13 Der Knochenkronleuchter

Als der Schlangenkopf auf Clary hinabschoss, jagte ein grelles Licht an ihr vorbei, das sie beinahe geblendet hätte: ein Seraphschwert, dessen schimmernde Klinge das Haupt des Dämons mit einem Schlag vom Rumpf abtrennte. Der Kopf schrumpfte zusammen und versprühte dabei Gift und Wundsekret. Obwohl Clary sich rasch zur Seite rollte, konnte sie nicht verhindern, dass etwas von der giftigen Substanz auf sie herabregnete. Einen Sekundenbruchteil später löste sich der Dämon in Luft auf, noch bevor seine beiden Hälften auf dem Boden auftrafen. Clary unterdrückte einen Schmerzensschrei und versuchte, sich aufzurappeln, als auf einmal eine ausgestreckte Hand in ihrem Sichtfeld auftauchte ein Angebot, ihr aufzuhelfen. Jace, dachte sie sofort, doch als sie aufschaute, erkannte sie, dass ihr Bruder sich über sie beugte.

»Komm schon«, forderte Sebastian sie auf, die Hand noch immer ausgestreckt. »Das war nicht der einzige Dämon, hier sind noch mehr.«

Clary nahm seine Hand und ließ sich von ihm auf die Beine ziehen. Auch Sebastian war mit Dämonenblut beschmiert eine grünschwarze Substanz, die bei Kontakt aufflammte und Brandlöcher in seine Kleidung gefressen hatte. Während Clary ihn anstarrte, erhob sich hinter ihm plötzlich ein weiteres dieser schlangenköpfigen Wesen ein Elapid-Dämon, wie ihr schlagartig einfiel, als sie sich an die Abbildung in einem Buch erinnerte. Der Dämon spreizte den Nackenschild wie eine Kobra. Ohne lange nachzudenken, packte Clary Sebastian an der Schulter und stieß ihn kräftig aus dem Weg; er taumelte ein paar Schritte, während der Schlangenkopf herabfuhr und Clary ihm auf der Hälfte der Strecke entgegenkam, den Dolch, den sie aus ihrem Gürtel gerissen hatte, fest in der Hand.

Während sie dem Dämon die Waffe in den Hals rammte, drehte sie sich gleichzeitig zur Seite, um seinen Fangzähnen auszuweichen. Sein bösartiges Zischen verwandelte sich in ein Gurgeln, als die Klinge tief in das Gewebe eindrang und Clary den Dolch nach unten zog und den Dämon aufschlitzte, als wollte sie einen Fisch ausweiden. Brennendes Dämonenblut schoss in einem heißen Schwall über ihre Hand. Clary schrie auf, hielt den Dolch aber weiterhin fest, während der Elapid aus der Welt verschwand.

Sofort wirbelte sie herum. Sebastian kämpfte gerade mit einem weiteren Elapid an der Ladentür und Jace wehrte den Angriff von zwei Dämonen in der Nähe eines Regals mit antikem Porzellan ab. Keramikscherben lagen über den ganzen Boden verstreut. Clary holte aus und warf den Dolch, so wie Jace es ihr beigebracht hatte. Die Waffe flog durch die Luft und bohrte sich in die Flanke eines der beiden Elapid-Dämonen, der daraufhin aufkreischte und von Jace fortgeschleudert wurde. Jace drehte sich blitzschnell um, sah Clary und zwinkerte ihr kurz zu, ehe er dem verbliebenen Dämon den Kopf abtrennte. Der Körper des Elapid fiel in sich zusammen und verschwand dann, während Jace, über und über mit schwarzem Blut bespritzt, grinsend zuschaute.

Im nächsten Moment spürte Clary ein prickelndes, elektrisierendes Hochgefühl in sich aufwallen. Jace und auch Isabelle hatten ihr schon vom Kampfesrausch erzählt, aber bis jetzt hatte sie dieses Gefühl nie selbst erlebt. Doch nun wusste sie, wovon die beiden gesprochen hatten: Sie fühlte sich allmächtig, ihre Adern vibrierten und von ihrer Wirbelsäule breitete sich ein Gefühl der Kraft aus, das ihren ganzen Körper erfasste. Um sie herum schien sich alles nur noch in Zeitlupe abzuspielen. Clary sah, wie der verletzte Elapid-Dämon sich aufrappelte und dann auf seinen mehrgliedrigen Insektenbeinen mit gefletschten Fangzähnen auf sie zustürmte. Leichtfüßig trat Clary einen Schritt zurück, riss die antike Fahne aus der Wandhalterung und rammte dem Dämon das spitze Ende in den weit aufgesperrten Rachen. Die Stange bohrte sich von innen durch die Schädeldecke der Kreatur und einen Moment später verschwand der Dämon, zusammen mit der Flagge.

Clary lachte laut auf.

Sebastian, der gerade einen weiteren Dämon erledigt hatte, wirbelte bei ihrem Gelächter herum und starrte in Clarys Richtung. Doch dann weiteten sich seine Augen und er brüllte: »Clary! Halt ihn auf!«

Clary drehte sich pfeilschnell um und entdeckte Mirek, der am Schloss einer Tür im hinteren Bereich des Ladens herumfummelte. Clary stürmte los, zückte gleichzeitig die Seraphklinge aus ihrem Gürtel und rief: »Nakir!« Dann sprang sie mit einem Satz auf die Ladentheke und warf sich auf den Dämon, während ihre Waffe grell aufblitzte. Einen Sekundenbruchteil später landete sie auf dem Vetis-Dämon und riss ihn zu Boden. Einer seiner aalartigen Arme schnappte nach ihr, doch Clary trennte ihn mit einer raschen Bewegung vom Rest des Körpers ab. Schwarzes Blut spritzte in alle Richtungen.

Der Dämon sah sie aus roten, angsterfüllten Augen an. »Warte«, keuchte er pfeifend. »Ich kann dir alles geben, was du dir nur wünschst«

»Ich habe alles, was ich mir wünsche«, wisperte Clary und stieß die Seraphklinge herab. Die Waffe bohrte sich in die Brust des Dämons und Mirek verschwand mit einem dumpfen Aufschrei, woraufhin Clary mit den Knien auf den Teppichboden aufschlug.

Im nächsten Moment tauchten zwei Köpfe über der Ladentheke auf und starrten auf sie hinab ein goldblonder Schopf und ein silberblonder. Jace und Sebastian. Jace schaute sie mit großen Augen an, während Sebastian bleich geworden war. »Beim Erzengel, Clary«, keuchte er. »Der Adamant«

»Oh, du meinst dieses Zeug, das du unbedingt haben wolltest? Hier ist es.« Der Adamant war ein Stück unter die Theke gerollt; Clary angelte ihn hervor und hielt ihn hoch ein Brocken leuchtender, silberheller Materie, mit blutigen Fingerabdrücken von ihren Händen.

Sebastian stieß vor Erleichterung einen Fluch aus und schnappte sich den Adamant, während Jace in einer einzigen, fließenden Bewegung über die Theke sprang und direkt neben Clary landete. Er kniete sich auf den Boden, zog sie an sich und fuhr ihr mit den Händen über Arme und Schultern, während er sie besorgt anblickte.

Clary nahm seine Handgelenke und hielt sie fest. »Mir geht’s gut«, beruhigte sie ihn. Ihr Herz raste und ihr Blut pumpte noch immer unter Hochdruck durch ihre Adern. Jace öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Clary beugte sich vor und umfasste sein Gesicht mit beiden Händen, sodass sich ihre Nägel leicht in seine Wangen gruben. »Ich fühl mich toll.« Aufmerksam betrachtete sie Jace, der vollkommen zerzaust und verschwitzt und blutüberströmt war, und verspürte den brennenden Wunsch, ihn zu küssen. Sie wollte

»Das reicht, ihr beiden«, sagte Sebastian in dem Moment.

Clary löste sich von Jace und schaute zu ihrem Bruder.

Er blickte grinsend auf sie beide herab und ließ den Adamant träge in einer Hand hin und her rollen. »Morgen setzen wir ihn ein«, verkündete er und deutete mit dem Kopf auf den hellen Gesteinsbrocken. »Aber heute Abend nachdem wir uns ein wenig frisch gemacht haben heute Abend werden wir feiern.«

Simon tappte dicht gefolgt von Isabelle barfuß ins Wohnzimmer, wo die beiden ein überraschender Anblick erwartete: Der Kreis und das Pentagramm in der Raummitte leuchteten wie Quecksilber. Aus dem Zentrum stieg Rauch auf, eine hohe schwarzrote Säule mit einer weißen Spitze. Der ganze Raum roch verbrannt. Magnus und Alec standen außerhalb des Kreises, genau wie Jordan und Maia, die, den Jacken und Mützen nach zu urteilen, gerade erst angekommen waren.

»Was ist los?«, fragte Isabelle und reckte gähnend ihre langen Glieder. »Warum schaut ihr denn alle den Pentagramm-Sender?«

»Warte ’nen Moment, dann wirst du schon sehen«, verkündete Alec grimmig.

Isabelle zuckte die Achseln und stellte sich zu den anderen an den Rand des Kreises. Während sie alle auf den Rauch starrten, begann die Säule, um ihre eigene Achse zu rotieren, schneller und immer schneller. Sie wurde zu einem Mini-Tornado, der durch das Zentrum des Pentagramms wirbelte und dabei Brandflecken hinterließ, die sich zu Worten zusammenfügten:

HABT IHR EINE ENTSCHEIDUNG GETROFFEN?

»Wow«, meinte Simon. »Geht das schon den ganzen Vormittag so?«

Genervt hob Magnus die Hände. Er trug eine enge Lederhose und ein T-Shirt mit einem stilisierten, metallisch schillernden Blitz auf der Brust. »Und die ganze Nacht!«, antwortete er.

