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Die Notaufnahme im Swedish Medical war ein verdammter Zoo, und der Lärm machte Mac das Denken schwer. Nicht, dass er viel zu denken gehabt hätte. Die Explosion hatte seine Synapsen durchschmoren lassen, und nach einem Dutzend Runden ohne Bewusstsein schlug sein Gehirn Purzelbäume. Einen nach dem anderen. Ohne Unterlass.
Himmel, würde der Raum jemals wieder aufhören, sich zu drehen?
Er bekämpfte den Einbahnstraßen-Evakuierungsplan seines Magens, hielt sich an der Matratze fest und rollte sich auf die Seite. Das Krankenhausbett quietschte gequält auf. Mann, das Ding war nicht für Männer seiner Statur gebaut. Für die Kopfschmerzen, die langsam olympische Qualität annahmen? Okay, vielleicht. Aber nicht für einen schlecht gelaunten Cop von knapp zwei Metern, der keine Zeit zu verlieren hatte.
Die ganze Situation war ein Riesenhaufen Scheiße. Jedes einzelne Detail. Das Warten. Der Lärm. Das Fieber und der Schwindel. Die Tatsache, dass sein Boss ihn auf einer Krankenbahre an der Front abgesetzt hatte. Okay, das war vielleicht nicht ganz fair. Es schien nur so, als säße er mitten in einem Kriegsgebiet fest, aber eigentlich spielte das keine Rolle. Seine Partnerin war gekidnappt worden. Von einem …
Bei Gott, hatte er wirklich gesehen, was er gesehen hatte?
Mac rieb sich die Stirn, und sein Blick wurde klarer. Er hatte nur für den Bruchteil einer Sekunde freie Sicht gehabt, und der Schnappschuss schien nicht viel Wert zu sein, aber … doch, definitiv. Er hatte es ganz deutlich gesehen, bevor der geschuppte Bastard ihn durch die Scheibe gejagt hatte. Ein Drache. Mit scharfen Klauen, schwarzen Schuppen, echt mieser Laune und einem Atem aus Giftgas.
Oder radioaktiver Strahlung. Oder was auch immer.
Mac wusste nicht, was ihn getroffen hatte. Die Ärzte leider auch nicht. Nicht einmal nach den ganzen bescheuerten Bluttests.
Und das war ein Problem.
Seine Partnerin brauchte ihn, und wo steckte er? Verletzt auf der Ersatzbank, hinter der Spiellinie, während die Polizei von Seattle nach Angela suchte – seiner kleinen Schwester. Denn genau das war sie, auch wenn sie nicht blutsverwandt waren. Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu. Himmel, hatte er bereits erwähnt, dass die ganze Sache hier ein Riesenhaufen Scheiße war? Eine totale, verdammte Farce. Er kannte Angela besser als jeder andere. Verstand sie auf eine Art und Weise, wie sie sich nicht einmal selbst verstand. Kannte ihre Ängste, ihre Vorlieben, wohin sie sich zurückzog, wenn sie alleine sein wollte.
Und was hatten sein Boss und das idiotische Ärzteteam getan? Ihn hier angekettet … mit einem Bodyguard vor der Tür.
Mac schnaubte. Als würde ihn das aufhalten.
Er schluckte ein Stöhnen hinunter, schwang die Beine über die Bettkante und setzte sich auf. Der Raum stellte sich auf den Kopf. Sein Magen hob sich, beruhigte sich aber, als sein Gehirn sich wieder einschaltete. Dem Himmel sei Dank. Ja, der Schmerz war noch da – hämmerte gegen seine Schläfen, ließ seine Muskeln krampfen –, aber wenigstens konnte er sich bewegen. War einsatz- und kampfbereit, schließlich konnte er nicht bleiben. Hier, wo sich niemand auch nur im Geringsten für Ange interessierte. Für die Tatsache, dass sie irgendwo dort draußen war: alleine, ohne ihre Glock zur Unterstützung.
Sollten die Ärzte doch zur Hölle fahren mit ihren Tests und CT-Scans. Hier herauszukommen hatte oberste Priorität. Nicht seine Gesundheit. Und nicht diese Idioten, die erwarteten, dass er sich selbst am wichtigsten war.
