17 Der Abschiedsgruß

Einst wandelte am Flusse ich
Der Tag neigte dem Ende sich
Da hört’ ich eine hübsche Maid:
»Oh weh, ’s gibt niemand, der mich freit.«
Ein Spielmann lauschte ihrem Leid
Und eilte flugs an ihre Seit’

»Müssen wir uns diese weinerlichen Songs wirklich die ganze Zeit anhören?«, fragte Isabelle und klopfte mit ihrem Stiefel gegen das Armaturenbrett von Jordans Transporter.

»Zufälligerweise gefallen mir diese weinerlichen Songs, meine Liebe, und da ich fahre, bestimme auch ich über die Musik«, erwiderte Magnus hochmütig. Er saß tatsächlich hinter dem Steuer und zu Simons Überraschung konnte er wirklich Auto fahren. Andererseits war das auch nicht allzu verwunderlich: Schließlich lebte Magnus schon seit Jahrhunderten auf dieser Welt und dürfte daher genug Zeit für ein paar Fahrstunden gehabt haben. Das ließ allerdings immer noch die Frage offen, welches Geburtsdatum er auf seinem Führerschein angegeben hatte, überlegte Simon.

Isabelle rollte mit den Augen, wahrscheinlich, weil sie in der engen Fahrerkabine nicht viel mehr als das tun konnte, schließlich saßen sie zu viert auf die Sitzbank gequetscht. Dabei war Simon fest davon ausgegangen, dass nur er und Magnus zur Farm hinausfahren würden. Doch dann hatte Alec darauf bestanden, sie zu begleiten was Magnus überhaupt nicht recht war, weil er das ganze Unternehmen für »zu gefährlich« hielt. Und in dem Moment, als Magnus den Motor anließ, war Isabelle die Treppe im Hausflur hinuntergestürmt und hatte sich völlig außer Atem ebenfalls in den Transporter gezwängt, zwischen Simon und ihren Bruder. »Ich komme mit«, hatte sie keuchend verkündet.

Und damit war für sie die Angelegenheit geklärt gewesen niemand hatte sie umstimmen oder von ihrem Entschluss abbringen können. Dabei hatte sie Simon kein einziges Mal angesehen und auch nicht erklärt, warum sie unbedingt mitwollte. Isabelle war einfach nur stur im Transporter sitzen geblieben. Sie trug eine Jeans und eine violette Wildlederjacke, die sie aus einem von Magnus’ Schränken gezogen haben musste; außerdem hatte sie ihren Waffengürtel um die schmalen Hüften geschlungen. Sie quetschte sich so eng neben Simon, dass der auf der anderen Seite gegen die Beifahrertür gepresst wurde und eine ihrer Haarsträhnen ihn die ganze Zeit über im Gesicht kitzelte.

»Wer ist das überhaupt?«, fragte Alec und schaute stirnrunzelnd auf den CD-Player, aus dem Musik ertönte, obwohl keine CD eingelegt war. Magnus hatte nur kurz mit einem bläulich glühenden Finger auf die Anlage getippt und schon hatte das Gerät angefangen zu dudeln. »Irgendeine alternative Feenband?«

Magnus antwortete nicht, stattdessen stieg die Lautstärke des Songs an.

Zum Spiegel lief sie aufgeregt
Das schwarze Haar war gut gelegt
Und ihr Gewand gar wunderschön.
Landauf, landab zog sie umher
Und traf so manchen Grandseigneur
Doch letztlich ward das Herz ihr schwer,
Denn eines war bald abzusehn:
Dass Männer nur auf Männer stehn.

Isabelle schnaubte. »›Dass Männer nur auf Männer stehn‹ Das stimmt zumindest für alle in diesem Wagen. Natürlich mit Ausnahme von dir, Simon.«

»Ach das ist dir also aufgefallen?«, bemerkte Simon.

»Ich bezeichne mich lieber als bisexuellen Freigeist«, ergänzte Magnus.

»Bitte benutze diese Worte nie in Gegenwart meiner Eltern«, warf Alec ein. »Vor allem nicht meinem Vater gegenüber.«

»Ich dachte, deine Eltern hätten mit deinem Coming-out kein Problem«, wunderte sich Simon. Dabei strich er sich das weiche dunkle Haar aus der Stirn und beugte sich vor, an Isabelle vorbei, um Alec anzusehen, der wie so oft finster dreinblickte. Abgesehen von irgendwelchen beiläufigen Gesprächen hatte Simon nie viel mit ihm zu tun gehabt: Alec ließ niemanden so leicht an sich heran. Aber Simon musste zugeben, dass seine eigenen Probleme mit seiner Mutter ihn neugierig auf Alecs Antwort machten.

»Meine Mutter scheint es akzeptiert zu haben«, sagte Alec. »Aber mein Vater bei ihm sieht das anders aus. Einmal hat er mich sogar gefragt, was mich meiner Meinung nach schwul gemacht hat.«

Simon spürte, wie Isabelle sich neben ihm versteifte. »Was dich schwul gemacht hat?«, wiederholte sie ungläubig. »Alec, davon hast du mir nie erzählt.«

»Hoffentlich hast du ihm geantwortet, dass du von einer schwulen Spinne gebissen wurdest«, meinte Simon.

Magnus prustete vor Lachen, während Isabelle verwirrt dreinschaute.

»Ich habe Magnus’ Comic-Stapel durchgeblättert«, sagte Alec, »also weiß ich ausnahmsweise mal, worauf du anspielst.« Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Und damit hätte ich dann die proportionale Homosexualität einer Spinne?«

»Nur wenn es sich um eine superschwule Spinne gehandelt hat«, erwiderte Magnus und stieß einen unterdrückten Schrei aus, als Alec ihn auf den Oberarm boxte. »Aua okay, okay, ist ja schon gut.«

»Wie auch immer«, meinte Isabelle, ganz offensichtlich verärgert darüber, dass sie den Witz nicht begriff. »Dad wird wahrscheinlich sowieso nicht mehr aus Idris zurückkommen.«

Alec seufzte. »Tut mir leid, wenn ich deine Vorstellung von einer glücklichen Familie zerstört habe. Ich weiß, du hättest gern, dass Dad mit meiner Homosexualität kein Problem hat, aber das ist nun mal nicht der Fall.«

»Aber wenn du mir nicht erzählst, dass andere schlecht über dich reden oder Dinge tun, die dich verletzen wie soll ich dir da helfen?« Simon spürte, wie Isabelle vor Entrüstung förmlich bebte. »Wie kann ich«

