12
Rikar zog einen Stuhl unter der Tischkante hervor und zog ihn hinter sich her, während er den Aufwachraum durchquerte. Die Metallfüße protestierten ob der groben Behandlung und holperten über den Krankenhausboden. Ihm war es egal. Dieser erbärmliche Abklatsch eines Stuhls konnte so viel quietschen wie er wollte. Am Ende würde er da stehen, wo Rikar ihn haben wollte. Neben Angelas Bett.
Er ließ den Stuhl dumpf aufprallen, dann fiel er auf den Plastiksitz.
Und stöhnte. Ging es noch unbequemer?
Er verlagerte das Gewicht, versuchte verschiedene Sitzhaltungen. Warum? Keine Ahnung. Bequemlichkeit war heute nicht ausgeteilt worden. Genauso wenig wie Schlaf. Zumindest nicht in nächster Zukunft. Aber verdammt, er hatte ihn bitter nötig. Die letzten vierundzwanzig Stunden verschwammen in seiner Erinnerung, und er fühlte sich erschlagen. Er brauchte sein eigenes Bett, mehrere Mützen voll Schlaf und ja, noch etwas anderes.
Nahrung. Drachennahrung.
Rikar rieb sich mit der Hand über den Kopf und kämpfte gegen den Hunger an. Auf keinen Fall konnte er sich jetzt etwas besorgen. Nicht, solange seine eisige Seite Wachdienst schob. Auch ohne das erschwerende Tageslicht würde sein Drache nicht zulassen, dass er das Hauptquartier verließ. Der besitzergreifende Bastard hatte ihn an diesen Stuhl gefesselt und hielt ihn im Aufwachraum fest. Ein Mädchen für ein kurzes Eintauchen in den Meridian, um sich zu holen, was er brauchte, konnte er also vergessen. Die ganze Angelegenheit war Sperrgebiet. Vor allem, da die einzige Frau, die er wollte, weniger als eine Armeslänge entfernt auf der Seite zusammengerollt dalag.
Sein Blick wanderte über ihren Körper, und ihm wurde das Herz noch ein Stück schwerer. In dem großen Bett sah sie so klein aus: die Decke bis ans Kinn hochgezogen, Infusionsnadel im Handrücken, die dunklen Wimpern vor den blassen Wangen deutlich sichtbar. Er runzelte die Stirn, sorgte sich wegen ihrer Blässe, ihrer Reglosigkeit, fragte sich, ob sie noch eine Decke brauchte oder ob ihr vielleicht zu warm war …
Himmel, die Liste war unendlich. Aber er konnte es nicht ändern. Gebundene Krieger waren eben so. Die Besorgnis um ihre Gefährtinnen war etwas Naturgegebenes, und nach dem, was Angela durchgemacht hatte, stand die Nadel seines Besorgnisanzeigers auf dunkelrot.
Er stützte die Ellbogen auf die Knie und beugte sich vor, lauschte dem Piepsen des Herzmonitors, hielt sich an dem stetigen Geräusch fest wie an einem Rettungsring. Bei Gott, er hätte sie beinahe verloren. Das da draußen war verdammt knapp gewesen. Viel zu knapp. Wäre er auch nur einen Augenblick später gekommen … hätte er Mysts Wohnung nicht sofort bei Einbruch der Nacht verlassen, dann wäre sie …
Rikar schüttelte den Kopf. Daran sollte er nicht denken.
Aber noch während sein Verstand ihm riet, den Gedanken beiseitezuschieben, tauchten die Alternativen wie Spielkarten vor ihm auf. Während er sie betrachtete, rutschte er auf dem Stuhl hin und her, getrieben von dem Bedürfnis, aufzustehen und auf die Jagd zu gehen. Den Razorback in kleine Stücke zu zerreißen und zuzusehen, wie er verblutete. Stattdessen beobachtete er Angela und passte sich ihrem Atemrhythmus an. Allein die Kraft seiner Gedanken hätte ausreichen müssen, damit sich ihre Brust hob und senkte. Sein Herz zog sich zusammen, während er sie betrachtete. Wenn sie aufwachte, würde sie feststellen müssen, dass ihr bisheriges Leben vorüber war. Kein Polizeirevier mehr. Kein Morddezernat. Auf Wiedersehen, Normalität. Hallo, fremde neue Welt.
Er starrte finster vor sich hin, während er die Finger zwischen den Knien verschränkte. Vielleicht wusste sie es schon. Vielleicht verstand sie irgendwie – durch weibliche Intuition vielleicht –, was ihre Gefangennahme durch die Razorback bedeutete … dass sie in der Welt der Menschen nicht länger sicher war.
Wunschdenken? Wahrscheinlich.
Er wünschte sich, dass sie es akzeptieren konnte. Ihn, ihr neues Leben, alles. Und im Moment war die Vorstellung, sie würde sich nicht gegen die Veränderung wehren, einfach zu verlockend. Der Tagtraum beruhigte ihn, besänftigte seine eisige Seite, und als seine Anspannung nachließ, verzog sich auch das Hämmern aus seinen Schläfen in den Hinterkopf.
