10
Das Gemurmel kam von irgendwo jenseits ihrer Zurechnungsfähigkeit und zog Angela durch den dichten mentalen Nebel. Während sie durch ihren eigenen Kopf schwebte, ließ sie die Augen geschlossen und lauschte der Stimme. Ein unterschwelliger Akzent schwang in ihr mit, das Timbre durchdrang das Rauschen in ihrem Schädel. Sie hielt sich an jeder Silbe fest. Folgte den Tonhöhen. Ließ zu, dass sie sie nach oben zogen. Fort vom Schmerz. Vom Schrecken. Fort vom Unbekannten.
Aber – es war nicht richtig.
Sie wusste wer – oder besser … was – sie festhielt. Erinnerte sich an den Strand, als sie zu sich gekommen war, fühlte das schaukelnde Gleiten des Fluges und die harten Schuppen an ihrer Wange. Noch ein Drache, mit weißen Schuppen im Gegensatz zu den schwarzen der Razorback-Ratte. Das musste doch ein gutes Zeichen sein, oder? Helden und Heilsbringer trugen immer weiß. Oder war das nur im Märchen so?
Angela runzelte die Stirn. Sie wusste es nicht. Ihr Hirn war tief unter einem flauschigen Haufen Federdaunen begraben. Nichts ergab einen Sinn. Nicht der Flug. Nicht die Wärme der Drachenschuppen. Oder die Tatsache, dass er sie sanft in seinen Klauen barg.
Vielleicht schrie sie deshalb nicht. Wehrte sich nicht. Trieb nur verloren durch ihren eigenen Verstand, während ihr weißer Drache im strahlenden Schuppenpanzer zu ihr sprach. Himmel, war das schön! Die Tiefe seiner Stimme, die Worte, das Gefühl der Sicherheit, das er ihr schenkte.
Total verrückt. Aber manchmal, beschloss Angela, ergaben eben auch Verrücktheiten Sinn.
»Nur noch ein kleines Stück, Engel«, sagte der Drache beruhigend und mit sanftem Tonfall. Und wieder verlor sie sich in jeder Silbe, zog Trost aus dem Klang seiner Stimme. »Wir sind fast da.«
Fast wo? Sie drehte sich im sanften Griff seiner Klauen und öffnete die Augen. Etwas Gelbes blitzte vor ihr auf, erhellte die Nacht mit sanftem Glühen. Angela blinzelte. Sah sie das wirklich? Oder spielten ihre Augen ihr einen Streich und verzerrten die Realität? Wahrscheinlich, denn das da sah aus wie eine Felswand. Oder das Innere eines Tunnels, voll zerklüffteter Felsvorsprünge und schmaler Kanten.
Mit angelegten Flügeln schoss der Drache um eine Kurve. Das Licht wurde heller, strahlte über eine breite Landeplattform. Ein schneller Schwenk zur Seite. Eine Sekunde lang hing sie über dem festen Felsvorsprung, dann …
Touchdown. Zum Klang der über den Stein kratzenden Klauen.
Okay. Jetzt wäre wahrscheinlich ein guter Zeitpunkt, um zu schreien. Oder nach einer Waffe zu suchen. Irgendetwas, mit dem sie sich ihn vom Leibe halten konnte. Aber ihr Gehirn schien einen Kurzschluss erlitten zu haben. Sie wollte nichts von alldem tun. Hatte auch nicht das Gefühl, dass es nötig war. Alles, was sie wollte, war der Stimme zu lauschen, zuzuhören, wie er weiter mit ihr sprach.
»R«, flüsterte sie, eine leise Bitte um Trost.
»Ssssch, meine Süße«, murmelte er. »Es ist alles in Ordnung. Ich hole dir Hilfe.«
Hilfe klang gut. Wirklich gut, denn … Himmel, jetzt da sie langsam zu sich kam, schmerzte ihr Bein wie die Hölle. Und während der Schmerz mit einem spitzen Stock nach ihr stach wie der Schulhofrowdy, ging ihr Atem immer schneller. Und schwerer, Atemzug um Atemzug.
Wimmernd streckte sie die Hand nach ihm aus, suchte nach etwas, an dem sie sich festhalten konnte, während sie die Augen aufschlug. Sie erwartete einen Drachen. Stattdessen begegnete ihr der helle Blick eines Mannes, und Wham! Funken sprühten, hinterließen ein Kaleidoskop aus Farben in ihrem Kopf. Die Mauer um die Erinnerung – die sie nicht hatte wieder heraufbeschwören können – brach zusammen, und Bilder blitzten auf wie Spielkarten. McGoverns Bar. Das klackende Geräusch der Billardkugeln, der gut aussehende Mann, der sie zum Lachen brachte, ihr half, sich zu entspannen und ihren Schutzschild fallen zu lassen. Seine rauen Hände auf ihrer nackten Haut. Das sanfte Kratzen seiner Wange an ihrer eigenen … die unglaubliche Lust.