»Izzy«, unterbrach Alec sie erschöpft. »Es geht hier nicht um einen einzigen, besonders negativen Vorfall, sondern um viele, beinahe unsichtbare Kleinigkeiten. Als Magnus und ich herumgereist sind, habe ich öfters zu Hause angerufen. Nicht ein einziges Mal hat Dad sich erkundigt, wie es Magnus geht. Wenn ich bei Ratssitzungen aufstehe, um etwas zu sagen, hört mir niemand zu. Ich weiß nie, ob das daran liegt, dass ich noch relativ jung bin, oder an etwas anderem. Einmal hab ich mitbekommen, wie Mom sich mit einer Freundin über deren Enkelkinder unterhielt, doch als ich den Raum betrat, brach das Gespräch sofort ab. Und Irina Cartwright meinte zu mir, es sei eine Schande, dass niemand meine blauen Augen erben würde.« Er zuckte die Achseln und schaute zu Magnus hinüber, der eine Hand vom Steuer nahm und sie kurz auf Alecs Hände legte. »Das alles ist nicht mit einem Messerstich zu vergleichen, vor dem du mich beschützen könntest es sind eher eine Million kleiner Nadelstiche Tag für Tag.«

»Alec«, setzte Isabelle an. Doch bevor sie irgendetwas hinzufügen konnte, tauchte vor ihnen ein hölzernes Schild in Form eines Pfeils auf, mit der Aufschrift THREE ARROWS FARM.

Simon erinnerte sich daran, wie Luke damals, auf dem Boden der Farm kniend, die Blockbuchstaben in schwarzer Farbe auf das Holz aufgetragen hatte. Clary hatte dann den unteren Rand des Schilds mit einem Blumenmuster versehen, das inzwischen fast verblichen war. »Fahr hier links«, forderte er Magnus auf und streckte dabei so ruckartig den Arm aus, dass er die beiden anderen beinahe getroffen hätte. »Wir sind da.«

Erst nach mehreren Kapiteln aus Dickens’ Roman hatte Clary ihrer Erschöpfung nachgegeben und war an Jace’ Schulter eingeschlafen. Im Halbschlaf erinnerte sie sich daran, wie er sie die Treppe hinuntergetragen und in das Schlafzimmer gelegt hatte, in dem sie am ersten Tag aufgewacht war. Als er beim Hinausgehen die Tür hinter sich schloss, versank der Raum in tiefer Dunkelheit. Und während er auf dem Flur noch nach Sebastian rief, war sie beim Klang seiner Stimme schon eingeschlafen.

Erneut träumte Clary von dem zugefrorenen See, von Simon, der ihren Namen rief, und von einer Stadt ähnlich wie Alicante, deren Dämonentürme jedoch aus menschlichen Gebeinen waren und durch deren Kanäle Ströme von Blut flossen. Als sie im dunklen Raum aufwachte, war ihr Bettlaken zerknüllt und ihr Haar total zerzaust. Zunächst glaubte Clary, die Stimmen draußen vor der Tür wären Teil ihres Traums, doch als sie lauter wurden, hob sie lauschend den Kopf, obwohl sie immer noch schlaftrunken und halb in ihren Träumen verfangen war.

»Na, kleiner Bruder?«, drang Sebastians Stimme unter ihrer Zimmertür hindurch. »Hast du es erledigt?«

Eine ganze Weile kam keine Antwort. Dann erklang Jace’ Stimme seltsam flach und tonlos: »Ja, ich hab’s erledigt.«

Sebastian sog hörbar die Luft ein. »Und die alte Dame hat getan, was wir wollten? Den Kelch angefertigt?«

»Ja.«

»Zeig ihn mir.«

Ein Rascheln, dann wieder Stille. Schließlich sagte Jace: »Hier nimm ihn, wenn du ihn willst.«

»Nein.« Aus Sebastians Tonfall sprach eine merkwürdige Zurückhaltung. »Behalte ihn erst mal. Schließlich hast du ihn ja auch hergeschafft, oder?«

»Aber es war dein Plan.« Irgendetwas in Jace’ Stimme ließ Clary sich vorbeugen und ihr Ohr gegen die Wand pressen, um kein Wort zu verpassen. »Und ich habe ihn ausgeführt, so wie du es gewollt hast. Und jetzt, wenn du nichts dagegen hast«

»Ich hab aber etwas dagegen.« Ein erneutes Rascheln. Clary stellte sich vor, wie Sebastian aufgestanden war und jetzt auf den nur wenige Zentimeter kleineren Jace hinabschaute. »Irgendetwas stimmt nicht mit dir. Ich spüre das, aber das weißt du ja.«

»Ich bin einfach nur müde. Außerdem war ziemlich viel Blut im Spiel. Jetzt will ich mich einfach nur duschen und dann schlafen. Und« Jace’ Stimme erstarb.

»Und du willst meine Schwester sehen.«

»Ja, ich möchte sie jetzt gern sehen.«

»Sie schläft. Schon seit Stunden.«

»Brauche ich dazu etwa deine Erlaubnis?« In Jace’ Stimme schwang ein scharfer Unterton mit, der Clary daran erinnerte, wie Jace einmal mit Valentin gesprochen hatte. In diesem Tonfall hatte er schon sehr lange nicht mehr mit jemandem geredet.

»Nein.« Sebastian klang überrascht, fast schon überrumpelt. »Wenn du unbedingt in ihr Zimmer platzen und sehnsüchtig ihr schlafendes Gesicht anstarren willst, nur zu. Ich werde nie verstehen, warum«

»Richtig«, bestätigte Jace. »Das wirst du nie verstehen.«

Erneut wurde es still. Clary konnte förmlich sehen, wie Sebastian mit einem fragenden Ausdruck im Gesicht Jace hinterherstarrte. Erst nach einem Moment begriff sie, dass Jace auf ihr Zimmer zusteuern musste. Rasch warf sie sich flach auf das Bett und schloss die Augen, als sich auch schon die Tür öffnete. Ein gelblich weißer Lichtschein fiel ins Zimmer, der sie einen Moment lang blendete. Sie versuchte, so überzeugend wie möglich aufzuwachen, und drehte sich auf die Seite, eine Hand vor den Augen. »Was ist denn

Die Tür schloss sich und im Raum war es wieder dunkel. Clary konnte Jace nur als Schatten erkennen, der sich langsam auf ihr Bett zu bewegte. Als er über ihr stand, musste sie an eine andere Nacht denken, in der er zu ihr gekommen war, als sie schlief. Jace stand am Kopfende des Bettes, noch immer in seiner weißen Trauerkleidung, und in der Art und Weise, wie er zu ihr hinunterschaute, lag nichts Leichtes oder Sarkastisches oder Distanziertes. »Ich bin die ganze Nacht ziellos umhergewandert ich konnte nicht schlafen. Und dann hab ich festgestellt, dass meine Füße mich immer wieder hierhergebracht haben. Zu dir.«

Jetzt war er nur eine Silhouette eine Silhouette mit hellen Haaren, die im schwachen Licht, das unter dem Türschlitz hindurchfiel, leicht schimmerten. »Clary«, wisperte er.