»Wird wieder und wieder dieselbe Frage gestellt?«

»Nein, ganz unterschiedliche Dinge. Manchmal auch Flüche. Azazel scheint sich prächtig zu amüsieren.«

»Kann er uns hören?«, fragte Jordan, neigte den Kopf leicht zur Seite und rief: »He, du da, Dämon!«

Die brennenden Buchstaben bildeten zwei neue Worte: HALLO, WERWOLF.

Jordan trat einen Schritt zurück und warf Magnus einen Blick zu. »Ist das normal?«

Magnus wirkte sehr unglücklich. »Das ist definitiv nicht normal. Ich hab zwar noch nie einen so mächtigen Dämon wie Azazel heraufbeschworen, aber trotzdem Inzwischen bin ich sämtliche einschlägigen Werke durchgegangen, habe aber nirgends auch nur einen Hinweis gefunden, dass so was schon mal passiert wäre. Das Ganze gerät außer Kontrolle.«

»Azazel muss zurückgeschickt werden«, sagte Alec. »Für immer.« Langsam schüttelte er den Kopf. »Vielleicht hatte Jocelyn ja doch recht. Das Heraufbeschwören von Dämonen hat noch nie etwas Positives bewirkt.«

»Entschuldige mal: Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das Ergebnis einer Dämonenbeschwörung bin«, bemerkte Magnus spitz. »Alec, ich habe das schon Hunderte von Malen durchexerziert. Ich weiß nicht, warum es dieses Mal anders sein sollte.«

»Azazel kann doch nicht entkommen, oder?«, fragte Isabelle. »Aus dem Pentagramm, meine ich.«

»Nein«, sagte Magnus, »aber eigentlich sollte er auch nicht in der Lage sein, irgendetwas von den anderen Dingen zu tun, die er hier treibt.«

Neugierig beugte Jordan sich vor, die Hände auf die Knie gestützt. »Und, wie ist es so in der Hölle, Alter?«, rief er. »Heiß oder kalt? Ich hab schon von beidem gehört.«

Es kam keine Antwort.

»Na klasse, Jordan«, schnaubte Maia. »Ich glaub, jetzt hast du ihn verärgert.«

Jordan stupste mit dem Finger gegen den Rand des Pentagramms. »Kann er in die Zukunft sehen? Also, Dämon, wird unsere Band ganz groß rauskommen?«

»Azazel ist ein Höllendämon, keine wahrsagende Billardkugel, Jordan«, entgegnete Magnus gereizt. »Komm dem Rand des Pentagramms nicht zu nah. Wenn man einen Dämon heraufbeschwört und in einem Pentagramm bindet, kann er sein Gefängnis nicht verlassen und keinen Schaden anrichten. Aber sobald man das Pentagramm betritt, begibt man sich in den Machtbereich des Dämons«

In dem Augenblick begann die Rauchsäule, sich zu verdichten. Magnus schaute ruckartig hoch und Alec sprang zurück. Die wirbelnden Rauchschwaden bildeten Azazels Umrisse, zuerst seinen Anzug ein eleganter Nadelstreifenanzug mit einem feinen grausilbernen Muster. Dann schien er die einzelnen Konturen der Reihe nach auszufüllen, bis ganz zuletzt seine flammenden Augen aufflackerten. Mit sichtlichem Vergnügen schaute er in die Runde. »Wie ich sehe, sind alle versammelt«, sagte er. »Und, habt ihr eine Entscheidung getroffen?«

»Ja, haben wir«, erklärte Magnus. »Ich denke nicht, dass wir deine Dienste noch länger benötigen. Trotzdem vielen Dank.«

Einen Moment lang herrschte Stille.

»Du kannst jetzt gehen.« Magnus hob die Hand und winkte zum Abschied mit den Fingern. »Danke und auf Wiedersehen.«

»Das denke ich nicht«, erwiderte Azazel freundlich, zückte ein Taschentuch und polierte seine Fingernägel. »Ich glaube, ich bleibe noch ein Weilchen. Mir gefällt es hier.«

Magnus seufzte und raunte Alec etwas zu, woraufhin der junge Schattenjäger zum Tisch ging und mit einem Buch zurückkehrte, das er dem Hexenmeister überreichte. Magnus schlug das Buch auf und begann zu psalmodieren: »Böser Geist, weiche hinfort! Kehre zurück in dein Reich aus Rauch und Feuer und Asche und«

»Das funktioniert bei mir nicht«, unterbrach ihn der Dämon gelangweilt. »Von mir aus kannst du es gern weiter versuchen. Aber ich werde danach immer noch hier sein.«

Magnus musterte ihn mit wütend funkelnden Augen. »Du kannst uns nicht zu einer Vereinbarung mit dir zwingen.«

»Aber ich kann es versuchen. Es ist ja nicht so, als ob ich irgendetwas Besseres zu tun hätte«, entgegnete Azazel, verstummte aber plötzlich, als eine kleine, vertraute Gestalt durch den Raum flitzte: Miau Tse-tung, scheinbar einer Maus dicht auf den Fersen.

Während alle Anwesenden überrascht und entsetzt zusahen, zischte der kleine Kater über den Rand des Pentagramms und Simon, der eher einem Instinkt als seinem Verstand folgte, sprang ihm hinterher und schnappte sich das Tier.

»Simon!«

Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass der Aufschrei von Isabelle stammte, die reflexartig reagiert hatte. Langsam wandte er sich ihr zu. Sie hatte eine Hand vor den Mund geschlagen und schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Auch die anderen starrten ihn sprachlos an. Izzy war vor Entsetzen kreidebleich im Gesicht und selbst Magnus schien ein wenig beunruhigt.

Wenn man einen Dämon heraufbeschwört und in einem Pentagramm bindet, kann er sein Gefängnis nicht verlassen und keinen Schaden anrichten. Aber sobald man das Pentagramm betritt, begibt man sich in den Machtbereich des Dämons.

Simon spürte, wie ihm jemand auf die Schulter tippte. Während er sich umdrehte, setzte er Miau Tse-tung ab, woraufhin der kleine Kater aus dem Pentagramm hinausschoss und quer durch den Raum flitzte, um sich unter einem Sofa zu verstecken. Langsam schaute Simon hoch. Azazels wuchtiges Gesicht ragte drohend über ihm auf. Aus dieser Nähe konnte Simon die Furchen in der Haut des Dämons erkennen, wie Risse in einem Marmorblock, und die Flammen in Azazels bodenlosen Augen. Als der Dämon zu grinsen begann, sah Simon, dass jeder seiner Zähne mit einer Nadelspitze aus Eisen bewehrt war.

Höhnisch atmete Azazel aus. Eine Wolke aus heißem Schwefel hüllte Simon vollständig ein und er hörte die anderen nur noch wie aus großer Ferne Magnus, dessen Stimme sich psalmodierend hob und senkte, und Isabelle, die irgendetwas schrie, als sich die Hände des Dämons um seine Arme legten. Azazel hob Simon in die Höhe, bis seine Füße in der Luft baumelten und schleuderte ihn dann von sich.

Zumindest versuchte er das. Aber seine Hände glitten von Simon ab, sodass dieser zu Boden fiel, während Azazel nach hinten stürzte und auf eine unsichtbare Wand zu treffen schien. Im nächsten Moment ertönte ein Dröhnen wie von berstendem Gestein und Azazel fiel auf die Knie. Eine Sekunde später rappelte er sich stöhnend wieder auf, stieß ein lautes Gebrüll aus und marschierte mit gefletschten Zähnen auf Simon zu dem jetzt erst bewusst wurde, was da gerade geschehen war, und daraufhin mit zitternder Hand seine Haare aus der Stirn schob.

Abrupt hielt Azazel inne. Seine Hände mit den nagelspitzen Krallen krümmten sich nach innen. »Wanderer«, stieß er hervor, »bist du es wirklich?«

Wie erstarrt stand Simon da. Magnus psalmodierte noch immer leise im Hintergrund, doch alle anderen schwiegen fassungslos. Simon traute sich nicht, seinen Freunden ins Gesicht zu schauen. Clary und Jace hatten die Wirkung des Mals, seine vernichtende Kraft, bereits mit eigenen Augen gesehen, überlegte er. Aber von den anderen hatte es noch keiner miterlebt kein Wunder, dass sie sprachlos waren.

»Nein«, knurrte Azazel und kniff die flammenden Augen zu Schlitzen. »Nein, du bist zu jung und die Welt zu alt. Aber wer würde es wagen, einen Vampir mit dem Zeichen des Himmels zu versehen? Und warum?«

Simon ließ seine Hand sinken. »Fass mich noch mal an, dann wirst du es herausfinden«, sagte er.

Der Dämon brachte ein grollendes Geräusch hervor eine Mischung aus Gelächter und Abscheu. »Ich verzichte«, erklärte er. »Wenn du dich darin versucht hast, den Willen des Himmels zu beugen, dann ist mir nicht einmal meine eigene Freiheit es wert, mein Schicksal mit deinem zu verknüpfen.« Langsam schaute er sich im Raum um. »Ihr seid alle Narren. Viel Glück, ihr Menschenkinder ihr werdet es dringend brauchen.« Und damit verschwand er in einer Stichflamme und ließ nur eine schwarze Rauchwolke und beißenden Schwefelgestank zurück.

»Halt still«, sagte Jace, zückte den Herondale-Dolch und schlitzte Clarys Bluse vorsichtig vom Kragen bis zum Saum auf. Dann nahm er die beiden Stoffhälften und schob sie behutsam von ihren Schultern, sodass sie nur mit Jeans und Trägertop auf dem Rand des Waschbeckens saß. Ihre Hose und ihre Jacke hatten den Großteil des Gifts und Dämonensekrets abbekommen, aber die empfindliche Seidenbluse war trotzdem ruiniert. Jace ließ die Stoffreste ins Waschbecken fallen, wo sie zischend im Wasser versanken. Dann nahm er seine Stele und trug die Umrisse einer Heilrune auf Clarys Schulter auf.

Clary schloss die Augen und spürte, wie die Iratze auf ihrer Haut brannte. Erleichtert bemerkte sie, wie der Schmerz nachließ und sich ein Gefühl der Entspannung über ihre Arme und ihren Rücken ausbreitete. Die Heilrune besaß eine ähnliche Wirkung wie Schmerzmittel allerdings ohne die damit verbundene Benommenheit.

