Kapitel 40
Nicodemus fiel in die Seiten des Bestiariums. Warmes, dünnflüssiges Öl stieg ihm in den Mund. Er würgte und atmete die glitschige Schwärze ein. Er ertrank. Panisch schlug er mit den Armen um sich. Doch es gelang ihm nicht, seinen Geist von dem Buch zu lösen.
Die Flüssigkeit um ihn herum wurde immer zäher. Mit aller Gewalt pumpte Nicodemus das Öl aus den Lungen und versuchte verzweifelt nicht einzuatmen. Aber schon bald war er gezwungen, das dünne Öl wieder einzusaugen.
Allmählich hörte er auf zu zappeln. Er ertrank nicht, sondern atmete das Dunkel ein. Umflutet von seinem langen Haar glitt er schwerelos dahin.
Ganz in der Nähe schwamm etwas, es wirbelte kräftige Wellen auf. »Noch so ein fehlerbehaftetes Kind. Eine zweite Chance?«, fragte eine schroffe weibliche Stimme.
Nicodemus’ Herz setzte einen Schlag aus. »Wer seid Ihr?« Es überraschte ihn, dass er in diesem flüssigen Dunkel sprechen konnte.
Das Wesen antwortete ihm mit einem Lachen, das an das Schnurren einer Katze erinnerte. Ihm war, als würde es ihn einschließen.
Nicodemus fuhr herum, um auszumachen, womit er es zu tun hatte. »Ich bin hier, um Primus zu lernen. Und etwas über den zu erfahren, der vor mir hier gewesen ist.«
Wieder erklang das katzenhafte Lachen. »Ich weiß, wonach Ihr sucht, Nicodemus Weal. Solange Ihr Euch in diesem Folianten aufhaltet, ist Euer Wissen auch mein Wissen.«
Er streckte die Hand nach der Stimme aus. »Wer seid Ihr?«
Etwas Glitschiges glitt ihm über den Kopf, doch noch ehe er danach fassen konnte, war es schon vorbeigezogen.
»Ich bin die Bestie, das Bestiarium; der Fragenschrauber, der Wortklauber, das Gericht vor dem Gesetz, der Wille vor dem Weg. Der Abglanz der Chimäre, einst Göttin der chimärischen Völker.«
»Seid Ihr ein Zauber?«
Die Antwort war ein kehliges Lachen. »Ihr könnt mich Zauber nennen. Oder auch den Bruchteil einer Seele. Als ich noch eins mit mir war, habe ich dieses Buch zu meiner Avatara gemacht und Teile meiner selbst hineingegeben. Nennt mich Chimära.«
Nicodemus nahm all seinen Mut zusammen. »Könnt Ihr mich lehren, was ich wissen möchte?« Wieder verspürte er etwas Glattes, diesmal wickelte es sich um seinen linken Arm und war im nächsten Moment verschwunden.
»Kann ich«, brummte die Chimäre. »Doch das hat seinen Preis, und Ihr müsst bereit sein, ihn zu zahlen. Wer einmal Primus gelernt hat, kann es nie mehr ungeschehen machen.«
»Aber was ist Schlechtes daran? Werde ich erblinden?«
Jäh wurde Nicodemus von einer Strömung erfasst und fortgerissen. Einen Augenblick später sagte Chimära: »Ganz im Gegenteil, statt weniger werdet Ihr mehr sehen. Ihr werdet Einsicht in die Sprache des Schöpfers gewinnen.«
»Ist das auch James Berr widerfahren? Nachdem Ihr ihm Primus beigebracht habt, hat er die Kakographie durchschaut?«
»Ja«, ertönte es direkt über ihm.
