Kapitel 36
Nicodemus erwachte, als Deidre vorsichtig die Treppen hinunterstieg. Einem einsamen Sonnenstrahl war es gelungen, durch die zertrümmerte Decke zu dringen und die untersten Stufen in Licht zu tauchen. Deidre trat durch den Strahl, und ihr Schwert leuchtete hellweiß. Ihren Umhang hielt sie vorne gerafft, in der bleichen Vertiefung lagen kleine, dunkle Früchte. Nicodemus eilte ihr mit dem Index im Arm entgegen.
»Klarer Himmel, kalt und windig«, flüsterte sie, nachdem sie sich gemeinsam dicht an eine Wand gekauert hatten. »Erinnert mich an die goldenen Herbsttage im Hochland.« Deidre saß im Schneidersitz, Brombeeren lagen in ihrem Schoß.
Nicodemus legte den Index beiseite und starrte gebannt darauf, wie Deidre einen kleinen Haufen Beeren zusammenklaubte und ihm in die Hand gab.
»Für John müssen wir auch noch welche übrig lassen«, sagte er.
Der Hüne lag auf der gegenüberliegenden Seite zusammengerollt auf Nicodemus’ Umhang. Ihn am Morgen zum Schlaf zu bewegen, hatte sie einige Anstrengung gekostet.
Kurz nachdem Nicodemus Deidre und John in die Ruinenstadt geführt hatte, war Johns Erinnerung mit Pauken und Trompeten zurückgekehrt. Anfangs hatte er jedes Mal aufgeschrien, wenn Nicodemus ihn berühren wollte. Doch am Ende ließ er sich sogar in den Arm nehmen. Dann hatte John immer wieder einen Namen genannt: »Devin … Devin … Devin.«
Nicodemus hatte mit ihm geweint, und schließlich waren sie beide vor Erschöpfung eingeschlafen.
»Ich habe ein paar Schlingen ausgelegt«, raunte sie ihm leise zu und stopfte sich zwischendurch immer wieder eine Beere in den Mund. »Mit ein wenig Glück erwartet uns heute Abend ein Hasenbraten.« Prüfend sah sie Nicodemus an. »Jetzt, wo wir besser über die Chthonen Bescheid wissen, ist dir da etwas eingefallen hinsichtlich des Traums, von dem du mir erzählt hast, dem, in dem Fellwroth von Efeu und Schildkröten umgeben war? Irgendeine Vermutung, wo sich sein richtiger Körper befinden könnte?«
Nicodemus schüttelte den Kopf. »Ich dachte bislang, der Körper wäre in der Höhle, wo die Spindle-Brücke auf den Berg trifft. Mit den Efeumustern und den Sechsecken im Fels muss es doch irgendeinen Zusammenhang geben. Aber nach dem Bau der Brücke war die Öffnung im Berg verschwunden, das habe ich in meiner Vision ganz deutlich gesehen. Außerdem hat Shannon den Fels gründlich untersucht und keinen Zugang gefunden. Es muss also noch eine andere Verbindung geben. Ich komme hier einfach nicht weiter, und die Geister kann ich erst heute Abend wieder fragen.«
Er steckte sich eine Brombeere in den Mund und betrachtete die Tätowierungen auf seinen Händen und Armen. Ihn befremdete der Gedanke, dass sich Garkex und die anderen Nachtwesen auf seinem Körper eingeschrieben hatten.
Noch immer musterte Deidre ihn eindringlich. »Womöglich spielen die Träume gar keine Rolle. Wenn wir erst einmal Boanns Schrein erreicht haben, werden wir in Sicherheit sein. Wann wirst du so weit sein, dass wir nach Gray’s Crossing aufbrechen können?«
Nicodemus zögerte mit der Antwort, zwischen den Lippen hatte er eine Beere. »Als mir der Golem das letzte Mal begegnet ist, kam er geradewegs aus Gray’s Crossing.«
Er hatte Deidre von diesen seltsamen Träumen erzählt, auch von seiner Begegnung mit Fellwroth und dem chthonischen Geist, doch vom Kampf der beiden Lager und ihren Versuchen, einen Primus-Zauberschreiber heranzuziehen, hatte er sie bislang noch nichts wissen lassen.