Wenn er nur seine Stiefel finden könnte.
Er war so damit beschäftigt, unter das Bett zu spähen, dass ihm das quietschende Geräusch der Krankenschwesterschuhe entging. Kreischend glitt Metall über Metall, und er zuckte zusammen, als der Vorhang um sein Bett zur Seite gezogen wurde. Das Quietschen der Gummisohlen erstarb. »Detective MacCord … was glauben Sie, dass Sie da tun?«
Verdammt, da war sie wieder. Das war wirklich das Letzte, was er brauchte. Schwester Wie-auch-Immer war eine aalglatte Angestellte. Eine Lügnerin mit großen blauen Augen und ohne jedweden Skrupel. »Natürlich steht es Ihnen jederzeit frei zu gehen, Detective«, sagte sie. »Nur noch ein paar Tests …«
Na, klar. Sie blökte im Chor mit den anderen und verarschte ihn. Beweisstück Nummer Eins? Conan – das Genie mit dem Sicherheitsfirma-Aufnäher auf dem Hemd –, der ihn durch die offene Tür beäugte.
Die Krankenschwester zögerte eine Sekunde, dann trat sie in seinen kleinen Privatbereich. Er beobachtete sie aus dem Augenwinkel, sah sie nicht direkt an, behielt sie aber im Blick. »Haben Sie mich gehört?«
»Laut und deutlich.«
»Und?«
Oh prima, da waren sie. Er streckte die Hand aus und zerrte die schwarzen Militärstiefel unter dem Bett hervor. Seine Tat sagte mehr als tausend Worte, und während sie aufseufzte, schlüpfte er unter einiger Anstrengung in die Stiefel.
»Sie können noch nicht gehen. Wir sind noch nicht durch mit den Tests.« Ihre Stimme klang hart und abgehackt, wie die eines Befehlshabers im Feuergefecht. »Gehen Sie zurück ins Bett.«
Welch Ironie. In jeder anderen Nacht wäre er auf den Partyzug aufgesprungen: hätte sie hart rangenommen, vor Lust zum Schreien gebracht und dafür gesorgt, dass sie um mehr flehte. Aber nicht heute Nacht. Er hatte keine Zeit für Spielchen. Er wollte nur eines: hier raus.
Ein Schweißtropfen löste sich von seiner Nasenspitze und fiel mit einem leisen Platschen zu Boden. Er holte tief Luft, stieß sich vom Bett ab und stand auf. Seine Beine protestierten eine Sekunde lang, seine Oberschenkelmuskeln zuckten, dann fand er sein Gleichgewicht. Der Schwindel – die Schwäche und die Übelkeit – waren schlimm, aber das war noch das Geringste. Andere Dinge setzten ihm ebenfalls zu. Zum Beispiel die Neonlichter über seinem Kopf. Das grelle Licht schmerzte in seinen Augen und brachte seine Schläfen zum Pochen. Und seine Haut? War viel zu empfindlich, als hätte man ihn mit einem Sandstrahler behandelt, während er durch das Schlummerland driftete.
Er ließ die Schultern kreisen und zuckte zusammen. Die kratzige Jeans und das Baumwoll-T-Shirt, das er heute Morgen übergezogen hatte, fühlten sich unangenehm an. »Wo ist meine Jacke?«
»Detective MacCord, es geht Ihnen nicht gut«, sagte Schwester Nervtötend, mittlerweile klang ihre Stimme nicht länger stählern sondern schmeichelnd. Guter Plan. Nicht, dass der Melodiewechsel Erfolg hatte. Er würde gehen, ob sie wollte oder nicht. »Bitte … wir brauchen nur noch ein paar …«
Er fuhr zu ihr herum und nagelte sie mit der ganzen Macht seines Blickes fest.
Sie blinzelte, dann schnappte sie nach Luft. »Oh mein Gott. Ihre Augen. Sie … sie …«
Mac zog die Brauen zusammen. Was war mit seinen Augen? Wovon zum Teufel sprach sie da?
