Kapitel 4

Magister Shannon saß hinter seinem Schreibtisch und blickte in die Richtung, aus der Smallwoods Stimme kam. »Ich danke dir, dass du zu so später Stunde noch gekommen bist, Timothy.«

»Schon gut, ich bin immer lange auf«, sagte Smallwood in seiner typisch herzlichen Art. Der Stimme nach zu urteilen, musste der andere Zauberer am Bücherregal stehen.

»Mich überrascht eher, dass du noch wach bist«, ergänzte Smallwood. »Du bist doch eigentlich gar keine Nachteule.«

Shannon knurrte. »Bin ich auch nicht. Ich lag schon vor zwei Stunden im Bett. Ein Signaltext aus einem meiner Forschungsprojekte hat mich geweckt und mir berichtet, dass die Beschützer rund um den Speicherturm außergewöhnlich rege waren. Anscheinend haben sie irgendetwas über die Dächer gejagt.«

»Schutzzauber.« Smallwood schnaubte verächtlich. »Schlampig geschrieben, wenn du mich fragst, überempfindliche Prosa. Wahrscheinlich haben sie bloß eine streunende Katze gejagt, die von den unbewohnten Vierteln hereinspaziert ist.«

»Das war auch mein erster Gedanke. Ich bin hergekommen, um nachzuschlagen, wie man die Empfindlichkeit der Beschützer regulieren kann. Doch dann ist mein Lehrling aufgetaucht; offenbar hat er gehört, wie jemand über das Dach des Magazins gelaufen ist.«

Wenn Shannon zu seinem Bücherregal blickte, konnte er durch die ledernen Buchdeckel hindurch die leuchtenden Absätze in den Büchern ausmachen. Vor seinen Augen löste sich jetzt ein rechteckiger grüner Text von den anderen und fiel in zwei kleinere Rechtecke auseinander. Smallwood hatte ein Buch aus dem Regal gezogen und blätterte darin. »Timothy, hörst du mir überhaupt zu?«

»Was? Ja, ja, natürlich«, erwiderte Smallwood und fügte die grünen Rechtecke wieder zusammen. »Du glaubst also, einer der Abgesandten schleicht auf den Dächern herum?«

Shannon zuckte die Achseln. »Könnte ein fremder Zauberschreiber gewesen sein. Oder ein Zauberer.«

»Aber warum sollte jemand ausgerechnet den Speicherturm bespitzeln? Ich weiß, wie sehr dir die Kakographen am Herzen liegen, doch sollte sich ein Komplott nicht auf andere Orte konzentrieren? Die Hauptbibliothek beispielsweise oder das Quartier des Provost?«

»Genau das macht mir ja Sorgen.«

Smallwood hüstelte. »Agwu, meinst du nicht, dass du etwas überreagierst? Ich weiß, in Astrophell warst du weitaus … involvierter, aber wir sind hier in Starhaven.«

Shannon rieb sich den Bart, um seine Verärgerung zu überspielen.

Smallwood fuhr fort. »Vielleicht machen dich die Gesandten aus Astrophell nervös? Wecken alte Gefühle?«

»Möglich, aber unwahrscheinlich«, sagte Shannon beharrlich. »Ich habe zwei Beschützer in der Linguistik-Bibliothek. Ich möchte sie nach Stone Court zaubern, damit sie dort patrouillieren. Doch zunächst musst du ihre Protokolle umschreiben, so dass sie mit den dort schlafenden Wasserspeiern kommunizieren können.«

Es klang, als würde Smallwood mit den Füßen scharren. »Heute Nacht noch?«

Shannon verschränkte die Arme vor der Brust und blickte in die Richtung, in der er seinen Kollegen vermutete. »Dann könnte ich mich in aller Seelenruhe auf unseren Forschungszauber morgen konzentrieren.«

»Dann also heute Nacht. Ich bin dir wirklich dankbar, dass du mich in dieses Forschungsvorhaben mit einbeziehst.«

Das Rechteck aus grüner Prosa schwebte zurück auf seinen angestammten Platz: Smallwood hatte das Buch wieder ins Regal gestellt. »Ist Azure da?«

Shannon schüttelte den Kopf. »Sie überbringt gerade eine Nachricht für mich.« Dass sie außerdem über die Dächer flog, um nach ungewöhnlichen Vorkommnissen Ausschau zu halten, behielt er für sich.