»Rikar?« Sie sprach seinen Namen aus wie eine Frage, auch wenn es keine war. Jetzt erinnerte sie sich. »Du bist … echt … ein Arschloch.«
Er zog sie auf seinen Schoß und lächelte sie an. »Ganz richtig, mein Engel.«
Es war nicht richtig. Das wusste Angela, aber es fühlte sich verdammt gut an, ihm eine Szene zu machen. Das Hochkochen ihres Temperaments bewies, dass sie noch am Leben war. Und während ihr Blick schärfer wurde, folgte ihr Geist nach, hob sich weit genug aus dem Nebel, um ihm die Hölle heißzumachen – für die Nacht bei McGovnerns und die Tatsache, dass sie alleine aufgewacht war … mit einer großen Erinnerungslücke. Irgendetwas Seltsames – und okay, auch irgendwie Wunderbares – war in dieser Nacht zwischen ihnen geschehen.
Also, ja. Er schuldete ihr etwas und würde noch eine Weile »Arschloch« bleiben. Wenigstens offiziell. Im Stillen würde sie ihn Mr. Umwerfend nennen. Er war ihr zu Hilfe geeilt, als kein anderer für sie da war. Hatte gekämpft wie ein Berserker, um sie den Klauen der Razorback-Ratte zu entreißen. Angela hatte plötzlich einen Kloß im Hals, Dankbarkeit durchströmte sie. Wenn er eine Minute später gekommen wäre … wenn Lothair sie …
Ihr Magen revoltierte, und sie würgte.
»Angela?« Er legte die Hand an ihren Hinterkopf. Die Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er mit ihr im Arm aufstand. »Wie geht es dir, Süße?«
»Ich k-kriege … keine … Luft.«
»Halt durch … nur noch eine Minute.«
Das Geräusch seiner Stiefel hallte von den Wänden wider, und jeder Schritt schüttelte sie. Angela war zu müde, um die Augen offen zu halten und ließ zu, dass ihre Lider sich schlossen. Keine gute Idee. Ohne die Orientierung an den Höhlenwänden drehten sich ihre Sinne im dichten Nebel, und alles schien plötzlich auf dem Kopf zu stehen. Schwindel ergriff sie, und die Bewusstlosigkeit kam kreisend näher, wie ein Hai auf der Jagd nach der nächsten Mahlzeit. Als sie sie streifte, rief sie sich zu, stark zu sein, aber ihr kreisender Sog war zu verführerisch. Flüsterte ihr ins Ohr, raunte ihr zu, sich zu entspannen und zu vergessen. Ihre Brust hob und senkte sich und jeder Atemzug fiel ihr schwerer.
Sie würde es nicht schaffen. Ihr Körper wusste es, und sie wusste es auch.
»Rik-kar?«
Er senkte den Kopf, berührte ihr Haar mit den Lippen. »Ja?«
»L-lass mich nicht alleine, ok-kay … bitte …«
»Das werde ich nicht, Angela.« Mit dem Ohr an seiner Brust lauschte sie seinem Herzen, jeder Schlag ein Wiegenlied, das letzte, das sie je hören würde. »Bleib einfach bei mir. Süße, bitte … bleib bei mir.«
Angela versuchte es – wirklich –, aber während der Schmerz immer stärker wurde, sah sie den Hai durch den Gedankennebel auf sie zuschwimmen. Mit gebleckten Zähnen griff der dunkle Schatten an und zog sie in die Tiefe, bevor er sie ganz verschluckte.
Rikar fluchte, als Angelas Körper in seinen Armen schlaff wurde. Er hob sie ein Stück höher und presste sie fest an seine Brust, aus Angst, er könnte sie verlieren, wenn er sie losließ. Zack. Bumm. Weg. Für immer und ewig … einfach so.
Beeil dich.
Die Worte hallten durch seinen Kopf. Er rannte noch schneller, jagte über die Landezone, jeder Schritt wurde laut von den unebenen Höhlenwänden zurückgeworfen. Das Auf und Ab der Kugellichter nahm den Rhythmus auf, die Lampen hüpften gegen die Decke und ließen Staub durch die feuchte Luft schweben. Tausend Funken sprühten auf, jedes feine Körnchen hielt sich am dämmrigen Licht fest wie ein Blutegel an nackter Haut.
Himmel, warum war er so weit vom Haupteingang entfernt gelandet?