Die Krankenschwester trat einen Schritt zurück. Dann noch einen. Sie starrte ihn an, als entspränge er gerade einer Horrorshow. Er ließ sie nicht aus den Augen und streckte die Hand nach ihr aus. Panik flackerte in ihrem Blick auf, dann fuhr sie herum und rannte zur Tür. In dem Moment, als sie die Schwelle überquerte, schrie sie: »Einen Arzt! Ich brauche hier einen Arzt!«
»Gottverdammt.« Seine Lederjacke würde wohl warten müssen.
Aber er konnte es nicht. Gleich würde die Krankenschwester mit Verstärkung auftauchen. Und auch wenn es sein Job oft erforderte, schlug er nicht gerne Leute nieder. Es sei denn, dass sie ihm keine andere Wahl ließen.
Mac bewegte sich wie ein feindlicher Panzer, umrundete das Fußende des Bettes und hielt auf die Tür zu. Zwischen den Türpfosten stand wie angewachsen Conan, das Genie, und zog seinen Gürtel hoch. Das Abzeichen des Wachmanns glänzte im hellen Licht, strahlendes Silber auf der navyblauen Uniform. Fast hätte Mac die Augen verdreht. Stattdessen ballte er die Fäuste, fixierte den schmächtigen Sicherheitsangestellten und ging ohne langsamer zu werden auf ihn zu. »Willst du dich wirklich mit mir anlegen?«
Jep. Das wirkte. Mr. Harter Kerl trat zur Seite und gab ihm widerstandslos den Weg frei. Als Mac an ihm vorbeiging, nickte er dem Mann zu, denn er bedauerte, in welche beschissene Lage er den Kerl brachte. Wahrscheinlich würde es den Kleinen seinen Job kosten. Oder ihm zumindest einen Aktenverweis einhandeln.
»Tut mir leid, Mann. Meine Partnerin steckt in Schwierigkeiten.«
Conan nickte. »Gehen Sie links raus … über die Laderampe. Ich sagen ihnen, Sie hätten die andere Richtung genommen.«
»Bist ein echter Kumpel.«
»Mit Hintergedanken.« Der Kleine setzte sich in Bewegung und folgte ihm den breiten Flur entlang. Während sie Patienten auf Rollbahren und Klinikpersonal auswichen, erhob er die Stimme, damit Mac ihn über dem Lärm der Notaufnahme hören konnte. »Ich will eine Empfehlung für die Akademie dieses Frühjahr.«
Mac blieb an der Kreuzung stehen, an der hektische Betriebsamkeit herrschte und grinste. Okay, okay. Vielleicht war der Junge doch nicht so blöd, wie er aussah. »Bring mir deine Unterlagen ins Büro … ich denke darüber nach.«
»Hier lang.« Zufrieden deutete der Kleine auf eine Doppeltür am Ende des einen Flurs. »Da wandert die Wäsche raus. Führt direkt nach draußen. Viel Glück, Mann.«
Ohne sich umzudrehen, stieß Mac die Tür auf. Fünf Minuten später stand er draußen neben dem Gebäude. Kalte Herbstluft empfing ihn. Er biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten, und rieb sich über die nackten Arme. Aber die Kälte blieb, drang ihm tief in die Knochen und schüttelte ihn durch, bis …
Himmel. Wo war er? Kanada?
Zumindest fühlte es sich verdammt noch mal an, als sei er auf dem Spielplatz ihrer nördlichen Nachbarn gelandet. Es fehlte nur noch eins. Der knappe Meter Schnee. Nicht, dass er Zeit gehabt hätte, sich über den fehlenden Flockenteppich zu freuen. Er musste einmal quer durch die Stadt, bis an die Werft, an der sein Boot vertäut lag. Das Krankenhaus würde schon bald bei Captain Hobbs Alarm schlagen. Wenn die Angestellten ihn nicht innerhalb des Gebäudes aufspürten, würde man zum Telefon greifen und … Bumm! Sein Boss würde explodieren.