»Besser?«, fragte Jace.

Nickend öffnete Clary die Augen. »Viel besser.« Die Iratze konnte zwar gegen Verbrennungen durch Dämonengift nicht viel ausrichten, aber diese verheilten auf Schattenjägerhaut ohnehin recht schnell. Genau genommen schmerzten die verbrannten Stellen kaum, und Clary, durch deren Adern immer noch das Adrenalin des Kampfesrauschs jagte, nahm sie fast gar nicht wahr. »Jetzt du?«, fragte sie.

Jace grinste und hielt ihr die Stele entgegen. Sie befanden sich im Hinterzimmer des Trödelladens. Sebastian war nach vorne gegangen, um abzuschließen und die Lichter auszuschalten, damit sie keine unerwünschten irdischen Besucher anlockten. Er war ganz versessen darauf, endlich »zu feiern«, sich aber noch nicht schlüssig gewesen, ob sie zuerst zur Wohnung zurückkehren und sich umziehen oder direkt zum Nachtclub im Prager Stadtteil Malá Strana aufbrechen sollten.

Zwar verurteilte die leise Stimme in Clary allein die Vorstellung, in dieser Situation überhaupt etwas zu feiern, aber sie wurde vom lauten Rauschen ihres eigenen Blutes übertönt. Es war doch erstaunlich, dass ausgerechnet der Kampf an Sebastians Seite den Schalter tief in ihrem Inneren umgelegt hatte, der offenbar ihre Schattenjägerinstinkte aktivierte, überlegte Clary. Am liebsten wäre sie jetzt katzengleich auf hohe Gebäude gesprungen, hätte hundert Salti hintereinander vollführt und sich von Jace beibringen lassen, wie man Seraphklingen scherenartig durch die Luft sausen ließ. Stattdessen nahm sie die Stele entgegen und forderte ihn auf: »Dann zieh mal dein Hemd aus.«

Rasch zog er es über den Kopf und warf es beiseite und Clary versuchte, nicht darauf zu reagieren. Jace hatte zwar eine lange feuerrote Schnittwunde an der Seite und Brandblasen vom Dämonenblut auf dem Schlüsselbein und der rechten Schulter, aber er war trotzdem der schönste Mann, den Clary je gesehen hatte: blassgoldene Haut, breite Schultern, eine schmale Taille und Hüften und jene feine Linie goldener Härchen, die von seinem Nabel bis zum Bund seiner Jeans verlief. Mühsam wandte sie den Blick ab, platzierte die Stele auf seiner Schulter und trug ihm seine wahrscheinlich millionste Heilrune auf.

»Okay?«, fragte sie, als sie ihre Aufgabe beendet hatte.

»Mmm-hmm.« Jace beugte sich vor und Clary konnte seinen Geruch wahrnehmen Blut und Holzkohle, Schweiß und der Duft der billigen Seife, die sie am Rand des Waschbeckens gefunden hatten. »Das hat mir gefallen«, sagte Jace. »Dir nicht auch? Gemeinsam Seite an Seite zu kämpfen?«

»Es war ziemlich aufregend.«

Jace stand bereits zwischen ihren Beinen; er rückte nun noch näher und hakte seine Finger in den Bund von Clarys Jeans.

Zitternd griffen ihre Hände nach seinen Schultern und dabei sah sie den goldenen Ring an ihrem Finger aufblitzen. Der Anblick ernüchterte Clary ein wenig. Lass dich nicht ablenken, ermahnte sie sich. Verlier dich nicht in diesen Gefühlen. Das hier ist nicht Jace ist nicht Jace ist nicht Jace

Seine Lippen streiften über ihren Mund. »Ich finde, das war unglaublich. Du warst unglaublich.«

»Jace«, wisperte Clary und dann hämmerte jemand gegen die Tür. Überrascht ließ Jace von Clary ab, wodurch sie nach hinten rutschte und dabei gegen den Hebel des Wasserhahns stieß. Der öffnete sich sofort und bespritzte sie beide mit kaltem Wasser. Überrascht quietschte Clary auf und versuchte verzweifelt, das Wasser abzustellen; Jace dagegen lachte nur schallend, drehte sich auf dem Absatz um und riss die Tür auf.

Natürlich stand Sebastian davor. Er sah erstaunlich sauber aus, für das, was sie gerade durchgemacht hatten. Die blutverschmierte Lederjacke hatte er gegen einen alten Armeemantel getauscht, der ihm zusammen mit seinem T-Shirt einen gewissen Secondhand-Schick verlieh. Er hielt etwas Schwarzes, Schimmerndes in den Händen. Verwundert hob er eine Augenbraue. »Gibt es einen Grund, warum du meine Schwester gerade ins Waschbecken geworfen hast?«, fragte er.

»Meine Ausstrahlung hat sie förmlich umgehauen«, erwiderte Jace, bückte sich nach seinem Hemd und streifte es wieder über. Genau wie bei Sebastian hatte seine Jacke den größten Schaden verhindert, allerdings hatte eine Dämonenklaue einen langen Riss in das Hemd gerissen.

»Ich hab dir was zum Anziehen besorgt«, sagte Sebastian und reichte Clary das schwarze, schimmernde Teil, das er in der Hand hielt.

Clary hatte sich inzwischen aus dem Waschbecken gehievt und stand nun wieder mit beiden Füßen auf dem Boden, wobei das Wasser von ihr herab auf die Fliesen tropfte.

»Ist ein Original. Und müsste ungefähr deine Größe haben«, ergänzte Sebastian.

Verblüfft gab Clary Jace die Stele zurück und nahm das Kleidungsstück entgegen. Es handelte sich um ein Kleid ein Unterkleid, genau genommen aus glänzend schwarzem Stoff und mit Spitze besetztem Saum. Die perlenbestickten Träger ließen sich verstellen und das Gewebe war so elastisch, dass Sebastian vermutlich recht hatte sehr wahrscheinlich würde es ihr passen. Die Vorstellung, ein Kleid zu tragen, das Sebastian ausgesucht hatte, gefiel Clary zwar nicht, aber andererseits konnte sie wohl kaum in triefnasser Jeans und einem zerrissenen Trägertop in einen Club gehen. »Danke«, sagte sie schließlich und fügte hinzu: »Okay, aber jetzt raus mit euch beiden, während ich mich umziehe.«

Sebastian und Jace verließen den Raum und zogen die Tür hinter sich zu. Clary konnte ihre Stimmen hören, und obwohl sie keine einzelnen Worte verstand, erkannte sie an ihrem Klang, dass die beiden miteinander scherzten. Auf eine freundliche, vertraute Weise. Irgendwie war das seltsam, dachte sie, während sie aus der Jeans und dem Trägertop schlüpfte und das Kleid überzog: Jace, der sich sonst kaum jemandem gegenüber öffnete, lachte und alberte mit Sebastian herum.

Clary drehte sich zum Spiegel und betrachtete sich. Das Schwarz nahm ihrer Haut jegliche Farbe, wodurch ihre Augen größer und dunkler, ihre Haare noch röter und ihre Gliedmaßen länger, schlanker und heller wirkten. Die Stiefel, die sie unter der Jeans getragen hatte, verliehen ihrem Outfit eine taffe Note. Sie war sich nicht sicher, ob man sie wirklich als hübsch bezeichnen würde, aber sie sah definitiv wie jemand aus, mit dem man keine Spielchen treiben sollte. Einen Moment fragte sie sich, ob Isabelle ihr Outfit gefallen würde.

Schließlich öffnete sie die Tür und trat hinaus in den spärlich beleuchteten, hinteren Bereich des Ladens, wo sich der Trödel stapelte, der vorne nicht mehr in die Regale passte. Ein Samtvorhang trennte diesen Abschnitt vom eigentlichen Verkaufsbereich. Jace und Sebastian unterhielten sich auf der anderen Seite des Vorhangs, allerdings konnte Clary sie noch immer nicht richtig verstehen. Langsam zog sie den Vorhang zur Seite und trat einen Schritt vor.

Die Lichter waren ausgeschaltet, obwohl Sebastian offenbar die Metallrollläden vor dem Schaufenster heruntergelassen hatte und das Ladeninnere auf diese Weise vor den Blicken zufälliger Passanten geschützt war. Ihr Bruder inspizierte gerade den Krimskrams in den Regalen, nahm einen Gegenstand nach dem anderen heraus, unterzog ihn einer eingehenden Prüfung und stellte ihn wieder zurück.

Jace bemerkte Clary als Erster. Sie sah, wie seine Augen aufleuchteten, und erinnerte sich wieder an jenen Abend im Institut, wo er sie zum ersten Mal zurechtgemacht gesehen hatte. Damals trug sie etwas von Isabelles Sachen, weil sie zu Magnus’ Party wollten. Und genau wie damals wanderte sein Blick auch jetzt von ihren Stiefeln langsam über ihre Beine, dann über ihre Hüften, Taille und Brust bis hinauf zu ihrem Gesicht. Ein träges Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

»Ich könnte ja darauf hinweisen, dass das kein Kleid, sondern eher Unterwäsche ist«, meinte er, »aber das wäre wohl kaum in meinem Interesse.«

»Muss ich dich daran erinnern, dass du von meiner Schwester redest?«, fragte Sebastian.

»Die meisten Brüder wären höchst erfreut, wenn ein vollendeter Gentleman wie meine Wenigkeit ihre Schwester durch die Stadt eskortieren würde«, erklärte Jace, nahm sich eine Armeejacke aus einem der Regale und streifte sie über.