»Wie schade«, sagte Smallwood, seine Stimme bewegte sich Richtung Tür. »Ich wollte mir doch noch einmal ihren Numinusdialekt anschauen. Agwu, bevor ich jetzt gehe … trügt mich meine Erinnerung oder hat man deinen Lehrling tatsächlich für den Halkyon gehalten?«

»Ja, das ist richtig.«

Zögerlich fuhr Smallwood fort. »Du befürchtest, dass … ich meine, vielleicht ziehst du ja übereilte Schlüsse.« Er hielt inne. »Lass es mich so formulieren: Glaubst du, dass Nicodemus der Auserwählte ist?«

»Natürlich nicht.«

»Gut, das ist gut.« Die Klinke wurde heruntergedrückt. »In spätestens einer Stunde sind die Beschützer auf ihrem Posten. Dann sehen wir uns morgen Nachmittag?«

»Aber sicher doch«, sagte Shannon und wartete noch das Quietschen der Scharniere ab, bevor er hinzufügte: »Timothy, ich dank’ dir von Herzen.«

»Gern geschehen, Agwu. Gern geschehen.« Die Tür fiel ins Schloss.

Seufzend kramte Shannon auf dem Schreibtisch nach seinem Forschungstagebuch. Das Buch war zwei Hand hoch und in Leder gebunden. Auf Deckel und Rücken waren jeweils drei Asterisken eingeprägt, so dass er das Buch mühelos ertasten konnte. Er schlug es auf und begann, sich Notizen über den Tag zu machen. Nachdem er eine Viertelstunde gearbeitet hatte, ließ ihn ein unerwartetes Licht aufschauen.

Er konnte die Tür zwar nicht richtig sehen, dennoch wusste er genau, wo sie war. Für gewöhnlich bildete sie ein dunkles Rechteck inmitten seiner leuchtenden Regale. Wo es hätte dunkel sein sollen, erstrahlte nun ein Schemen aus goldenen Absätzen.

Aus Erfahrung wusste Shannon, dass er durch die Tür hindurch auf einen im Flur schwebenden Flammenflugzauber blickte.

Zuerst glaubte er, Smallwood sei zurückgekehrt. Aber Timothy kannte sich in den Fluren aus, zauberte nur selten einen Flammenflugparagraphen herbei, geschweige denn einen ganzen Schwarm. Der Verfasser dieses Zauberspruchs brauchte offenbar viel Licht, um sich hier in den Gängen von Starhaven zurechtzufinden.

Allem Anschein nach ein Fremder.

Shannon warf einen kurzen Blick auf den Text. Die komplexen Sätze waren in kühne Worte gekleidet. Der Urheber hatte ein Faible für zusammengesetzte Wortgebilde – ein ungewöhnlicher Satzbau.

Shannon verzog das Gesicht, als er die Schrift erkannte. Es war lange her, seit er diese Zauberschreiberin gesehen hatte. »Gütiger Schöpfer, ist denn heute nicht schon genug geschehen?«, murmelte er und wartete auf ihr Klopfen.

Doch sie klopfte nicht. Shannon schlug sein Tagebuch zu. Die Sekunden verstrichen. Ihre Prosa konnte er sehr wohl ausmachen, nicht aber ihre Person. Seltsamerweise ließ sie die Flammenflugparagraphen sich auflösen, so dass sie als kalte Asche auf den Boden rieselten. Worauf wartete sie nur?

Er befleißigte sich seiner wärmsten Stimme, als er nach ihr rief: »Komm ruhig herein, Amadi.«

Langsam öffnete sich die Tür und eine sanfte Frauenstimme sagte: »Wie ich sehe, sind die Gerüchte über die Blindheit des alten Magisters Shannon maßlos übertrieben.« Die Tür fiel ins Schloss.