Also zuerst nach Hause, um seine Ersatzwaffe zu holen, dann untertauchen. Schließlich konnte der Chef ihm nicht die Hölle heiß machen, wenn er ihn nicht fand.
Eine Taxifahrt – und einen Weltrekord im Würgen – später, ging Mac über den verlassenen Parkplatz und lief auf den Eingang der Werft zu. Das Gebäude war von einem knapp vier Meter hohen Maschendrahtzaun umgeben. Als er sich bis auf drei Meter genähert hatte, erfassten ihn die Bewegungsmelder. Mit einem Klicken flammten grelle Industriestrahler auf und fluteten das Sicherheitstor mit gleißendem Licht.
Mac zuckte zusammen, wandte das Gesicht ab und taumelte zur Seite. Langsam wurde das Ganze mehr als seltsam.
Normalerweise machte ihm die Lightshow nichts aus. Heute Nacht jedoch bohrte sich die Helligkeit bis in seinen Hinterkopf und brachte seinen Schädel fast zum Explodieren. Kies knirschte unter seinen Stiefeln, als er mit der Schulter an die Wand des Lagerhauses stieß, die am Weg entlanglief. Er stützte sich ab, legte eine Hand auf den kalten Stahl, die andere auf sein Knie, beugte sich vor und begann erneut zu würgen.
Verdammte Hölle.
Die Übelkeit brachte ihn um. Der Schmerz wurde stärker, seine Muskeln verkrampften sich, bis er kaum noch atmen konnte. Er sog die Luft durch die Nase ein und atmete durch den Mund wieder aus, versuchte, seine Lungen zu weiten. Der stete Rhythmus half. Nach einer Minute richtete er sich auf und sah blinzelnd auf die Tastatur, die neben dem Tor angebracht war.
Zwei Meter. Nur noch zwei Meter, und er wäre drin, auf dem Weg zu dem Ort, den er Zuhause nannte.
Gewaltsam legte Mac den ersten Gang ein und zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er gab sein Passwort ein. Ein Motor summte und Ketten rasselten, als das Tor langsam zur Seite glitt. Er wartete nicht, bis es ganz offen stand, sondern schlüpfte durch den Spalt und lief schwankend die Betontreppe hinab. Seine Schritte waren leise, auch wenn sein Körper rebellierte.
Zwang der Gewohnheit. Die Notwendigkeit der Lautlosigkeit hatte man ihm während der Grundausbildung eingehämmert und während seiner Zeit bei den SEALS, Team Six, noch nachdrücklicher eingeschärft. Ganz gleich, wie schwer er verletzt war, er gab nie ein Geräusch von sich.
Tief im Schatten lief er an nautischen Relikten vorbei auf Pier Nummer vier zu. Als eine Art Restaurationsmuseum war die Werft der Ort, an den man alte Schlepper brachte, um sie wieder aufzumöbeln. Der aufgeräumte Marinekomplex war mit dem Besten vom Besten ausgestattet und tagsüber herrschte hier rege Betriebsamkeit. Die Schiffszimmermänner restaurierten die alten Kähne in der Hoffnung, sie später zu einem guten Preis wieder zu verkaufen. Und verdammt, es lohnte sich. Einflussreiche Persönlichkeiten zahlten ein Vermögen, um eine der Schönheiten ihr Eigen nennen zu dürfen. Die Tatsache, dass die Werft einem Kerl gehörte, der ihm einen Gefallen schuldete? Nun, manchmal hatte man eben Glück.
Schicke Anlegestellen waren nicht sein Ding. Aber hier, weit entfernt von den lärmenden Skippern und der besseren Gesellschaft? Ja, die Werft war sein Zuhause, und er liebte das Leben auf seinem Boot.
Er hatte es nie verstanden, aber er brauchte das Gefühl, von Wasser umgeben zu sein. Sehnte sich nach dem Duft der salzigen Luft, dem Rauschen der Wellen … den feuchten, tintenschwarzen Tiefen unter seinem Schlafzimmer. Und das tägliche Schwimmen? Herrlich. Und nur einen Sprung entfernt.