Im nächsten Moment ertönte ein dumpfes Geräusch und Clary begriff, dass er neben ihrem Bett auf die Knie gefallen sein musste. Reglos blieb sie liegen, aber ihr Körper versteifte sich.

Flüsternd drang Jace’ Stimme durch die Dunkelheit: »Clary, ich bin’s. Jace!«

Ruckartig schlug Clary die Lider auf und ihre Blicke trafen sich im Dunkeln. Mit großen Augen starrte sie Jace an, der vor ihr kniete und ungefähr auf einer Höhe mit ihr war. Er trug einen langen dunklen Wollmantel, der bis zum Kragen zugeknöpft war. Schwarze Runenmale für Unhörbarkeit, Beweglichkeit und Genauigkeit wanden sich wie eine Art Kette um seinen Hals. Clary hatte das Gefühl, durch seine großen goldenen Augen hindurchsehen zu können. Dahinter entdeckte sie Jace ihren Jace. Der Jace, der sie in seinen Armen getragen hatte, als der Stachel des Ravener-Dämons sie getroffen und vergiftet hatte; der Jace, der schweigend zugesehen hatte, wie sie Simon vor der aufgehenden Sonne über dem East River zu schützen versucht hatte; der Jace, der ihr von dem kleinen Jungen und seinem Falken erzählt hatte, dem der Vater das Genick gebrochen hatte. Der Jace, den sie liebte.

Clarys Herz schien einen Moment auszusetzen; sie konnte nicht einmal nach Luft schnappen.

Ein drängender, gequälter Ausdruck stand in Jace’ Augen. »Bitte«, murmelte er. »Bitte, du musst mir glauben.«

Und Clary glaubte ihm. Sie besaßen das gleiche Blut, liebten auf dieselbe Art und Weise: Dies hier war ihr Jace, so sicher wie ihre Hände ihre eigenen Hände waren und ihr Herz ihr eigenes Herz. Aber »Wie ist das möglich?« Clary versuchte, sich aufzusetzen.

Doch Jace drückte sie rasch in die Kissen zurück. »Pst, Clary, nicht jetzt. Wir können jetzt nicht reden. Ich muss wieder zurück.«

Fieberhaft griff Clary nach seinem Ärmel und spürte, wie Jace zusammenzuckte. »Bitte verlass mich nicht.«

Für den Bruchteil einer Sekunde ließ er den Kopf hängen, doch dann schaute er sie an und der Ausdruck in seinen Augen ließ Clary verstummen. »Warte ein paar Sekunden, nachdem ich gegangen bin«, wisperte er. »Dann schleich dich nach oben in mein Zimmer. Sebastian darf uns nicht zusammen sehen. Nicht heute Nacht.« Angestrengt rappelte er sich auf; seine Augen flehten sie an. »Er darf dich auf keinen Fall hören.«

Clary richtete sich auf. »Deine Stele lass mir deine Stele hier.«

Zweifel flackerte in seinen Augen auf, doch Clary erwiderte ruhig seinen Blick und streckte die Hand aus. Nach kurzem Zögern griff Jace in die Tasche, holte den matt schimmernden Stab hervor und drückte ihn ihr in die Hand. Dabei streiften sich für einen kurzen Augenblick ihre Finger und Clary erbebte eine kurze Berührung von diesem Jace war überwältigender als all die Küsse und Umarmungen in dem Nachtclub von letzter Nacht zusammen. Und sie wusste, dass er es auch spürte, denn er zog seine Hand hastig weg und ging rückwärts zur Tür. Clary konnte seinen flachen, unruhigen Atem hören. Dann fummelte er eine Sekunde am Türknauf herum und sein Blick blieb bis zum letzten Moment auf ihr Gesicht geheftet, bis die Tür mit einem lauten Klick ins Schloss fiel.

Sprachlos saß Clary in der Dunkelheit. Sie hatte das Gefühl, als hätte sich das Blut in ihren Adern verdichtet, sodass ihr Herz doppelt so hart arbeiten musste, um nicht auszusetzen. Jace. Mein Jace.

Ihre Hand schloss sich um die Stele und irgendetwas daran vielleicht die Kühle des harten Materials schien ihr dabei zu helfen, ihre Gedanken zu sammeln und sich zu konzentrieren. Clary schaute an sich herab: Sie trug ein Top und Pyjamashorts und hatte eine Gänsehaut auf den Armen, allerdings nicht vor Kälte. Entschlossen setzte sie die Spitze der Stele auf ihre Armbeuge, zog sie langsam über ihre Haut und beobachtete, wie sich eine gewundene Unhörbarkeitsrune auf ihrer hellen Haut abzeichnete.

Dann öffnete sie die Zimmertür einen Spalt. Sebastian war verschwunden; wahrscheinlich hatte er sich schlafen gelegt. Leise Musik drang aus dem Wohnzimmer irgendetwas Klassisches, die Art von Klavierspiel, die Jace gefiel. Clary fragte sich, ob Sebastian Musik mochte. Oder sonst irgendeine Art von Kunst das erschien ihr nämlich als ein zutiefst menschlicher Wesenszug, was nicht wirklich zu ihrem Bruder passte.

Obwohl sie sich Sorgen machte, wo Sebastian wohl stecken mochte, trugen ihre Füße sie durch den Gang zur Küche und anschließend vollkommen geräuschlos durch den Wohnraum und die Glastreppe hinauf. Ein paar Sekunden später huschte sie durch den oberen Flur zu Jace’ Zimmer, schlüpfte leise hinein und schloss die Tür hinter sich ab.

Durch die weit geöffneten Fenster konnte sie dunkle Dächer und die helle Sichel des Mondes sehen: eine perfekte Nacht im Herzen von Paris. Ein Elbenstein lag auf dem Nachttisch neben dem Bett und verströmte ein gedämpftes Licht, sodass Clary Jace erkennen konnte, der zwischen den beiden großen Fenstern stand.