»Fellwroth hat ein Auge auf Gray’s Crossing«, fuhr er fort. »Womöglich rechnet er damit, dass wir versuchen werden, zu Eurer Göttin zu gelangen.«
Deidre schüttelte den Kopf, ihr rabenschwarzes Haar glänzte selbst im Halbdunkel. »Ein Dutzend getreuer Anhänger bewacht den Schrein, zwei davon sind Druiden. Zudem ist er gut versteckt, Fellwroth wüsste gar nicht, wo er suchen sollte.«
Mit großen Augen sah sie ihn an, eine Röte flog über ihre dunklen Wangen. »Nicodemus, wir haben es fast geschafft. Meine Göttin spürt deine Nähe bereits. Sie sehnt sich danach, dich zu beschützen.«
Nicodemus schob sich die Beere nun endgültig in den Mund und zerkaute sie langsam. »Deidre, wer ist Eure Göttin?«
Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. »Boann vom Hochland, keine sehr mächtige Gottheit, aber eine Wassergöttin von unübertroffener Schönheit. Sie ist die Bewohnerin der geheimen Bäche und Ströme zwischen Fels und Heidekraut.«
Nicodemus vergegenwärtigte sich noch einmal, was Fellwroth ihm mitgeteilt hatte. »Stehen viele kaiserliche Nachkommen, die wie wir aussehen, in ihrem Dienst?«
»Ein paar«, antwortete Deidre und schob sich eine weitere Beere in den Mund. »Meine Familie dient ihr seit undenklichen Zeiten. In den Niederungen stehen meine Vetter in ihren Diensten. Aber du musst wissen, dass sie eine dralische Göttin ist und das Hochland nach wie vor von den Lorniern besetzt ist. Wir, die wir noch nach den alten Sitten und Bräuchen leben, müssen im Geheimen …«
Nicodemus unterbrach sie. »Bestimmt sie auch, wen ihr heiraten dürft?«
Ein Schatten fiel über ihr Gesicht. »Wir heiraten nie ohne ihren Segen.«
»Versucht sie einen Primus-Zauberschreiber zu zeugen?«
»Primus?«
»Vielleicht hat sie es auch Ursprache genannt. Habt Ihr davon schon gehört?«
Deirdre runzelte die Stirn.
»Nein, habt Ihr also nicht. Doch hat Eure Göttin gewusst, dass Taifon den Ozean überquert hat? Kämpft sie schon seit Längerem gegen ihn?«
»Worauf willst du hinaus, Nicodemus?«
Er senkte den Blick. »Nichts. Ich denke nur laut.«
Fellwroth hatte behauptet, dass die Gegner des Sprachkriegs – die Allianz göttlicher Ketzer – ihn auf der Stelle töten würden. Aber Nicodemus misstraute dem Dämon. Wenn die Allianz so verzweifelt nach einen Primus-Zauberschreiber suchte, dann wäre sie vielleicht auch bereit, ihm im Tausch für seine Dienste zu helfen, seine volle Stärke zu erlangen.
Deshalb hoffte Nicodemus, dass Deidres Göttin der Allianz angehörte. Und offensichtlich wünschte ihm Deidre nicht den Tod, sonst hätte sie ihm schon längst den Hals umgedreht.
Schwierig war nur, dass Deidre offenbar weder über Primus Bescheid wusste, noch darüber, ob ihre Göttin zur Allianz gehörte. Andererseits mochte sie auch mehr wissen, als sie vorgab. Nicodemus musste sie erst besser kennenlernen.
Auf einmal bekam die Brombeere in seinem Mund einen bitteren Beigeschmack. »Deidre«, sagte er leise, »Kyran ist tot.«
Sie schaute zur Seite. »Ich weiß.« Ihre Wangen glühten im spärlichen Kellerlicht und ließen sie unglaublich jung wirken.