Er bog scharf links ab und ging die Rampe zum hölzernen Steg hinunter. Die Bohlen ächzten unter seinem Gewicht, aber er liebte das leichte Schwanken, wenn das Wasser ihm antwortete, die salzigen Wellen zusammenschlugen und das Dock sich unter seinen Füßen bewegte. Und, hmm, da war sie, genau wo er sie zurückgelassen hatte.
Seine Sarah-Jane. Die vertraute, vierzehn Meter lange Chris-Craft-Motoryacht, die er so sehr liebte.
Sie war sein Mädchen, perfekt restauriert. Und sie wusste es, glänzte im Mondlicht, prahlte mit ihren kurvigen Linien und der polierten Teak-Reling. Er kam neben ihr zum Stehen, zog den Reißverschluss der Tür aus Segeltuch auf und sprang an Bord. In dem Moment, in dem seine Füße den Schiffsboden berührten, übernahm das Meer die Kontrolle: gab ihm die innere Ruhe zurück, unterdrückte das Gefühl der Übelkeit, erlaubte ihm, tief Luft zu holen. Ja, der Drang, sich zu übergeben, war zwar noch da, aber wenigstens hatte die Würgerei aufgehört, und er konnte sich bewegen, ohne dass seine Unterleibsmuskeln sich verkrampften.
Er schritt über die offene Sitzecke am Heck der Sarah-Jane und zog den Schlüssel aus seiner vorderen Hosentasche. Ein leises Klacken, und das Vorhängeschloss öffnete sich. Mit einer schnellen Drehung stieß er die Tür zur Hauptkabine auf. Ohne eine Sekunde zu verlieren, stieg er die schmale Treppe hinunter, in Richtung Küche. Er ging um die Anrichte herum und umfasste den Griff der Ofenklappe. Die Scharniere quietschten, als er sie aufzog und in den Innenraum langte.
Als hätte sie darauf gewartet, glitt die Glock 19 in seine Hand.
Macs Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, als er die Waffe aus ihrem Klebeband-Bett löste. Er richtete sich auf und öffnete die Brotbox auf der Anrichte und holte die Munition heraus, die er dort versteckt hatte. Er drehte die Glock um und rammte das Magazin an seinen Platz, hörte das Klicken – fühlte die Befriedigung –, als er einmal durchlud. Nachdem er die Waffe ein letztes Mal überprüft hatte, steckte er sie mit dem Lauf voran hinter dem Rücken in den Hosenbund.
Okay. Fast geschafft.
Er zog eine Schublade auf und nahm ein Zwillingspärchen Messer mit dreizehn Zentimeter langen Klingen heraus, die in schwarzen Lederscheiden steckten. Dann band er sich jeweils eines mit dem Griff zur Handfläche an den Unterarm. Ihr Schwesterchen – ein achtzehn Zentimeter langes Kampfmesser Marke KA-BAR – wanderte in den Schaft seiner Militärstiefel.
Jetzt war er abmarschbereit.
Mit einem Tritt schloss er die Ofentür und warf einen Blick aus den Seitenfenstern der Sarah-Jane. Bis auf das Meer bewegte sich nichts, das sanfte Klatschen der Wellen gegen die Schiffsrümpfe war das einzige Geräusch in der Werft. Aber in nur einer Stunde dämmerte der Morgen, und wenn dann die Arbeiter eintrafen, wäre es vorbei mit der Ruhe. Unschön. In vielfacher Hinsicht. Er brauchte einen Ort, an den er Ange bringen konnte, falls – nein, nicht falls … wenn – er sie fand. Und die Betriebsamkeit zwischen den Booten könnte sich als Problem erweisen.
Also …
Blieb ihm nur Plan B. Die Hütte auf seiner kleinen, aber privaten Insel.
Na klasse.
Er nahm nie jemanden dorthin mit. Noch nicht einmal Ange wusste davon, aber heute war der Tag der Neuerungen. In den letzten paar Stunden hatte sich seine ganze Welt verändert, was spielte es also für eine Rolle, dass sein geheimes Versteck bald nicht mehr so geheim sein würde? Er konnte sie nicht in ihre Wohnung bringen. Nicht, wenn er die Kreatur, die sie weggeschleppt hatte, richtig einschätzte.