Er hatte den langen Mantel abgestreift, der jetzt als zerknitterter schwarzer Haufen zu seinen Füßen lag. Clary begriff sofort, warum er ihn nicht direkt bei seiner Rückkehr ausgezogen, sondern ihn bis zum Kragen zugeknöpft gelassen hatte. Denn darunter trug er nur Jeans und ein graues Hemd beides blutgetränkt. Das Hemd hing in Fetzen von seiner Schulter, als hätte es jemand mit einer scharfen Klinge aufgeschlitzt. Der linke Ärmel war hochgekrempelt und ein weißer Verband, dessen Ränder sich bereits dunkel verfärbt hatten, war um seinen Unterarm gewickelt. Jace hatte die Schuhe ausgezogen und stand barfuß auf dem Steinboden, der um ihn herum mit Blut besprenkelt war wie mit scharlachroten Tränen.

Clary legte die Stele auf den Nachttisch und sagte leise: »Jace.« Plötzlich erschien es ihr absurd, dass so viel Abstand zwischen ihnen lag, dass sie so weit von Jace entfernt stand, dass sie einander nicht berührten.

Doch als sie einen Schritt auf ihn zugehen wollte, hob Jace die Hand. »Nicht«, stieß er mit brüchiger Stimme hervor. Dann tasteten sich seine Finger zu den Knöpfen an seinem Hemd und öffneten sie langsam, einen nach dem anderen. Schließlich ließ er das blutgetränkte Kleidungsstück von den Schultern rutschen und zu Boden fallen.

Fassungslos starrte Clary ihn an: Liliths Rune prangte weiterhin auf seiner Brust, direkt über dem Herzen, aber sie schimmerte nicht länger silber-rot. Stattdessen hatte es den Anschein, als hätte ihm jemand einen glühenden Schürhaken über die Haut gezogen und sie versengt. Unwillkürlich griff sich Clary an die eigene Brust und spreizte die Finger über ihrem eigenen Herzen. Sie konnte spüren, wie es schlug schnell und kräftig. »Oh«, brachte sie hervor.

»Ja, oh«, bestätigte Jace tonlos. »Aber es wird nicht lange anhalten, Clary. Ich meine, dass ich im Moment ich selbst bin. Nur so lange, bis die Wunde wieder verheilt ist.«

»Ich ich hab mich gefragt«, setzte Clary stammelnd an. »Als du geschlafen hast, da hab ich mich gefragt, ob ich die Rune nicht einfach zerschneiden sollte so wie im Kampf gegen Lilith. Aber ich hatte Angst, Sebastian würde es vielleicht ebenfalls spüren.«

»Er hätte es auf jeden Fall gemerkt.« Jace’ goldene Augen wirkten so ausdruckslos wie seine Stimme. »Aber das hier hat er nicht gespürt, weil der Schnitt mit einem Pugio ausgeführt wurde einem in Engelsblut gehärteten Dolch. Eine äußerst seltene Waffe; jedenfalls hatte ich zuvor noch keinen einzigen dieser Dolche zu Gesicht bekommen.« Jace fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Die Klinge ist heiß aufgelodert und zu Asche verglüht, nachdem sie mich berührt hatte, aber wenigstens hat sie auf diese Weise Liliths Runenmal beschädigt.«

»Du hast gegen jemanden gekämpft. Gegen einen Dämon? Warum hat Sebastian dich nicht begleitet«

»Clary.« Jace’ Stimme war nur noch ein Flüstern. »Diese Wunde wird zwar nicht so schnell verheilen wie eine normale Verletzung aber auch nicht ewig offen bleiben. Und sobald sie sich geschlossen hat, bin ich wieder er.«

»Wie viel Zeit haben wir? Bis du wieder in den anderen Jace zurückverwandelt wirst?«

»Keine Ahnung. Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich möchte ich will unbedingt bei dir sein, in diesem Zustand, als ich selbst, und zwar so lange wie möglich.« Steif streckte er ihr eine Hand entgegen, als wäre er sich nicht sicher, wie sie seine Worte aufnehmen würde. »Meinst du, du könntest«

Doch Clary war bereits losgestürmt und schlang ihm die Arme um den Hals. Jace fing sie auf und wirbelte sie herum, während er gleichzeitig das Gesicht in ihre Halsbeuge drückte. Clary atmete seinen Geruch ein wie frische Luft: Er roch nach Blut, Schweiß, Asche und Runenmalen. »Du bist es wirklich«, wisperte sie. »Du bist es wirklich.«

Jace lehnte sich leicht zurück, um sie betrachten zu können, und fuhr ihr mit der Hand sanft über die Wange. Genau das hatte ihr am meisten gefehlt seine Sanftheit. Das war einer der Gründe gewesen, warum sie sich überhaupt in ihn verliebt hatte: Sie wusste, dass dieser gezeichnete, sarkastische Junge mit allem, das er liebte, sanft umging.

»Ich hab dich vermisst«, stieß sie hervor. »Du hast mir so sehr gefehlt.«

Einen Moment lang schloss Jace die Augen, als würden ihn die Worte schmerzen. Behutsam legte Clary ihm eine Hand an die Wange und er drückte sein Gesicht dagegen, wobei seine Haare ihre Fingerknöchel kitzelten. Und da wurde Clary bewusst, dass auch sein Gesicht feucht war.

Der Junge weinte nie wieder.

»Es ist nicht deine Schuld«, versicherte sie ihm und küsste seine Wange mit der gleichen Zärtlichkeit, die er ihr entgegengebracht hatte. Clary schmeckte Salz Blut und Tränen. Jace hatte noch immer kein Wort gesagt, aber sie konnte sein Herz wie wild an ihrer Brust schlagen hören. Er hatte die Arme fest um sie geschlungen, als wollte er sie nie wieder loslassen. Behutsam küsste Clary seine Wangenknochen, sein Kinn und drückte ihre Lippen schließlich leicht auf seinen Mund.

Dieser Kuss hatte nichts von der verzweifelten Erregung im Nachtclub; dieser Kuss sollte Trost spenden und all die Dinge sagen, für die im Moment keine Zeit blieb. Jace erwiderte Clarys Kuss zunächst nur zögernd, doch dann drängender; seine Hand schob sich in ihre Haare und wickelte Strähnen um seine Finger. Ihre Küsse wurden intensiver und schließlich leidenschaftlicher, so wie jedes Mal wie ein Waldbrand, der mit einem einzigen Streichholz begann und sich dann zu einer lodernden Feuersbrunst entwickelte.