Mit einem Seufzen ließ Rikar das Kinn sinken, dehnte die verspannten Muskeln entlang seiner Wirbelsäule. Als die Knoten sich lockerten, einer nach dem anderen, stöhnte er auf. Hmm, das fühlte sich gut an. Vielleicht sollte er sich mal richtig strecken. Obwohl – auf keinen Fall würde er Venoms Beispiel folgen und sich auf einer Yogamatte sehen lassen. Dieses Hatha-Zeug war doch Mist. Mit bandagierten Knöcheln auf einen Sandsack einzuschlagen entsprach eher seinem Style. Auch wenn ein bisschen Zen an diesem Morgen wohl nicht schaden könnte, also …
»Nein!«
Der scharfe Ruf – halb Schreien, halb Keuchen – ließ Rikar aufschrecken. Sein Blick blieb an Angelas Gesicht hängen, und einen Augenblick lang bekam er keine Luft mehr. Sie zuckte, die Augenbrauen tief nach unten gezogen, die Fäuste geballt, und ihre Beine bewegten sich heftig unter der Decke, während sie im Schlaf aufschrie. Ein Albtraum. Nach dem, was sie durchgemacht hatte, hatte er damit gerechnet, aber es wirklich zu erleben, war viel schlimmer. Zu sehen, wie sie gegen einen nicht vorhandenen Gegner ankämpfte, riss ihm das Herz aus der Brust, und als er den Stuhl zurückschob und aufstand, war er sich nicht sicher, was er tun sollte. Sie aufwecken? Sie festhalten?
Er schüttelte den Kopf. Festhalten war keine gute Idee. Genau das hatte Lothair getan, und … dieser Bastard. Rikar weigerte sich, seinem Beispiel zu folgen.
»Angela … sssch, Süße«, sagte er in der Hoffnung, sie zu beruhigen. Himmel, er sehnte sich so sehr danach, sie zu berühren, doch sein Instinkt riet ihm, es nicht zu tun. Zumindest vorerst. »Es ist alles in Ordnung. Du bist in Sicherheit … hier kann dir nichts geschehen.«
»Meine Waffe«, keuchte sie und hinter den geschlossenen Lidern zuckten ihre Augen wild hin und her, während sie gegen die Traumbestien ankämpfte. »Wo ist meine … ich brauche sie … er wird …«
»Nein, mein Engel. Ich bin bei dir.« Rikar bemühte sich, seine Stimme ruhig zu halten, aber es fiel ihm schwer. Er wollte sich gehen lassen, seinem Schmerz Ausdruck verleihen, seine Faust durch die nächste Wand rammen. Aber Angela brauchte nicht seine Wut. Nicht jetzt. Was sie brauchte, war Trost und Wärme, und beides konnte er ihr geben … solange er einen kühlen Kopf bewahrte, verdammt noch mal. »Er kann dich nicht kriegen. Ich lasse es nicht zu. Du bist in Sicherheit.«
Ihr Atem ging zitternd, in ihm lag der raue Klang der Angst und …
Scheiß drauf. Er streckte den Arm aus, ihr abgehacktes Schluchzen riss ihn in Stücke. Ganz sanft und langsam legte er ihr eine Hand auf die Wange. Eine Sekunde lang lag sie stocksteif da, dann wandte sie den Kopf und presste ihr Gesicht in seine Handfläche. Ihm stockte der Atem, als sie sich an ihn schmiegte, mehr von ihm spüren wollte. Er gab ihr, was sie wollte, legte ihr eine Hand in den Nacken, während er mit den Fingerspitzen der anderen sanft über ihre Schläfe strich. »So ist es gut, mein Engel. Es ist alles in Ordnung.«
Sie zog die Augenbrauen zusammen.
»Ich will meine Glock.«
Ihre Worte waren undeutlich, und Rikar lächelte. Himmel, er konnte nicht anders. Erleichterung durchflutete ihn. Respekt vor ihr erfüllte sein Herz. Jede andere hätte gesagt Ich will meine Mammi. Aber, oh nein. Sogar vollgepumpt mit Schmerzmitteln und von Albträumen geplagt war sie stark. Bereit, sich zu verteidigen, komme was wolle. In diesem Moment traf er eine Entscheidung. Seine Magie brandete auf und er beschwor eine Glock 19 herauf, Polizeiwaffenstandard.
Ohne ihren Kopf loszulassen, legte er ihr die Waffe in die Hand. »Hier, Süße.«
Sie zuckte zusammen, als das kalte Metall ihre Handfläche berührte, dann brummte sie zufrieden und kuschelte sich ins Bett, rollte sich auf die Seite und zog seinen Unterarm vor ihre Brust, als wollte sie sowohl ihn als auch die Waffe nah bei sich haben.
Es schnürte ihm die Kehle zu.
Schon wieder … er benahm sich schon wieder wie ein Weichei.
Rikar schüttelte den Kopf und verpasste sich einen mentalen Tritt, als er draußen im Flur Schritte hörte. Zeit, sich zusammenzureißen. Einer seiner Kumpels würde gleich hier hereinkommen und …
Die Türklinke wurde heruntergedrückt.
Er versuchte, sich von Angela zu lösen. Mit einem Wimmern verstärkte sie ihren Griff, ihre Hände schlossen sich um die Waffe, und sie hielt seinen Arm fest an sich gepresst. Rikar ließ den Versuch, den harten Kerl zu markieren, fallen wie eine heiße Kartoffel. Wen zum Teufel kümmerte es schon, was die anderen dachten? Mit den Frotzeleien und den dummen Witzen über Männer mit Halsbändern, die sich auspeitschen ließen, würde er schon fertig. Seine Frau brauchte ihn, also sollten seine Jungs doch zur Hölle fahren.
Er setzte sich auf die Bettkante. Sie kuschelte sich an ihn, schmiegte ihr Gesicht an die Seite seines Oberschenkels. Er murmelte leise, strich mit der Hand über ihr Haar und lauschte ihrem ruhigen Atem, während sie in tiefen Schlaf fiel.