»Eskortieren?«, wiederholte Clary. »Als Nächstes erzählst du mir wohl, du wärst ein Schurke und Lebemann.«

»Und dann heißt es: ein Duell im Morgengrauen«, meinte Sebastian und marschierte in Richtung des Samtvorhangs. »Bin gleich wieder zurück. Ich muss mir mal das Blut aus den Haaren waschen.«

»Ganz schön pingelig«, rief Jace ihm grinsend nach, schnappte sich dann Clary und zog sie an sich. »Erinnerst du dich noch an den Abend, an dem wir zu Magnus’ Party gegangen sind?«, raunte er mit gesenkter Stimme. »Du bist damals mit Isabelle in die Eingangshalle gekommen und Simon hat fast der Schlag getroffen.«

»Seltsam ich habe gerade an genau dasselbe gedacht.« Clary legte den Kopf in den Nacken und schaute ihn an. »Allerdings kann ich mich nicht erinnern, dass du irgendetwas über mein Outfit gesagt hättest.«

Jace’ Finger schoben sich unter die Träger ihres Kleides und seine Fingerkuppen berührten ihre Haut. »Ich dachte, du würdest mich nicht besonders mögen. Eine detaillierte Beschreibung der Dinge, die ich in dem Moment gern mit dir angestellt hätte noch dazu vor Publikum , wäre bestimmt nicht dazu geeignet gewesen, deine Meinung über mich zu ändern.«

»Du hast gedacht, ich würde dich nicht mögen?«, fragte Clary ungläubig. »Jace, wann hat dich ein Mädchen jemals nicht gemocht?«

Jace zuckte die Achseln. »Zweifellos wimmelt es in den Irrenanstalten der Welt nur so von unglückseligen Frauen, denen es verwehrt blieb, meinem Charme zu erliegen.«

Clary lag eine Frage auf der Zunge eine Frage, die sie Jace schon immer hatte stellen wollen, sich aber nie getraut hatte. Denn welche Rolle spielte es schon, was er vor ihr so alles getrieben hatte?

Es schien, als würde Jace in ihrem Gesicht lesen können, denn seine goldenen Augen nahmen einen weichen Ausdruck an. »Es hat mich nie interessiert, was irgendwelche Mädchen von mir hielten«, erklärte er. »Jedenfalls nicht, bevor ich dich kennengelernt habe.«

Bevor ich dich kennengelernt habe. Clary musste sich räuspern und ihre Stimme zitterte leicht, als sie ansetzte: »Jace, ich hab mich gefragt«

»Euer verbales Vorspiel ist langweilig und nervig«, sagte Sebastian und tauchte mit feuchten, zerzausten Haaren wieder hinter dem Vorhang auf. »Okay, können wir endlich los?«

Errötend trat Clary einen Schritt von Jace zurück, wohingegen dieser vollkommen ungerührt wirkte. »Wir haben doch auf dich gewartet.«

»Sieht so aus, als hättet ihr einen Weg gefunden, euch die schrecklich lange Wartezeit auf angenehme Weise zu vertreiben. So, jetzt kommt endlich. Ich verspreche euch, ihr werdet diesen Club lieben.«

»Meine Kaution werd ich im Leben nicht wiedersehen«, murmelte Magnus missgelaunt. Er hockte auf dem Tisch, umgeben von Pizzaschachteln und Kaffeebechern, und sah zu, wie der Rest des Teams »Die Guten« sich nach Kräften bemühte, die Spuren der Verwüstung zu beseitigen, die Azazels Anwesenheit hinterlassen hatte: die Brandlöcher in den Wänden, das schwarze Schwefelzeug, das von den Leitungen an der Decke tropfte, die Asche und andere, grobkörnige Partikel, die sich in den Boden gefressen hatten. Auf dem Schoß des Hexenmeisters lag Miau Tse-tung und schnurrte zufrieden. Magnus war von den Reinigungsarbeiten befreit, weil er seine Wohnung zur Verfügung gestellt hatte und diese nun ziemlich ruiniert war. Auch Simon brauchte sich nicht an der Putzaktion zu beteiligen, weil nach dem Vorfall mit dem Pentagramm niemand so recht etwas mit ihm anzufangen wusste. Er hatte versucht, mit Isabelle zu reden, doch sie hatte ihm nur stumm mit dem Wischmopp gedroht.

»Ich hab eine Idee«, sagte Simon nun. Er saß neben Magnus, die Ellbogen auf die Knie gestützt. »Allerdings wird sie dir nicht gefallen.«

»Irgendwas sagt mir, dass du damit recht haben könntest, Sherwin.«

»Simon. Ich heiße Simon.«

»Wenn du meinst.« Magnus winkte abschätzig mit der Hand. »Was für eine Idee?«

»Ich trag doch das Kainsmal«, erklärte Simon. »Und das bedeutet, dass mich nichts töten kann, richtig?«

»Du könntest dich selbst umbringen«, warf Magnus wenig hilfreich ein. »Soweit ich weiß, können unbelebte Dinge dich versehentlich töten. Ich würde dir also davon abraten, auf einem glitschigen Steg über einer Grube mit scharfen Messern Lambada zu lernen.«

»Mist, das ruiniert meinen Plan für nächsten Samstag.«

»Aber ansonsten kann dich nichts töten«, fuhr Magnus fort. Er wandte den Blick ab, um Alec zu beobachten, der mit einem Staubwedel zu kämpfen schien. »Warum fragst du?«

»Dieser Vorfall in dem Pentagramm, mit Azazel, hat mich ins Grübeln gebracht«, erläuterte Simon. »Du hast gesagt, das Beschwören von Engeln sei gefährlicher als das von Dämonen, weil die Engel denjenigen, der sie herbeigerufen hat, möglicherweise zerschmettern oder mit Himmlischem Feuer verbrennen. Aber wenn ich das versuchen würde« Er verstummte einen Moment und fuhr dann fort: »Na ja, mir würde doch nichts passieren, oder?«

Diese Worte lenkten Magnus’ Aufmerksamkeit sofort zu Simon zurück. »Du? Du willst einen Engel herbeirufen?«

»Du könntest mir doch zeigen, wie das geht«, meinte Simon. »Ich weiß, ich bin kein Hexenmeister, aber Valentin hat es auch hinbekommen. Und wenn er das geschafft hat, warum sollte ich es dann nicht schaffen? Ich meine, es gibt sogar Menschen, die Magie betreiben.«

»Ich kann dir nicht versprechen, dass du dabei mit heiler Haut davonkommen würdest«, erwiderte Magnus; allerdings ließ der interessierte Unterton in seiner Stimme seine Warnung weniger glaubhaft wirken. »Das Kainsmal bietet den Himmlischen Schutz, aber schützt es dich auch vor den Mächten des Himmels? Ich weiß es nicht.«

»Das hab ich auch nicht erwartet. Aber du stimmst mir doch zu, dass ich derjenige von uns bin, der wahrscheinlich die besten Überlebenschancen hätte, oder?«

Magnus schaute hinüber zu Maia, die Jordan gerade mit schmutzigem Putzwasser bespritzte und fröhlich lachte, als dieser aufquietschte und sich wegdrehte. Prustend schob sie sich die lockigen Haare nach hinten und hinterließ dabei einen dunklen Schmutzfleck auf ihrer Stirn. Sie sah so jung aus. »Ja«, räumte Magnus widerstrebend ein. »Das trifft wahrscheinlich zu.«

»Wer ist dein Vater?«, fragte Simon unvermittelt.

Magnus’ Blick wanderte wieder zu Alec. Seine goldgrünen Augen waren so unergründlich wie die des Katers auf seinem Schoß. »Das gehört nicht unbedingt zu meinen liebsten Gesprächsthemen, Smedley.«

»Simon«, korrigierte Simon ihn. »Wenn ich schon für euch alle mein Leben riskiere, dann könntest du dir wenigstens meinen Namen merken.«

»Für mich setzt du dein Leben nicht aufs Spiel«, entgegnete Magnus. »Wenn Alec nicht wäre, dann wäre ich längst«

»Dann wärst du längst was?«

»Ich hatte einen Traum«, setzte Magnus mit gedankenverlorenem Blick an. »Ich sah eine Stadt voller Blut, mit Türmen aus Gebeinen und Blutströmen, die wie Wasser durch die Straßen flossen. Vielleicht gelingt es dir ja, Jace zu retten, Tageslichtler, aber du kannst nicht die ganze Welt retten. Die Finsternis kommt immer näher. ›Das Land, das schwarz ist wie die Finsternis, das Land des Todesschattens, wo keine Ordnung herrscht, wo das Licht wie tiefe Finsternis ist!‹
Wenn Alec nicht wäre, wäre ich schon längst weg.«

»Wohin würdest du gehen?«

»Ich würde mich irgendwo verstecken und warten, bis der ganze Spuk vorüber ist. Ich bin kein Held.« Magnus nahm Miau Tse-tung von seinem Schoß und ließ ihn auf den Boden fallen.

»Du liebst Alec so sehr, dass du hierbleibst«, bemerkte Simon. »Das ist irgendwie heldenhaft, finde ich.«

»Und du hast Clary so sehr geliebt, um dein ganzes Leben für sie zu ruinieren«, entgegnete Magnus mit einer Bitterkeit, die untypisch für ihn war. »Sieh dir nur an, was dir das gebracht hat.« Dann hob er die Stimme und rief: »Okay, alle mal herhören: Kommt mal her. Sheldon hat eine Idee.«

»Wer ist Sheldon?«, fragte Isabelle.

Die Straßen von Prag lagen kalt und dunkel vor ihnen. Obwohl Clary ihre von Dämonengift durchlöcherte Jacke fest um die Schultern wickelte, ging ihr die eisige Kälte durch Mark und Bein. Und dämpfte den letzten Rest des Adrenalinschubs in ihren Adern. Um sich weiterhin bei Laune zu halten, kaufte Clary einen Glühwein und schlang die Finger um den heißen Becher, während sie zu dritt durch ein verwirrendes Labyrinth aus schmalen, düsteren Gassen liefen. Diese wurden immer enger und dunkler, trugen längst keine Straßenschilder oder Namen mehr und waren menschenleer. Der einzige Orientierungspunkt war der Mond, der gelegentlich durch die dichte Wolkendecke schimmerte. Endlich erreichten sie eine flache Steintreppe, die sie zu einem winzigen Platz führte. Eine Seite wurde von einem flackernden Neonlicht erhellt, auf dem LUSTR Z KOSTÍ stand. Unter der Leuchtreklame befand sich eine Tür ein Loch in der Wand, das an eine Zahnlücke erinnerte.