Lächelnd erhob sich Shannon. »Alt? Jedenfalls bin ich noch nicht so ein Fossil, als dass ich deine spitze Zunge vergessen hätte. Komm und umarme deinen uralten Lehrmeister.«

Mit jahrelanger Übung fand er den Weg um seinen Schreibtisch herum. Amadi näherte sich mit leichten, zögerlichen Schritten. Doch dann schloss sie ihn in die Arme und drückte ihn kräftig. Er hatte ganz vergessen, wie hochgewachsen sie war. »Aber die Gerüchte sind wahr«, sagte er und trat einen Schritt zurück, »ich bin so blind wie ein Grottenolm.«

Sie schwieg einen Moment. »Ihr seht aber nicht so aus, als wäret Ihr schon in dem Alter, in dem man sein Augenlicht verliert.«

Freudlos lachte er. »Dann sollten wir uns eher um deine Augen sorgen. Ich habe nämlich schon fast mein zweites Jahrhundert hinter mir.«

»Magister, ich wäre bitter enttäuscht, wenn es bloß das Alter wäre, das Euch das Augenlicht geraubt hat«, neckte Amadi ihn, wie sie es schon als junges Mädchen getan hatte. »Ich habe Geschichten, vielmehr Legenden, darüber gehört, wie Ihr Euer Augenlicht im Spirischen Bürgerkrieg verloren habt, als Ihr verbotene Schriften last oder mit flammendem Bart gegen zwanzig Söldnerschreiber gekämpft habt.«

Bislang war Shannons gute Laune nur aufgesetzt gewesen, doch nun musste er wirklich lachen. »Die Wahrheit ist wesentlich profaner.«

»Aber Ihr wirkt gar nicht so alt.«

»Du bist schon immer sehr stur gewesen.« Wieder lachte er und schüttelte dabei den Kopf.

In Astrophell hatte Shannon sich mächtige Leute zu Feinden gemacht; sie könnten ohne weiteres einen Spion unter die Gesandten geschleust haben. Daher stellte jeder Zauberer aus Astrophell eine mögliche Bedrohung dar; doch trotz dieser Gefahr genoss er das Gespräch mit seiner ehemaligen Schülerin, genoss die Erinnerung an sein altes Leben.

»Amadi, in fünf Jahren fange ich mit dem Ghostwriting an«, scherzte er. »Gib dir also keine Mühe, mir wegen meines jungen Aussehens zu schmeicheln; das erinnert mich nur daran, dass du im Vorteil bist. Leider ist mein Schutzgeist nicht zugegen, um dich für mich anzuschauen. Und ich bin neugierig nach all den Jahren, die wir uns nicht gesehen haben … wie viele sind es jetzt genau? Fünfzig?«

Auf leisen Ledersohlen schlich Amadi über den Boden. »Eure Hände dürfen mich sehen«, sagte sie und war ihm auf einmal ganz nah.

Damit hatte er nicht gerechnet. »Das …« Seine Stimme erstarb, als sie seine Hände ergriff und auf ihre Stirn legte.

Beklommenes Schweigen.

Mit den Fingerspitzen fuhr Shannon über die leichte Wölbung von Amadis Brauen, die tiefliegenden Augen und zur hervorspringenden Nase empor, glitt sanft über die geschürzten Lippen und das schmale Kinn.

Aus dem Gedächtnis fügte er die Farben hinzu: elfenbein der Teint, nachtschwarz das Haar, wasserblau die Augen. In seinem Geiste vereinten sich Berührung und Erinnerung zu dem Bild einer blassen Zauberin mit dünnen Locken und ausdruckslosem Gesicht.

Shannon schluckte. So hatte er sich die Begegnung mit einer alten Schülerin nicht vorgestellt. »Du musst auch schon das ein oder andere weiße Haar haben«, rutschte es ihm heraus.