Die Landezone war groß, bot so viel Raum, dass vier Drachen gleichzeitig abheben konnten. Und wie idiotischerweise war er in der Ecke gelandet, die am weitesten von der Tür entfernt lag. Aber nach dem rauen Flug durch die Sturmwolken hin zum Black Diamond hatte der Drang, sie mit menschlichen Händen zu untersuchen – sie mit menschlichen Augen zu sehen – ihn überwältigt. Es ging ihr wirklich schlecht, ihre Lebensenergie war so schwach, dass sie nicht einmal mehr zitterte. Ihr Körper verabschiedete sich, und auch wenn er sie in seine Magie hüllte …
Bei Gott, es war nicht genug. Während ihre Lebensfunktionen immer schwächer wurden, fühlte er, wie sie ihm entschwand.
Ein verneinender Schrei schnürte ihm die Kehle zu, und Rikar verlangsamte seine Schritte. Unter diesen Umständen nicht die schlauste aller Ideen. Er musste in die Klinik, aber er konnte seine Energie nicht mit ihr teilen, während er rannte. Das hieß, wenn er es überhaupt konnte, aber … verdammt. Er musste es versuchen. Wenn sie sich von ihm nährte, hätte sie eine Chance. Die Frage war: Würde sie die heilende Energie, die er ihr bot, annehmen?
Er hatte nie zuvor seine Energie mit einer Frau geteilt. Hatte nur aus dem Seitenaus zugesehen, wie Bastian seine Gefährtin genährt hatte. Und ganz im Ernst? Der Austausch hatte ihm Angst eingejagt. Aber Panik hin oder her, er hatte keine andere Chance. Angela brauchte ihn. Also ja, ganz gleich, wie schwierig es war, er würde ihr helfen. Würde sich öffnen, sich für den Energieaustausch mit Körper, Geist und Seele an sie binden, wenn das hieß, dass sie am Leben blieb.
Was für eine Vorstellung!
Die Energieverschmelzung war etwas für die Ewigkeit, ein partnerschaftliches Band ohne die Möglichkeit der Trennung. Wenn er sich einmal geöffnet und sie ihn akzeptiert hatte, würde er ihr gehören. Ein Leben in Zweisamkeit ohne Fronturlaub.
Angela zuckte in seinen Armen.
»Scheiß drauf«, sagte er, als die Verzweiflung ihn bis an den Abgrund zerrte und dann über die Kante schubste.
Er schloss die Augen und ließ sich tief in den rauen, machtvollen Strom des Meridians herabsinken. Energie knisterte, und er verkrampfte sich, als er sich Angelas einzigartiger Lebensenergie öffnete. Die elektrostatische Strömung, die seine Art nährte, stieg jäh an, rollte in einer Welle auf ihn zu. Mit einer Drehung wand Rikar das Band zu einer Schleife, hüllte sie beide in magisches Leuchten, lenkte den Strom um und staute den lebensspendenden Fluss. Die Magie zuckte zurück wie eine Peitschenschnur. Er packte das strahlende Band und änderte den Kurs, leitete die heilende Strömung von ihm zu Angela.
Sie zuckte, wehrte sich gegen sein Eindringen.
»Bitte, Engel … nimm es.« Mit aller Konzentration sandte er sein Flehen an ihren Geist. »Bitte, Süße, lass mich dich nähren.«
Eine Pause. Kürzer als ein Herzschlag. Sie stöhnte leise auf, der Klang war warm, weich und …
Rikar sog scharf die Luft ein. Herr im Himmel. Sie hatte sich mit ihm verbunden, ihn angenommen, schmiegte sich eng an ihn, während sie nahm, was er zu geben hatte.
Die Empfindung machte ihn fast trunken, und Rikar schwankte. Er veränderte seine Haltung, stemmte die Stiefel fest gegen den Boden und … hmm, das Gefühl war unglaublich. Und er wollte mehr. Musste ihr alles geben, bis auf den letzten Tropfen seines Selbst.
Er sank auf den Höhlenboden und hielt sie auf seinem Schoß fest. »So ist es richtig, Liebling … nimm alles, was du brauchst.«
Es war dumm, wirklich. In so vieler Hinsicht, aber Himmel, er konnte ihr nicht widerstehen. Oder seinem Drang, sie zu nähren. Wildes Verlangen durchströmte ihn, als seine Lebensenergie mit der ihren verschmolz. Unabwendbar. Mächtig. Suchterzeugend. Das magische Band fesselte ihn an den Steinfußboden, brachte ihn dazu, Angelas Hinterkopf zu umfassen, seine Wange an die ihre zu pressen und Schläfe an Schläfe zu verharren.
Mit einem Stöhnen schmiegte sie sich in seine Arme, strich mit den Lippen über seinen Mundwinkel. Er fühlte ihren warmen Atem auf seiner Haut. Das Spiel ihrer Zunge. Den sanften Biss ihrer Zähne. Das herrliche Gefühl, sie im Arm zu halten.