Himmel, Drachen. Wer hätte das gedacht … und warum war er so wenig überrascht? Eine hervorragende Frage. Die Tatsache, dass er sie nicht beantworten konnte, hätte ihn beunruhigen sollen. Stattdessen war seine einzige Reaktion Akzeptanz … und eine Menge unterschwelliger Gefühle und Erinnerungsflashbacks.
Er hatte in letzter Zeit oft von Drachen geträumt. Sehr oft. Vor allem von einem. Ein blaugrauer Drache mit Schwimmhäuten zwischen den Klauen, glatten Schuppen und scharfen Zähnen. Ein Drache, der das Meer und das Schwimmen genauso liebte wie er selbst.
Seltsam. Aber vielleicht erklärte das, warum der Schock ausgeblieben war, als er tatsächlich einen gesehen hatte. Die entsprechende Datei hatte sein Hirn bereits heruntergeladen. Jetzt überflog er nur die Seiten, suchte nach Hinweisen, verließ sich ganz auf seine Fähigkeit, Dinge wahrzunehmen, die anderen Leuten entgingen. Sein Geist arbeitete auf einer instinktiven Ebene, die nicht vom Intellekt regiert wurde. Und offenbar auch nicht von Logik.
Mit einem Seufzer schüttelte Mac den Kopf und ging Richtung Treppe, langsam, um das Auf und Ab in seinem Magen nicht zu verschlimmern. Er musste die Werft verlassen, bevor die Sonne aufging. Sein Captain würde auf der Suche nach ihm einen Streifenwagen hier vorbeischicken. Wahrscheinlich würde er versuchen, Mac zurück ins Krankenhaus zu schleppen. Doch als er über die letzte Treppenstufe an Deck trat, überrollte ihn eine Welle der …
Mac blinzelte, er konnte nicht mehr klar sehen. Alles, was er wahrnahm, war ein statisches Rauschen in den Ohren, es klang, als hätte man eine Radioantenne verbogen. Zwischen seinen Schulterblättern bildeten sich Schweißtropfen und liefen sein Rückgrat hinunter, dann traf ihn eine weitere Welle. Er taumelte einen Schritt zurück. Dann noch einen. Himmel, irgendetwas stimmte hier nicht. Die bohrende Übelkeit verschob sich, wurde zu etwas viel … zu etwas ganz anderem.
Weißes Licht loderte hinter seinen Augenlidern auf. Der Schmerz traf ihn wie eine Kugel, riss ihn entzwei, verbog ihn, bis es um ihn herum dunkel wurde. Ein Schrei blieb ihm in der Kehle stecken, seine Muskeln zogen sich krampfhaft zusammen, so heftig, dass er fühlte, wie etwas in ihm zerbrach. Mit einem »Scheiße, verdammt«, stolperte er seitlich bis an die Reling. In dem Moment, als seine Hände das kühle Holz berührten, überwältigte ihn der Schmerz. Und als ihm das kalte, salzige Wasser in Mund und Nase drang, stand ihm Angelas Gesicht vor Augen.
Seine kleine Schwester war in Schwierigkeiten, und er konnte nichts tun, um ihr zu helfen. Während der Schmerz ihn in Stücke riss, sank er immer tiefer.
Das Stahlgitter gab kaum ein Geräusch von sich, als Angela es hinter sich schloss. Sie kauerte sich zusammen und lauschte, bemühte sich, neben ihrem hämmernden Herzen etwas zu hören und schloss die Finger fest um das Teppichmesser. Sie zitterte am ganzen Körper und die Kabelbinder schnitten ihr in die Haut. Sie wollte das Plastik durchtrennen und ihre Hände befreien, aber die Zeit spielte gegen sie. Wenn sie sich die Ruhe nahm, die sie dafür brauchte, würde man sie vielleicht schnappen. So unangenehm das Gefühl also auch war, sie würde warten. Wenn sie sicher im Aufzug stand, würde sie sich ihrer Fesseln entledigen. Im Moment musste sie ihre Angst hinunterschlucken und sich an ihrer Behelfswaffe festhalten.