»Was heißt ›Lustr z kostí‹?«, fragte Clary.

»Es bedeutet ›Der Knochenkronleuchter‹. Das ist der Name des Nachtclubs«, erläuterte Sebastian und schlenderte zur Tür. Seine hellen Haare reflektierten die wechselnden Neonfarben der Leuchtreklame: Feuerrot, Eisblau, Metallicgold. »Was ist? Kommt ihr endlich?«

Als Clary den Club betrat, schlug ihr eine Wand aus Lärm und Lichtern entgegen. Der Raum war riesig und sah aus, als hätte er früher einmal als Kirche gedient; in den Mauern konnte Clary sogar noch die hohen Buntglasfenster erkennen. Zuckende, farbige Spotlights huschten über die dicht gedrängte Menge und beleuchteten immer wieder einzelne Gesichter der Tanzenden in Knallrosa, Neongrün und Leuchtendviolett. An einer Wand befand sich eine DJ-Kabine und aus den Lautsprecherboxen dröhnte Trance. Die Musik wummerte durch Clarys Körper, drang in ihr Blut, vibrierte in ihren Knochen. Die Luft war erfüllt von der Hitze der wogenden Körper und dem Geruch von Schweiß, Zigarettenqualm und Bier.

Clary wollte sich gerade umdrehen und Jace fragen, ob er tanzen wolle, als sie eine Hand in ihrem Rücken spürte Sebastian. Sofort verspannte sich ihr gesamter Körper, doch sie zwang sich, nicht wegzuzucken.

»Geh weiter«, raunte er ihr ins Ohr. »Ich hab nicht vor, hier oben beim gemeinen Volk zu bleiben.«

Seine Hand drückte wie eine Eisenfaust gegen Clarys Wirbelsäule. Zähneknirschend ließ sie sich von Sebastian durch die dicht gedrängten Tanzenden dirigieren. Die Menge schien sich zu teilen, um sie durchzulassen. Der ein oder andere Clubbesucher schaute erst genervt auf, warf dann einen Blick auf Sebastian und zog sich hastig zurück. Die Hitze wurde immer unerträglicher und Clary schnappte fast nach Luft, als sie schließlich die andere Seite des Raums erreichten. Dort erwartete sie ein Durchgang, den Clary zuvor nicht bemerkt hatte. Abgewetzte Steinstufen führten spindelförmig nach unten und verschwanden in der Dunkelheit.

Fragend schaute Clary sich zu Sebastian um, der in diesem Moment die Hand von ihrem Rücken nahm. Um ihn herum blitzte ein helles Licht auf.

Jace hatte seinen Elbenstein hervorgeholt und grinste Clary an, sein Gesicht war eine Mischung aus kantigen Flächen und Schatten. »›Der Abstieg ist leicht‹«, bemerkte er.

Clary schauderte. Sie kannte das vollständige Zitat: Der Abstieg zur Hölle ist leicht. »Kommt schon«, drängte Sebastian, zeigte mit dem Kopf auf den Durchgang und sprang die Treppe hinunter, leichtfüßig und mit sicherem Schritt; die abgetretenen, rutschigen Stufen schienen ihn nicht zu beunruhigen.

Dagegen folgte Clary ihm deutlich langsamer. Mit jedem Meter wurde es kühler und das Dröhnen der wummernden Musik ließ allmählich nach. Sie konnte ihren Atem hören und sah ihren Schatten, der verzerrt und dürr gegen die Wand geworfen wurde.

Noch bevor sie die letzten Stufen erreichten, hörte Clary neue Musik mit einem noch härteren Rhythmus als im Club über ihnen: Sie schoss ihr in die Ohren und ins Blut und bereitete ihr Schwindelgefühle. Clary war beinahe schlecht, als sie endlich unten ankamen und ein gewaltiges Gewölbe betraten, das ihr den Atem verschlug.

Der gesamte Raum war in Stein gehauen: die Mauern uneben und höckrig, der Boden unter Clarys Füßen glatt und abgenutzt. Am anderen Ende des Gewölbekellers erhob sich eine riesige Engelsstatue, deren Haupt in den Schatten der hohen Decke verschwand; von ihren Schwingen hingen Ketten mit schweren Granat-Schmucksteinen herab, die wie Blutstropfen aussahen. Der Raum wurde von kleinen knallbunten Lichtexplosionen erhellt, wie rote Kugelblitze, die nicht mit den künstlichen Spotlights im Erdgeschoss zu vergleichen waren diese hier sprühten wie Feuerwerk. Und jedes Mal, wenn eine der runden Kugeln platzte, rieselten flirrende Glitterteilchen auf die tanzende Menge herab. Gewaltige Springbrunnen spuckten schäumende Wasserfontänen in runde Marmorbecken, auf deren Wasseroberfläche schwarze Rosenblätter trieben. Und von der Decke hing an einer langen goldenen Kette ein gewaltiger Kronleuchter, der direkt über den Köpfen der tanzenden Menge baumelte ein Kronleuchter, der vollständig aus Knochen gefertigt war.

Der Lüster wirkte kunstvoll und schaurig zugleich: Sein Korpus bestand aus miteinander verbundenen Wirbelsäulen; Oberschenkelknochen und Schienbeine hingen als Dekorationen von den Armen des Leuchters, an deren Ende jeweils ein menschlicher Schädel mit einer dicken Stumpenkerze saß. Schwarzes Wachs tropfte wie Dämonenblut auf die Menge herab, doch niemand schien das zu kümmern. Selbstvergessen drehten und wirbelten die Tanzenden um sich selbst und keiner von ihnen war menschlich.

»Werwölfe und Vampire«, beantwortete Sebastian Clarys unausgesprochene Frage. »In Prag sind sie Verbündete. Dies ist der Ort, an dem sie sich entspannen.« Eine heiße Brise fegte wie ein Wüstenwind durch den Raum, hob Sebastians silberblonde Haare an und wehte sie ihm übers Gesicht, sodass der Ausdruck in seinen Augen nicht zu erkennen war.

Clary schälte sich aus ihrer Jacke und drückte sie gegen ihre Brust, fast wie einen Schild. Mit großen Augen schaute sie sich um. Sie konnte die Un-Menschlichkeit der anderen Besucher spüren die Vampire mit ihrer Blässe, ihrer Geschmeidigkeit und gelangweilten Eleganz und die Werwölfe, die animalische Kraft und Schnelligkeit ausstrahlten. Die meisten waren ziemlich jung, tanzten eng und schlängelten sich umeinander. »Aber macht es ihnen denn nichts aus, dass wir hier sind? Nephilim?«

»Sie kennen mich«, erklärte Sebastian. »Und sie wissen auch, dass ihr zu mir gehört«, fügte er hinzu und nahm Clary die Jacke aus der Hand. »Ich werd die mal für dich aufhängen.«

»Sebastian«, setzte Clary an, doch er war bereits in der Menge untergetaucht. Rasch schaute Clary zu Jace, der neben ihr stand. Er hatte die Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Jeans gehakt und sah sich mit beiläufigem Interesse um. »Vampirgarderobe?«, fragte sie.

»Warum nicht?«, erwiderte Jace lächelnd. »Dir ist sicher aufgefallen, dass er mir nicht angeboten hat, auch meine Jacke an der Garderobe abzugeben. Es gibt keine Kavaliere mehr auf dieser Welt, ich sag’s dir« Als er Clarys verwirrten Ausdruck sah, legte er den Kopf leicht zur Seite. »Ach, vergiss es einfach. Wahrscheinlich wartet hier ohnehin jemand auf ihn, mit dem er sich unterhalten will.«

»Dann sind wir also nicht nur zum Vergnügen hier?«

»Sebastian macht nichts nur zum Vergnügen.« Jace nahm Clarys Hände und zog sie an sich. »Aber ich schon.«

Simons Plan stieß nicht gerade auf Begeisterung, was ihn aber nicht besonders überraschte. Die anderen protestierten vehement, versuchten, ihm die Idee auszureden, und wandten sich skeptisch an Magnus, ob das Ganze überhaupt sicher sei. Ruhig stützte Simon die Ellbogen auf die Knie und wartete ab.

Schließlich spürte er, wie ihn jemand vorsichtig am Arm berührte. Er drehte sich um und entdeckte zu seiner Verwunderung Isabelle, die ihm bedeutete, ihr zu folgen.

Während die Diskussion am Tisch heftig weiterging, verzogen sie sich in den Schatten eines der Deckenpfeiler. Da Isabelle ursprünglich am lautesten widersprochen hatte, rechnete Simon damit, dass sie ihn nun anschreien würde. Doch stattdessen musterte sie ihn lediglich mit verkniffenem Mund.

»Okay«, sagte er schließlich, weil er ihr Schweigen hasste, »ich schätze, im Moment bist du etwas sauer auf mich.«

»Ach wirklich? Am liebsten würde ich dir in den Hintern treten, Vampir, aber ich will mir meine teuren neuen Stiefel nicht ruinieren.«

»Isabelle«

»Ich bin nicht deine feste Freundin.«

»Richtig«, bestätigte Simon, spürte dabei aber einen Hauch von Enttäuschung. »Das weiß ich.«

»Und die viele Zeit, die du mit Clary verbracht hast, hab ich dir nie übel genommen. Im Gegenteil: Ich hab dir das sogar vorgeschlagen, weil ich weiß, wie viel sie dir bedeutet. Und umgekehrt. Aber das hier das ist ein unkalkulierbares, irrsinniges Risiko, das du da eingehen willst. Bist du dir wirklich ganz sicher?«

Simon schaute sich um er warf einen Blick auf Magnus’ chaotische Wohnung und die kleine Gruppe am Tisch, die über sein Schicksal diskutierte. »Hier geht’s nicht nur um Clary«, sagte er.

