Kapitel 31
Nicodemus ging in die kalte Herbstnacht hinaus. Der Wind stürmte durch die Tannen und riss die scharlachroten und goldenen Blätter der Espen mit sich. Es roch nach feuchter Erde und Moder. Vor ihm wand sich die Gebirgsstraße in steilen Kehren bis ins Dorf Gray’s Crossing hinab. Hinter ihm trat die Silhouette Starhavens zart aus dem Dunkel hervor.
Obgleich Nicodemus Starhaven nur selten verlassen hatte und diesen Weg noch nie bei Nacht gegangen war, hatte er kaum Augen für seine schattenhafte Schönheit; dazu war er viel zu sehr mit den jüngsten Ereignissen und seinen neuen Gefühlen beschäftigt.
Anfangs empfand er nur triumphierende Freude. Mit Hilfe seiner Kakographie war er entkommen! Doch als er um eine Biegung kam, tauchte vor ihm ein verrotteter Baumstamm auf, der aussah wie eine zusammengerollte Frau mit abgewandtem Gesicht. Ihm rann ein Schauder über den Rücken. Der umgestürzte Stamm wuchs in seiner Fantasie, fahle Pilze, die die Rinde wie Warzen überzogen, kamen zum Vorschein.
Devins halbzertrümmertes Gesicht tauchte erneut vor seinem inneren Auge auf. Nicodemus versuchte, an den Smaragd zu denken, aber Angst und Trauer ließen sich nicht so leicht verscheuchen. Devin und Kyran waren tot, und Taifon hatte aus John einen ahnungslosen Mörder gemacht. Umso schlimmer, dass Fellwroth noch am Leben war. Der Schaden, den Kyran dem metallischen Golem zugefügt hatte, war ohne Belang. Vielleicht schuf sich Fellwroth bereits einen neuen Körper.
Nicodemus schloss die Augen und versuchte, sich den Edelstein vorzustellen, doch auch diesmal scheiterte er. Fellwroth würde ihn immer weiter jagen, ganz gleich wie oft Nicodemus ihm entwischte und wie viele Golems er auch zerstörte. Und dennoch, als ihm das Ungeheuer an die Kehle gegangen war, hatte er die Stimme aus dem Smaragd als seine eigene Kinderstimme erkannt. Er hatte erfahren, dass der Stein der fehlende Teil seiner Selbst war, und gelernt, dass ihm in seinen Albträumen Fellwroths wahrhaftiger Körper erschienen war.
Aber was nützte ihm dieses Wissen? Schließlich war er doch gar nicht der Halkyon. In der Prophezeiung hieß es, der Halkyon würde mit einer zopfförmigen Rune geboren. Nicodemus’ Keloid hingegen war erst nach der Geburt entstanden, nämlich als sein Vater ihn mit dem Smaragd gebrandmarkt hatte. Und zu allem Übel hatte er immer noch keine Ahnung, wo sich Fellwroths Körper befand. Zwar wusste er, dass er in einer Höhle mit einem Menhir lag … die von albtraumartigen Schildkröten bewohnt wurde? Das ergab aber alles keinen Sinn.
Seine Angst wuchs, und das Keloid begann von Neuem zu brennen. Es wurde so heiß, dass Nicodemus befürchtete, es könnte sein Haar ansengen. Er blieb stehen, um der Narbe Luft zuzufächeln.
Während er darauf wartete, dass sich das Mal wieder abkühlte, holte er den Findesamen aus seiner Geldkatze hervor und zerbrach die Wurzel. Wie beim ersten Mal schmolz ein Teil des Artefakts und überzog seine Hand mit einer Borke. Nun würde Deidre ihn finden.
Allerdings hatte sie die Narrenleiter östlich aus Starhaven herausgeführt. Somit hatte sie einen langen Fußmarsch vor sich, bis sie auf Nicodemus stoßen würde. Selbst wenn sich die Druidin sofort auf den Weg machte, vor Morgengrauen würde sie ihn bestimmt nicht erreichen. Bis dahin brauchte er ein sicheres Versteck.
Nicodemus setzte seine Wanderung fort, er hoffte, bald Gray’s Crossing zu erreichen. Doch die Nacht hatte sich verändert, er hatte sich verändert. Der Wald mit seinen riesenhaften Schatten schien bedrohlich näherzurücken. Im blauen Mondschein wirkten die einst so vertrauten Felder wie Landschaften aus einer anderen Welt. Überall lauerte die Einsamkeit der Straße. Nicodemus schüttelte den Kopf, um die Gedanken an Kyran und Devin loszuwerden.