Aber verdammt, der Metallgriff spielte nicht mit.
Er war nass von Lothairs Blut und rutschte ihr ständig aus der Hand, widersetzte sich ihrem Willen. Angela packte das Teppichmesser noch fester und ließ ihren Blick durch den Flur wandern, der vor ihr lag. Leer. Nichts als abblätternde Farbe und dem unebenen Boden. Ihre Glückssträhne schien anzuhalten. Wie lange noch? Sie wusste es nicht.
»Es hat keinen Sinn, hier herumzusitzen und es herauszufinden«, murmelte sie.
So verrückt es schien, das Selbstgespräch half. Ihre eigenen Worte zu hören, brachte sie dazu weiterzumachen, statt sich wie gelähmt vor Angst zusammenzukauern. Nichtstun war schließlich keine Option. Später, wenn sie einen Weg aus diesem Irrenhaus heraus gefunden hätte, würde sie jammern, toben … weinen, schreien … was auch immer. Aber sie konnte dem Druck, der sich in ihr aufbaute, nicht nachgeben. Nicht jetzt. Nicht, solange sie noch eine Chance hatte.
Sie warf einen Blick über die Schulter, spähte durch Gitterstäbe und lauschte angestrengt. Nichts. Keine Hilferufe. Kein qualvolles Stöhnen. Gar nichts.
Angela stieß sich hoch und rannte auf leichten, nackten Sohlen den Flur hinunter. Über ihr strahlten die Neonlichter, die langen Röhren wiesen ihr summend den Weg zum Aufzug. Dann blieb sie schwer atmend stehen. Bingo. Der Lift lag genau vor ihr, wartete mit glänzenden Stahltüren darauf, sie in die Freiheit zu tragen.
Ihr Herz klopfte noch ein wenig stärker, als sie den Raum durchschritt, die Hand ausstreckte und …
Oh, Gott … nein. Diese elenden Hurensöhne.
Es gab keine Knöpfe. Nur die nackte Betonwand. Nichts, womit sie den Aufzug zu sich herunterrufen konnte.
»Scheiße.« Ihre Gedanken rasten, während sie versuchte nachzudenken. Wohin jetzt? Was sollte sie tun? Wie viel Zeit hatte sie noch, bis Lothair zu sich kam und bemerkte, dass sie verschwunden war? »Verdammte Scheiße.«
Panik schnürte ihr einen Moment lang die Kehle zu. Der Cop in ihr schob sie zur Seite. Sie hatte keine Zeit für diesen Mist. Es musste einen anderen Weg hier heraus geben … einen Hintereingang oder irgendetwas. Die Razorback würden doch keinen Bunker ohne Notfallplan bauen. So dumm waren diese Mistkerle nicht.
Auf nackten Füßen fuhr sie herum, sah nach links, dann nach rechts. Der Flur erstreckte sich in beide Richtungen. Ja, der Aufzug mochte sich vielleicht in der Mitte dieses unterirdischen Komplexes befinden, aber tief in diesem Labyrinth lag noch etwas anderes. Die Millionen-Dollar-Frage lautete also … in welche Richtung sollte sie gehen?
Ihr Bauchgefühl sagte rechts.
Angela folgte, ohne zu zögern. Dem Instinkt sollte man stets trauen. Das hatte ihr Partner ihr beigebracht, und – so sehr sie es manchmal auch nervte – Mac lag, wenn überhaupt, fast nie falsch.
Sie sandte ein weiteres stummes Gebet in seine Richtung und rannte so schnell sie konnte, suchte nach einer Tür, einem Aufzug, irgendetwas, das sie aus diesem unterirdischen Labyrinth herausführen würde. Eine weitere Kreuzung. Eine weitere Entscheidung. Sie hielt sich wieder rechts und …
»Gott sei Dank.«
Das beklemmende Gefühl in ihrer Brust war so stark, dass sie kaum atmen konnte, dabei war die Rettung zum Greifen nah. Mindestens ein Dutzend Türen war in die Wand entlang des breiten Flurs eingelassen. Sechs auf jeder Seite, von derselben Farbe wie die Wände. Sie verschmolzen mit ihrer Umgebung, als hofften die Razorback, der Anstrich würde sie verstecken.