Nicodemus befreite sich von seinen Haaren, die ihm immer wieder in die Augen trieben. »Und was ist mit dem Fluch, der auf Magister Shannon liegt? Könnte ich ihn mit Primus heilen?«
»Zumindest wüsstet ihr, wie man den Fluch beseitigen könnte. Ob Ihr die Fähigkeiten habt, ihn tatsächlich zu beseitigen, vermag ich nicht zu sagen.«
Nicodemus spürte, wie Chimära immer schneller um ihn herumschwamm. »Meine Feinde würden dieses Wissen von Euch fernhalten«, dröhnte sie. »Wenn Ihr Primus gelernt habt, seid Ihr in der Lage, Fellwroth und seine dämonischen Meister zu vernichten. Doch wie überall muss es ein Geben und Nehmen sein. Ich gebe Euch mein Wissen, und Ihr gebt mir dafür Eure Freude.«
Nicodemus lachte. »Das ist der Tausch: meine Freude für Euer Wissen?«
Chimära zischelte: »Ja.«
»Von dem Handel hättet Ihr aber nicht viel, denn ich habe nicht besonders viel Freude anzubieten.«
»Soll das besonders tiefsinnig oder zynisch sein?«
Nicodemus schüttelte den Kopf. »Wenn ich auch nur eine Gelegenheit ausließe, um Shannon von seinem Fluch zu befreien, würde ich ohnehin niemals mehr froh sein.«
»Ihr würdet also Eure Freude für die bloße Möglichkeit, Euren Lehrer heilen zu können, hingeben?«
»Ja, das würde ich.«
Daraufhin schwieg die Chimäre.
Nicodemus schürzte die Lippen. Hatte er etwa einen Fehler gemacht? »Wie wollt Ihr oder Primus mir denn meine Freude rauben?«
»Indem wir dich zu der Person machen, die du im Begriff bist zu werden.«
Nicodemus fuhr auf. »Wer würde denn darunter leiden, mehr er selbst zu sein?«
»Und wer nicht?«
Verächtlich schnaubte Nicodemus die Dunkelheit aus seiner Nase. »Soll das jetzt tiefsinnig oder zynisch sein?«
Chimära antwortete nicht.
Also wechselte Nicodemus das Thema. »Wie wollt Ihr mich Primus lehren? Wird es so sein wie beim Index, der mir seine purpurne Sprache einfach eingetrichtert hat?«
Chimära kicherte. »Nein, Fellwroth hat Euch schon die Wahrheit über Eure Familie gesagt. Das Solare Reich hat dafür gesorgt, dass die kaiserliche Nachkommenschaft bereits mit einem Verständnis für Primus auf die Welt kommt. Dank deiner Ahnen besitzt du unbewusst bereits das Wissen, wie man in Primus liest und schreibt. Auch James Berr war von kaiserlichem Geblüt.«
Ihm schnürte sich die Kehle zu. »Bin ich mit ihm verwandt?«
Gelangweilt gähnte Chimära. »Berr wäre wohl ein entfernter Vetter. Er war bereit, den Preis zu zahlen, und ist daran zerbrochen. Vielleicht seid Ihr aus anderem Holz geschnitzt. Wollt Ihr nun die erste aller Sprachen lernen, oder nicht?«
Nicodemus nahm einen kräftigen, schwarzen Atemzug. »Das will ich.«
In der Dunkelheit leuchteten vier aquamarinfarbene Zeichen auf.
»Das sind die vier Runen von Primus«, verkündete Chimära, die hinter ihm stand.
Als Nicodemus den Kopf drehte, um über die Schulter hinweg einen Blick auf die Chimäre zu erhaschen, sah er nichts als Finsternis. Also wandte er sich wieder den komplexen zyanfarbenen Schriftzeichen zu. Sie waren dreidimensional. Zwei der Runen wiesen sechseckige Strukturen auf, die anderen beiden fünfeckige. Während sich die Figuren langsam um die eigene Achse drehten, fiel Nicodemus auf, dass er sich auf Anhieb jedes kleinste Detail gemerkt hatte. Er konnte sich bereits vorstellen, wie die Runen in langen gewundenen Sätzen ineinanderpassten.
»Noch nie habe ich etwas so schnell gelernt«, bemerkte er verblüfft.