Er betete um Stärke. Kein Wunder, dass Bas es liebte, seiner Gefährtin auf diese Art und Weise beizustehen.
Er konnte nicht widerstehen und schob seine Hand unter den Saum ihres Oberteils, bis er ihre nackte Haut spürte. Am untersten Ende ihres Rückens spreizte er die Finger so weit er konnte. Über drei Energiepunkte mit ihr verbunden – Nacken, Schläfe und Wirbelsäule –, schwoll der Meridian an und verwob ihre beiden Energieströme untrennbar miteinander. Rikar knurrte leise, genoss das Rauschen, während Angela in tiefen Zügen trank, ihn tief in sich aufnahm. Innerhalb von Sekunden stabilisierten sich ihre Vitalfunktionen, jeder Atemzug kam leichter als der vorherige, während sich ihre Muskeln entspannten und ihr Herzschlag ruhiger wurde.
»Da bist du ja, mein Engel«, sagte er auf Dragonisch, der Sprache seiner Vorfahren, um sie zu beruhigen. »Ich kann dich sehen.«
Sie flüsterte seinen Namen.
Tränen ließen seine Sicht verschwimmen, während es ihm die Kehle zuschnürte. Rikar nahm das Geschenk an, dann verschloss er es tief in sich. Jetzt hatte er keine Zeit, sich der Intensität ihrer Vereinigung hinzugeben. Angela mochte wieder stabil sein, aber sie war noch nicht außer Gefahr.
Rikar erhob sich, ging um den ramponierten Honda inmitten der LZ herum und hielt im Laufschritt auf den unterirdischen Teil ihres Hauptquartiers zu. Zehn Sekunden später hämmerte er mit einem Gedanken an die magische Tür und löste das Energieschild aus. Die mächtige elektrostatische Spannung knisterte. Blau-weiße Funken stoben davon und warnten ihn, langsamer zu gehen.
Rikar ignorierte die Warnung. Mit dem Schmerz beim zu schnellen Durchschreiten der Schleuse wurde er fertig. Die Bedürfnisse der Frau in seinen Armen hatten Vorrang, und jede Sekunde zählte.
Noch einmal hämmerte er an die Barriere, dieses Mal kräftiger. Die Höhlenwand erbebte, und aus festem Stein wurden durchsichtige Wellen. Er beugte sich schützend über Angela, senkte das Kinn und wappnete sich gegen den Aufprall. Er traf das Energieschild mit dem Kopf voran. Der unsichtbare Durchgang zischte und schlug dann zu wie eine Peitschenschnur. Das magische Äquivalent eines Wutausbruchs. Rikar fauchte ihn an. Das Ding übte Vergeltung, indem es ihn mit einem elektrostatischen Scherbenregen überschüttete. In seinem Körper explodierte der Schmerz. Er hielt den Atem an, biss die Zähne zusammen und wartete darauf, dass die Barriere ihn auf der anderen Seite wieder ausspucken würde.
Eins Einundzwanzig. Zwei Einundzwanzig … drei Einundzwanzig, vier …
Das Portal gab ihn frei, und er schoss nach vorne wie ein menschlicher Torpedo. Mit aller Kraft versuchte er, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, während seine Stiefel über den Beton rutschten und er aus dem Augenwinkel uralte Steinwände vorbeifliegen sah.
Gott sei Dank. Er hatte es geschafft. Er stand im unterirdischen Flur ihres Hauptquartiers.
Er sah nach Angela. Ihr Atem ging ruhig. Ihr Puls war kräftig. Sie hatte sich wie eine Katze in seinen Armen zusammengerollt und sah nicht mitgenommener aus als vorher.
Er setzte sich in Bewegung und rannte durch den breiten Korridor. »Myst!«
Die Glastüren der Klinik glitten auf. Bastians Gefährtin steckte den Kopf heraus. »Wie geht es ihr?«
»Sie ist stabil, aber verletzt«, sagte er. »Tiefer Schnitt im rechten Oberschenkel.«
»Blutet er noch?«
»Nein, aber …«
»Wir haben alles vorbereitet und können loslegen. Bring sie hier rein. Schnell.«
Als würde er sich nicht bereits beeilen. Trotzdem widersprach er nicht. Er hatte keine Zeit. Und keine Lust. All seine Gedanken galten Angela. Und dass Myst da war, um Ärztin zu spielen, war ein Geschenk des Himmels. Bas’ Kleine konnte ihn so viel herumkommandieren wie sie wollte, solange seine Gefährtin die Sache überstand – gesund und munter und mit nichts als der Aussicht auf ein langes, wunderbares Leben.
Rikar bremste scharf ab und schlitterte durch die Kliniktür.