Aber diese Nacht ließ sich nicht so leicht abschütteln, denn seine Fantasie war ihr Verbündeter. Alles verwandelte sich. Aus einem Baumstumpf wurde ein Werwolf, ein kahler Ast streckte seine knorrige Hand nach ihm aus und das Rascheln der Bäume kündete von den leisen Schritten der Chthonen.
Den größten Teil seines Lebens hatte Nicodemus davon geträumt, sich in diese Wälder zu wagen und auf genau diesem Weg Ungeheuer zu erschlagen. Doch er hatte nicht geahnt, wie einsam er sich fühlen und wie dunkel es sein würde.
Dann verschwand der blaue Mond hinter einer Wolke, so dass nur noch der weiße Mond am Himmel stand. Die Welt um ihn herum wurde immer schwärzer.
Bei jedem fallenden Blatt schreckte er zusammen. Jeder knackende Ast beschwor Schreckensszenarien herauf. Ihm war, als spürte er sein Herz direkt hinter den Augen schlagen. Der Weg vor ihm schien zu beben. Nicodemus ließ den Index fallen und sank auf die Knie.
Hinter Bäumen, unter Büschen wuchsen den nächtlichen Schrecken Beine und Zähne. Sie stahlen sich durchs hohe Wiesengras und lauerten in den Schatten. Krächzend stimmten sie eine schlichte Weise an, die von den vielen Jahren, in denen sie als Geistergestalten die Wälder durchstreift hatten, erzählte und davon, wie Nicodemus’ lang ersehnte Reise sie auf nächtlicher Straße stärkte.
Am Waldesrand versammelten sich die Nachtwesen. Immer wenn Nicodemus nicht hinsah, flitzten sie hinüber zu den Bäumen auf der anderen Straßenseite. Zumeist gelangten sie ungesehen hinüber, doch hin und wieder erhaschte er einen flüchtigen Blick auf einen knorrigen Ellenbogen oder ein violett glühendes Augenpaar. Keine zwei Wesen waren gleich, und ihre zischenden und spuckenden Sprechchöre schienen von überallher zu kommen.
Nicodemus’ Atem ging immer schneller, ihm wurde allmählich klar, in welcher Gefahr er sich befand. Natürlich konnte er zurück nach Starhaven. Er warf einen Blick auf die dunklen Türmen. Wenn er zurückkehrte, würden die Wächter ihn einsperren. Aber was machte das schon? In den Fluren würde er anderen Menschen begegnen, und er wüsste wenigstens, dass diese Welt noch die alte war. Er könnte die Sache mit dem Golem erklären. Die Akademie würde ihn beschützen und ihm einen Ort zuweisen, wo er der literarischen Tradition gemäß seine Sprache ablegen könnte.
Immer noch auf allen Vieren wandte er sich dem Berg zu.
Um ihn her flüsterte es, dass sie Angst hätten, er würde nach Starhaven zurücklaufen und sie, die Schrecken der Nacht, um ihre Mahlzeit bringen.
Einen endlos langen Augenblick trieb Nicodemus in einem fantastischen Kosmos. Doch dann erschien ihm der Stein – und er entschied sich, zu bleiben. Eher würde er bei der Suche nach dem verlorenen Teil seiner selbst sterben, als aufzugeben.
Die nachtblauen Schrecken erschienen auf der Straße und stöhnten verzückt. Sie kreisten ihn ein: ein albtraumartiges Gelage aus Gebeinen, Bäuchen und Zähnen. Nicodemus rührte sich nicht, er war vor Angst wie erstarrt.
Ein paar der Monster kamen ihm seltsam vertraut vor – ein kleiner, augenloser Drache, ein riesiges Insekt mit menschlichem Antlitz, ein dreihörniger Troll. Die anderen waren ein so gespenstisches Gemisch aus Gliedmaßen, Flossen und Fangzähnen, dass man sich in diesem Durcheinander unmöglich ein komplettes Bild von ihnen machen konnte. Einige der Ungeheuer rissen an seiner Robe, andere fuhren ihm mit den Klauen durchs Haar.
Während die Nachtgestalten Nicodemus berührten, nahm er ihre Gedanken und Gefühle wahr. Er spürte, dass seine Entscheidung, hier auf der Straße zu bleiben, sie in einer Weise beeinflusst hatte, von der sie selbst nichts ahnten.