»Das ist kein Lernen, Ihr habt nur Euer angestammtes Wissen wieder erweckt. Und nun, da Ihr die Runen kennt, ist Eure Ausbildung beinahe schon abgeschlossen.«
Nicodemus lachte, doch als seine unsichtbare Lehrerin nicht antwortete, wusste er, dass sie es ernst gemeint hatte. »Aber mir fehlt noch das Vokabular in Primus und die Grammatik.« Wieder lachte er. »Ich weiß doch nicht einmal, welche Zaubersprüche in Primus geschrieben werden.«
Chimäras Antwort war ein Flüstern: »Seht auf Eure Hände.«
Nicodemus tat, wie ihm geheißen, und machte einen Satz. Aquamarines Licht durchflutete seine Handflächen und Finger.
»Flammender Himmel! Ich schreibe in Primus!« Um ganz sicherzugehen, hielt er sich die Hände näher vor die Augen. »Aber die Runen sind unglaublich klein«, sagte er voller Verwunderung. »Es müssen mindestens … mir fällt keine Zahl ein, die groß genug wäre, um auszudrücken, wie viele Runen sich allein in meinem kleinen Finger tummeln.«
Nicodemus schob die Ärmel hoch und riskierte einen Blick unter sein Gewand. Sein gesamter Körper war primusgetränkt. »Das ergibt doch gar keinen Sinn«, rief er. »Die übrigen magischen Sprachen bilden wir in unseren Muskeln, doch diese Runen entstehen überall in meinem Körper.«
Die Dunkelheit wogte und Chimäras Stimme kam näher. »Das liegt daran, dass Primusrunen nicht von Eurem Körper beherrscht werden. Sie sind Euer Körper.«
»Das ergibt immer noch keinen Sinn. Wo sind wir hier überhaupt? Ist das mein richtiger, leibhaftiger Körper? Oder ist das nur ein Trugbild?«
»Nur Euer Geist befindet sich innerhalb meines Buches. Doch der magische Körper, den ich Euch verliehen habe, verhält sich genau so wie Euer leibaftiger Körper. Wenn Ihr das Buch verlasst, werdet Ihr feststellen, dass ich Euch nicht getäuscht habe.« Auf einmal spürte er ihre Stimme ganz nah an seinem Ohr. »Nun seht Euch die Natur an.«
Nicodemus blickte sich um, in die Dunkelheit war ein quadratisches Fenster geschnitten, und jenseits des Fensters lag der nächtliche Wald. Das meiste kam ihm bekannt vor: Kiefern, Schwertfarn, ein junger Rehbock, der sich vorsichtig seinen Weg durch Gestein und Gehölz bahnte.
Das Schönste an dem Reh war jedoch, dass es zart zyanfarben schimmerte. »Der Rehbock schreibt in Primus!«, sagte Nicodemus. »Aber das ist doch unmöglich. Nur Menschen können … es sei denn, er ist ein Schutzgeist und …« Seine Stimme erstarb, als ihm auffiel, dass der Farn ebenfalls blau leuchtete. Nur die Steine waren ohne Text.
»Das bilde ich mir doch nur ein!«, flüsterte er.
»Nein, Nicodemus Weal, im Gegenteil, alles, was Ihr vor Primus gesehen habt, war Einbildung. Nun seht Ihr die Welt mit anderen Augen.«
Vor dem Fenster gaukelte ein Nachtpfauenauge. Eine schwarze Tentakel schoss hervor und zerrte den Falter ins Dunkel.
Überrascht wich Nicodemus zurück. Die flüssige Dunkelheit um ihn wurde so dünn wie Luft; das Fenster zum Wald verschwand.
Panisch schlug der riesige Falter mit den Flügeln. Wegen der Dunkelheit konnte Nicodemus den Körper des Insekts nicht ausmachen, doch er sah die Primustexte, die den Körper durchzogen.
»Ich habe den Geist des Falters ins Bestiarium gezogen und ihm einen magischen Körper gegeben, der dem da draußen entspricht. Nun streckt Eure Hand aus, Nicodemus Weal, und werft einen Blick auf das Geheimnis des Lebens.«
Nicodemus hielt die Hand hin und der Falter flatterte eine Zeitlang umher, bevor er auf seinem Daumen landete.
Als sich das Insekt mit seinen Füßen an seiner Haut festklammerte, durchströmte ihn eine ekstatische Hitze. Ihm wurde schwindelig, und er fühlte sich beinahe berauscht. Seine Gedanken wurden auf einmal so leicht wie Rauchsäulen im Wind. Die Zeit schien stehenzubleiben, selbst das Blut in seinen Adern stockte.