Clary wusste zwar, wie stark Jace war, schnappte aber dennoch nach Luft, als er sie schwungvoll zum Bett trug und sanft zwischen die vielen Kissen gleiten ließ. Dann schob er sich über sie in einer einzigen, fließenden Bewegung, die Clary daran erinnerte, wofür die vielen Runenmale auf seinem Körper waren. Kraft. Anmut. Leichtigkeit. Sie sog seinen Atem ein, während sie sich küssten, jeder Kuss länger, forschender. Gleichzeitig ließ sie ihre Hände über seine Schultern gleiten, über seine Armmuskeln, über seinen Rücken. Seine nackte Haut fühlte sich unter ihren Fingerkuppen wie glühende Seide an.

Als Jace’ Hände den Saum ihres Tops fanden, streckte sich Clary ihm entgegen, damit er auch das letzte, trennende Stück Stoff zwischen ihnen beseitigte. Sobald er das Top beiseitegeworfen hatte, zog sie ihn wieder zu sich heran. Ihre Küsse wurden nun intensiver, leidenschaftlicher, als versuchten sie, miteinander zu verschmelzen. Clary hätte nicht gedacht, dass sie sich noch näher kommen konnten, aber irgendwie schienen sie sich mit jedem Kuss enger umeinanderzuwinden, jeder Kuss noch verlangender und noch inniger

Eine Weile glitten ihre Hände fieberhaft über den jeweils anderen Körper, bewegten sich dann allmählich langsamer, tastender und weniger hastig. Clary grub Jace die Nägel in die Schultern, als er erst ihre Kehle küsste, ihr Schlüsselbein und dann das sternförmige Mal auf ihrer Schulter. Sie strich mit ihren Fingerknöcheln über seine Narbe und küsste Liliths Mal, das noch immer geteilt war. Sie spürte, wie er erbebte, wie er sie wollte Clary wusste, dass sie ebenfalls kurz vor einem Punkt stand, an dem es kein Zurück mehr gab aber es war ihr egal. Sie wusste, was es bedeutete, ihn zu verlieren. Sie kannte die düsteren, leeren Tage, die folgen würden. Und sie wusste auch: Wenn sie ihn erneut verlieren würde, dann sollte wenigstens diese eine Nacht unvergesslich bleiben. Um sich daran festzuklammern. Um sich daran zu erinnern, dass sie ihm ein einziges Mal so nahe gewesen war, wie man einem anderen Menschen nur sein konnte. Sie verschränkte ihre Füße hinter seinem Rücken und Jace stöhnte auf, ein leiser, tiefer, hilfloser Laut an ihren Lippen. Seine Hände gruben sich in ihre Hüften.

»Clary.« Ruckartig zog Jace sich zurück. Er zitterte am ganzen Körper. »Ich kann nicht Wenn wir jetzt nicht aufhören, gibt es kein Zurück mehr.«

»Möchtest du es denn nicht?« Verwundert schaute Clary zu ihm hoch. Sein Gesicht war gerötet, sein Haar zerzaust. Es war an den Stellen einen Hauch dunkler, wo ihm die Strähnen verschwitzt an Stirn und Schläfen klebten. Clary spürte, wie sein Herz in seiner Brust hämmerte.

»Doch schon, es ist nur so: Ich hab noch nie«

»Du hast noch nie?«, stieß sie überrascht hervor. »Du hast es noch nie getan?«

Jace holte tief Luft. »Doch, hab ich.« Seine Augen streiften über ihr Gesicht, als würde er nach Anzeichen von Kritik, Missbilligung oder sogar Abscheu suchen.

Ruhig erwiderte Clary seinen Blick; sie hatte ohnehin nichts anderes erwartet.

»Aber noch nie noch nie mit jemandem, der mir wirklich etwas bedeutet hat.« Federleicht berührte er ihre Wange. »Ich weiß ja nicht einmal, wie«

Clary lachte leise. »Ich denke, das hast du gerade bewiesen.«

»So hab ich das nicht gemeint.« Jace nahm Clarys Hand und drückte sie an sein Gesicht. »Ich will dich«, sagte er, »und zwar mehr als alles andere in meinem Leben. Aber ich« Er schluckte. »Beim Erzengel! Dafür werd ich mich später in den Hintern treten.«

»Sag jetzt nicht, dass du nur versuchst, mich zu beschützen«, erwiderte Clary energisch. »Denn ich«

»Darum geht es nicht«, erklärte Jace. »Ich bin eifersüchtig.«

»Eifersüchtig? Aber auf wen denn?«

»Auf mich.« Er verzog das Gesicht. »Ich hasse die Vorstellung, dass er mit dir zusammen ist. Er. Dieser andere Teil von mir. Der Teil, der von Sebastian beherrscht wird.«

Clary spürte, wie ihr Gesicht zu glühen begann. »Aber in dem Club letzte Nacht«

Jace ließ den Kopf auf ihre Schulter sinken. Ein wenig verwundert strich Clary ihm über den Rücken und fühlte dabei die Kratzer, die ihre Fingernägel auf seiner Haut hinterlassen hatten. Durch die Erinnerung an diesen Moment im Alkoven des Nachtclubs errötete sie noch stärker vor allem deswegen, weil er die Spuren mit einer Heilrune hätte beseitigen können, es aber nicht getan hatte. »Ich erinnere mich an jede einzelne Sekunde von letzter Nacht«, murmelte er. »Und es treibt mich in den Wahnsinn, weil ich es gewesen bin, aber irgendwie dann doch wieder nicht. Wenn wir zusammen sind, möchte ich, dass du wirklich du bist. Und ich wirklich ich.«

»Aber sind wir das nicht im Moment?«

»Ja, schon.« Jace hob den Kopf und küsste sie auf den Mund. »Aber für wie lange? Ich könnte mich jeden Moment in ihn zurückverwandeln. Das könnte ich dir nicht antun uns nicht antun.« Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit. »Ich weiß nicht einmal, wie du das überhaupt erträgst in der Gegenwart dieses Wesens zu sein, das nicht ich bin«