Wie in einem Operationssaal lag medizinisches Zubehör aufgereiht auf einem Rollwagen neben dem Untersuchungstisch aus Edelstahl. Plastik knisterte, als Myst eines der Pakete öffnete. Eine Infusionsnadel kam zum Vorschein, und Myst bereitete sich darauf vor, irgendwelche Flüssigkeiten in Angelas Blutkreislauf zu pumpen.
»Leg sie hin, Kumpel«, sagte Sloan und hängte einen Beutel mit klarer Flüssigkeit an den Infusionsständer. »Dann kann Myst sich ansehen, womit wir es zu tun haben.«
Der Plan war gut. Doch während Rikar auf den Tisch zueilte, auf dem er selbst schon so oft zusammengeflickt worden war, dass er den Überblick verloren hatte, wurden seine Schritte immer langsamer, bis er schließlich stehen blieb. Himmel, er wollte sie nicht dort ablegen. Was, wenn er sie losließ und …
»Verdammt, Rikar.« Sloan starrte ihn verärgert und verständnislos an. »Jetzt komm hier rüber.«
Keuchend wie ein altes Rennpferd, schüttelte er den Kopf. »Ich kann sie nicht loslassen … ich habe es versprochen. Ich …« Festgewachsen wie ein Baum stand er mitten im Zimmer und rang mit sich selbst. Die Vorstellung war vielleicht idiotisch, aber sie waren noch immer verbunden, und noch immer leitete die Verbindung kleine Mengen Energie von ihm zu ihr. Und sobald er den Hautkontakt zu ihr aufgeben würde, wusste Rikar – er wusste es einfach –, würde sie zusammenbrechen. »Ich habe versprochen, sie nicht loszulassen. Wenn ich es tue, stirbt sie und … Scheiße … ich kann nicht …«
»Okay … kein Problem.« Myst kam im Laufschritt an seine Seite. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm und führte ihn sanft, aber bestimmt, hinüber zum Untersuchungstisch. »Du musst sie nicht loslassen, aber sie hinlegen. Sonst kann ich ihr nicht helfen … verstehst du?«
Die Worte ergaben Sinn. Waren logisch. Vernünftig. Einfach vernünftig. Und trotzdem klammerte er sich an Angela wie ein Sterbender ans Leben, unfähig, Mysts Bitte nachzukommen. Zu groß war seine Angst um sie, und wie ein wildes Tier mit scharfen Zähnen hatte er sich so tief verbissen, dass er nicht mehr wusste, wie er loslassen sollte.
Myst begegnete seinem Blick. »Vertrau mir, Rikar.«
Vertrauen. Himmel, das war eine große Bitte. Aber als Bas’ Gefährtin sanft seinen Arm drückte, lockerten sich seine Muskeln und der schützende Käfig um Angela öffnete sich. In dem Moment, in dem er sie ablegte, machte Myst sich an die Arbeit: bugsierte ihn ans Kopfende des Tisches, befahl ihm, Angelas Kopf stillzuhalten, mit ihr zu sprechen und sie zu beruhigen, damit er ihr verdammt noch mal nicht im Weg stand. Ihr Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. Und Rikar widersprach auch nicht. Stattdessen sah er mit tränenverschwommenem Blick zu, wie jeder Schnitt, jeder Kratzer in ihrer blassen Haut freigelegt wurde.
Diese Bastarde. Diese verdammten Bastarde.
Sie hatten sie so schwer verletzt. Ihre übernatürliche Stärke eingesetzt, um sie zu bezwingen. Er konnte die Male ihrer Finger auf Angelas Armen und ihrer Kehle erkennen. Und Himmel, die Nadelstiche in der Rundung ihrer Taille – genau über den Hüftknochen – brachten ihn fast um. Aber das Schlimmste waren die Blutergüsse auf den Innenseiten ihrer Oberschenkel.
Rikar sank am Ende des Tisches auf die Knie und schmiegte seine Wange an die ihre, während er sie sanft streichelte. Seine Gefährtin. Sogar zerschunden und entstellt war sie das Wunderbarste, das er je gesehen hatte. Und als er spürte, wie sie zuckte, und ihr Wimmern hörte, hielt Rikar sie fest und gab sich selbst ein Versprechen. Er würde sie rächen. Er würde Seattle verwüsten – die ganze Stadt in Schutt und Asche legen –, um den Schlupfwinkel der Razorback zu finden und sie alle zu vernichten.