»Nicht nur das ein oder andere«, sagte sie und trat beiseite. »Verratet Ihr mir, wie Ihr mich durch die Tür erkannt habt?«

»Nun, da ich meine natürliche Sehkraft verloren habe, durchdringt mein magischer Blick die irdische Welt und erkennt Zaubertexte. Durch die Tür habe ich deine zusammengesetzten Wortgebilde erkannt.«

»Ihr erinnert Euch noch an meinen Schreibstil?«

Er zuckte die Achseln. »Außerdem fiel dein Name im Gespräch mit Gesandten aus Astrophell. Ich habe also damit gerechnet, dass wir uns früher oder später über den Weg laufen werden. Das ist nun früher als gedacht.«

»Magister, ich möchte gerne mit Euch …«

»Nenn mich einfach Agwu«, unterbrach er sie. »Oder Shannon – so nennen mich die Freunde, die meinen nordischen Vornamen nicht aussprechen können.«

»Ich glaub, das kann ich nicht«, sagte sie und kicherte los. »Wisst Ihr noch, wie Ihr mich und die anderen Akolythen erwischt habt, als wir nicht in unseren Betten lagen? Wie kann ich Euch mit dieser Erinnerung im Kopf Shannon nennen?«

Er stimmte in ihr Gelächter ein und begab sich zurück zu seinem Stuhl. »Das hätte ich beinahe vergessen. Was habt ihr kleinen Ungeheuer da nur in die Akademie geschmuggelt? Ein verdrecktes Schweinepärchen. Bitte, setz dich doch.«

»Schweine? In Astrophell?«, hakte sie nach. Ihr Stuhl knarrte. »Es war nur ein einziges Tier, nämlich eine sehr saubere Ziege.«

»Was auch immer es war, jetzt, da du den Stab einer Zaubermeisterin tragen darfst, kannst du mich ruhig Shannon nennen.« Er ließ sich auf seinem Stuhl nieder.

»Also gut, Shannon. Ich bringe Euch Nachricht von Eurer Enkeltochter.«

Ihm krampfte sich der Magen zusammen. Auch wenn sie nach wie vor fröhlich klang, besiegelten ihre Worte doch das Ende der Nettigkeiten und den Anfang der Politik.

»Tatsächlich?«, sagte er, das Lächeln gefror ihm auf den Lippen.

Amadi räusperte sich. »Sie hat im letzten Jahr einen wohlhabenden ixionischen Händler geheiratet.«

»Wunderbar«, hörte er sich sagen. »Was kannst du mir noch über sie berichten?«

»Recht wenig, den Namen des Händlers habe ich mir irgendwo aufgeschrieben.« Sie stockte. »Verzeiht mir. Sicher fällt es Euch nicht leicht, über ein Leben zu sprechen, das Euch durch die Verbannung genommen wurde.«

Shannon winkte ab. »Pah, das war keine Verbannung. Ich habe diese Position hier freiwillig angenommen. Außerdem sagen sich Zauberer nicht ohne Grund von ihren Familien los. Anfänglich war es hart, von meinem Sohn immer nur gelegentlich zu hören. Doch jetzt habe ich meine Forschungsarbeit und fleißige Schüler. Wir sind gerade mitten in einer hochinteressanten Entdeckung. Erst heute Morgen habe ich die Erlaubnis erhalten, mit meinem Forschungszauber zu beginnen.«

Leise ächzte Amadis Stuhl. »Und Ihr seid zufrieden mit diesem … ruhigen Leben?«

Shannon zog die Brauen hoch. Vermutete sie, dass er immer noch politische Ambitionen hegte? Das könnte gefährlich sein, besonders wenn Amadi davon in Astrophell erzählte.