»Selbst wenn du dich in fünf Minuten zurückverwandeln würdest, wäre es das trotzdem wert gewesen Dass ich hier mit dir zusammen sein kann. Dass ich dich auf jener Dachterrasse nicht endgültig verloren habe. Denn das hier bist du Und selbst in dieser anderen Version von dir steckt irgendwie dein wahres Ich. Es ist fast so, als würde ich dich durch eine verschwommene Fensterscheibe sehen, aber die Person auf der anderen Seite des Glases bist nicht du. Und endlich weiß ich das auch mit Sicherheit.«

»Wie meinst du das?« Jace’ Hände umfassten Clarys Schultern fester. »Was meinst du mit: Endlich weißt du das mit Sicherheit?«

Clary holte tief Luft. »Jace, als wir nach all dem Hin und Her schließlich zusammen waren in diesem ersten Monat bist du richtig glücklich gewesen. Und alles, was wir gemeinsam unternommen haben, hat Spaß gemacht, war lustig und einfach schön. Aber dann kam es mir so vor, als ob du das alles langsam aufgeben würdest, die ganzen glücklichen Momente. Du wolltest nicht mehr bei mir sein, mich nicht einmal mehr ansehen«

»Ich hatte Angst, ich könnte dir was antun. Ich hab gedacht, ich würde den Verstand verlieren.«

»Du hast nicht mehr gelächelt oder gelacht oder gescherzt. Und ich mache dir auch überhaupt keine Vorwürfe deswegen. Schließlich hatte Lilith sich in deine Gedanken hineingeschlichen und dich kontrolliert. Dich verändert. Und auch wenn ich weiß, dass das jetzt ziemlich blöd klingt, aber eines darfst du nicht vergessen: Ich hatte vorher noch nie einen festen Freund. Also hab ich angenommen, dein Verhalten wäre vielleicht ganz normal dass du einfach das Interesse an mir verlieren würdest.«

»Clary, ich konnte doch nicht«

»Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen ich erzähle dir das einfach nur. In den Phasen, in denen du unter fremdem Einfluss stehst, scheinst du glücklich zu sein. Ich war eigentlich hergekommen, weil ich dich retten wollte.« Clary senkte die Stimme. »Aber ich hab mich allmählich gefragt, wovor ich dich retten wollte. Und warum ich dich in ein Leben zurückholen sollte, in dem du anscheinend furchtbar unglücklich warst.«

»Unglücklich?« Jace schüttelte den Kopf. »Ich hatte Glück, unglaubliches Glück; aber das habe ich damals nicht kapiert.« Ihre Blicke trafen sich. »Ich liebe dich«, erklärte Jace. »Du machst mich glücklicher, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Und jetzt, da ich weiß, wie es sich anfühlt, jemand anderes zu sein sich selbst zu verlieren , jetzt will ich mein Leben zurückhaben. Meine Familie. Dich. Einfach alles.« Seine Augen schimmerten dunkel. »Ich will das alles zurückhaben.« Im nächsten Moment presste er seinen Mund auf Clarys Lippen, öffnete sie, heiß und begierig. Seine Hände packten ihre Taille und krallten sich dann in das Bettlaken links und rechts von Clarys Hüften. Keuchend fuhr er zurück. »Wir dürfen nicht«

»Dann hör auf, mich zu küssen!«, japste Clary. »Warte mal« Sie tauchte unter Jace hindurch und schnappte sich ihr Top. »Ich bin gleich wieder da.« Rasch schob sie sich an ihm vorbei und huschte ins Bad. Nachdem sie die Tür geschlossen und das Licht eingeschaltet hatte, starrte sie sich einen Moment im Spiegel an: Ihre Augen wirkten riesig, ihre Haare waren zerwühlt und ihre Lippen geschwollen vom Küssen. Clary errötete, streifte ihr Oberteil über, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und steckte die Haare schnell zu einem Knoten hoch. Als sie sich davon überzeugt hatte, dass sie nicht länger wie die geschändete Jungfrau auf dem Einband eines Groschenromans aussah, nahm sie sich ein Handtuch wirklich total unromantisch und machte es feucht. Dann kehrte sie ins Zimmer zurück.

Jace saß auf der Bettkante, in Jeans und einem sauberen und offen stehenden Hemd. Mondlicht fiel auf seine wirren Haare. Er sah aus wie eine Engelsstatue. Nur mit dem Unterschied, dass Engel in der Regel nicht blutüberströmt waren.

Clary stellte sich direkt vor ihn. »Okay«, sagte sie, »zieh dein Hemd aus.«

Verwundert hob Jace eine Augenbraue.

»Keine Sorge, ich werd schon nicht über dich herfallen«, stieß Clary ungeduldig hervor. »Ich kann den Anblick deines nackten Oberkörpers durchaus verkraften, ohne gleich in Ohnmacht zu fallen.«

»Bist du sicher?«, hakte Jace nach, streifte aber das Hemd von den Schultern. »Dieser Anblick hat schon bei vielen Frauen zu ernsthaften Verletzungen geführt weil sie rücksichtslos aufeinander rumgetrampelt sind, nur um mir möglichst nahe zu sein.«

»Ja, ja, ist schon gut. Ich seh hier aber sonst niemanden außer mir. Und ich will dir nur das Blut abwischen.«

Gehorsam lehnte Jace sich zurück. Dunkles Blut hatte seinen Brustkorb und seinen Bauch mit krustigen Striemen versehen. Doch als Clary vorsichtig mit den Fingern darüberfuhr, erkannte sie, dass es sich um flache Schnittwunden handelte, die bereits verheilten, dank der Iratze, die Jace sich selbst aufgetragen hatte.

Er wandte ihr das Gesicht zu und schloss die Augen, während Clary seine Haut mit dem feuchten Handtuch behutsam sauber wischte, bis sich das weiße Baumwollgewebe rosa verfärbte. Vorsichtig rieb sie die getrockneten Blutflecken an Jace’ Hals weg, tauchte das Handtuch kurz in das Glas Wasser auf seinem Nachttisch und widmete sich dann seinem Oberkörper.

Jace hatte den Kopf in den Nacken gelegt und beobachtete Clary dabei, wie sie das Handtuch über seine muskulösen Schultern gleiten ließ, über die glatten Konturen seiner Arme und schließlich über seine breite Brust mit den weißen Narben und den schwarzen permanenten Runenmalen. »Clary«, setzte er leise an. Seine Stimme klang ernst.