»Na, hoffentlich doch nicht um deine Mutter, oder?«, hakte Isabelle nach. »Weil sie dich als Monster bezeichnet hat. Du musst niemandem etwas beweisen, Simon. Das ist ihr Problem, nicht deines.«

»Darum geht es nicht. Jace hat mir das Leben gerettet. Ich bin ihm was schuldig.«

Überrascht starrte Isabelle ihn an. »Du tust das doch nicht nur, um deine Schuld bei Jace zu begleichen, oder? Denn ich denke, dass wir alle inzwischen ziemlich quitt sein dürften.«

»Nein jedenfalls nicht nur«, räumte Simon ein. »Hör zu: Wir alle wissen, worum es geht. Sebastian darf da draußen nicht frei rumlaufen. Das ist viel zu gefährlich. Insofern hat der Rat recht. Aber wenn er stirbt, stirbt auch Jace. Und wenn Jace stirbt, dann wird Clary«

»… es überleben«, erwiderte Isabelle in hartem Ton. »Sie ist stark und wird es überleben.«

»Aber sie wird leiden. Möglicherweise für den Rest ihres Lebens. Ich will nicht, dass sie so leiden muss. Und ich will auch nicht, dass du derartig leiden musst.«

Genervt verschränkte Isabelle die Arme. »Natürlich nicht. Aber meinst du nicht, dass es sie genauso treffen würde, wenn dir was passiert, Simon?«

Simon biss sich auf die Lippe. Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. Jedenfalls nicht auf diese Weise. »Was ist mit dir?«

»Was soll mit mir sein?«

»Würde es dich treffen, wenn mir was zustieße?«

Isabelle schaute ihn unverwandt an, mit kerzengeradem Rücken und erhobenem Kinn. Doch ihre Augen glitzerten. »Ja.«

»Aber du möchtest auch, dass ich Jace helfe.«

»Ja. Das möchte ich auch.«

»Dann musst du mich das durchziehen lassen«, erklärte Simon. »Dabei geht es mir nicht nur um Jace oder dich oder Clary obwohl ihr alle eine wichtige Rolle spielt. Ich tue das, weil ich davon überzeugt bin, dass finstere Zeiten kommen. Ich glaube Magnus, wenn er das sagt. Ich denke, Raphael fürchtet sich wirklich vor einem Krieg. Und ich glaube, dass wir nur einen Bruchteil von Sebastians Plan sehen. Ich halte es für keinen Zufall, dass er Jace mitgenommen hat und dass die beiden jetzt miteinander verbunden sind. Sebastian weiß, dass wir Jace brauchen, um einen Krieg zu gewinnen. Er weiß, welche Bedeutung Jace hat.«

Isabelle konnte ihm nicht widersprechen, sagte aber: »Du bist genauso mutig wie Jace.«

»Vielleicht«, räumte Simon ein. »Aber ich bin kein Nephilim. Vieles von dem, was Jace kann, kriege ich nicht hin. Außerdem bedeute ich nicht annähernd so vielen Leuten etwas.«

»Besondere Schicksale und besondere Qualen«, wisperte Isabelle. »Simon mir bedeutest du sehr viel.«

Simon streckte die Hand aus und legte sie sanft auf ihre Wange. »Du bist eine Kriegerin, Izzy. Das ist deine Aufgabe. Das ist deine Berufung. Aber wenn du gegen Sebastian nicht kämpfen kannst, weil du auch Jace verletzen würdest, dann kannst du diesen Krieg nicht gewinnen. Und wenn du Jace töten müsstest, um diesen Krieg zu gewinnen, würde das auch einen Teil deiner Seele töten. Ich will nicht, dass das passiert nicht, solange ich noch etwas daran ändern kann.«

Isabelle musste schlucken. »Das ist einfach nicht fair«, murmelte sie. »Es ist nicht fair, dass du das tun musst«

»Es ist meine Entscheidung eine Entscheidung, die ich selbst treffen kann. Jace hat diese Wahl nicht. Wenn er stirbt, dann stirbt er für eine Sache, mit der er eigentlich überhaupt nichts zu tun hat.«

Langsam ließ Isabelle die Luft aus ihren Lungen entweichen. Sie löste die verschränkten Arme und nahm Simon am Ellbogen. »Also gut. Dann mal los«, sagte sie und führte ihn zurück zu den anderen. Als Isabelle sich räusperte, hielten Magnus, Maia und Jordan abrupt in ihrem Streit inne und starrten die beiden an, als hätten sie ihre Abwesenheit erst jetzt bemerkt.

»Das reicht«, sagte Isabelle. »Simon hat seine Entscheidung getroffen und er ist auch der Einzige, der darüber zu bestimmen hat. Er wird Raziel herbeirufen. Und wir werden ihm dabei auf jede erdenkliche Art und Weise helfen.«

Sie tanzten. Clary versuchte, sich ganz dem Rhythmus der Musik hinzugeben, dem Rauschen des Bluts in ihren Adern so wie sie es früher mit Simon im Pandemonium immer getan hatte. Natürlich war Simon ein grauenhafter Tänzer gewesen ganz im Gegensatz zu Jace. Was eigentlich nur logisch war: Bei all dem Training und der perfekten Körperbeherrschung im Kampf gab es vermutlich nicht viele Dinge, die Jace nicht mit seinem Körper anstellen konnte. Als er den Kopf in den Nacken warf, sah sie, dass seine Haare schweißfeucht an den Schläfen klebten und die Wölbung seines Halses im Schein des Knochenkronleuchters schimmerte.

Außerdem sah Clary, welche Blicke die anderen Tänzer Jace zuwarfen eine Mischung aus Anerkennung, Wunschdenken und Jagdlust. Im nächsten Moment erwachte in ihr eine ungekannte und unkontrollierbare Besitzgier. Sie drängte sich näher an Jace heran und schlängelte ihren Körper an seinem hinauf, wie sie es bei anderen Mädchen auf der Tanzfläche gesehen, sich selbst aber nie getraut hatte. Sie fürchtete nämlich immer, sich dabei mit den Haaren in der Gürtelschnalle des Jungen zu verfangen. Doch jetzt sah die Situation völlig anders aus: Ihr intensives Training zahlte sich nicht nur im Kampf aus, sondern auch in jeder anderen Alltagssituation. Sie fühlte sich auf eine ungeahnte Weise so geschmeidig und gelenkig wie nie zuvor und presste ihren Körper gegen Jace.

Er hatte die Augen geschlossen und öffnete sie genau in dem Moment, als eine farbige Lichtexplosion die Dunkelheit über ihren Köpfen erhellte. Metallisch glänzende Tropfen rieselten auf sie herab, verfingen sich in seinen Haaren und schimmerten wie Quecksilber auf seiner Haut. Vorsichtig nahm er einen Tropfen von seinem Schlüsselbein und zeigte Clary die silbern schillernde Flüssigkeit, während ein Lächeln seine Lippen umspielte. »Erinnerst du dich noch an unseren ersten gemeinsamen Besuch bei Taki’s? Und an das, was ich dir über Elbengerichte erzählt habe?«

»Ich weiß noch, dass du gesagt hast: ›Du isst eine Elbenpflaume und im nächsten Moment rennst du nackt und mit einem Geweih auf dem Kopf die Madison Avenue entlang‹«, erwiderte Clary und blinzelte gegen die silbernen Tröpfchen auf ihren Wimpern an.

»Bis heute ist nicht zweifelsfrei bewiesen, dass wirklich ich derjenige war, dem das passiert ist.« Nur Jace konnte sich beim Tanzen unterhalten, ohne dabei merkwürdig zu wirken. »Na ja, und dieses Zeug hier«, fügte er hinzu, während er die silbrige Substanz wegschnippte, die seine Haare und seine Haut metallisch überzog, »… hat dieselbe Wirkung. Es macht dich«

»High?«

Jace betrachtete Clary aus dunklen Augen. »Es kann echt Spaß machen.« Ein weiteres dieser schwebenden Kugeldinger zerplatzte über ihren Köpfen; die freigesetzten Tropfen schimmerten silberblau, wie Wasser. Jace leckte einen Spritzer von seiner Hand und betrachtete Clary eindringlich.

High. Clary hatte noch nie Drogen genommen; sie trank ja noch nicht mal Alkohol mit Ausnahme der Flasche Kahlúa vielleicht, die Simon und sie mit dreizehn aus der Hausbar seiner Mutter geschmuggelt hatten. Nachdem sie die Flasche geleert hatten, war ihnen furchtbar übel gewesen und Simon hatte sich sogar in eine Hecke übergeben. Danach hatte sie sich geschworen, nie wieder Alkohol anzurühren, trotzdem konnte sich Clary noch gut an das anfängliche Gefühl erinnern: Ihr war herrlich schwindlig gewesen, sie hatte ständig kichern müssen und sich grundlos glücklich gefühlt.

Als Jace seine Hand herabsinken ließ, schimmerten seine Lippen silbern. Seine Augen ruhten noch immer auf Clary, dunkelgoldene Pupillen hinter langen blonden Wimpern.

Grundlos glücklich.

Clary dachte daran, wie sie sich beide in der Zeit nach der Großen Schlacht gefühlt hatten, bevor Lilith von Jace Besitz ergriff. Damals war er der Jace gewesen, der auf dem Foto in seinem Zimmer zu sehen war: so glücklich. Sie beide waren glücklich gewesen. Daran hatte Clary keine Sekunde gezweifelt. Sie hatte auch nicht dieses Gefühl von winzigen Messerstichen unter ihrer Haut gekannt, das langsam jegliche Nähe zwischen ihnen zerstörte.

Sie schmiegte sich an Jace, reckte sich und küsste ihn langsam und bewusst auf die Lippen. Ein süßsaures Aroma explodierte in ihrem Mund, wie eine Mischung aus Wein und Bonbons. Mehr von der silber glitzernden Flüssigkeit rieselte auf sie herab und Clary löste sich von Jace, um sich genüsslich die Lippen zu lecken.

Jace’ Atem ging stoßweise und er streckte die Hände nach ihr aus.