Dieses bescheuerte Gewitter. Gespaltene Blitze zuckten aus den dunklen Wolken und ließen ihn aufleuchten wie ein Glühwürmchen. Sie ließen seine schwarzen Schuppen glänzen und versorgten den Feind mit klarer Sicht und einem deutlichen Ziel. Lothair warf sich zur Seite und jagte um eine weitere enge Kurve. Das Gebirgsgelände, all die engen Spalten und scharfen Spitzen, hätte ihm helfen sollen. Stattdessen flog er blind, kurvte wie ein Zirkustier zwischen steilen Klippen hindurch, um den Nightfury-Kriegern zu entkommen, die hinter ihm her waren.
Noch ein Blitz. Noch mehr weiß-blaues Licht.
Himmelherrgott. Das F&F (Fliehen und Fliegen) hatte sich innerhalb von Sekunden von einer einfachen Angelegenheit zu einer verdammten Höllentour entwickelt. Lothair drehte den Kopf und erhaschte einen kurzen Blick auf grüne Schuppen und glühende rubinrote Augen. Venom war direkt hinter ihm. Na, wunderbar. Bei Motivationsproblemen ging einfach nichts über die Gefahr, von Giftgas eingehüllt und dann flambiert zu werden.
Lothair tauchte unter einen Felsüberhang und hielt sich dicht an der Wand. Er hörte den fauchenden Atem und seine Nase erhaschte einen Hauch des hässlichen Giftcocktails des Nightfury. Derr’mo, das roch ja ekelhaft, wie eine Mischung aus Diesel, Terpentin und verfaulten Eiern. Er musste dringend aus seiner Reichweite verschwinden.
Noch zwei Minuten, ein paar kunstvolle Manöver und …
Puff. Wäre er verschwunden. Aber die hundertzwanzig Sekunden kamen ihm vor wie die Ewigkeit. Vor allem, solange Ernie und Bert ihm im Nacken saßen.
Die beiden Krieger waren hinter ihm her, wie der Teufel hinter der armen Seele: hartnäckig, wild und nicht unterzukriegen. Wortwörtlich. Was für eine Schande. Die beiden am Boden zu sehen, wäre ihm nach dieser beschissenen Nacht eine wahre Freude gewesen. Noch eine wertvolle Frau, die sie an Rikar und seine Gang verloren hatten. Mann, das saß. Wirklich. So sehr, dass er umdrehen, den Plan über den Haufen werfen und den Nightfury, die ihm nachjagten, ordentlich eins verpassen wollte.
Schade, dass er nicht dumm genug dafür war.
Auf keinen Fall würde er es sich mit Ivar verscherzen. Den Boss zu enttäuschen, war noch nie gut ausgegangen, also … ja. Er würde sich an den Plan halten und Denzeil genügend Zeit verschaffen, um die Frauen aus dem unterirdischen Versteck zu bringen. Er war der Köder, der Ernie und Bert mit wedelndem Schwanz durch die Gebirgspässe lotsen musste.
Aber danach. Wenn die Frauen erst in Sicherheit waren, würde er zurückkommen und sich rächen. Die Schuld begleichen, bevor die Runde vorbei war und die Glocke läutete.
Ein weiterer greller Blitz. Noch mehr Donner.
Lothair warf sich hart zur Seite und schoss zwischen zwei Felswänden hindurch. Sein schneller Flug riss mehrere Steine aus der Bergflanke. Felsbrocken flogen durch die Luft und zersplitterten zu langen, scharfkantigen Geschossen. Lothair hielt die Luft an, wartete auf …
Yep. Da war er. Der Fluch, den er erhofft hatte, und sogar noch besser? Ein schmerzhaftes Fauchen. Er hatte den grün geschuppten Bastard mit einer Ladung im Gesicht getroffen. Seine Laune hob sich. Jetzt blieb nur noch eins. Bert finden. Der Schwarze mit den goldbetupften Schuppen und einem Maul wie ein giftiger Schweißbrenner war nicht mehr hinter ihm.
Lothair machte sich klein und jagte durch einen weiteren Spalt. Die Felswände kamen immer näher, formten einen engen Tunnel. Seine Flügelspitze schabte über den Granit. Lothair ignorierte das Brennen und schluckte den Schmerz hinunter. Er konnte sich jetzt keine Ablenkung leisten. Er musste sich konzentrieren, um Zeit schinden zu können.
Seine Nachtsicht schaltete sich ein, während er fast mit Überschallgeschwindigkeit durch den Fels jagte, und er erhaschte eine Spur: das Anschwellen von Elektrizität, die Feuchtigkeit der Luft, eine leichte Störung im magischen Schild, das den Hintereingang ihres alten Hauptquartiers schützte. Bingo. Bert saß auf zehn Uhr, seine goldgesprenkelten Schuppen glänzten im Blitzlicht, während er wie ein Wasserspeier an der Felswand hing.
Hmm … schlauer Plan. Einer jagte und trieb ihn dabei in die Todeszone. Der andere wartete einen Atemzug entfernt mit dem Finger am Abzug, um ihn aus dem Himmel zu pusten.