»Ja?«

»Ich werde mich an das hier nicht erinnern«, sagte er. »Wenn ich mich zurückverwandelt habe wieder unter Sebastians Kontrolle stehe, werde ich mich nicht daran erinnern können, dass ich kurzfristig wieder ich selbst gewesen bin. Ich werde mich nicht daran erinnern, dass ich mit dir hier zusammen gewesen bin oder mit dir gesprochen habe. Trotzdem, erzähl mir bitte Ist mit meiner Familie alles in Ordnung? Geht es ihnen gut? Wissen sie

»Was mit dir passiert ist? Teilweise. Und nein, es geht ihnen nicht gut.«

Jace schloss die Augen.

»Natürlich könnte ich dir etwas vorlügen«, fuhr Clary fort. »Aber ich finde, du solltest es erfahren. Deine Familie liebt dich wahnsinnig und will dich unbedingt zurückhaben.«

»Aber nicht so«, murmelte er.

Vorsichtig berührte Clary Jace’ Schulter. »Willst du mir erzählen, was passiert ist? Woher du diese Verletzungen hast?«

Jace holte tief Luft. Die Narbe auf seiner Brust zeichnete sich deutlich und dunkel von seiner Haut ab. »Ich habe jemanden getötet.«

Seine Worte trafen Clary wie der Rückstoß einer abgefeuerten Waffe. Das blutige Handtuch fiel ihr aus der Hand, und als sie sich bückte und es aufhob, starrte Jace nur stumm auf sie hinab. Im Licht des Monds wirkten seine Gesichtszüge elegant, kantig und traurig. »Wen?«, fragte Clary leise.

»Du kennst sie«, sagte Jace und jedes Wort schien wie ein Gewicht auf seinen Schultern zu lasten. »Die Frau, bei der du zusammen mit Sebastian warst. Die Eiserne Schwester. Magdalena.« Dann drehte er sich von Clary weg und tastete hinter sich nach einem Gegenstand, der zwischen den zerwühlten Laken seines Betts versteckt war. Die Muskeln unter seiner Haut bewegten sich, als er das schimmernde Objekt zu fassen bekam und sich wieder Clary zuwandte.

Jace hielt einen durchsichtigen Kelch in den Händen eine genaue Kopie des Engelskelchs, nur mit dem Unterschied, dass er nicht mit Gold überzogen war, sondern ausschließlich aus silberweißem Adamant bestand.

»Sebastian hat mich hat ihn heute losgeschickt, um das hier abzuholen«, erklärte Jace. »Und er hat mir außerdem den Befehl erteilt, sie umzubringen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte etwas rein Geschäftliches erwartet keine Gewalt. Sie dachte, wir stünden auf derselben Seite. Ich hab mir den Kelch geben lassen und dann hab ich meinen Dolch gezückt und« Jace holte gequält Luft, als würde die Erinnerung ihm Schmerzen bereiten. »Ich habe auf sie eingestochen. Eigentlich wollte ich sie direkt ins Herz treffen, aber sie hat sich abgewandt, da hab ich es um ein paar Zentimeter verfehlt. Daraufhin ist sie nach hinten getaumelt, hat nach ihrem Arbeitstisch getastet, auf dem noch Adamantpulver lag, und es mir ins Gesicht geworfen. Ich nahm an, sie wollte mich damit blenden, und hab blitzschnell den Kopf zur Seite gedreht. Als ich wieder zu ihr schaute, hielt sie einen Pugio in der Hand. Irgendwie hab ich instinktiv gewusst, worum es sich dabei handelte das Licht der Waffe hat mir fast die Augen versengt. Mit letzter Kraft hat Magdalena mir den Dolch über den Oberkörper gezogen es war ein stechender Schmerz in der Brust und dann verglühte die Klinge.« Jace schaute an sich herab und stieß ein freudloses Lachen aus. »Das Verrückte daran ist: Wenn ich meine Kampfmontur getragen hätte, wäre all das überhaupt nicht passiert. Aber ich hatte sie nicht angelegt, weil ich dachte, es wäre nicht nötig. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass die Eiserne Schwester mich verletzen könnte. Aber der Pugio verbrannte das Runenmal Liliths Mal und plötzlich war ich wieder ich selbst. Ich stand über diese tote Frau gebeugt, einen blutigen Dolch in der einen Hand und diesen Kelch in der anderen.«

»Ich versteh das nicht. Warum hat Sebastian dir befohlen, sie zu töten? Sie war ja bereit, dir beziehungsweise Sebastian den Kelch auszuhändigen. Das hat sie doch gesagt«

Kurzatmig holte Jace Luft. »Erinnerst du dich noch daran, was Sebastian über diese astronomische Uhr auf dem Prager Marktplatz erzählt hat?«

»Ja, der Legende nach hat der König dem Uhrmacher nach Fertigstellung der Uhr beide Augen ausstechen lassen, damit er nie wieder etwas derartig Schönes herstellen konnte«, sagte Clary. »Aber ich begreif nicht, was das damit zu tun hat«

»Sebastian wollte Magdalenas Tod, damit sie nie wieder etwas Vergleichbares anfertigen konnte«, erläuterte Jace. »Und damit sie nichts ausplaudern konnte.«

»Was ausplaudern?« Clary nahm Jace’ Kinn und drehte sein Gesicht so, dass er ihr in die Augen schaute. »Jace, was hat Sebastian wirklich vor? Diese Geschichte, die er in der Waffenkammer erzählt hat dass er Dämonen herbeilocken wolle, um sie zu vernichten«

»Sebastian will tatsächlich Dämonen heraufbeschwören«, bestätigte Jace grimmig. »Vor allem einen Dämon: Lilith.«

»Aber Lilith ist tot. Simon hat sie getötet.«

»Dämonenfürsten sterben nicht. Jedenfalls nicht richtig. Sie besiedeln den Raum zwischen den Welten, die Große Leere. Simon hat lediglich Liliths Macht zerschlagen und sie in ihren Einzelteilen ins Nichts zurückgeschickt, aus dem sie gekommen ist. Aber dort fügt sie sich langsam wieder zusammen und wird wiederauferstehen. Normalerweise würde dieser Vorgang Jahrhunderte dauern, aber nicht, wenn Sebastian ihr hilft.«

Ein eisiges Gefühl breitete sich in Clarys Magengrube aus. »Ihr wie hilft?«

»Indem er sie in diese Welt zurückruft. Er will Liliths und sein eigenes Blut in dem Kelch mischen und damit eine Armee Dunkler Nephilim erschaffen. Sebastian will ein zweiter Jonathan Shadowhunter werden aber auf Seiten der Dämonen, nicht auf Seiten der Engel.«

»Eine Armee Dunkler Nephilim? Ihr zwei seid zwar nicht zu unterschätzen, aber eine Armee stellt ihr noch lange nicht dar.«