In diesem Moment trug der Wind das gleichmäßige Getrappel von Hufen herüber. Die Nachtgestalten erstarrten, als wären sie Steinskulpturen. Einige legten ihre Klauen an die fledermausähnlichen Ohren. Nun konnten sie das Galoppieren eines Pferdes deutlich hören.
Alle erschauderten. Sie wussten, was dort vom Dorf angeritten kam. Vor nicht einmal einer Stunde hatte dieses verderbte Ding den gleichen Weg in die andere Richtung genommen. Schlagartig fand in ihren öligen Herzen ein völliger Sinneswandel statt. Die Ungeheuer änderten ihre Haltung. Mit gespitzten Lippen und gespaltenen Zungen stießen sie zwischen Fang- und Stoßzähnen flüsternd hervor, was getan werden musste.
Nicodemus kämpfte gegen seine lähmende Angst an und versuchte, auf allen Vieren davonzukriechen. Doch die Furcht lastete schwer auf ihm und er brach zusammen. Das Mal in seinem Nacken stand in Flammen. Doch dann hatten die nachtblauen Schrecken eine Entscheidung getroffen: Sie lasen Nicodemus auf und trugen ihn zum Straßengraben. Dort türmten sie sich über ihn, wie Kinder, die mit ihrem Vater tollen. Sie waren fest entschlossen, ihn vollständig mit ihrer tiefblauen Haut zu bedecken.
Das Hufgeklapper wurde langsamer, das Pferd war offensichtlich in Trab gefallen. Dem dreigehörnten Troll fiel ein, dass der Index noch auf der Straße lag, also flitzte er zurück, nahm das Buch in seine knotigen Klauen und tauchte, kurz bevor ein Reiter mit seinem Pferd um die Biegung kam, wieder in den Haufen.
Nicodemus lag noch immer wie gelähmt unter den Traumgestalten, die reglos wie Tote verharrten. Obgleich eine Hand mit Schwimmhäuten sein rechtes Auge verdeckte, konnte er mit dem linken noch alles erkennen.
Vier weiße Läufe tauchten vor ihm auf, als sich das Pferd bis auf fünf Fuß näherte. Dann stieg der Reiter ab und zwei ausgetretene Stiefel kamen in Sicht.
Der Neuankömmling bellte mit barscher Stimme: »Ich weiß, dass du in der Nähe bist, Nicodemus Weal. Dein Keloid ruft mich.« Zögernd trat er einmal ums Pferd herum.
Hinter einem Schleier aus Angst erkannte Nicodemus Fellwroths Stimme.
»Gerade eben wurde die Strahlkraft des Keloids diffus. Irgendetwas stört. Dennoch wusste ich, dass ich dich hier finden würde. Du hast dir Zeit gelassen, Welpe. Ich musste in diesem jämmerlichen Weiler ausharren, bis ich dich den Hang hinabkommen spürte.«
Fellwroth humpelte die Straße entlang und sah sich suchend um. Beim Einatmen gab dieses Ungeheuer ein leises Pfeifen von sich.
»Beeindruckend, dieser Zauber, der dich tarnt und sogar die Magie des Mals verbirgt«, knurrte er. »Er muss in einer Sprache geschrieben sein, die mir fremd ist. Du musst einen neuen Beschützer haben, denn wir wissen wohl beide sehr gut, dass dein minderbegabter Geist einen solchen Tarnzauber niemals zustande gebracht hätte.«
Fellwroth betrat nun die Wiese auf der anderen Straßenseite. Starr vor Furcht konnte Nicodemus nur zusehen, wie der weiße Rücken seines Feindes näher kam.
Das Ungeheuer hatte sich ein neues Laken umgehängt, doch es hinkte stark und der rechte Arm baumelte leblos herab. Es handelte sich immer noch um den gleichen Eisengolem, dem Nicodemus im Compluvium gegenübergestanden hatte.