Lothair unterdrückte ein Grinsen. Die Wichser hatten volle Punktzahl verdient. Eins mit Sternchen, denn was auch immer sie waren, dumm war keiner von beiden.
Er bleckte die Zähne. Zeit für’s große Finale.
Der erste Regentropfen traf sein Ziel, zerplatzte auf seinen Schuppen, rann über seinen Nasenrücken. Mehr folgten, als der Himmel wie gerufen seine Schleusen öffnete. Der rauschende Wolkenbruch verdunkelte die Bergkanten und verzerrte alle Geräusche. Lothair summte und zählte die Sekunden herunter.
Der Nightfury stieß den Atem aus.
Blau-orangefarbene Flammen leckten über den regennassen Stein. Der Feuerball raste durch die Dunkelheit auf ihn zu wie ein Komet, der einen Schweif hinter sich herzog. Lothair hielt den Atem an, und seine Muskeln spannten sich. Er wartete auf den perfekten Zeitpunkt. Einen Wimpernschlag, bevor ihn der tödliche Mix aus Feuer und Giftgas traf, legte er die Flügel an. Die Schwerkraft erfasste ihn. Er fiel wie ein Stein zwischen den Felswänden hindurch. Feuer brandete gegen den nassen Stein. Granit explodierte und prasselte zusammen mit dem Regen wie eine Wolke Granatsplitter auf ihn herab. Der von scharfen Felsen übersäte Boden kam wie ein wildes Tier fauchend näher.
Drei Meter über dem Boden knisterte plötzlich die Luft und brachte den Stachelkamm auf seinem Rücken zum Rasseln.
Während er fiel, nahm Lothair menschliche Gestalt an und hüllte sich in einen Tarnzauber, ein ersticktes Knurren in der Kehle. Etwas zog an ihm. Ein heftiger Sog und …
Wham!
Magie erfasste ihn und zog ihn zur Seite. Mit maximaler Geschwindigkeit traf er auf das Energiefeld, das ihr Quartier schützte. Die Barriere dehnte sich aus und zog sich wieder zusammen, Wellen liefen durch sie hindurch wie über einen Teich, bevor sie zurückschoss wie ein Gummiband. Er wurde in eine Höhle geschleudert, mitten in ein Nichts aus feuchter, modriger Dunkelheit.
Fluchend zog er den Kopf ein und rollte sich ab. Stöcke, Steine, alte Knochenstücke kratzten über seine Haut. Lothair kümmerte es nicht. Das Einzige, was zählte, war draußen … im Regen, auf der Suche nach einem Lebenszeichen von ihm. Hatten sie sein Verschwinden im freien Fall bemerkt? Hatten sie das Knistern der Magie in der Luft aufgeschnappt? Derr’mo, er hoffte es nicht. Der Sturm war heute Nacht auf seiner Seite, ein Verbündeter, der Elektrizität verschleuderte wie eine Hure Oralverkehr.
Also … ja. Daumen drücken. Vielleicht hatte er ja Glück gehabt.
Mit hämmerndem Herzen landete Lothair in der Hocke. Noch auf den Fußballen blickte er mit zusammengezogenen Brauen auf den Eingang der versteckten Höhle. Er atmete schwer, wartete, bemühte sich, durch das Rauschen seines Blutes hindurch etwas zu hören, während er auf Geräusche einer Verfolgung lauschte: das Kratzen von Klauen auf Stein, das Fauchen des Feueratems, das Knurren von Drachen.
Es war albern, das wusste er. Das Energiefeld war undurchdringlich. Nicht einmal die Nightfury kämen dort hindurch. Zumindest eine ganze Weile nicht. Und so lange würde er nicht brauchen.
Sicher, früher oder später würden die Wichser darauf kommen. Aber den Rest der Nacht über würden sie damit zubringen, sich am Kopf zu kratzen und hin und her zu überlegen, wie sie einen Weg hinein finden sollten. Bis dahin war er lange verschwunden. Zusammen mit den gefangenen Frauen.
»Überraschung, ihr Arschlöcher«, murmelte er. Von der kalten Luft bekam er Gänsehaut. Trotzdem beobachtete er den Eingang, zählte die Sekunden. Als er bei dreißig angekommen war, entspannte er sich und rief seine Kleider herbei. Die Idioten hatten keine Ahnung. Seine Mundwinkel zuckten nach oben. Diese Nightfury-Loser. »Viel Spaß beim Suchen.«
Mit lautlosen Schritten drehte er sich um und lief durch die Dunkelheit zum hinteren Ende der Höhle. Er wich den Stalagmiten aus und näherte sich der Rückwand, streckte den Arm aus, schloss die Finger um einen schmalen Steinvorsprung und drückte ihn nach unten. Der Hebel klickte. Metall verschob sich, das Krachen und Quietschen hallte laut durch die Stille, als der Granit zur Seite glitt und eine Stahltür freilegte.