Die stählernen Angeln quietschten leise, eine Sekunde bevor die Tür aufschwang. Sloan trat über die Schwelle, ein Tablett in der Hand. Der Duft nach Rührei wehte mit ihm herein und dazu … oh Himmel, ja, Zimt und brauner Zucker. Wie er es am liebsten hatte. Daimler sei gelobt. Der Numbai verstand es wie kein anderer, sich um jemanden zu kümmern.
Sloan sah sein Interesse und entblößte grinsend die reinweißen Zähne im mokkafarbenen Gesicht. »Hungrig?«
Rikar strich Angela über den Kopf. Während seine Finger mit den kurzen Haarsträhnen spielten, hielt er dem Blick seines Freundes stand, forderte ihn heraus, einen Kommentar über ihre Kuschelsession abzugeben. »Was gibt’s denn?«
Sloan schnaubte. »Du weißt, was es gibt. Du sabberst doch praktisch schon.«
Zimttoast. Mmm, lecker.
Sloan stellte das Tablett auf dem kleinen runden Tisch zwischen den Schränken an der gegenüberliegenden Wand und dem Bett ab und nickte ihm zu. »Willst du es lieber da drüben haben?«
»Ja. Bring den Tisch mit.« Mit einer sanften Drehung befreite Rikar seinen Arm aus Angelas Griff. Sie zog die Nase kraus und gab ein Geräusch des Protests von sich. Was ihn natürlich so ins Herz traf, dass er ihr seine andere Hand gab, bevor sie aus dem heilsamen Schlaf erwachte. »Ich bin im Moment etwas bewegungseingeschränkt.«
»Das sehe ich«, sagte sein Kumpel.
Mit der Hand strich Rikar über Angelas Nacken, berührte ihre zarte Haut, fuhr durch ihr rotes Haar. Und er wartete … auf den herablassenden Kommentar, auf den spöttischen Kriegertonfall, auf die Herausforderung seines Rufes als harter Kerl. Aber Sloan sagte kein Wort. Schob nur mit dem Fuß den zweiten Stuhl aus dem Weg, hob den Tisch an – samt Tablett und allem – und trug das ganze Arrangement zu ihm herüber. Rikar blinzelte, seine Augen brannten wie ein Holzhaus im Feuersturm, seine Kehle war so zugeschnürt, dass er kaum atmen konnte.
Himmel. Das hatte er nicht erwartet, aber … ungelogen? Sloan war das Paradebeispiel eines anständigen Kriegers, kümmerte sich um ihn, während die meisten ihn wegen seines Bedürfnisses, bei Angela zu bleiben, aufgezogen hätten.
Edles Porzellan klirrte, und das Besteck klapperte, als der Tisch etwas unsanft abgesetzt wurde. Sloan hob den Deckel an, und Rikar wäre beinahe zu einer Pfütze der Dankbarkeit geschmolzen. Stattdessen griff er zu, nahm sich ein Stück Zimttoast und steckte es sich zur Hälfte in den Mund, während er aufrichtige Dankesworte murmelte.
Sloans große Hand landete auf seiner Schulter, dann drückte sie zu. »Wie geht es ihr?«
»Besser«, sagte er um einen Mundvoll Toast herum. Als er das letzte Stück in sich hineingestopft hatte, kippte er den Kakao herunter, um nachzuspülen. Als er den Glasboden sehen konnte, griff er nach der Gabel und machte sich über die Eier her. Hmm … gerührtes Protein. Es gab nichts Besseres. »Es wird eine Weile dauern, aber sie kommt wieder in Ordnung.«
Sloan lehnte sich an die Wand neben dem Bett. Sein Blick glitt über die Waffe in Angelas Hand, dann zurück zu Rikar. »Hältst du das für eine gute Idee?«
»Sie ist nicht geladen«, sagte Rikar und beantwortete die Sorge seines Freundes mit einem Achselzucken. »Sie braucht sie, um sich sicher zu fühlen.«
»Das macht nicht die Waffe … das machst du.« Blitzschnell beugte Sloan sich vor und schnappte sich ein Stück Frühstücksspeck von Rikars Teller. »Du hast sie genährt, oder?«
Die Gabel auf halbem Weg zum Mund hielt Rikar inne. Wie viel sollte er zugeben? Alles? Nichts? Die ganze Sache mit Bas und Myst hatte niemanden überrascht. Bas war schließlich darauf aus gewesen, einen Sohn zu zeugen. Aber bei der gewohnheitsmäßigen »Fuck-you«-Einstellung seiner frostigen Seite erwartete sicher niemand, dass er jemals so tiefe Gefühle für eine Frau empfinden könnte.
Silber klapperte auf dem Teller, als er seine Gabel ablegte. »Hast du ein Problem damit?«
»Kein bisschen.« Sloan zog einen Mundwinkel hoch, als wüsste der Bastard, was er dachte. Rikar verspürte den plötzlichen Drang, ihm eine zu verpassen. »Aber wenn es stimmt, solltest du zu ihr ins Bett. Genug mit dem Händchenhalten.«
Himmel, das war typisch Sloan. Das Unverhoffte in Person. Du solltest zu ihr ins Bett. Hatte der Kerl den Verstand verloren? Auf keinen Fall würde Angela wollen, dass er sich es neben ihr gemütlich machte. Nicht nach dem, was sie durchgemacht hatte …
»Keine gute Idee.«
»Willst du, dass sie schnell wieder auf die Beine kommt?« Sloan hielt seinem Blick stand, aus seinen Augen sprach voller Ernst. Es war eine Herausforderung, sonst nichts. »Raus aus dem Lederzeug und rein in die Laken. Bei vollem Körperkontakt wird sie sich entspannen und tiefer in den Heilschlaf sinken. Und verdammt, Mann. Du bist am Arsch. Du brauchst den Schlaf genauso.«
Rikars Blick wanderte zu Angela. Mit der Fingerspitze fuhr er die Außenkurve ihres Ohres nach. Die Vorstellung war allzu verführerisch. Es wäre wunderbar, neben ihr ins Bett zu schlüpfen … sich vorzustellen, sie würde ihm gehören, während er sie im Arm hielt. Wenn auch nur für ein Weilchen. Doch das Ganze war pure Selbstsucht. Was er brauchte, sollte keine Rolle spielen. Aber seine Drachenhälfte wollte eben, was sie wollte. Und als die Bestie sich rührte, verschmolzen männliche Begierde und sein Beschützerinstinkt zu einem explosiven Cocktail. Rikar rutschte auf der Matratze hin und her. Es tat fast weh, so sehr wollte er sie im Arm halten.