Offenbar fand er keine Spuren im Gras, und so wankte Fellwroth unsicheren Schrittes zurück zum Pferd. »Dieser Körper ist schon zu mitgenommen. Mir bleibt nur noch wenig Zeit. Wahrscheinlich wird mich dieser Golem im Stich lassen, bevor ich dich aufspüre.«
Rasselnd atmete das Wesen ein. »Jetzt befindest du dich nicht mehr in Starhaven, die Spielregeln haben sich also geändert. Doch bist du mächtiger als ich dachte. Vielleicht können wir ja zu einer Einigung kommen.« Er hielt inne und atmete schwerfällig ein. »Welpe, noch hast du die Wahl. Und es ist von äußerster Wichtigkeit, dass du dich richtig entscheidest.«
Das Wesen kam nun direkt auf Nicodemus zu. »Wenn du weiterhin vor mir wegläufst, wirst du sterben.«
Die Stiefel näherten sich bedenklich. »Mir ist es lieber, du bleibst am Leben. Deshalb verrate ich dir jetzt auch, wie du den fehlenden Teil deines Geistes zurückerlangst.«
Fellwroth stand nun so dicht vor ihm, dass Nicodemus ein quietschendes Geräusch, wie von ungeölten Scharnieren, aus dem Inneren des Golems vernahm. War das das Herz des Ungeheuers?
»Ich nehme an, Shannon hat dir schon einmal von Primus erzählt«, sagte Fellwroth mit schleppender Metallstimme. »Bestimmt hat er dir auch gesagt, dass die erste Sprache die Quelle aller Magie ist. Aber dein alter Lehrer hat wohl nicht gewusst, dass man auch den Körper und Geist eines Lebewesens mit Primus verändern kann.«
Die Stiefel schlurften zur Wiese hinüber. »Du solltest wissen, dass dein Vater ein Dämonenanbeter war. Du warst noch ein Säugling, als Taifon deinem Vater den Smaragd gegeben hat, den wir damals quer über den Ozean aus dem alten Königreich Aaraheuminest mitgebracht hatten. Heute nennt ihr Dummköpfe es Aarahest.«
Steine knirschten unter den Absätzen und die Stiefel kamen wieder auf ihn zu. »Dein Vater hat den Smaragd dazu benutzt, um in deinen Geist einzudringen. Er hat dir deine außergewöhnliche Begabung genommen, die du von deinen kaiserlichen Vorfahren geerbt hast. Er hat dir die Fähigkeit geraubt, in jeder Sprache, selbst in Primus, fehlerfrei zu schreiben.«
Nun marschierten die Stiefel bergab. »Als ich dich berührt habe, sahen wir beide deinen Vater, wie er deine Fähigkeit, richtig zauberzuschreiben, in den Smaragd gesogen hat. Bis vorhin bin ich nicht darauf gekommen, dass ja der Stein seine Narben bei dir hinterlassen haben könnte. Ansonsten hätte ich dich durch das Keloid schon längst identifiziert. Doch das macht nun auch nichts mehr. Jeder, der den Smaragd in den Händen hält, erlangt deine Fähigkeit, fließend in Primus zu schreiben.«
Die Stiefelspitzen zeigten zum Hang hinauf. Offenbar hatte das Ungeheuer die Suche nach ihm noch nicht aufgegeben. »Aber leider verliert der Edelstein mit der Zeit an Kraft. Also hat Taifon ihn alle vier Jahre aufgeladen, indem er dich damit berührt hat. Nun wird der Stein wieder schwächer. Ich sage dir das, damit dir klar wird, wie wertvoll du für mich sein kannst. Die, die mir teuer sind, belohne ich reich.«
Fellwroth legte eine Pause ein, als wollte er seinen letzten Worten damit besonderes Gewicht verleihen. »Wer du warst, und wie ich dich erreichen konnte, hielt der alte Dämon immer vor mir verborgen. Und ich habe ihn getötet, bevor ich wusste, wie ich dich finden könnte.«
Ein schauriges, metallenes Lachen erfüllte die Nacht und das Wesen trat aus Nicodemus’ Blickfeld. »Und vielleicht will der Smaragd genau das. Der Edelstein sorgt für sich selbst, Nicodemus. Er will zurück zu dir. Er ist heimtückisch. Schickt Träume aus und täuscht seinen Besitzer. Er hat Taifon verraten. In einem Traum hat der Stein mir gezeigt, wie ich Taifon töten kann, während er in eine unbedeutende Göttin dringt.«
Plötzlich stockte sein Schritt. »Der Smaragd benutzt mich, um zu dir zurückzukehren. Doch sein Wunsch, dir nahe zu sein, verrät dich.«
Abermals lachte der Golem. »Das Keloid in deinem Nacken ist eine Begleiterscheinung des Steins. Es gehört nicht wirklich zu dir und wuchert unverhältnismäßig. Es ist unbeugsam wie ein Geschwulstzauber und kann wie dieser magische Runen formen. Als ich dich berührt habe, spürte das Mal, dass mein wahrhaftiger Körper im Besitz dieses Edelsteins ist. Und daraufhin sandte das Keloid Primuszauber aus, um dem Smaragd deinen Aufenthaltsort zu offenbaren.«
Obwohl Furcht seine Gedanken lähmte, wusste Nicodemus noch sehr wohl, wie unerträglich heiß die Narbe geworden war.