In seinem Geist strahlte ein Text, der länger war, als er es sich jemals hätte vorstellen können. Keines der Bücher in Starhaven hätte auch nur halb soviel Text aufnehmen können. Obgleich der Zauber aus nur vier Runen bestand, enthielt er unzählige Drehungen und Wendungen.
Was Nicodemus hingegen am meisten zu schaffen machte und ein geradezu mystisches Staunen in ihm auslöste, war die Gewissheit, dass dieser Text und der Falter ein und dasselbe waren.
Nicodemus hätte nie gedacht, dass ein Mensch einen solch komplizierten Zauber jemals begreifen könnte, wenn er ihn jetzt nicht selbst klar und deutlich schimmernd vor sich gesehen hätte.
Dann stimmte es also. Er war wirklich kaiserlicher Abstammung, geboren mit der Gabe, Primus lesen und verstehen zu können.
Der Falter schlug mit den Flügeln. Wieder besah sich Nicodemus dieses blasse, zarte Wesen und war von dessen unendlicher Schönheit hingerissen.
Für ihn war der Falter Tier und Gedicht zugleich.
Er versuchte etwas zu sagen, um der Ehrfurcht, die wie eine Droge durch seine Adern pulsierte, Ausdruck verleihen, doch er flüsterte nur verzückt: »Nie habe ich einen schöneren Zauber gesehen.«
»Ganz gleich welches lebendige Wesen Ihr berührt, Ihr werdet immer auf die gleiche Sprache stoßen«, sagte Chimära in einem Singsang. »Ich könnte Euch mit der Prosa eines Eichenblatts oder eines Forellenmagens versorgen und könnte Euch sogar die winzigen Dinger zeigen, die Wunden infizieren. In allem werdet Ihr Primus erkennen. Darum heißt dieses Buch auch Bestiarium. Jede Pflanze und jedes Biest wurde mit der Sprache des Schöpfers, durch seinen Gotteszauber, geschaffen.
Und Nicodemus begriff: »Leben ist magische Sprache.«
Allmählich erwachte Nicodemus aus seiner Trance. Er griff sich an die Stirn, als ihm die Tragweite dieser Erkenntnis klar zu werden begann. »Wenn das Leben also Sprache ist … dann könnten Primuszauberschreiber Krankheiten eliminieren, Wunden schließen und Heilungsprozesse fördern, sogar Weizen umschreiben, damit er mehr Ertrag bringt.«
Amüsiert schnaubte Chimära. »Dann versteht Ihr sicher, dass das Solare Reich das Paradies war. Unter der Herrschaft der Kaiserfamilie gab es weder Krankheit noch Hungersnot.«
»Woher wisst Ihr das, Chimära?«
Sie seuftze tief und zischelnd. »Ich war die älteste und unzufriedenste Göttin der Alten Welt. Mit der Ursprungssprache hatte ich Großes vor, denn ich wollte eine neue Gattung von Menschen schreiben. Der Kaiser hingegen hat Primus nur dazu genutzt, um das Leben, so wie es war, zu verbessern, und nicht, um neues Leben zu schaffen. Mir schien es, als würden wir auf eine Stagnation zutreiben. Und als Los geboren wurde, wusste ich, dass ich recht gehabt hatte.«
»Ihr habt Los gekannt, den ersten Dämon?«
Wieder seufzte Chimära. »Ich habe ihn noch vor seiner Rebellion gekannt und wusste, was er mit Primus vorhatte. Deshalb bin ich auch der Alten Welt entflohen, zumal das Reich mir jegliche Textexperimente verboten hatte. Also habe ich meine Anhänger mit über das Meer in die neue Welt gebracht. Hier habe ich sie in die Chimärer verwandelt.«
Auf einmal kam Nicodemus ein Gedanke. »Die Chthonen waren also einst Menschen?«