»Amadi, zuweilen kommt es mir so vor, als gehörte das turbulente akademische Leben im Norden einem anderen Zauberschreiber. Die Akademie in Starhaven ist viel kleiner und liegt abseits, fern jeder Zivilisation. Doch hier …« Demonstrativ ließ er den Blick über seine Bücher gleiten. »Hier genieße ich die Ruhe.«

Als sie nicht antwortete, wechselte er das Thema. »Gerade habe ich ein neues Quartier bezogen, mit Blick auf Bolide Garden. Die Gärten werden gerade umgestaltet und außer Erd- und Lehmhaufen ist noch nicht viel zu sehen, aber es wird sehr schön werden. Ich könnte dich hinführen.«

Wieder knarrte ihr Stuhl. »Astrophellische Zauberer haben Eure ›Beschwerde an den Hohen Rat‹ zitiert.«

Ihm verging das Lächeln. »Es war meine beste Rede.«

»Einige begeistert sie noch heute.«

»Das freut mich zu hören, aber dieses Leben liegt hinter mir. Dein Versuch, mir den Mund wässrig zu machen, ist vergebens. Hier in Starhaven meide ich alle Intrigen. Zwar kann ich mich als Gelehrter nicht vollständig aus der Politik heraushalten, doch aufgrund meiner Vergangenheit tun der Provost und seine Getreuen ihr Möglichstes, um mich außen vor zu lassen.«

Amadi schwieg. Das Pergament auf dem Schreibtisch knisterte, wahrscheinlich drang eine kleine Brise durch die Fenster.

»Aber genug von mir«, sagte Shannon. »Womit hast du die letzten vier Jahrzehnte verbracht? Hast du dich der Diplomatie verschrieben? Sprichst du deshalb so viel von meiner Vergangenheit?«

»Meine Kapuze hat ein purpurnes Futter.«

»Eine Wächterin? Ja, du musst dich ganz ausgezeichnet machen.«

Amadi räusperte sich gewichtig. »Ich befehlige die wichtigsten Operationen der Wächter in Astrophell. Die Abordnung habe ich übrigens auch hierhergeführt. Sogar einen eigenen Sekretarius habe ich, einen jungen Ixonier namens Kale. Zwar ist er nur Zauberer zweiten Grades, dafür aber blitzgescheit und fähig.«

»Entschuldige bitte, aber irgendwie kommt es mir seltsam vor, dass Astrophell Wächter auf unser Konzil schickt.«

»Der Weg aus dem Norden ist weit. Weiß der Himmel, warum unser Orden diese gigantische Festung am Ende der Welt überhaupt je besetzt hat. Sicher, die Aussicht von der Westernmost Road ist hübsch, der höchste Turm ragt spitz aus dem Berghang hervor und lässt alle dahinter liegenden Gipfel geradezu winzig erscheinen.«

Shannon stützte sich auf die Ellenbogen und legte die Fingerspitzen gegeneinander. »Aber Amadi, warum sollte Astrophell Wächter zum Konzil schicken?«

»Unsere Gesandten müssen beschützt werden.«

»Verstehe.«

»Shannon, kann uns hier auch wirklich keiner hören?«

Shannon schüttelte den Kopf. »Nein. Bringst du Neuigkeiten von draußen?«

»Neuigkeiten von drinnen.«

Shannon beugte sich vor. »Sprich weiter.«

Amadi rutschte auf dem Stuhl hin und her, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern: »Mord in Starhaven.«

Ihm stockte das Herz. »Wer?«

»Das ist eine heikle Angelegenheit, die geheim bleiben muss, bis das Konzil vorbei ist. Die Gesandten müssen unbedingt die Verträge erneuern.«

»Das ist mir schon klar. Sagst du mir jetzt, wer getötet wurde?«

»Geduld, Magister. Vor fünf Stunden hat ein Wasserspeier, der Arbeiten unterhalb der Spindle-Brücke verrichtet hatte, eine Frau gefunden; er dachte, sie sei am Sterben.«

»Wie bitte?«

»Sie war schon tot, doch ihr Körper produzierte weiter bösartige, fehlerhafte Numinussätze. Der Wasserspeier mit seiner zweifachen Kognition nahm an, die Frau sei noch am Leben und schleppte sie zur stellvertretenden Bibliotheksvorsteherin. Die hat es ihrerseits dem Provost gemeldet und der hat mich dann informiert.«

Shannon überlegte. »Du sagtest, diese Frau sei von der Spindle-Brücke gefallen?«

»So scheint es jedenfalls. Was kannst du mir über diese Brücke sagen?«

Shannon fragte sich, wie viel er von seinem Wissen preisgeben sollte. Amadi war plötzlich in den obersten Rang der Wächter aufgestiegen, solch ein Sprung wäre ohne die Unterstützung gewisser Kreise – Kreise, die Shannon verachteten – undenkbar. Er beschloss, ihr nur das ohnehin Bekannte mitzuteilen.