»Ich hatte gehofft, den Signalen deines Keloids bis zu dir folgen zu können«, fuhr Fellwroth fort. »Doch dieser seltsame Zauber, der dich vor meinen Blicken verbirgt, stört auch das Signal.«
Unbehaglich rutschten ein paar der Nachtwesen über Nicodemus hin und her.
»Ich spüre deine Nähe. Ich weiß, dass du nah genug bist, um mich zu hören. Und vielleicht finde ich dich doch noch.«
Stiefelknirschen. »Doch wenn ich dich nicht in Gestalt dieses Golems erwische, dann eben in einem anderen. Ganz gleich, wohin du auch fliehst, der Smaragd wird dich stets aufspüren, denn er ist ein Teil von dir.«
Abermals ertönte das schaurig hohle Lachen. »Wie passend, dass du immer wieder zu dir selbst zurückfindest.«
Die Schritte wurden lauter. »Es hat also keinen Sinn, vor mir wegzulaufen, Welpe. Du gehörst zu uns. Deine Mutter war ebenfalls eine Dämonenanbeterin. Taifon hat dich geschaffen, indem er deine Eltern zusammengebracht hat. Deine Familie spielt eine große Rolle im Krieg der Sprachen.
Das Ungeheuer schnaubte entrüstet. »Ach ja, das solltest du vielleicht noch über deine Familie wissen. Sicherlich ist dir bekannt, dass die Alte Welt von einem Herrschergeschlecht regiert wurde. Bekannt ist dir wohl auch, dass du von diesem Haus abstammst und die kaiserlichen Merkmale trägst. Aber du weißt nicht, dass es der kaiserlichen Familie gelungen ist, Primus zu meistern. Nur jemand von reinem kaiserlichen Geblüt kann diese Urtexte lesen und schreiben. Also hat das Herrscherhaus, damit diese Gabe bewahrt bleibt, sorgfältig darauf geachtet, sich nur untereinander fortzupflanzen. Als die Menschheit über den Ozean floh, wurde deine Familie in alle Winde zerstreut. Das Blut wurde ausgedünnt und die Gabe ging verloren.«
Fellwroths Stiefel kamen wieder in Sicht, als er mühsam aufs Pferd zustolperte. »Seither hat es nur ein paar wenige gegeben, die wie du Primus beherrschen. Seit Taifon und ich vor zweihundert Jahren über den Ozean gekommen sind, hat er kaiserliche Nachfahren herangezogen. Du bist einer davon.«
Fellwroth geriet ins Wanken und der Gaul trat beiseite. »Warum ziehen Dämonen Primus-Zauberschreiber heran? Weil Taifon entdeckt hat, wie man mit Primus einen Drachen erschaffen kann. Zweifellos hast du gehört, was der erste Drache in Trillinon angerichtet hat. Taifon und ich haben dieses Wesen geschrieben, indem wir uns mittels des Smaragds deiner Gabe bedient haben. Zehn Jahre haben wir dafür gebraucht.«
Fellwroth scharrte mit den Füßen, offenbar fiel es ihm schwer, das Gleichgewicht zu halten. »Doch dieser Drache war mein erster Versuch, und er war fehlerhaft. Deshalb habe ich ihn auf Trillinon gehetzt, um die Menschheit zu schwächen. Nun muss ich den Smaragd wieder aufladen, damit ich einen neuen, einen stärkeren und intelligenteren Drachen schaffen kann. Mit dem werde ich dann in die Alte Welt zurückkehren. Dort werde ich Los wieder zum Leben erwecken und ihm helfen, den Krieg der Sprachen zu entfesseln.«
In der Ferne erklang der Schrei einer Eule.
»Wenn die Dämonen die Menschheit versklaven, werden sie Anführer unter den Menschen brauchen. Diene mir, Nicodemus, und du wirst den fehlenden Teil deiner selbst zurückerhalten. Du wirst vollkommen sein. Macht, Reichtum und Glück werden dir in einem Maße beschert sein, wie du es dir nicht vorzustellen vermagst.«
Als der Golem von Neuem sprach, stieß er die Worte seltsam abgehackt hervor, wie unter Schmerzen. »Das sind also deine Möglichkeiten. Entweder du dienst mir und wirst dafür reich belohnt, oder du läufst davon. Wenn ich dich erwische, werde ich dich nicht töten. Deinen Tod wollte ich nie. Denn wenn du umkommst, kann ich den Smaragd nie wieder aufladen.«
Die Eule schrie erneut.