»Das waren sie. Und ebenso die Kobolde, die Goblins, die Werwölfe, die Wasserwesen, die Barbaren und viele andere. Am Anfang war dieses Land ein Paradies, doch dann begannen sich meine Völker untereinander zu bekriegen. In der Hoffnung, sie zu beherrschen, habe ich meine Seele gespalten und die einzelnen Teile in die verschiedenen Bestiarien gegeben. Jeder Stamm erhielt drei Bücher. Doch meine Mühe war vergebens. Die Unterschiede zwischen den chimärischen Völkern waren zu groß geworden. Als Eure Vorfahren dann über den Ozean kamen, waren meine Völker bereits zerstritten.«
Sie hielt inne und zischte leise. »Zunächst hoffte ich Euresgleichen zurückzutreiben, denn Eure Gottheiten waren damals noch sehr schwach. Um dem dämonischen Heer zu entkommen und das Wasser zu überqueren, mussten sie sich in ihre Schreine zurückziehen. Dadurch hatten sie beinahe alles vergessen, selbst Primus. Und Eure kaiserliche Familie war übers ganze Land verstreut. Doch meine Völker, gespalten wie sie waren, konnten es mit den Menschen nicht aufnehmen. Sobald Eure Vorfahren in dieser Welt Fuß gefasst hatten, haben sie meine Völker einfach abgeschlachtet.«
Nicodemus wählte seine nächsten Worte mit Bedacht. »Chimära, warum habt Ihr mich Primus gelehrt? Das ist ein außerordentliches Geschenk.«
Lange Zeit antwortete sie ihm nicht, so dass Nicodemus schon fürchtete, sie sei verschwunden. »Ich habe Euch das bitterste Wissen überhaupt beschert. Hier beginnt Euer Leidensweg.«
»Was meint Ihr damit?«
»Denkt doch nur, welche Folgen es hat, nun da Ihr die Ursprache beherrscht.«
Nicodemus legte die Stirn in Falten. »Von nun an wird für mich alles Lebendige erstrahlen. Doch … eines verstehe ich nicht. Warum löst Primus bei mir oder auch bei anderen Zauberern keine synästhetische Reaktion aus?«
»Primusrunen sind sehr schwach. Außerhalb eines lebendigen Körpers können sie nur wenig ausrichten. Menschliche Synästhesie ist nicht empfindsam genug, um sie wahrzunehmen.« Chimära zögerte. »Doch Ihr habt noch nicht hinlänglich darüber nachgedacht, welche Folgen Eure neue Fähigkeit hat. Strengt Euch ein wenig an. Euer Geist schreibt eugraphische Runen in Eurer Nähe einfach um, auf diese Weise sind auch die Nachtwesen aus Euren kindlichen Träumen entstanden. Doch die Ursprache ist keine eugraphische Sprache, ihre Rechtschreibung ist unlogisch und redundant. Was geschieht, wenn Ihr derartige Texte berührt?«
Die Erkenntnis traf Nicodemus wie ein plötzlicher Schlag in die Magengrube. Zunächst brachte er kein Wort hervor. Sein Herz begann zu rasen und seine Zunge fühlte sich schwer und ledrig an. »Ich … verschreibe sie.«
Mit leiser und tieftrauriger Stimme sprach die Chimäre: »Seht Euch den Nachtfalter an.« Eine Kugel aus sanftem weißem Licht schwebte neben Nicodemus’ Hand.
Er schaute auf den Falter und schrie entsetzt auf.
Zuvor war er ein zartes Wesen mit pelzigem Körper, großen schwarzen Augen und gefiederten Antennen gewesen. Die breiten, hauchdünnen Flügel waren cremefarben mit schillernden gelb-schwarzen Augenflecken.
Doch das Tier, das nun auf Nicodemus’ Finger saß, war ein schwarzer, klumpiger Kadaver, dessen Leib winzige entzündete Geschwüre aus abgestorbenem Gewebe wie Parasiten überzogen.
Nicodemus stieß einen neuerlichen Schrei aus. Durch seine neue Gabe erkannte er, auf welche Weise sein kakographischer Geist den Primustext des Falters umgestaltet hatte, so dass ihm diese monströsen Beulen gewachsen waren.