»Du wirkst beunruhigt«, sagte Amadi. »Hat es etwas zu bedeuten, dass diese Frau auf der Spindle-Brücke war?«

»Mehr als das«, sagte er schließlich. »Den Historikern zufolge haben die Chthonen die Brücke gebaut, kurz nachdem sie Starhaven errichteten. Aber sie führt nirgendwo hin. Erstreckt sich über eine Meile durch die Luft und endet dann im Fels. Die Chthonen haben prächtige Reliefs in den Stein gehauen. Nördlich des Brückenausläufers findet man Blattwerk – Efeublätter, glaube ich – und im Süden Verzierungen in Form sechseckiger Muster.«

»Gibt es eine Erklärung für diese Reliefs? Oder für die Brücke?«

Shannon zuckte die Achseln. »Nur Legenden, in denen es heißt, die Chthonen hätten einen Weg in ein Paradies, das Himmelbaumtal, gebaut. Als nämlich die Herrscher des Neosolaren Reichs anfingen, die Chthonen niederzumetzeln, hat ihre Göttin sie angeblich ins Himmelbaumtal geführt und einen Berg auf den Weg fallen lassen. Einige Leute behaupten, dass die Spindle Brücke einst zu diesem Weg geführt hat.«

»Gibt es irgendwelche Beweise für diese Geschichte?«

»Keinen einzigen. Von Zeit zu Zeit dringen die Historiker mit Texten in den Berg ein, in der Hoffnung den Weg ins Himmelstal freizulegen. Doch bislang sind sie nur auf Fels gestoßen.« Shannon hielt inne. »Meinst du, der Mord steht damit in irgendeinem Zusammenhang?«

Das leise Rascheln von Stoff sagte ihm, dass Amadi wieder auf ihrem Stuhl hin- und herrutschte. »Nicht, dass ich wüsste«, entgegnete sie und seufzte tief.

Shannon zögerte, bevor er erneut das Wort ergriff. »Amadi, ich bin erschüttert und zutiefst betrübt über diesen Unglücksfall. Trotzdem – und ich hoffe, du hältst mich jetzt nicht für herzlos – will ich damit nichts zu tun haben. Ich habe an meine Forschungen und meine Schüler zu denken. Wenn ich dir helfe, hat das womöglich irgendwelche politischen Verwicklungen zur Folge. Und wie ich dir bereits sagte, bin ich nicht mehr derselbe wie damals im Norden. Aber wenn du meinen Namen aus der Sache heraushältst, stehe ich dir gerne mit meinem Rat zur Seite. Dennoch muss ich wissen, wer das Opfer ist.«

Sie schwieg eine ganze Weile, dann sagte sie: »Nora Finn, die Grammatikerin.«

»Gütiger Himmel!«, raunte Shannon entsetzt. Nora war die Dekanin des Speicherturms und beruflich seine größte Rivalin.

Schlagartig gingen ihm alle möglichen Gedanken über die Hintergründe des Mordes durch den Kopf. Vielleicht steckten seine alten Feinde hinter dem Anschlag und er galt indirekt ihm. Vielleicht stand der Mord auch im Zusammenhang mit den umtriebigen Schutzzaubern und dem Fremden, den Nicodemus über das Dach des Magazins hatte schleichen hören. Dann wäre der Speicherturm Mittelpunkt des Komplotts.