Mit einer schnellen Handbewegung öffnete Lothair die Klappe über dem Ziffernblock und gab den Zugangscode ein. Eine weitere Reihe Schlösser. Noch mehr Klicken, dann trat er über die Schwelle. Er nahm die Treppe im Laufschritt, seine Stiefel donnerten auf die Stahlstufen, während er Kraft seiner Gedanken die Tür zuwarf und die elektronischen Schlösser wieder zuschnappen ließ.
Tiefer. Tiefer. Tiefer. Die Wendeltreppe hörte nicht mehr auf, führte ihn bis in die Eingeweide der Erde, näher an ihr unterirdisches Quartier. Als er unten ankam, nahm er Kontakt zu seinem Kameraden auf. »Denzeil … wo steckst du?«
»Bin unterwegs«, antwortete der Krieger. Er klang atemlos. »Hab die Frauen im Schlepptau.«
»Halt dich ran. Wir treffen uns in der Garage.«
»Wann?«
Lothair rannte an der alten Klinik vorbei. »Anderthalb Minuten.«
Eine Frau schrie, ihre Angst drang klar und deutlich durch die Gedankenverbindung.
Denzeil grunzte. Dann folgte das dumpfe Geräusch von Knöcheln, die auf nackte Haut trafen. Im Hintergrund flehte eine Frauenstimme um Gnade, während Denzeil fragte: »Nightfury?«
»Sind ahnungslos, aber nicht mehr lange.« Lothair verzog den Mund zu einem Lächeln, seine zögerliche Bewunderung für die Methoden seines Kumpels wuchs mit jedem weiblichen Schluchzer. »Beweg deinen Arsch.«
»Roger.«
Roger. Lothair unterdrückte ein Augenrollen. Denzeils Truckerslang machte ihn wahnsinnig. Wenigstens hatte er das Gespräch nicht mit Kanal eins-neun, Breaker zieh an! angenommen. Lothair schüttelte den Kopf. Er lief so schnell, dass der Wind ihm in den Ohren pfiff. Der Krieger sah einfach zu oft Wiederholungen von Moving on – Abenteuer Landstraße. Trotzdem, wenn man seinen grässlichenGeschmack außer Acht ließ, war Denzeil die meiste Zeit über wirklich nützlich, und wenn auch sein Hirn nicht immer up to date war, saß sein Herz am rechten Fleck. Also lebte man mit dem 40-Tonner-Mist.
Der unebene Beton knirschte unter seinen Stiefeln, als Lothair um die letzte Ecke bog. Überall standen verstreute Kartons: an den Wänden, mitten im Flur, manchmal drei übereinandergestapelt. Und dazwischen? Eine Pfütze geronnenen Plasmas und blutbespritzte Wände … das Abschiedsgeschenk seiner kleinen Polizistin.
Rachegedanken durchfluteten ihn.
Lothair schob sie beiseite. Er musste einen klaren Kopf behalten und sich auf ihren Abflug hier konzentrieren. Aber danach? Würde er neue Pläne schmieden. Dann war Zeit für Rache.
Er schluckte einen Fluch hinunter, verdrängte die Erinnerung und rannte an dem Durcheinander vorbei, sprang auf dem Weg zur Doppeltür am Ende des Ganges über einen der umgefallenen Kartons. Er stieß die Holztür mit der Faust auf und betrat die Garage. Gerade noch rechtzeitig. Die Party hatte bereits ohne ihn angefangen.
Er verlangsamte seinen Lauf und sah Denzeil dabei zu, wie er die zweite Frau in den Kofferraum eines rostigen Oldsmobiles warf und die Klappe zuknallte. Der Lärm hallte durch die große Höhle und wurde von der gewölbten Decke und den glatten Steinwänden zurückgeworfen. Das Geräusch machte ihn wütend. Angela sollte dort drin sein, zusammengepfercht mit den anderen, ihn auf der Reise begleiten wie sein persönliches Haustier.
Verfluchtes Weibsstück.
Irgendwie würde er sie erwischen. Und wenn es so weit war? Kein Mr. Nice-Guy mehr. Mächtige Energie – ideal für das Nachwuchsprojekt – hin oder her, es war ihm egal. Diesmal konnten Ivar und sein Befehl zur Hölle fahren. Sobald er die Kleine in die Finger kriegte, würde er ihr das Herz herausreißen. Zusehen, wie es in seiner Hand pulsierte, während er es in die Höhe hielt. Wie eine Trophäe. Wie der Bezwinger, der er war und immer sein würde.