Angewidert zog er die Hand zurück und ließ das tote Tier fallen. Nicodemus schwebte wieder in vollkommener Dunkelheit.
»Das war ein Geschwulstzauber, nicht wahr?«, fragte er keuchend. »Ist das der gleiche, mit dem Fellwroth Magister Shannon belegt hat?«
Chimära gab ihm keine Antwort. Das war auch nicht nötig, denn Nicodemus wusste auch so, dass er recht hatte.
»Jedes lebendige Wesen, das ich berühre, werde ich verschreiben«, dachte er laut. »Meine Berührung wird sie mit Fehlern infizieren. Wo ich auch gehe und stehe, werde ich unkontrollierte Wucherungen verbreiten.« Ihm war, als würde er gleich ohnmächtig werden.
Die Chimäre schnaubte. »Nicht jede Veränderung, die Ihr auslöst, wird gleich zu Geschwülsten führen. Manche Veränderungen werden ohne jede Auswirkung bleiben, andere können sogar heilsam sein. Doch nun …« Sie zögerte und gab erneut ein leises Seufzen von sich. »Nun kennt Ihr den Preis, den ich Euch abverlangt habe.«
»Das tue ich«, antwortete Nicodemus und hielt sich den Bauch. »Ihr habt gesagt, vielleicht könnte ich lernen, Shannon von seinem Fluch zu befreien. Ihr habt nie versprochen, dass ich dazu auch imstande sein würde.«
»Es besteht noch Hoffnung. Im Moment breiten sich die Geschwüre in seinem Magen netzartig aus. Wenn Ihr ihn berührt und Euch dabei konzentriert, könnt Ihr die Wucherungen vielleicht zu einem einzigen Klumpen zusammenfügen …«
Nicodemus fiel ihr ins Wort. »… den Deidres Göttin möglicherweise entfernen kann. Auf diese Weise könnte Shannon doch noch gerettet werden.«
»Eigentlich kann ich nicht behaupten, dass Ihr mich betrogen habt«, sagte er nach einer Weile. »Mein Magister hat so eine reelle Überlebenschance. Ich hätte Euren Bedingungen sogar zugestimmt, wenn ich gewusst hätte, dass sie mich zu einem Monster machen.«
Schlagartig kam ihm eine Idee. »Und wenn ich den Smaragd von Arahest von Fellwroth zurückbekäme?«
Dunkelheit wogte um ihn her. Nicodemus spürte, wie die Chimäre um ihn herumschwamm. Sie sagte: »Das wäre mir nicht recht.«
»Aber wenn ich meine Fähigkeit, fehlerfrei zu schreiben, zurückerlangte, dann würde ich nicht automatisch mit jeder Berührung Schwulst verbreiten. Ich könnte ein Primuszauberschreiber werden, wie jene aus dem Solaren Reich. Chimära! Fellwroth behauptet, es gäbe keinen Halkyon, aber dennoch könnte ich mit Primus gegen die Separatisten kämpfen.«
Die lichtlosen Wellen legten sich. »Wenn Ihr diesen Teil Eurer selbst zurückgewinnt, werdet Ihr im Kampf gegen die Dämonen nutzlos sein.«
»Wie kann das sein?«
Abermals begann sie ihre Kreise um ihn zu ziehen. »Fellwroth versucht, die ganze Wahrheit über die Prophezeiung vor Euch zu verbergen.«
»Der Golem hat gesagt, alle Prophezeiungen seien falsch.«
»Alle Prophezeiungen der Menschen sind falsch«, korrigierte sie ihn. »Und in dieser Hinsicht hat Euch der Golem die Wahrheit gesagt. Dass die Mitglieder Eurer Familie nichts weiter sind als Schachfiguren, die von der einen oder anderen Seite gezogen werden, ist auch wahr, jedenfalls zum Teil.«
»Und was ist die ganze Wahrheit?«