Nicodemus knüpfte an die Worte an. »Er ist im Kampf gegen Fellwroth gestorben … er hat mir das Leben gerettet. Diesen Text hat er mir für Euch gegeben.« Nicodemus hielt ihr seine leere rechte Hand hin und zog sich mit der Linken Kyrans letzten Zauber aus der Brust.
Deidre blickte auf seine rechte Hand und wandte den Blick dann ab. »Lies ihn mir vor«, raunte sie.
Sein Herz setzte einen Schlag aus. »Mir wäre es lieber, wenn Ihr selbst …«
Wieder schaute sie auf seine rechte Hand und schüttelte den Kopf. »Bitte, lies mir den Text vor.«
Schweigen.
»Deidre«, sagte Nicodemus vorsichtig, »Ihr könnt nicht lesen.«
Sie sah ihn an, als hätte er sich urplötzlich in einen Frosch verwandelt. »Ich habe schon gelesen, da warst du noch Sternchen putzen.«
»Weltliche Sprache meine ich nicht, ich meine Zaubersprachen. Ihr könnt nicht einmal die einfachsten magischen Worte lesen. Ihr seid gar keine Druidin.«
Zunächst wollte sie ihm widersprechen, doch dann gab sie auf. »Wie hast du das herausgefunden?«, brachte sie schließlich hervor.
»Als ich Euch von Kyrans Botschaft erzählte, habt Ihr immer auf meine rechte Hand gestarrt.« Er deutete auf die fragliche Hand und hielt sie ihr hin, als wollte er ihr etwas geben.
Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Und?«
»Ich halte den Text in meiner linken Hand.«
»Es gab noch weitere Anzeichen«, fügte Nicodemus hinzu. »Ihr verwendet die falschen Ausdrücke. Ihr bezeichnet die Zaubersprüche und -texte mit Magie, kein Zauberschreiber würde je einen so allgemeinen Begriff dafür verwenden. Bei unserer Flucht aus Starhaven habt Ihr kein einziges Mal Eure Ärmel aufgeknöpft. Zwar habt Ihr behauptet, Eure Magie sei anderer Art, aber bei jeder Form des Zauberschreibens muss man auf seine Arme schauen. Und dann erst Euer Langschwert: Selbst ein kräftiger, hochgewachsener Zauberer würde beide Hände brauchen, nur um es hochzuheben. Ihr hingegen wirbelt es umher, als wäre es eine Feder.«
Deidre schloss die Augen und presste ihre schmale Hand gegen die Wange. »Nur die Druiden wurden ins Konzil berufen. Ohne eine Verkleidung wäre ich nicht nach Starhaven hineingelangt.«
Nicodemus hörte schweigend zu.