Angela klemmte das Teppichmesser zwischen die Zähne, damit sie die Hände frei hatte, und überprüfte die erste Tür.
Verschlossen.
Mist.
Bei der fünften setzte Verzweiflung ein. Mit Tränen in den Augen ging sie zur nächsten. Der Türknauf lag kalt in ihrer Hand, als sie ihn ergriff. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, drehte und …
Mit einem Klicken öffnete sich das Schloss.
Das Herz hüpfte ihr in der Brust, als sie die Tür aufzog und dahinterspähte. Eine einsame Lampe flackerte und warf gruslige Schatten auf die nackten Wände. Sie betrachtete den Raum. Ein alter Tisch mit unpassenden Stühlen. Eine Reihe Einbauschränke, ein Spülbecken und ein Herd. Ein großer Kühlschrank. Aber sonst? Keine Menschenseele in Sicht. Gott sei Dank. Mit einem letzten Blick in beide Richtungen stellte sie sicher, dass sich noch immer niemand im Flur befand, dann schlüpfte sie in die kleine Küche.
Mit hastigen Bewegungen packte sie das Teppichmesser und ging auf die Kabelbinder los, die ihre Handgelenke fesselten. Sie schnitt sich einmal, zweimal, dann ein drittes Mal, als sie sich umsah. Ihr Blick blieb am Luftschacht hängen. Er saß genau über dem Kühlschrank, knapp unter der Decke.
Wenn das kein Wunder war. Ein Fluchtweg inklusive Behelfsleiter und Absprungschanze.
Okay, durch ein Stahlrohr zu klettern war nicht gerade ihre Lieblingsbeschäftigung. Aber einem geschenkten Gaul schaute man nicht ins Maul. Sie wollte hier raus, und ein enger Lüftungsschacht war besser als nichts.
Angela nahm das Geschirrtuch vom Haken über dem Herd und wickelte es sich um das aufgeschnittene Handgelenk. Sie wollte keine Spuren hinterlassen – nicht einen einzigen Hinweis – denen diese Wichser folgen könnten. Wenn sie irgendwo ihr Blut entdeckten, würden sie genau wissen, wohin sie verschwunden war. Und wie man sie finden konnte.
Nachdem sie die zerschnittenen Kabelbinder bei den Putzmitteln unter dem Herd versteckt hatte, sprang sie auf die Anrichte und kletterte von dort auf den Kühlschrank. Auf den Knien, mit gespitzten Ohren und immer ein Auge auf die Tür gerichtet, bearbeitete sie die Luftschachtschrauben mit der Spitze des Cutters. Drehte eine Schraube nach der anderen heraus. Als ihr die letzte in die Hand fiel, bebte ihre Unterlippe. Auch ihre Hände begannen so heftig zu zittern, dass sie das Luftgitter nicht aus der Wand bekam.
»Ganz ruhig«, flüsterte sie.
Sie holte tief Luft, dann versuchte sie es erneut. Jackpot. Das Ding löste sich.
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, drehte sie sich mit dem Rücken zur Wand, schob ihre Beine ins Loch und drückte sich auf Händen gehend nach hinten. Als ihr Ellbogen gegen den Schachteingang stieß, streckte sie den Arm aus und hob das Gitter von der Oberseite des Kühlschranks. Flach auf dem Bauch robbte sie ganz in den Schacht, befestigte das Luftgitter wieder an seinem angestammten Platz und legte den Rückwärtsgang ein.
Tränen brannten ihr in den Augen, aber sie weinte nicht. Sie hatte es geschafft. War bis hierher gekommen. Jetzt musste sie nur noch einen Weg heraus finden. Einen senkrechten Luftschacht suchen und in die Freiheit klettern, bevor Lothair und die Razorback begannen, ihr nachzustellen.