»Die Menschen benutzten das Wort ›Prophezeiung‹ gleichbedeutend mit dem Begriff ›Vorsehung‹. Es gibt aber gar keine Vorsehung, denn nichts ist vorherbestimmt. In gewisser Weise kann man die Prophezeiung mit Regen vergleichen, der auf einen Berg fällt. Das Wasser fließt unweigerlich hinunter und sucht sich als Bach, Strom oder Fluss seinen eigenen Weg. In einer Welt, in der sich nichts verändert und alles gleich bleibt, ließe sich der Verlauf des Wassers genau berechnen. In einer unveränderlichen Natur könnte man durchaus voraussagen, dass dieser Regentropfen dazu bestimmt ist, in diesen See zu fließen, dieser Fluss ins Meer. Aber die Welt ist eben einem ständigen Wandel unterworfen.«
Die Chimäre verschnaufte kurz. »Außerdem könnten die Mächtigen Dämme legen, Kanäle ausheben, Wassermühlen bauen. Und genau das habe auch ich mit Euch getan, Nicodemus. Ich habe Euch in den Fluss geworfen, der gegen Los anströmt, und ich möchte, dass Ihr der König dieses Flusses werdet.«
Erneut wurde Nicodemus von einer Schwindel erregenden Furcht gepackt. Obgleich er wusste, was sie antworten würde, fragte er dennoch: »Und welchen metaphorischen Fluss habt ihr dabei im Sinn?«
»Euch erscheint die Welt als Schlachtfeld, auf dem Ihr und Euresgleichen gegen die Dämonen kämpfen. Aber Menschen, Götter und Dämonen sind nur Strömungen in einem Konflikt zweier weitaus größerer Kräfte: die der linguistischen Ordnung und des Stillstands; und die der linguistischen Abweichung und des Wandels. Den Zauberern ist die sprachliche Ordnung heilig, und sie hoffen auf Kräfte, die deren Stabilität gewährleisten. Aus diesem Grund erwarten sie sehnsüchtig den Halkyon, den Flusskönig der unveränderlichen Sprache. Alles soll in möglichst ruhigen Bahnen fließen. Fürchten tun sie sich vor dem Unglücksboten, dem Flusskönig der wechselhaften Sprache. In der Akademie fürchtet man sich vor den stürmischen Veränderungen des Unglücksboten. Indem man die Sprache bewahrt, wie sie ist, hält man sich auch die Dämonen vom Leib; das glauben jedenfalls die Zauberer.«
Nun zitterten Nicodemus’ Hände nicht mehr, vor Wut hatte er sie zu Fäusten geballt. »Und Ihr seid zu dem Entschluss gekommen, dass es gerade das Chaos und die Variationen sind, die die Dämonen aufhalten? Ihr habt aus mir einen Kämpfer für den Sprachwandel gemacht.«
Chimära knurrte: »Das Leben ist stetiger Sprachwandel, ein Wandel, der durch Fehler entsteht. Ohne Abweichungen in Primus sind wir verloren. Das habe ich James Berr aufgezeigt. Ich habe ihm aufgezeigt, dass er den Wandel, die Störung, die Originalität hervorbringen kann.«
»Originalität?«, stieß Nicodemus unter zusammengepressten Zähnen hervor. »Indem Ihr uns in Monster verwandelt?«
»Das Originelle, Ursprüngliche schafft einen neuen Ursprung. Per Definition muss das Originelle altbekannte Pfade verlassen. Es muss umherschweifen und Fehler machen. Meinetwegen werdet Ihr veränderliche Sprache schaffen, Ihr werdet sprachgutverändernd sein.«
Etwas Heißes presste sich gegen seinen Rücken. »KREATIVITÄT HAT IHREN URSPRUNG IM FEHLER !«, dröhnte Chimäras Stimme in seinem Ohr.
Blitzschnell fuhr er herum und versuchte sie zu packen. »Ihr sollt verdammt sein! Ihr habt mich erst zum Unglücksboten gemacht. Ihr habt mich in ein Monster verwandelt.« Nicodemus schlug mit den Armen wild um sich, doch fasste nur ins Leere.