Sie blickte zur Treppe. Der Sonnenstrahl war die Stufen hinaufgeklettert. Seit Mittag waren ungefähr drei Stunden vergangen. »Ich bin Boanns Avatara. Weißt du, was das bedeutet?«
»Man hält es für überflüssig, uns Kakographen Theologie zu lehren. Also kenne ich es nur aus Büchern.«
Deidre nickte verständnisvoll. »Manchmal verleihen Gottheiten würdigen Anhängern einen Teil ihrer Seele. Wie ein Golem, der die Seele seines Verfassers in sich birgt, tragen wir die Seele unserer Götter. Sollten wir sterben, bevor die göttliche Seele unseren Körper verlassen hat, dann stirbt dieser Teil mit uns. Und die, die die Seelen unserer hohen Götter und Göttinnen tragen, werden zu den Helden unserer Legenden – Krieger mit unverwundbarer Haut, Sänger mit hypnotischen Stimmen und so etwas in der Art.«
Traurig lächelte sie. »Boann ist nicht so mächtig. Meine Talente sind einfacher Natur: Ich altere nicht, meine Verletzungen heilen außergewöhnlich schnell, und für eine kurze Zeit verfüge ich über die Kraft von zehn oder elf Männern.«
Nicodemus wusste nicht, wie er das alles verstehen sollte. »Warum habt Ihr dann nach mir gesucht?«
»Was ich dir damals gesagt habe, stimmt. Letzten Frühling hat mir Boann den Auftrag erteilt, dem Konzil in Starhaven beizuwohnen, wo ich einen ›in Schwarz gehüllten Schatz‹ finden würde. Du hast mich gefragt, ob sie von Taifon gewusst hat. Vielleicht hat sie es und hat es mir verschwiegen. Wenn ich so darüber nachdenke, muss sie wohl gewusst haben, dass dich der Dämon hier versteckt gehalten hat. Warum sonst hätte sie mich hierher schicken sollen?«
Nicodemus schaute sich um, nur um sicherzugehen, dass der Index noch hinter ihm lag. »Deidre, ich habe dir nicht die ganze Wahrheit gesagt.« Er erzählt ihr haarklein alles, was er über Primus wusste und auch, was Fellwroth über die beiden feindlichen Lager gesagt hatte.
Deirde lehnte beim Zuhören den Kopf gegen die Wand. Nach einer kurzen Stille sagte sie mit tonloser Stimme: »Wenn es sie tatsächlich gibt, ist die Allianz göttlicher Ketzer gut benannt. Der Glaube, dass es keinen Retter gibt – keinen Halkyon für die Zauberer, keinen Peregrin für die Druiden, keinen Cynosure für die Oberpriester –, ist auf geradezu gefährliche Weise ketzerisch. Sämtliche Prophezeiungen, auf denen letztendlich die Macht unserer großen Götter beruht, sind damit hinfällig. Den ketzerischen Gottheiten bleibt demnach nichts anderes übrig, als ihren Krieg gegen die Separatisten im Verborgenen zu führen.«
Abermals schloss sie die Lider. »Ich kann dir weder sagen, was davon wahr ist, noch, ob Boann zu dieser Allianz gehört.« Sie hielt inne. »Obwohl es schon sein könnte, denn schließlich hat sie mich hergeschickt, um dich zu retten.«
»Aber wenn Ihr Boanns Avatara seid, müsstet Ihr dann nicht Ihre Absichten kennen?«
Deidre seufzte. »Ich bin Boanns Avatara, und zwar ihre einzige. Doch … vor einem Jahr habe ich ihre Liebe verloren.«
Nicodemus schlang die Arme um die Knie und schwieg.
Sie holte tief Luft. »Der grausame König von Lornien hält unser Hochland besetzt. Viele von uns kämpfen darum, aus unserer Heimat wieder die friedlichen Wälder von Dral zu machen. Als Folge dieses Ringens bin ich vor knapp vierzig Jahren Boanns Avatara geworden.«
Ihre Atmung beschleunigte sich und ihre Wangen waren gerötet. »Als mich ihr Ruf ereilte, war ich verheiratet. Ich hatte zwei Söhne, die ich von Herzen liebte. Doch als mir die Göttin den Befehl gab, ihr zu folgen, habe ich keinen Moment gezögert. Jahre später starb mein Mann, er hatte nur noch Hass für mich übrig. Aber du musst begreifen, wie rein und vollkommen Boanns Liebe ist.«
Deidres Gesicht wurde hart. In ihren Augen brannte ein Feuer, das Nicodemus schon einmal irrtümlich als Eifer gedeutet hatte.