Falsch. Es war einfach falsch.
Plötzlich hatte er das Gefühl, seine Haut sei ihm drei Nummern zu klein. Er ließ die Schultern kreisen. »Ich denke …«
»Lass es«, sagte Sloan und stieß sich von der Wand ab. »Denk lieber daran, was sie davon hätte.« Die leisen Schritte seines Freundes mischten sich unter das Piepsen des Herzmonitors, als er um das Bettende herumging. Sloan packte die Decke, zog sie mit einem Ruck zurück und heizte Rikars Feuer ordentlich an. »Du legst dich mit ihr hin … teilst deine Energie mit ihr? Dann wird sie weniger Narben davontragen. Vielleicht sogar gar keine. Diese ganzen Schnitte und Kratzer? Verschwinden. Und damit fängt es erst an.«
Rikar, der mittlerweile fast verzweifelte, schüttelte den Kopf. »Es wird ihr nicht gefallen, neben mir aufzuwachen.«
»Wenn es das nicht tut, bekommt sie auch nicht die Ruhe, die sie braucht.« Sloan blieb standhaft und versetzte ihm einen letzten verbalen Schlag. »Sie braucht dich bei sich, Rikar.«
»Scheiße …«, Rikar strich sich mit der Hand über das kurze Haar. Er rieb sich den Nacken und starrte auf das Stück Matratze, das Sloan neben Angela freigelegt hatte. Er seufzte, stand auf und zog seine Lederjacke aus. »Du bist echt ein Arschloch.«
Sein Kumpel lachte schnaubend und fing die Jacke auf, die Rikar ihm zuwarf. »Du musst es ja wissen.«
Wo er recht hat, hat er recht, dachte Rikar, während er seine restlichen Kleidungsstücke verschwinden ließ und sich neben Angela legte.
Mac schreckte aus dem Schlaf hoch. Als Nächstes bemerkte er, wie steif sein ganzer Körper war. Während seine verkrampften Muskeln um Entspannung bettelten, öffnete er die Augen einen Spaltbreit. Er erkannte eine Ziegelwand. Danach eine Menge aufrecht gestellter Möbelstücke, die jemand unter die hohen Bogenfenster geschoben hatte. Drei an der Zahl, ihr schwarzes Glas kräuselte sich wie die Oberfläche eines Sees.
Hmm, ja. Wasser.
Ein kurzes Bad könnte er jetzt gut gebrauchen. Eine Runde Brustkraulen durch die Brandung würde ihn wieder fit machen. Na ja, entweder das oder ein Chiropraktiker. Himmelherrgott, was hatte er nur die ganze Nacht über angestellt? Versucht, eine Brezel zu imitieren?
Mit einem Stöhnen schloss er die Augen und ließ die Schultern kreisen. Erst die eine, dann die andere. Seine Gelenke knackten, protestierten, als die schmerzenden Muskeln nachgaben. Es tat höllisch weh. Himmel, genauso wie sein Kopf. Schmerz hämmerte gegen seine Schläfen, dann glitt er rückwärts, um an seinen Hinterkopf zu donnern. Mac biss die Zähne zusammen und unterdrückte ein erneutes Stöhnen. Lärm war jetzt keine gute Idee. Nicht, solange sein ganzer Körper eine einzige Schmerzzone war.
Was hatte er sich nur dabei gedacht? Das Gefühl – und das Morgen-danach-Bedauern, das es begleitete – war nur allzu vertraut … Tequila. Wahrscheinlich eine ganze Flasche Patrón. Wobei er nur raten konnte, warum er sich den guten Stoff gegönnt hatte. Alkoholexzesse und Blackouts waren nicht gerade typisch für ihn. Zumindest nicht mehr.
Mac schüttelte den Kopf und bedauerte es sofort, als das Hämmern wieder zunahm, aber irgendetwas stimmte hier wirklich, wirklich, wirklich nicht. Nichts von dem, was er fühlte, ergab einen Sinn. Er hatte nicht getrunken. Mac runzelte die Stirn. Oder?
Während die Anklage im Raum schwebte, versuchte er, sich zu erinnern. Kleine Puzzleteile trieben nach oben und fanden ihren Platz in seinem Gedächtnis. Er markierte sie alle wie Beweisstücke an einem Tatort, folgte seinen eigenen Schritten. Das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war …
Himmelherrgott.
Angela.
Macs Kopf schoss nach oben. Bei der Bewegung rasselte irgendetwas, und sein Blick fuhr zum Fenster. Ein verschwommener Umriss nahm Gestalt an. Heilige Mutter Gottes. Ein Drache. Blaugraue Schuppen schimmerten im dämmrigen Licht, und das Ding starrte ihn an: ohne zu blinzeln, ohne sich zu bewegen, erwiderte es seinen Blick. Er blieb reglos stehen, wollte nicht, dass das Monster erschrak. Der gehörnte Kopf verharrte ebenfalls still, als warte er auf seine nächste Bewegung oder …
Moment mal.