Doch Clary tanzte lachend davon. Plötzlich fühlte sie sich wild und frei und unglaublich leicht. Sie wusste, dass da etwas furchtbar Wichtiges war, etwas, das sie unbedingt erledigen musste, aber sie konnte sich nicht erinnern, worum es ging oder wieso sie sich überhaupt dafür interessiert hatte. Die Gesichter der anderen Tanzenden wirkten nicht länger verschlagen und Furcht einflößend, sondern auf geheimnisvolle Weise schön. Sie befand sich in einem gewaltigen, hallenden Gewölbe und die Schatten um sie herum strahlten in Farben, die bunter und intensiver leuchteten als jeder Sonnenuntergang. Die Engelsstatue, die über ihr aufragte, wirkte gütig tausendmal freundlicher als Raziel und sein kaltes weißes Licht und aus ihrem Mund ertönte ein lieblicher, hoher Gesang, rein, klar und perfekt.

Clary wirbelte um die eigene Achse, schneller und schneller, und ließ dabei alle Sorgen und jede Erinnerung hinter sich, bis sie in ein Paar Arme tanzte, die sich von hinten um sie schlangen. Langsam schaute Clary an sich herab und sah zwei narbenübersäte Hände an ihrer Taille, schlanke, anmutige Finger, die Voyance-Rune. Jace. Sie schmiegte sich an ihn, schloss die Augen und ließ den Kopf gegen seine Schulter sinken. Sie konnte seinen Pulsschlag an ihrer Wirbelsäule spüren.

Kein Herz auf dieser Welt schlug so wie Jace’.

Ruckartig öffnete Clary die Augen. Sie fuhr herum, die Hände ausgestreckt, um ihn fortzustoßen. »Sebastian«, wisperte sie.

Grinsend schaute ihr Bruder auf sie herab, silbern und schwarz wie der Morgenstern-Ring. »Clarissa«, sagte er. »Ich möchte dir etwas zeigen.«

Nein. Doch das Wort kam und verschwand sofort wieder, löste sich auf wie Zucker in heißer Flüssigkeit. Clary konnte sich nicht mehr erinnern, warum sie Nein sagen sollte. Schließlich war er ihr Bruder sie sollte ihn lieben! Und außerdem hatte er sie an diesen wundervollen Ort gebracht. Möglicherweise hatte er irgendwann schlimme Dinge getan, aber das lag lange zurück und sie konnte sich auch überhaupt nicht mehr daran erinnern. »Ich kann die Engel singen hören«, hauchte sie stattdessen.

Sebastian lachte leise. »Wie ich sehe, hast du also schon herausgefunden, dass dieses silberne Zeug nicht einfach nur Glitter ist.« Vorsichtig streichelte er mit seinem Zeigefinger über Clarys Wangenknochen; als er ihn wieder wegnahm, leuchtete seine Fingerspitze silbern, als hätte er eine gefärbte Träne aufgefangen. »Komm mit, Engelsmädchen.« Sebastian streckte ihr seine Hand entgegen.

»Aber was ist mit Jace?«, wandte Clary ein. »Ich hab ihn in der Menge verloren«

»Der wird uns schon finden.« Sebastians Hand schloss sich um Clarys Finger, überraschend warm und beruhigend.

Sie ließ sich von ihm zu einem der Brunnen in der Mitte des Gewölbes ziehen und auf die breite Marmoreinfassung heben.

Dann setzte er sich neben sie, ihre Hand noch immer fest umschlossen. »Schau ins Wasser«, forderte er sie auf. »Und verrat mir, was du siehst.«

Clary beugte sich über den Brunnenrand und schaute auf die glatte dunkle Wasseroberfläche. Sie konnte ihr eigenes Spiegelbild darin erkennen ihre Augen waren groß und wild, ihre Wimperntusche verschmiert, ihre Haare zerzaust. Dann lehnte auch Sebastian sich über den Rand und Clary sah, wie sein Gesicht neben ihrem auftauchte. Die silberne Reflexion seiner Haare auf dem Wasser erinnerte sie an den Schein des Mondes auf dem Fluss. Gerade als sie die Hand ausstreckte, um das helle Leuchten zu berühren, verzerrten sich ihre Spiegelbilder zur Unkenntlichkeit.

»Was hast du gesehen?«, fragte Sebastian mit einem drängenden Unterton in der Stimme.

Clary schüttelte den Kopf; Sebastian war wirklich albern. »Ich habe dich und mich gesehen«, erwiderte sie leicht tadelnd. »Was denn sonst?«

Sebastian nahm ihr Kinn und drehte Clarys Gesicht zu sich herum. Seine Augen waren schwarz, nachtschwarz; nur ein dünner silberner Ring trennte die Pupille von der Iris. »Erkennst du das denn nicht? Wir beide sind gleich, du und ich.«

»Gleich?« Verwundert blinzelte Clary ihn an. Irgendetwas stimmte an seinen Worten nicht, sie klangen schrecklich falsch, aber sie hätte nicht sagen können, was genau sie störte. »Nein«

»Du bist meine Schwester«, bekräftigte er. »In unseren Adern fließt dasselbe Blut.«

»Aber du hast Dämonenblut in dir«, sagte Clary. »Liliths Blut.« Aus irgendeinem Grund fand sie die Vorstellung plötzlich unheimlich lustig und fing an zu kichern. »Du bist dunkel düster und dunkel. Und Jace und ich sind hell.«

»Du trägst ein dunkles Herz in deiner Brust, Valentinstochter«, widersprach Sebastian. »Du willst es nur nicht wahrhaben. Aber wenn du Jace willst, solltest du diese Tatsache besser akzeptieren. Denn er gehört nun zu mir.«

»Und und zu wem gehörst du?«

Sebastian öffnete die Lippen, doch er schwieg.

Zum ersten Mal wusste er anscheinend nicht, was er darauf antworten sollte, überlegte Clary und war überrascht. Denn seine Worte hatten ihr nicht viel bedeutet sie hatte einfach aus Neugier gefragt. Bevor sie jedoch etwas hinzufügen konnte, ertönte eine Stimme.

»Was ist los?«, fragte Jace und schaute von Clary zu Sebastian und wieder zurück. Sein Gesicht wirkte unergründlich. Weitere Schichten der schimmernden Substanz lagen auf seiner Haut und silberne Tropfen hafteten an seinen goldenen Haaren. »Clary?« Er klang verärgert.

Clary löste sich von Sebastian und sprang auf. »Tut mir leid«, stieß sie atemlos hervor. »Ich hab dich in der Menge irgendwie verloren.«

»Ist mir aufgefallen«, bestätigte Jace. »In der einen Sekunde hab ich mit dir getanzt und in der nächsten warst du verschwunden und ein sehr hartnäckiges Werwolfwesen hat versucht, meine Jeans aufzuknöpfen.«

Sebastian grinste. »Weiblich oder männlich?«

»Keine Ahnung, aber so oder so hätte eine Rasur nicht geschadet.« Jace nahm Clarys Hand und umschloss ihr Gelenk behutsam mit den Fingern. »Möchtest du nach Hause? Oder lieber noch weitertanzen?«

»Weitertanzen. Ist das okay?«

»Nur zu.« Sebastian lehnte sich zurück und stützte die Hände hinter ihm auf den Brunnenrand. Ein rasiermesserscharfes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ich schau gern zu.«

Plötzlich tauchte vor Clarys innerem Auge ein Bild auf: der Abdruck einer blutigen Hand. Doch die Erinnerung verschwand so schnell, wie sie gekommen war, und Clary runzelte die Stirn. Die Nacht war zu schön, um sich mit hässlichen Gedanken zu beschäftigen. Sie warf ihrem Bruder noch einen kurzen Blick zu und ließ sich dann von Jace am Rand der Tanzfläche entlangführen, wo das Gedränge nicht ganz so groß war. Währenddessen zerplatzte eine weitere farbige Lichtkugel über ihnen, die silbernen Glitter versprühte. Clary legte den Kopf in den Nacken und fing die salzig süßen Tropfen mit der Zunge auf.

Als sie die Mitte des Gewölbekellers erreichten, blieb Jace direkt unter dem Knochenkronleuchter stehen und wirbelte Clary zu sich herum. Sie schlang die Arme um ihn und fühlte, wie die silbrige Flüssigkeit über ihre Wangen lief, wie Tränen. Durch das dünne Gewebe von Jace’ T-Shirt konnte sie die Wärme seiner Haut spüren. Ihre Hände glitten unter den Saum seines Oberteils, sodass sie ihm mit den Nägeln leicht über die Rippen fahren konnte. Seine Wimpern waren mit silbernen Tropfen übersät, als er den Blick senkte, Clary anschaute und ihr etwas ins Ohr raunte. Langsam wanderten seine Hände über ihre Schultern und dann ihre Arme hinab. Inzwischen hatten sie auch aufgehört zu tanzen. Die hypnotische Musik und die anderen Clubbesucher nahm Clary kaum noch wahr. Ein Paar tanzte lachend an ihnen vorbei und machte irgendeine spöttische Bemerkung auf Tschechisch. Clary verstand zwar nicht, was die beiden sagten, vermutete aber so etwas wie: Leute, nehmt euch gefälligst ein Zimmer!

Jace schnaubte ungeduldig und drängte dann erneut durch die Menge. Clary zog er hinter sich her, zu einem der schummrigen Alkoven am Rand der Tanzfläche.

Dutzende dieser kreisrunden Nischen säumten die Wände, jede einzelne mit einer steinernen Sitzbank versehen und einem dichten Samtvorhang, der zugezogen werden konnte, um wenigstens ein Minimum an Privatsphäre zu bieten. Jace riss den Vorhang zu und sofort prallten Clary und er aufeinander wie eine Meereswoge gegen eine Felsklippe. Ihre Münder trafen sich und verschmolzen miteinander; Jace hob Clary hoch, sodass sie eng an ihn gepresst war, während sich seine Finger in das rutschige Gewebe ihres Kleids gruben.