Sie nahm das Langschwert vom Rücken und legte es ab. »Von Zeit zu Zeit schleichen sich dralische Druiden ins Hochland, um für unsere Unabhängigkeit zu kämpfen. Kyran kam vor zwei Jahren zu mir. Sein Neffe war ein berühmter Räuber, der die Lornier unermüdlich angriff. Die Hochländer nannten ihn den Weißen Fuchs. In den Niederungen wurde er noch mit weitaus schlimmeren Namen bedacht; seine Frau und seine Söhne wurden für vogelfrei erklärt. Also überquerte Kyran die Grenze, um die Familie seines Neffen nach Dral zu schleusen. Meine Göttin, die die lornische Herrschaft verabscheut, war ihm nur zu gerne dabei behilflich.«
Deidres Blick wanderte wieder die Stufen hinauf. »Doch der Paladin von Garwyn hat uns an der Grenze zu Dral angegriffen. Mir ist es gelungen, Kyran und seinen Neffen zu retten, doch die Übrigen hat der Paladin abgeschlachtet.«
Deidre schüttelte den Kopf. »Zunächst habe ich Kyran und den Fuchs in einem abgelegenen Landgut meines Clans versteckt. Später schmuggelte ich den Fuchs über die dralische Grenze, doch Kyran war zu stark verwundet. Er blieb ein ganzes Jahr bei uns. Boann hat davon gewusst, aber …« Sie schluckte schwer. »Boann hatte mir einen Liebhaber verboten und …«
Nicodemus gab ein leises Geräusch von sich.
»Sie hat meine Untreue entdeckt. Daraufhin hat sie mir einen großen Teil ihrer Seele entzogen. Und auf bedrückende Weise war ich eine ganze Weile wieder sterblich. Obgleich Kyran und ich unser Liebesverhältnis abbrachen, blieb Boann fern. Danach haben Kyran und ich uns geschworen, alles zu tun, um Boanns Vergebung zu erlangen.«
Mit der Hand berührte er leicht ihr Knie. »Aber er, er hat Boann nicht geliebt, sondern Euch.«
Deidre lachte freudlos. »War das denn so offensichtlich? Ja, er hat mir geholfen, Boanns Zuneigung zurückzugewinnen, auch wenn er es mir damit gleichzeitig leichter machte, meine Liebe zu ihm zu vergessen. Es war dumm und selbstlos von ihm, und auf eine gewisse Art habe ich auch ihn betrogen. Ich habe versucht, ihm deutlich zu machen, dass unsere Liebe unvollkommen war, menschlich eben.«
Mit dem Zipfel ihres Ärmels wischte sie sich die Augen. »Wie wir uns immer gestritten haben. Unsere Argumente haben sich im Kreis gedreht, es war die reinste Folter. Kyran hat behauptet, dass er mich im Gegensatz zu Boann nie bestrafen würde. Dieser Narr. Wahrscheinlich stimmte es sogar. Es war beinahe beängstigend, wie sehr er mich geliebt hat. Aber … er wollte einfach nicht begreifen, dass die vollkommene Liebe existiert.«
Nicodemus zog die Hand zurück, er dachte daran, wie der Druide gestorben war. Quälender Schmerz hatte in seinen Augen gestanden, und Nicodemus hatte es auf seine Bauchwunde zurückgeführt. Nun kannte er den wahren Grund für Kyrans Qualen. »Sei nur nicht so wie ich, Junge«, hatte Kyran gebrummt. »Sei wie du willst: wild, fromm, ruchlos. Liebe sie alle oder liebe keine, nur sei nicht so wie ich.«
Deidre konnte gar nicht aufhören zu reden. »Nachdem Kyran und ich gebetet und gefastet hatten, rief Boann mich schließlich wieder zu sich und gab fast ihre ganze Seele in mich. Doch es wurde nie wieder so wie am Anfang. Sie vertraute mir nicht mehr. Und wenn unsere Meinungen auseinandergingen, dann … hat sie sich mit Hilfe von Krämpfen meines Körpers bemächtigt.«
Wieder trocknete sie sich die Augen. »Eigentlich sollte ich ihr dankbar sein. In Starhaven hatte mich der Golem einmal in der Falle. Er hätte mich getötet, wenn Boann sich nicht durch einen Anfall meines Körpers bemächtigt hätte. Dafür bin ich ihr dankbar … aber mitunter weiß ich nicht mehr, wer ich eigentlich bin. Manchmal fühlt es sich an, als gehörte mein Herz nicht mehr mir, als wäre ich nur noch ein Werkzeug für die Wünsche anderer.«
Nicodemus beugte sich zu ihr. »Und du glaubst, wenn du mich zu ihrem Schrein bringst, wird sie dir wieder vertrauen?«
Deidres Gesichtszüge glätteten sich. »Ja.«
In ihren Augen sah Nicodemus ein Verlangen, das schon fast einer Leere glich. Deidre hatte einen Teil ihrer selbst verloren, war von der Liebe gezeichnet. Und in demselben Maße, wie er zur Vollkommenheit seine Fähigkeit, richtig zu schreiben, wiedererlangen musste, musste sie ihre vollkommene Liebe zurückhaben.