Er zwinkerte. Das Monster erwiderte sein Zwinkern ohne die aquamarinblauen Augen von ihm zu nehmen. Er drehte seinen Kopf ein Stück zur Seite. Yep, der Drache tat es ihm gleich, spiegelte jede seiner Bewegungen. Alles um Mac begann sich zu drehen. Sein Atem ging schneller, keuchend pumpten seine Lungen. Die blaugraue Brust hob und senkte sich mit der seinen, die Schuppen klackten laut durch die Stille.
Nein. Auf keinen Fall. Er zog die Brauen so sehr zusammen, dass sie einander fast berührten. Das konnte nicht er sein. Es konnte nicht sein, aber …
Die Augen des Drachen hatten dieselbe Farbe wie die seinen, und eine Erinnerung jagte in seinem Kopf den eigenen Schwanz. Ganz an der Spitze der Gedächtnisparade? Eine tiefe Stimme, die mit ihm sprach, in seinem Kopf widerhallte, ihm half, sich zu verwandeln. In einen …
Heilige Scheiße. Er war ein Drache.
Ein Ton des Entsetzens entfuhr seiner Brust. Das Wimmern klang rau, fast schon angstvoll, aber Mac kümmerte es nicht. Weichei-Reaktionen konnten zur Hölle fahren. Etwas Schreckliches war passiert, und jetzt steckte er in Monsterland fest. An einem normalen Tag kein Problem. Mit der menschlichen Sorte hatte er jeden Tag zu tun, aber …
Der Himmel möge ihm helfen.
Er kroch nach hinten, fort von seinem Spiegelbild. Das Kratzen von Klauen auf hölzernen Dielen hallte durch den Raum, wurde von den Ziegelwänden zurückgeworfen und versetzten das schwarze Glas in Wallung. Das Geräusch ließ ihn nach unten blicken. Er ballte seine Hand zur Faust. Eine riesige Pranke reagierte, zog sich auf Befehl zusammen und entspannte sich wieder. Jesus Christus. Das gehörte nicht zu ihm. Es konnte nicht sein. Aber als er die Finger spreizte und auf die Schwimmhäute zwischen den Klauen hinabblickte, erkannte er, dass leugnen keinen Sinn hatte. Das hier war kein Traum. Der blaugraue Drache war nicht nur real, er war er. Er war dieses Ding. Sie waren verdammt noch mal ein und derselbe.
Sein Atem beschleunigte sich. Zwei Dampfsäulen stiegen aus seinen Nasenlöchern auf und versetzten ihn in Panik, während sich ein eiskaltes Band um seinen Brustkorb legte wie ein Schraubstock. Stück für Stück wurde es enger, bis er nicht mehr atmen konnte und die Wände näher kamen. Klaustrophobie überkam ihn, schrie ihm zu, verdammt noch mal von hier zu verschwinden, bevor man ihn lebendig begrub. Sein Blick schwenkte zur Balkontür auf der anderen Seite der Wohnung. Könnte er es schaffen? Würde er hindurchpassen, so wie er …
»Alles in Ordnung, Kumpel.« Ruhig und gedämpft drang die Stimme aus den Schatten. Mac hielt sich an den Worten fest, während die Panik ihn an den Rand des Wahnsinns trieb. Der Sog erfasste ihn, verengte sein Blickfeld, bis er nichts mehr sehen konnte außer verschwommenen Umrissen. »Ganz ruhig. Dir kann nichts passieren.«
»Raus«, keuchte er und erkannte seine eigene Stimme nicht. Er klang wie ein Monster, nach Knurren und Fauchen, ganz und gar nicht wie er selbst. Dicht an die Zimmerwand gepresst schüttelte er den Kopf. Ein Kribbeln glitt über seine Schläfen, dann nach oben um die Hörner auf … Himmel. Die Dinger wuchsen aus seinem Kopf. »Ich muss … hier raus.«
»Ich hab dich gehört. Aber es geht noch nicht«, sagte die Stimme und klang jetzt viel näher. »Halt durch, Kumpel … lass mich erklären. Wir kriegen dich wieder hin.«
»Kann’s kaum erwarten.« Mittlerweile tanzten schwarze Punkte vor seinen Augen, er war kurz davor zu hyperventilieren. Mac hielt sich an der einzigen Sache fest, die ihm wichtig war. Behielt einen klaren Kopf, indem er sich auf Angela konzentrierte. Wie immer half sie ihm, sich zu fangen, drängte das laute »heilige Scheiße« in seinem Kopf in den Hintergrund. Er musste sie finden … musste dafür sorgen, dass sie in Sicherheit war. »Ange … meine Partnerin … sie steckt in Schwierigkeiten und …«
»Nicht mehr.« Aus den Schatten schälte sich der Umriss eines Mannes. Der Kerl hob die Hände, Handflächen nach oben. Die Geste sollte ihn beruhigen. Aber es waren die Augen, die Mac anstarrte. Das schimmernde Grün wirkte auf ihn wie ein Rettungsanker, und während er sich daran festklammerte, sagte der Kerl: »Rikar hat sie herausgeholt. Sie ist in Sicherheit, Mac.«
Macs Brauen zogen sich zusammen. Rikar. Er kannte diesen Namen. Erinnerte sich an die Stimme und die Geduld. Die Freundlichkeit während all der Stunden, die er in der Hölle verbracht hatte. Und Himmel … gerade in dieser Minute sehnte er sich danach, sie noch einmal zu hören, Weichei hin oder her.