Clary fühlte warme seidige Haut, Hände, die suchten und fanden, Stoff, der unter dem Druck nachgab. Ihre Hände unter Jace’ T-Shirt, ihre Fingernägel, die über seinen Rücken kratzten, das Gefühl animalischer Freude, als er aufstöhnte. Jace biss auf ihre Unterlippe und Clary schmeckte das Blut in ihrem Mund, salzig und heiß. Es schien, als wollten sie sich gegenseitig zerreißen, sich ineinander verschlingen und gemeinsam den Schlag ihrer Herzen spüren, auch wenn es sie beide umbringen würde, dachte Clary.

Im Alkoven war es dunkel so dunkel, dass Jace nur als Silhouette aus Schatten und Gold zu erkennen war. Sein Körper presste Clary gegen die Wand. Seine Hände glitten über ihre Hüften, fanden den Saum ihres Kleides und schoben es über ihre Oberschenkel.

»Was tust du da?«, wisperte Clary. »Jace?«

Er schaute sie an. Das eigenartige Licht im Club verwandelte seine Augen in ein Kaleidoskop aus Farben und Formen. Er lächelte diabolisch. »Du kannst mir sagen, wann ich aufhören soll. Jederzeit«, raunte er. »Aber ich bin mir sicher, dass du das gar nicht willst.«

Sebastian zog den staubigen Samtvorhang beiseite, der den Alkoven vom Rest des Gewölbes abtrennte, und lächelte.

An der Wand des kleinen kreisrunden Nebenraums war eine Steinbank angebracht, auf der ein Mann saß, die Ellbogen auf den Marmortisch gestützt. Sein langes blauschwarzes Haar war im Nacken zusammengebunden und auf einem seiner Wangenknochen prangte eine Narbe oder ein Mal in Form eines Blattes, direkt unterhalb seiner grasgrünen Augen. Er trug einen weißen Anzug, aus dessen Brusttasche ein Einstecktuch mit grüner Blattstickerei herausragte.

»Jonathan Morgenstern«, sagte Meliorn.

Sebastian verbesserte ihn nicht. Die Feenwesen legten nämlich großen Wert auf Namen und würden ihn daher niemals anders ansprechen als sein Vater. »Ich war mir nicht sicher, ob du zum vereinbarten Zeitpunkt auch erscheinen würdest, Meliorn.«

»Darf ich dich daran erinnern, dass das Lichte Volk nicht lügt«, erwiderte der Elbenritter. Dann erhob er sich kurz und zog den Vorhang hinter Sebastian zu, sodass die dröhnende Musik aus dem Hauptraum ein wenig gedämpft wurde. »Nimm Platz. Ein Glas Wein?«

Sebastian setzte sich neben ihm auf die Bank. »Nein, danke.« Genau wie der silberne Elbentrank würde auch Wein ihm nur das Gehirn vernebeln. Außerdem vertrugen die Feenwesen ohnehin mehr Alkohol. »Ich muss gestehen, ich war ziemlich überrascht, als ich die Nachricht erhielt, dass du dich hier mit mir treffen wolltest.«

»Du solltest eigentlich besser als jeder andere wissen, dass meine Königin ein besonderes Interesse an dir hegt. Sie ist über jeden deiner Schritte informiert.« Meliorn nahm einen Schluck Wein. »Heute Nacht ist es hier in Prag zu einem Zwischenfall mit Dämonen gekommen. Die Königin war sehr besorgt.«

Sebastian spreizte die Arme. »Wie du siehst, bin ich unverletzt.«

»Ein derartiger Zwischenfall wird zweifellos die Aufmerksamkeit der Nephilim erregen. Und wenn ich mich nicht irre, ziehen einige von ihnen bereits umher.«

»Was ziehen sie umher?«, fragte Sebastian unschuldig.

Meliorn nahm einen weiteren Schluck Wein und funkelte ihn wütend an.

»Ach, ja, richtig. Ich vergesse immer wieder, auf welch amüsante Weise ihr Feenwesen redet. Du willst mir also sagen, dass da draußen in der Menge einige Schattenjäger sind, die nach mir Ausschau halten. Das weiß ich. Ich habe sie längst bemerkt. Die Königin kann keine allzu hohe Meinung von mir haben, wenn sie glaubt, dass ich mit einer Handvoll Nephilim nicht allein zurechtkomme.« Sebastian zog einen Dolch aus dem Gürtel und wirbelte ihn in der Hand, sodass sich das schwache Licht des Alkovens in der Klinge spiegelte.

»Ich werde ihr deine Worte ausrichten«, murmelte Meliorn. »Ich muss gestehen, dass es mir vollkommen schleierhaft ist, was sie an dir findet. Ich habe einen gründlichen Blick auf dich geworfen und bin nicht sehr überzeugt, aber ich verfüge natürlich auch nicht über den Geschmack meiner Königin.«

»Gewogen und für zu leicht befunden?« Belustigt beugte Sebastian sich vor. »Dann will ich dir das mal erklären, Elbenritter: Ich bin jung. Ich bin gut aussehend. Und ich bin bereit, die ganze Welt niederzubrennen, um das zu bekommen, was ich will.« Mit seinem Dolch zeichnete er einen Riss in der Marmorplatte des Tischs nach. »Und genau wie ich ist auch deine Königin nicht auf schnelle Erfolge aus, sondern gewillt zu warten, wenn es dem Zweck dient. Im Moment möchte ich nur eines wissen: Wenn das Ende der Nephilim naht, wird der Lichte Hof dann an meiner Seite stehen oder sich gegen mich stellen?«

Die Miene des Elbenritters war vollkommen ausdruckslos. »Meine Königin sagt, sie stünde an deiner Seite.«

Sebastians Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen. »Das sind wirklich hervorragende Neuigkeiten.«

Meliorn schnaubte verächtlich. »Ich hatte immer angenommen, dass die Menschheit sich einmal selbst ausrotten würde«, bemerkte er. »Ein ganzes Jahrtausend lang habe ich stets prophezeit, dass ihr euch euer eigenes Grab schaufelt. Aber ich hätte nicht gedacht, dass das Ende auf diese Weise kommen würde.«

Sebastian wirbelte den glitzernden Dolch in den Fingern. »Niemand sieht je sein Ende kommen.«

»Jace«, wisperte Clary. »Jace, jemand könnte hereinkommen und uns sehen.«

Doch seine Hände hörten nicht auf. »Es wird aber niemand hereinkommen.« Sein Mund platzierte einen Pfad heißer Küsse auf ihren Hals und wischte damit all ihre Gedanken und Zweifel beiseite.

Clary fiel es schwer, an der Realität festzuhalten mit seinen Händen auf ihrem Körper und ihrem durcheinandergewirbelten Verstand und ihren Fingern, die Jace’ T-Shirt so fest umklammerten, dass sie fürchtete, der Stoff würde jeden Moment reißen.

Die Steinmauer drückte kalt in ihren Rücken, während Jace ihre Schulter küsste und den Träger ihres Kleides nach unten schob. Clary war heiß und kalt zugleich und sie zitterte am ganzen Körper. Die Welt hatte sich in Fragmente aufgelöst wie die bunten Bruchstücke im Inneren eines Kaleidoskops. Sie war dabei, unter seinen Händen zu zerfließen

»Jace« Clary klammerte sich an sein T-Shirt. Irgendwie fühlte es sich feucht und klebrig an. Verwundert schaute Clary auf ihre Hände und verstand im ersten Moment nicht, was sie sah: eine silbrige Substanz, vermischt mit einer roten Flüssigkeit.

Blut.

Ruckartig blickte sie hoch. Von der Decke über ihnen hing wie eine gruslige piñata ein menschlicher Körper, an den Fußgelenken mit Seilen festgebunden. Blut tropfte aus der aufgeschlitzten Kehle.

Clary wollte schreien, doch sie brachte keinen Ton heraus. Entsetzt stieß sie Jace von sich, der benommen rückwärtstaumelte; Blut klebte in seinen Haaren, auf seinem T-Shirt und auf ihrer nackten Haut. Hastig schob Clary die Träger ihres Kleides wieder hoch, schwankte zum Vorhang und riss ihn beiseite.

Die Engelsstatue sah nicht mehr so aus, wie Clary sie in Erinnerung hatte: Die schwarzen Schwingen hatten sich in Fledermausflügel verwandelt, das anmutige, gütige Gesicht war zu einer höhnischen Fratze verzogen. Von der gesamten Gewölbedecke hingen an verdrehten Seilen die Leichen von Männern, Frauen und Kindern mit aufgeschlitzten Kehlen, aus denen das Blut wie Regen herabtropfte. Die Springbrunnen spuckten pulsierendes Blut und auf der Oberfläche der roten Flüssigkeit schwammen keine Blütenblätter, sondern abgetrennte Hände. Auch die sich windenden Tänzer waren blutgetränkt.

Während Clary sich fassungslos umsah, kam ein Paar an ihr vorbei: ein groß gewachsener bleicher Mann mit einer Frau, die mit zerfetzter Kehle schlaff in seinen Armen lag. Sie war eindeutig tot. Der Mann fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und beugte sich erneut über ihren Hals; doch zuvor warf er Clary noch einen Blick zu und grinste. Sein Gesicht war verschmiert von Blut und silbriger Flüssigkeit. Clary spürte Jace’ Hand an ihrem Arm; er versuchte, sie in den Alkoven zurückzuziehen, doch sie riss sich los. Stumm starrte sie auf die Wasserbecken an einer der Wände. Sie hatte angenommen, dass leuchtend bunte Fische darin schwimmen würden. Doch die Flüssigkeit war trübe und schlammig und Wasserleichen trieben darin; ihre Haare schwebten um sie herum wie die Nesselfäden fluoreszierender Quallen. Unwillkürlich musste Clary an Sebastian denken und daran, wie er in dem Glassarg geschwebt hatte. Ein Schrei bildete sich tief in ihrer Kehle, doch sie unterdrückte ihn, als plötzlich Stille und Dunkelheit sie übermannten.