»Und so sind Kyran und ich nach Starhaven gekommen. Wir wollten unseren Fehler wieder gutmachen«, sagte sie. »Im Frühjahr war eine druidische Gesandtschaft durch unser Hochland gezogen, und Boann befahl uns, sie zu begleiten. Wir haben viele von Boanns Anhängern und auch ihren Schrein mitgenommen. Die übrigen Druiden sind die wirklichen Gesandten, die sich für die Belange des Stummen Sterbens einsetzen. Sie misstrauen uns und dulden uns nur, weil sie sich dem Wunsch einer Göttin nicht widersetzen können.«
Sie ballte die Fäuste. »Wir müssen so schnell wie möglich zu Boann.«
Nicodemus runzelte die Stirn. »Aber ich möchte die Chthonen noch einiges fragen. Vielleicht kann ich mehr über Primus erfahren. Außerdem hat Fellwroth bestimmt ein Auge auf Gray’s Crossing. Wir müssen noch abwarten.«
»Nein!« Deidres Entgegnung fiel so scharf aus, dass John sich im Schlaf regte.
»Nein«, fuhr sie mit gesenkter Stimme fort. »Wenn du nicht mitkommst, schickt sie mir womöglich wieder einen dieser Anfälle. Dann könnte sie mich zwingen Dinge zu tun, die ich nicht tun möchte.« Mit angstgeweiteten Augen sah sie ihn an.
Nicodemus spürte, wie er kalte Hände bekam. »Obwohl es für Euch ganz leicht gewesen wäre, habt Ihr mich bislang nicht entführt, Deidre. Eure Göttin muss wissen, dass es töricht wäre. Fellwroth würde uns in jedem Fall finden.«
Deidre presste eine zitternde Hand an ihr Kinn. »Bevor ich Kyran begegnet bin, war ich mir in allem so sicher. Deshalb wurde ich auch von allen ›Deidre, die Spöttische‹ genannt. Vielleicht ist es dir auch schon einmal aufgefallen. Früher habe ich dieses spöttische Lächeln wie eine Rüstung getragen. Meine Liebe zu Boann war so unerschütterlich, dass ich mich über die Sterblichen mit ihrem ewigen Zagen und Zaudern einfach nur amüsiert habe. Doch nun ist mir dieses Lächeln ein für alle Mal vergangen.«
»Bei unserer ersten Begegnung habe ich Euch so lächeln sehen.«
»Willig habe ich jedes Opfer gebracht, das Boann von mir forderte«, fuhr sie unbeirrt fort, »ich habe meinen Mann, meine Söhne und jegliche menschliche Gesellschaft hinter mir gelassen. Solange ich mir der Liebe von Boann sicher war, habe ich sie nicht vermisst. Doch jetzt … jetzt, da Kyran meinetwegen gestorben ist …«
Sie kniff die Augen zusammen. »Und dann diese grauenhaften Albträume – immer wieder träume ich, dass ich am Flussufer stehe und von einem Wolf mit Menschenkopf und glühend roten Augen erstochen werde.«
Abrupt fuhr Nicodemus auf. »Etwa an einem Fluss im Hochland?«
Deidre nickte.