»Wo ist er?«
»Bei Angela. Er beschützt sie … passt auf, dass es ihr gut geht.«
Was für eine Erleichterung. Was für ein Wahnsinn. Er kannte diesen Kerl nicht einmal. Vertraute ihm nicht, aber sein Cop-Instinkt war mittlerweile wieder angesprungen und sagte ihm, trotz der beschissenen Situation und seiner verschwommenen Sicht, dass der Typ in Ordnung war – auf verantwortungsvolle Weise anständig – und Mac wollte ihm glauben.
Klauen klickten, als er seinen Fuß zurück auf den Boden stellte.
»Wo?«
»Im Black Diamond … unserem Hauptquartier.« Die Stimme klang jetzt noch näher und wand sich durch die verschwommenen Schatten auf ihn zu. »Es ist sicher, Mac. Der Feind kann sie dort nicht aufspüren.«
»Na, dann los«, sagte er, da er mehr brauchte, als die Versicherungen eines Fremden. Er würde es auf keinen Fall glauben, bis er sie nicht selbst gesehen hatte. Das und die Tatsache, dass er dann aus der verdammten Enge dieser Wohnung herauskommen würde, machte die Sache zur Win-win-Situation. »Ich will sie sehen … nur um sicherzugehen.«
»Die Sonne geht gerade auf, großer Mann.«
Mac runzelte die Stirn, ein lautes »Na und« auf der Zunge.
Wie ein Gedankenleser sagte der Kerl ruhig: »Da gibt es etwas, das du über unsere Art wissen solltest, Mac. Wir vertragen kein Sonnenlicht. Wenn du jetzt rausgehst, wirst du gegrillt.«
»Scheiße.« Jetzt wusste er wohl, warum er nie viel geschlafen hatte. Er war schon immer so gewesen, war die ganze Nacht aufgeblieben, um sich beim Morgengrauen hinzulegen und noch schnell eine Mütze voll Schlaf zu bekommen. Eigentlich erklärte es eine ganze Menge, und als das Puzzleteil an seinen vorgesehenen Platz rutschte, schaltete sein Gehirn sich wieder ein. Mit dem klaren Kopf normalisierte sich auch seine Sehkraft. Er musterte den Kerl, der vor ihm stand. Dunkles Haar. Grüne Augen. Mit einem Blick so intensiv wie ein Blitzschlag und einem Körper, der diesen Eindruck noch verstärkte, wirkte er fast menschlich, aber … eben nicht ganz. »Du bist Bastian, Rikars Kommandant.«
»Gut … du erinnerst dich.« Bastian ließ die Hände sinken und nickte zufrieden. »Die Verwandlung ist ein ganz schöner Tritt in den Arsch. Die meisten Drachenkrieger erinnern sich hinterher an gar nichts mehr, sogar wenn sie zuvor wussten, was sie erwartet … sogar wenn man sie dafür ausgebildet hat.«
Drachenkrieger. Das Wort ließ ihn innehalten. Warum? Er wusste es nicht recht, denn ohne jeden Zweifel war er einer von ihnen. Stirnrunzelnd ließ er noch einmal seine Klaue abknicken, dann warf er einen Blick nach unten und riss die Augen auf. Großer Gott, sieh dir das Ding an. Ein Schwanz, ausgestattet mit rasiermesserscharfen Kanten: oben, unten und um die Spitze. Er versuchte, nicht auszurasten, wand ihn der Länge nach um seine Pranken und sah noch einmal genauer hin. Wow. Das Ding sah tödlich aus, und wenn es ihm nicht solche Angst eingejagt hätte, hätte er es fast cool finden können.
Erstaunen mischte sich in die Ungläubigkeit. Er warf Bastian einen Blick zu. »Wie … ich meine … gottverdammt. Ich bin vierunddreißig. Wie konnte ich nicht wissen, dass ich kein …«
»Mensch bin?«
Mac spürte einen Kloß im Hals, als er nickte.
»Du bist … halb menschlich. Sohn einer menschlichen Frau und eines Drachenkriegers.« Bastian trat näher an ihn heran und klopfte mit den Knöcheln auf seine Schulter. Ein hohler Ton erklang, als hätte er Stahl getroffen, nicht seine schicke neue Haut. »Ich weiß nicht, wie du durchgerutscht bist, aber dein Vater wusste nichts von dir. Er hätte dich niemals in der Welt der Menschen zurückgelassen, wenn er gewusst hätte, dass es dich gibt.«
Der alte Schmerz stieg in ihm auf. Wie immer, wenn er an seinen Vater dachte, einen Mann, den er nie gesehen … der seine Vaterschaft nie beansprucht hatte. Nicht gekommen war, um ihn aus einer Welt zu retten, in der es niemanden kümmerte, was mit ihm passierte. Aber die Vorstellung, dass der Mann, den zu treffen er sich immer erträumt hatte, ihn doch nicht im Stich gelassen hatte? Himmel, das Wissen füllte die Leere, die hohle Stelle in seinem Herzen, in der so lange der Schmerz gehaust hatte.
Vielleicht war es Unsinn. Vielleicht auch nicht. Mac war es egal. Die neue Version gefiel ihm besser als die, mit der er sein ganzes Leben verbracht hatte. Seine Mutter, die auf dem Operationstisch gestorben war. Keine Familie, die ihn haben wollte. All die Jahre im Sacred Heart Waisenhaus.
Trautes Heim, Glück allein. Na, sicher.