»Ihr nennt den Fehler grotesk?«, fragte die Chimäre aus der Ferne. »Nennt das Originelle monströs? In diesem Sinne seid Ihr schon immer ein Monster gewesen und wart immer schon ein Kakograph. Das ist Eure wahre Natur, so wie es auch James Berrs wahre Natur war. Er hat genauso mit diesem Schicksal gehadert wie ihr, und es hat ihn verzehrt. Wollt Ihr etwa Eure wahre Natur leugnen?«
»ICH BIN KEIN JAMES BERR !«, brüllte Nicodemus aus vollem Halse. »Und das werde ich auch nie sein. Ich bin nicht zwangsläufig eine Fehlerquelle. Ich hätte nie so sein sollen, auf mir lastet ein Fluch. Ich hole mir den Smaragd zurück, damit werde ich wieder heil, und dann werde ich der Halkyon.«
Fauchend antwortete Chimära: »Ihr mögt den Dämonen den Smaragd von Arahest entreißen, doch damit wäre Euer Leben nur eine einzige Lüge. Eurer Vergangenheit als Kakograph könnt Ihr nicht entkommen. Der Smaragd würde Euch nur bedingt zum Halkyon machen. Ihr solltet wissen, dass es bereits einen wahren Halkyon gibt.«
»Unmöglich!«
»Hat Euch Fellwroth nicht von der Allianz göttlicher Ketzer berichtet? Die abtrünnigen Gottheiten, die ebenfalls versuchen, einen kaiserlichen Abkömmling hervorzubringen?«
Nicodemus presste die Zähne zusammen. »Das Ungeheuer hat mir davon berichtet.«
»Dann solltet Ihr wissen, dass die Allianz Euch eine Halbschwester beschert hat, das zweite Kind Eurer Mutter. Noch ist sie ein Kind, doch eines Tages wird sie vielleicht der Halkyon. Ihr hingegen werdet es nie sein.«
Nun konnte Nicodemus seine gärende Wut nicht mehr länger zurückhalten. Er sammelte all seine Kräfte, formte scharfe Numinuskaskaden und schleuderte sie in die Richtung, aus der Chimäras Stimme kam.
Er stieß einen schrillen Schrei aus, als sich die leuchtenden Sätze in der Dunkelheit entfalteten. Die Worte der Wut brannten in glühendem Gold.
Und für einen kurzen Augenblick trat die Silhouette eines Wesens aus dem schwarzen Nebel hervor. Chimäras schier endloser Körper schwoll an und schlängelte sich windend und tanzend hin und her. An manchen Stellen glänzte ihre Haut so glitschig, als sei sie mit einer schwarzen Schleimschicht überzogen, während an anderen Partien knorrige, mit Schuppen überzogene Auswüchse aus dem Schlangenleib hervortraten.
Dann verpufften Nicodemus’ fehlerhafte Sätze und ließen nur noch goldene Fünkchen zurück.
Chimäras nächsten Worte trafen ihn wie ein Donnerschlag. »DANN ZIEHT DOCH LOS UND LEUGNET EURE WAHRE NATUR ! SUCHT DEN SMARAGD, EURE LAPIDARE LÜGE !«
Plötzlich fand sich Nicodemus wieder in seinem eigenen Körper und stolperte rücklings. Tränen schossen ihm in die Augen und er verspürte ein heißes Brennen in der Kehle.
Er schrie. Wortlos.
Als er aufs Steißbein fiel, durchschoss es ihn schmerzhaft. Er kippte nach hinten und starrte an die Decke.
»Nico!«, schrie John. Auf einmal stand der Hüne über Nicodemus gebeugt und wollte ihn bei der Schulter packen.
»Fass mich nicht an!«, brüllte Nicodemus und zog mit einer hastigen Armbewegung einen Magnuszauber hervor.
Blitzartig formierte sich der Zauber zu einer silbrig glänzenden Platte, die Johns Hand traf. Zwar zerschellte der fehlerhafte Text sogleich, doch er hatte bereits Johns Ringfinger gebrochen.
Mit einem Aufschrei ging John zu Boden.
Nicodemus rückte von seinem Freund ab. »BLEIBT ZURÜCK !«, rief er Shannon und Deidre zu, die herbeigeeilt waren.
Vor lauter Tränen konnte Nicodemus nichts erkennen, Speichel klebte ihm auf der Lippe.
»Niemand berührt mich!«, brüllte er. »Niemand wird mich jemals wieder berühren!«