Nervös befingerte Shannon die Asterisken auf dem Buchrücken. Womöglich hofften seine Feinde, sich an ihm rächen zu können, indem sie sich an seinen Schülern vergriffen. Sofort kam ihm Nicodemus in den Sinn. Der Junge war nicht der Halkyon, das hatte seine Kakographie deutlich gemacht, doch Shannons Feinde in Astrophell hatten seinen Namen vielleicht einmal gehört und ihn als Zielscheibe auserkoren.

Oder – diese Möglichkeit war zwar wesentlich unwahrscheinlicher, dafür aber umso beängstigender – der Junge verfügte über eine unbekannte Verbindung zur Prophezeiung des Erasmus. In diesem Fall stünde der Fortbestand aller menschlichen Sprachen auf dem Spiel.

»Habt Ihr Magistra Finn gekannt?«, fragte Amadi.

Shannon zuckte zusammen. »Wie bitte?«

»Habt Ihr Finn gekannt?«, wiederholte Amadi geduldig.

Shannon nickte. »Nora und ich haben uns beide um die Schüler des Speicherturms gekümmert. Als Hausvater bin ich für die häuslichen Angelegenheiten unserer Schüler zuständig. Nora überwachte als Dekanin die wissenschaftliche Ausbildung. Doch diese Schüler studieren nur sehr selten. Und die paar, die es schaffen, eine Zauberreife zweiten Grades zu erlangen, werden dann von mir betreut. Nora hatte nur sehr wenig Kontakt mit den Schülern. Wir waren für den gleichen Lehrstuhl im Gespräch. Rivalen, wenn man es so will.«

»Erzählt ruhig weiter.«

Shannon zögerte. Er wagte nicht, noch mehr preizugeben, solange er sich über Amadis Vertrauenswürdigkeit nicht im Klaren war.

Also tat er, was Gelehrte am besten können: Er fuchtelte hilflos mit den Händen in der Luft und begann zu jammern. »Das ist ja wohl der ungünstigste Moment überhaupt, jetzt mit dem Konzil. Wie soll man einen Mörder fassen, wenn hier alles durcheinander geht? Und meine ganze Forschungsarbeit! Ich kann das nicht einfach abblasen, gerade erst habe ich meinem Lehrling Aufträge erteilt.«

Amadi atmete vernehmlich aus. »Wie gesagt, wir hoffen, dass unsere Nachforschungen den Verlauf der Verhandlungen nicht beeinträchtigen werden.«

»Wir? Aber Amadi, sollten sich nicht die Getreuen des Provost mit der Untersuchung befassen?«

Sie räusperte sich. »Provost Montserrat selbst hat mich mit der Untersuchung beauftragt.«

Shannon nestelte an seinen Ärmelknöpfen. »Warum sollte der Provost eine Zauberin aus Astrophell beauftragen, eine Untersuchung in Starhaven zu leiten?«

»Ich führe ein Empfehlungsschreiben des obersten Kanzlers mit mir.«

»An deinen Fähigkeiten zweifle ich ja gar nicht«, sagte er; doch ihren Absichten misstraute er schon.

Amadi sprach unbeirrt weiter: »Wir müssen die Untersuchung vor den Gesandten geheimhalten. Sie werden die Verträge nicht unterzeichnen, wenn sie Wind davon bekommen, dass hier ein Mörder …«

»Ja, Amadi, das sagtest du bereits. Aber warum kommst du damit zu mir? Die Getreuen des Provost hätten dir genau so gut von der Spindle Brücke erzählen können.«

Wieder knarrte Amadis Stuhl. »Habt Ihr einen Schutzgeist?«

»Ja, aber auch das haben wir schon geklärt.«

»Ich würde mir das Tier gerne einmal ansehen.«

Shannon nickte. »Gewiss. Azure überbringt meinem Lehrling gerade eine Nachricht und wird gleich zurück sein. Aber verrat mir eins Amadi, du untersuchst hier einen Mordfall, warum willst du meinen Schutzgeist sehen?«

Die Stille dehnte sich scheinbar endlos. Schließlich hub die Wächterin zu sprechen an und sagte mit leiser, kontrollierter Stimme: »Weil Ihr unser Hauptverdächtiger seid.«

Nicodemus
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