»Ich weiß, für dich ergibt es im Moment wenig Sinn, aber wenn dein Vater von dir gewusst hätte …« Bastian brach ab, und die Stille sprach Bände. Der Kerl verstand genau, was er fühlte. Was er Tag für Tag wieder durchmachte. All den Schmerz, den er im Versuch, ihn zu vergessen, tief in sich vergraben hatte. »Er hätte dich geholt.«
Tränen schnürten ihm die Kehle zu. Gottverdammt. Er hatte sich in ein verdammtes Weichei verwandelt, ließ sich von einem Mann trösten, den er nicht einmal kannte. Aber Bastian tat es, ohne zu zögern. Kein Zweifel. Der Kerl war anständig, hatte alle sieben Sinne beisammen und verdammt, wenn er sich nicht in den nächsten drei Sekunden zusammenriss, würden sie gemeinsam eine Runde »Kumbaya« anstimmen. Schnief-schnief-schluchz-schluchz.
Mac räusperte sich. »Hör zu, ich bin …«
Ein Kribbeln lief über seinen Nacken, und die rasiermesserscharfe Klinge entlang seines Rückgrats vibrierte. Mac spannte die Muskeln an, seine übersinnliche Wahrnehmung ließ all seine Alarmglocken schrillen. Während er abwartete und beobachtete, flog ein Schatten heran und landete neben der Tür auf dem Balkon.
Was zum Teufel war das? Er dachte, sie wären alleine, aber da hatte sich wohl noch jemand der Party angeschlossen. Alles, was er jetzt noch spürte, war Wut. Sein Blick verengte sich. Ja, keine Frage. Eine Lkw-Ladung Ärger rollte direkt auf ihn zu. Er schob sich nach rechts, trat um Bastian herum und kauerte sich zusammen. Sich zu ducken, schien ihm die beste Reaktion … nichts war besser, wenn man angegriffen wurde.
Mit einem gemurmelten »Fuck« schlug Bastian ihm mit der Hand auf die Brust. »Entspann dich, Mann. Da geht nichts.«
Bullshit. Da »ging« ganz sicher irgendwas.
Die Balkontür wurde aufgeschoben. Licht brach durch die Öffnung und blendete Mac. Er blinzelte fluchend und versuchte zu erkennen, was da auf ihn zukam. Keine Chance. Alles, was er sehen konnte, war ein heller Lichtstreifen. Diese verdammten Augen. Dieses verdammte Tageslicht. Als könnte er gerade jetzt tanzende Punkte vor den Augen gebrauchen.
Bastian fuhr herum und stellte sich zwischen ihn und die Tür. »Und?«
Eine dunkle Silhouette trat über die Schwelle und schüttelte den Kopf. »Lothair ist abgetaucht. Hat irgendein Schlupfloch gefunden. Und uns ist die Zeit davongelaufen.«
»Verdammter Bastard.« Mit einem Knurren betrat ein zweiter Kerl hinter dem ersten die Wohnung. Das Schloss klickte, als die Glastür sich hinter ihm schloss und die Sonne aussperrte. Gott sei Dank. Jetzt musste Mac nur noch die tanzenden Punkte vor den Augen loswerden. Während er hektisch blinzelte, sagte Kerl Nummer zwei: »Wir finden ihn, wenn es Nacht wird. Und schicken Ivar seine Eier in einem Weidenkörbchen.«
Erstaunen glitt über Bastians Gesicht. »Gut zu wissen, Wick.«
»Mann, Wahnsinn«, sagte der blonde Kerl und starrte seinen Kumpel an. »Mehr als drei Worte am Stück … was ist los mit dir?«
Wick, dessen schwarzes Haar im Dämmerlicht blau glänzte, zeigte seinem Freund den Mittelfinger.
»Oookkay … er ist wieder normal.« Der Blonde grinste. »Ich bin erleichtert.«
Schweigen folgte der Verkündung. Dann eine Pause, als würden sich alle akklimatisieren, und während sich Stille im Raum breitmachte, veränderte sich die Stimmung. Mac schaltete auf Alarm und machte sich bereit. Für alles, denn wer auch immer Frieden mit Ruhe in Zusammenhang gebracht hatte, war wahnsinnig gewesen.
»Ach, schau mal, Wick.« Der blonde, in Leder gekleidete Mann blieb neben der Küchenzeile stehen und musterte ihn aus zusammengekniffenen, rubinroten Augen. »Hohlkopf ist aufgewacht.«
Die abfällige Bezeichnung legte einen Schalter in Macs Gehirn um. Oh ja … der Mistkerl (alias Venom). Den er nicht leiden konnte. Mac knurrte, als Mistkerl seine Hände auf die Anrichte legte, sich blitzschnell umdrehte und seinen Hintern auf die Arbeitsplatte schwang. Seine Stiefel baumelten in der Luft, während der Kerl ihn angrinste und mit offenkundlicher Provokation die Zähne bleckte. Mac fauchte zurück und wünschte, er hätte Fäuste statt Klauen, damit er dem Bastard noch mal eine reinhauen könnte.
»Venom«, sagte Bastian und legte Mac eine Hand auf die Brust. Er drückte gegen seinen Schuppenpanzer, die Botschaft war klar und deutlich: Bleib, wo du bist, Kumpel, oder du kriegst Ärger. »Halt dich zurück. Den Mist brauchen wir jetzt nicht.«
»Was … als müsste ich mir Sorgen machen.« Er baumelte mit den Beinen, seine Stiefel glänzten schwarz im Dämmerlicht. Interessanterweise sah Mac nun, da die Punkte verschwunden waren, alles mit genauester Klarheit: die einzelnen Fasern der Schnürsenkel des Kerls, jede Naht seiner Lederkluft, das Feixen auf Venoms Gesicht, als dieser ihn musterte. »Verdammt, den kleinen Jungvogel könnte ich mir in Menschengestalt zum Mittagessen rupfen, und ich bräuchte nicht mal einen Zahnstocher hinterher.«
Bastian knurrte warnend.
