, aber dafür hatte er nie Geld ausgeben wollen.

Das junge Mädchen zog die Sandalen aus, aber das Wasser war zum Hineinwaten zu tief. Ihr Hut trieb gerade außerhalb ihrer Reichweite dahin, attackiert von Enten, die ihn offenbar als Bedrohung empfanden. Wenn er ihr nicht helfen würde, sagte er sich, würde er seiner Uniform nicht gerecht werden, also stand er auf, ging hinüber, nahm ihr den Stock ab und holte den Hut heraus. Lachend stand sie neben ihm im Gras und schüttelte den Hut aus. Dann setzte sie ihn auf, und grüne Algen baumelten von seiner breiten Krempe herab.

Sie kamen ins Gespräch. Sie war froh, ihren Hut zurückzuhaben, ihr Freund hatte ihn ihr geschenkt. Er war in der Armee, wie Daniel, und als er sie nach seinem Namen fragte, erkannte er einen der Radar-Corporals wieder. Sie gingen zusammen um den Park. Die Abenddämmerung fiel ein. Er sagte ihr, er habe seit dem Frühstück nichts gegessen, und fragte sie, ob sie nicht mit in ein Cafe kommen wolle. Er nannte eines, das sie nicht kannte, es lag auf der anderen Seite der Stadt, und sie stimmte zu. Auf ihre Frage, was er denn getan habe, daß er seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen habe, erzählte er ihr, daß er bei einer Beerdigung gewesen sei. Besorgt blickte sie zu ihm auf, fragte jedoch nicht, wessen Beerdigung.

Zu diesem Zeitpunkt, und auch danach, hätte er keine Antwort gewußt, wenn er hätte sagen müssen, weswegen er jenes bestimmte Cafe ausgesucht hatte. Es gefiel ihm, jedoch nicht übermäßig. Es war billig, doch er hatte viel Geld. Er kannte eine Abkürzung dorthin, aber er war nicht in Eile.

Die Nebenstraßen waren Anlieferzonen hinter großen Geschäften, kaum mehr als Gassen, bereits verlassen und dunkel. Er war noch immer verschlossen, kaum anwesend, und sie vertraute ihm in seiner Uniform. Als er in der zweiten Straße innehielt, blickte sie zu ihm auf und erwartete, er würde sie küssen. Er hatte zuvor schon ihren weißen Hals gesehen, wie dünn er war, und jetzt schlug er darauf. Die Finger hielt er so steif wie Metallstangen, wie es ihm die Armee beigebracht hatte. Sie würgte und starrte zu seinem Gesicht auf, während sie starb, und er hielt sie fest, damit sie nicht stürzte. Jetzt war er wieder zurück, zurück in seinem Körper, und seine Knochen waren fest.

Hinter ihnen überquerten Schritte die Straßenmündung. Rasch trug er das junge Mädchen in eine Ladebucht und hinter einige Kisten. Auf der Straße war es wieder ruhig. Er setzte das junge Mädchen vorsichtig ab und richtete ihren Rock. Er spürte noch immer Trauer um sie. Sie trug zwei hübsche Ringe, und da er nicht wollte, daß sie gestohlen würden, steckte er sie in eine ihrer Sandalen. Ihr Portemonnaie versteckte er ebenfalls, und zwar unter ihrem Körper. Er trat zurück. Mit Ekel wurde ihm klar, daß er beim Zuschlagen in seine Unterhose ejakuliert hatte. Ein Ausdruck kam ihm in den Sinn: schlimme Verschwendung. Der Lager-Arzt hatte gesagt, in jeder Ejakulation seien mindestens eine Million Spermen.

Er horchte in das Schweigen hinein. Er war verrückt gewesen, dieses Risiko hier einzugehen. Der Kopf des Mädchens lag auf dem Asphalt, die Augen starrten blicklos zum Himmel hinauf, und auf dem Hals waren Kratzspuren. Er blickte auf seine abgekauten Fingernägel und die Fingerspitzen. Fingerabdrücke? Er holte sein Taschentuch heraus, beugte sich über sie und rieb an den Kratzspuren. Der zerbrochene Knorpel ihres Kehlkopfs quietschte laut. Er streckte den Rücken. An der Vorderseite ihres hübschen Sommerkleids, wo er sie festgehalten hatte, während sie gestorben war, befänden sich Fasern seiner Uniform. Er runzelte die Stirn und entspannte sich daraufhin. Fasern einer Uniform. Könnten leicht von ihrem Freund stammen, dem Corporal.

Er verließ sie und ging ruhig zur Mündung der Ladebucht. Die Straße war leer. Er kehrte zur Hauptstraße zurück. Weder Auto noch Straßenbahn in Sicht. Die Bürgersteige waren verlassen, bis auf einen Mann, einen Soldaten, der auf ihn zukam. Es war der Sergeant.

Er kam heran und blieb dicht vor Daniel stehen.

»Corporal Ryder«, sagte er. »Du bist es also. Ich dachte, ich hätte dich gesehen, und dann warst du, verdammt noch mal, verschwunden.«

Daniel deutete mit einem Nicken in Richtung auf die Straße hinter sich. »Ich mußte rasch mal pissen, Sergeant.«

»Wirklich? So etwas trägt der Armee einen schlechten Ruf ein, Corporal Ryder.«

»Jawohl, Sergeant.«

»Ein Glück, daß man dich nicht erwischt hat.«

»Ja, Sergeant.« Wenn er mich gesehen hat, dachte Daniel, dann hat er auch das Mädchen gesehen. Ist er mir gefolgt?

Sergeant Breitholmer trat noch näher. »Alles in Ordnung, Corporal?«

»In Ordnung?«

»Du siehst verdammt schrecklich aus. Als hättste ’nen Geist gesehen.«

»Mir geht’s gut, Sergeant.«

»So was hör ich gerne. Sag nur immer mir geht’s gut, Sergeant, und du kannst nicht viel falsch machen. Ich will dir einen ausgeben, Corporal.«

»Vielen Dank, Sarge, aber…«

»Kein aber, Corporal. Einfach nur einen ausgeben. Ich meine, auf eine Gasse pissen, also, schon ein Glück, daß man dich nicht erwischt hat.«

»Dann aber nur einen, Sarge. Danke.«

Sie hatten mehrere, jedoch nicht genügend, daß es sich bemerkbar gemacht hätte. Sie waren in eine Kellerbar mit Scheinwerfern und Aquarien gerade unten an der Straße gegangen. Anschließend kehrten sie im letzten Tageslicht zur Kaserne zurück, wobei sie den schlechten Zustand des Fußballs und die Chancen der Sozialisten bei der nächsten Wahl besprachen. Daniel bekam kein Abendessen, weil er als abwesend gemeldet war. Er organisierte sich etwas geräucherten Schinken und Brot aus der Küche, nachdem er Sergeant Breitholmer an der Sergeanten-Messe verlassen hatte. Der Sergeant erwähnte mit keinem Wort ein Mädchen, mit dem Daniel vielleicht zusammengewesen war. In der nächsten oder in den nächsten beiden Wochen wurde der Mord in der Presse groß aufgemacht, aber Daniel hielt den Kopf unten, und Sergeant Breitholmer sagte kein Sterbenswörtchen.

Sie wurden Freunde.