»Ich weiß von etwa vierzig Nephilim, die entweder Valentin treu ergeben waren oder das derzeitige Vorgehen des Rats verabscheuen und sich gern anhören wollen, was Sebastian ihnen zu sagen hat. Er steht schon eine ganze Weile in engem Kontakt mit ihnen. Wenn Sebastian Lilith heraufbeschwört, werden sie zur Stelle sein.« Jace holte tief Luft. »Und danach? Mit Liliths Macht im Rücken? Wer weiß, wer sich ihm noch alles anschließen wird Sebastian will einen Krieg. Er ist davon überzeugt, dass er ihn gewinnen wird, und ich bin mir nicht sicher, ob er damit nicht recht hat. Denn mit jedem Dunklen Nephilim, den er erschafft, wächst seine Macht. Wenn man dazu noch die Treue-Eide nimmt, die die Dämonen ihm gegenüber geschworen haben, dann weiß ich nicht, ob der Rat überhaupt in der Lage ist, sich ihm zu widersetzen.«

Mutlos ließ Clary die Hand sinken. »Sebastian hat sich kein bisschen geändert. Dein Blut hat keinerlei Veränderung bei ihm bewirkt. Er ist genau so, wie er schon immer gewesen ist.« Rasch schaute sie wieder zu Jace hoch. »Aber du du hast mich ebenfalls belogen.«

»Er hat dich belogen.«

Clarys Gedanken überschlugen sich. »Ich weiß. Ich weiß, der andere Jace das bist nicht du«

»Er glaubt, es wäre zu deinem Besten und du würdest dadurch letztendlich glücklicher werden. Aber er hat dich tatsächlich belogen. Ich würde das niemals tun.«

»Der Pugio«, setzte Clary nachdenklich an. »Wenn diese Waffe dich verletzen kann, ohne dass Sebastian es bemerkt, könnte der Dolch dann auch ihn töten, ohne dir Schaden zuzufügen?«

Jace schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Wenn ich einen Pugio hätte, würde ich es vielleicht ausprobieren, aber ich glaube nicht, dass das funktionieren würde. Nein, unsere Lebensenergien sind miteinander verknüpft. Eine Verletzung ist eine Sache, aber wenn er stirbt« Jace’ Stimme bekam einen harten Ton. »Du kennst den einfachsten Weg, um das alles hier ganz schnell zu beenden, oder? Du musst mir nur einen Dolch ins Herz rammen. Ich hab mich sowieso schon gefragt, warum du das nicht längst getan hast, während ich geschlafen hab.«

»Wärst du denn dazu in der Lage? Ich meine, wenn es dabei um mich ginge?« Clarys Stimme zitterte. »Ich hab immer geglaubt, dass es einen Weg gibt, das alles hier zum Guten zu wenden. Und davon bin ich auch jetzt noch überzeugt. Gib mir deine Stele und ich erschaffe uns ein Portal.«

»Du kannst hier drinnen kein Portal erschaffen. Das geht nicht. Diese Wohnung hat nur einen einzigen Ein- beziehungsweise Ausgang, und zwar unten an der Wand, neben der Küche. Das ist auch der einzige Ort, von dem aus man diese Wohnung fortbewegen kann.«

»Kannst du uns nicht in die Stadt der Stille transportieren? Wenn wir erst dort sind, können die Stillen Brüder nach einer Möglichkeit suchen, dich von Sebastian zu trennen. Und wir berichten dem Rat von seinem Plan, damit entsprechende Vorkehrungen getroffen werden«

»Natürlich könnte ich uns zu einem der Zugänge zur Stillen Stadt transportieren«, erklärte Jace. »Und das werde ich auch tun. Aber über eine Sache musst du dir im Klaren sein, Clary: Wenn ich den Ratsmitgliedern alles erzählt habe, was ich weiß, werden sie mich töten.«

»Dich töten? Nein, das würden sie nicht tun«

»Clary«, setzte Jace in sanftem Ton an. »Als guter Schattenjäger bin ich dazu verpflichtet, freiwillig zu sterben, um Sebastian an seinem Vorhaben zu hindern. Ja, als guter Schattenjäger würde ich das tun.«

»Aber das Ganze ist doch nicht deine Schuld«, protestierte Clary mit erhobener Stimme und zwang sich dann hastig zu einem gedämpften Ton, damit Sebastian sie im Erdgeschoss nicht hören konnte. »Für das, was man dir angetan hat, kannst du doch überhaupt nichts. Du bist ja auch nur ein Opfer in dieser ganzen Geschichte. Das bist nicht du, Jace das ist jemand anderes, der dein Gesicht trägt. Man darf dich dafür doch nicht bestrafen«

»Hier geht es nicht um Bestrafung. Es geht darum, eine praktische Lösung zu finden: Töte mich und Sebastian wird sterben. Das Ganze ist nichts anderes als eine Schlacht, in der ich mich für die anderen Nephilim aufopfere. Es ist so einfach zu sagen, ich hab mir das Ganze nicht ausgesucht, es ist einfach geschehen. Aber der Jace, der ich im Moment bin nämlich ich selbst , wird schneller wieder verschwunden sein, als uns lieb ist, Clary. Und ich weiß, dass das jetzt keinen Sinn ergibt, aber ich kann mich an alles erinnern an alles, was passiert ist: Unser Spaziergang durch Venedig, jene Nacht in dem Prager Club und die Stunden, die ich danach mit dir zusammen in diesem Bett geschlafen habe. Verstehst du denn nicht? Das ist genau das, was ich mir immer gewünscht habe: Ich wollte auf diese Weise mit dir leben, auf diese Weise an deiner Seite sein. Aber wie soll ich damit umgehen, dass mir das Schlimmste, was mir je widerfahren ist, genau das gibt, was ich immer wollte? Vielleicht kann Jace Lightwood ja erkennen, was daran falsch und verdreht ist, aber Jace Wayland, Valentins Sohn liebt dieses Leben.« Er schaute sie mit großen goldenen Augen an. Clary fühlte sich an Raziel erinnert, an seinen Blick, der alle Weisheit und alles Leid dieser Welt zu umfassen schien. »Und das ist der Grund, warum ich jetzt gehen muss«, erklärte Jace. »Bevor die Wunde verheilt ist und ich wieder er bin.«

»Gehen? Wohin?«

»Zur Stadt der Stille. Ich muss mich den Stillen Brüdern ausliefern und diesen Kelch ebenfalls.«