Mac bleckte seine brandneuen Zähne, während sein Verstand der Erinnerungskette weitere Glieder hinzufügte. Jedes einzelne machte ihn wütend, füllte sein Gedächtnis wie Wasser, das in ein Glas gegossen wurde. Irgendetwas mit einer Frau. Der Mistkerl hatte versucht, Hand an die Frau zu legen, die ihm gehörte.
Wut verkrampfte seine Muskeln, und als Venom lachte, verlor Mac die Kontrolle und fauchte. Etwas Widerwärtiges schoss aus seiner Kehle. Der ekelhafte Geschmack ließ ihn husten, während der Mistkerl fluchte und sich duckte, als eine schleimige Flüssigkeit hinter ihm an die Wand spritzte. Die Ziegelmauer explodierte. Splitter flogen in die Luft und schossen zischend durch den Raum. Mac blinzelte. Heilige Scheiße. Das war cool, trotz des grauenhaften Nachgeschmacks. Der Schleim fraß sich durch das Mauerwerk und brannte Löcher in die Dielen.
»Krass. Hast du das gesehen, Bas?« Venom setzte sich auf und warf einen Blick über die Schulter. »Wick, komm und sieh dir das an!«
Freudestrahlend joggte Wick zu ihm herüber, während das Zischen und Knistern dessen, was da aus Macs Kehle gekommen war, lauter wurde. Leicht entsetzt, aber vor allem fasziniert, machte Mac den Hals lang, um zu sehen, was er angerichtet hatte.
Wick kam schlitternd zum Stehen und begutachtete den Schaden. »Cool, Wassersäure.«
»Geiler Scheiß.«
Wick beugte sich vor und schnüffelte an dem Schleim. »Ich glaube, es ist sogar entzündlich.«
»Das müssen wir mal testen.« Venom sprang von der Anrichte und stieß einen der Splitter mit der Stiefelspitze an. »Wir könnten ja mit unserem Neuen mal eine oder …«
»Zwei Runden drehen«, beendete Wick den Satz seines Kumpels. Er schnüffelte noch einmal an der Substanz, dann warf er Mac aus seinen goldenen Augen einen abschätzenden Blick zu. »Das wird lustig. Die totale Zerstörung.«
»Zweifellos.« Venom zog den Fuß zurück, bevor sich der Schleim – die Wassersäure … was auch immer – durch den Stiefel fraß.
Mac zog die Augenbrauen zusammen, als sein Instinkt ihn mit allen Mitteln davor warnte, auf diesen Vorschlag einzugehen. Auf gar keinen Fall wollte er mit diesen beiden irgendwo hingehen. Venom konnte es nicht abwarten, ihn umzubringen. Und Wick? Himmel, es reichte schon, diesem Kerl in die Augen zu sehen. Kalt. Hart. Gefühllos. Der strahlte echt die Herzenswärme eines Psychopathen aus.
Er warf Bastian einen Blick zu. »Was zum Teufel?«
»Du wirst dich an sie gewöhnen«, sagte er und schlug Mac mit der Faust auf die Brust. »Und bis dahin ignoriere sie einfach. Wir haben eine Menge zu erledigen, bevor die Sonne aufgeht.«
Mac runzelte die Stirn, in seinem Kopf schrillten die Alarmglocken.
Bastian grinste. »Du musst noch ein paar Sachen lernen.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Wie man sich verwandelt … vom Drachen zum Menschen und wieder zurück.«
»Das geht?« Ihm stockte der Atem. Der erste Hauch von Aufregung rann ihm den Rücken hinunter. Sich zu verwandeln klang cool. Dann würde er sich wenigstens wieder normal fühlen … mehr wie er selbst, weniger wie ein Monster.
»Wir alle können das«, sagte Venom, während er sein Hinterteil wieder auf der Anrichte platzierte. »Warte nur, bis die Flugstunden anfangen. Das wird ein richtiger Spaß.«
»Aber hallo«, murmelte Wick mit Blick auf Mac, während er den Raum durchquerte. Dann drehte er sich um und lehnte sich an die Wand zwischen den hohen Fenstern. Hin- und hergerissen zwischen Wissbegierde und Misstrauen wanderte Macs Blick von Venom zu Wick und wieder zurück. Meinten sie das ernst? Er ließ die Schultern kreisen und sah zu den Flügeln, die seinen neuen Körper zierten. Er bewegte sie auf und ab, ohne sie jedoch auszubreiten. Hier drin gab es nicht genug Platz, um …
Wow. Okay … das war cool.
Die Schwingen streckten sich, gaben ihm ein Gefühl für ihre Spannweite und … Wham! Es haute ihn um. Die Dinger funktionierten. Totaler Irrsinn, aber noch krasser war die Erkenntnis, dass er vielleicht wirklich in der Lage sein würde zu fliegen.
Sein Herz machte einen kleinen Sprung. Okay, in Ordnung. Sie meinten es wohl ernst, aber das hieß nicht, dass er den Bastarden den »Spaß« bescheren würde, auf den sie so offensichtlich warteten.
Er hielt Venoms Blick stand und schleuderte ihm die Herausforderung zurück ins Gesicht. »Wir werden sehen, Mistkerl.«
»Das werden wir, Jungvogel«, sagte Venom mit glühend rubinroten Augen.
In der Tat.
Mac sah zu Bastian. »Zeig es mir.«
Lasst die Spiele – äh … den Unterricht – beginnen.