Aufgeregt begann Nicodemus auf sie einzureden. »Fellwroth hat Taifon in einem solchen Fluss getötet; er hat den Dämon mit einer Art Zauberstab in Stücke gehackt. Ich habe es gesehen, als der Golem mich berührte. Und unterwegs auf der Gebirgsstraße hat Fellwroth behauptet, Taifon hätte versucht, eine unbedeutendere Gottheit zu infizieren. Vielleicht ist das deine Göttin gewesen.«
Deidre sah ihn an. »Auf diese Weise muss Boann auch von dir erfahren haben. Schließlich ist sie die Herrscherin über die Hochlandflüsse; sie muss Fellwroth bei seinem Verrat beobachtet haben. Und irgendwie hat sie dann dem toten Dämon Wissen über dich abgerungen. Deshalb hat sie mir wohl auch solche Visionen geschickt. In mir steckt so viel von Boanns Seele, dass sie sich außerhalb ihres Schreins nicht mehr mitteilen kann. Sie kann sich mir nicht mehr direkt mitteilen, außer« – sie blickte an sich hinunter – »durch diesen Körper.«
Wieder ging es Nicodemus durch den Kopf, wie sehr Deidre ein Opfer der Liebe war. Dann dachte er im gleichen Atemzug an John, der ebenfalls aus Liebe gehandelt hatte, ihn beschützen wollte, und nun unvorstellbar litt, weil er auch Devin geliebt hatte. Er dachte daran, was Deidre Kyran angetan, und was Kyran sich selbst angetan hatte.
Behutsam legte er Deidre die Hand auf die Schulter. »Ihr habt aus Liebe gehandelt.«
Deidre ließ ein sarkastisches Lachen erklingen. »Sei doch nicht so ein heilloser Romantiker. Es gibt nichts Grausameres als die Liebe. Meine Liebe zu Boann hat die Liebe zu Kyran und schließlich auch Kyran selbst zerstört.«
»Er hat es nicht anders gewollt.«
Wieder lachte sie bitter. »In dieser Hinsicht waren wir uns sehr ähnlich, beide haben wir zu sehr geliebt. Wir alle lieben zu sehr.« Sie schloss die Augen. »Liest du mir jetzt Kyrans letzte Worte vor?«
Nicodemus sah auf den mattgrünen Satz in seiner linken Hand hinunter. Er war so einfach, dass ihm selbst sein kakographischer Geist nichts anhaben konnte: »Ich habe dich immer geliebt und werde dich ewig lieben.«
Er las die Worte laut.
Deidre lehnte sich vor, ließ das Kinn auf die Brust sinken. Ein leises Lächeln lag auf ihren Lippen, doch diesmal war von Spott keine Spur. Bleich und maskenhaft war ihr Gesicht und sie zitterte leicht.
Nicodemus drückte ihre Hand, und sie zog ihn in ihre Arme.
Als Nicodemus Stunden später erwachte, war der Sonnenstreifen auf den Stufen verschwunden und das fahle Licht der Dämmerung kam hereingekrochen.
Alle drei hatten in der entlegensten Ecke des Raumes geschlafen. Dicht neben Nicodemus lag der Index, auf der anderen Seite lag John, der ihn jetzt angstvoll ansah.
»Nico«, flüsterte er, »du weißt doch, dass Taifon mich zu allem gezwungen hat?«
Nicodemus bejahte, und der Hüne schloss die Augen und seufzte tief.
»Geht es dir gut, John?«
John presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er und Tränen stiegen ihm in die Augen. Nicodemus ergriff seine Hand. John schwieg.
Und in der Stille hörten sie, wie der Wind durch das raschelnde Laub pfiff. Irgendwo, weit entfernt, schrie eine Krähe.
Mit feuchten Augen sah John ihn an. »Und dir, Nico, geht es dir gut?«
Nicodemus versuchte erst gar nicht, seine eigenen Tränen zu verbergen. »Nein«, sagte er. »Nein.«