»Ich werde deinen Geist noch mehr verwirren, als Taifon es bei diesem Riesenrindvieh getan hat. Du wirst nur noch sabbernd in der Ecke sitzen. Zwar wird sich der Samaragd dann langsamer regenerieren, aber zumindest muss ich mir keine Sorgen machen, dass du mir durch die Finger schlüpfst.«
Pfeifend holte Fellwroth Luft, er schien abzuwarten, als ob er jeden Moment damit rechnete, dass Nicodemus ihm sein Einverständnis zurufen würde.
»Keine Antwort? Trübt die Prophezeiung etwa dein Denken? Vielleicht bildest du dir ein, das Schicksal werde dir zu Hilfe eilen. Da muss ich dir leider mitteilen, dass die Weissagungen der Menschen dummes Zeug sind. Nach dem Exodus war ihre Sehnsucht nach einem neuen Kaiser so groß, dass sie sich diese Prophezeiungen ausgedacht haben. Dabei haben sie die Tatsachen mit Mythen und Legenden vermischt.«
Fellwroth hustete und es hörte sich an, als würde jemand mit einem Metalllöffel gegen einen Kochtopf schlagen.
»In einigen Weissagungen heißt es, ein einzelner direkter Nachfahre der Kaiserfamilie werde kommen und die Welt retten. Nimm zum Beispiel die blödsinnige Prophezeiung der Druidin mit ihrem Peregrin. Genau so warten die Hohenschmiede auf die Oriflamme und die Oberpriester auf die Ankunft des Cynosure. Andere magische Völker glauben hingegen, dass zwei kaiserliche Nachfahren kommen werden: ein Retter und ein Zerstörer. Die Zauberer glauben diesen Unsinn, der Halkyon gegen den Unglücksboten. Nichts als dummes Geschwätz, diese Prophezeiungen sind alle gleichermaßen falsch.«
Wieder hustete Fellwroth klirrend.
»In Wirklichkeit seid ihr, die direkten Nachkommen, nur ein Werkzeug. Ein Werkzeug, mit dem man den Krieg der Sprachen entweder vorantreiben oder behindern kann. Und du, Nicodemus, bist das Werkzeug der Dämonen.«
Nicodemus kniff die Augen zusammen, er fühlte sich benommen. Auch wenn er die Worte des Ungeheuers verstand, kamen sie ihm seltsam unwirklich vor.
Fellwroth stieß ein blechernes Knurren aus. »Wenn du jetzt vor mir fliehst, wirst du dich ungeahnten Gefahren aussetzen.«
Das Ungeheuer zögerte, als müsste es über etwas nachdenken. »Von den Göttern haben nur wenige Taifons Anwesenheit gespürt. Die großen Götter und Göttinnen sind viel zu sehr damit beschäftigt, ihre Reiche zu regieren. Doch eine Handvoll unbedeutendere Gottheiten haben Taifon entdeckt und sich gegen ihn verbündet. Sie nennen sich die Allianz göttlicher Ketzer und sie haben ihrerseits versucht, Primus-Zauberschreiber hervorzubringen. Doch keiner deiner Verwandten hat das Kindesalter überlebt.«
Fellwroth lachte auf. »Einfach jämmerlich, dieser fortwährende Krieg zwischen den Separatisten und der Allianz göttlicher Ketzer. Wir schlachten all ihre kaiserlichen Nachkommen ab und sie ermorden im Gegenzug unsere … das heißt, bis auf dich. Und eines muss man Taifon lassen, es war ein brillianter Zug von ihm, dir deine Gabe zu stehlen, statt dich großzuziehen und erst dann für unsere Zwecke zu gebrauchen. Und dann hat er dich auch noch als Kakograph getarnt. Nie würde die Allianz vermuten, dass sich hinter einem zurückgebliebenen Jungen ein Kaiserspross verbirgt.«
Die Beine des Ungeheuers begannen zu zittern. »Ich erzähle es dir, damit du weißt, dass dich die Allianz ermordet, sobald sie von dir erfährt. Denk doch: Wenn sie dich umbringen, verliert der Smaragd seine Kraft und wir unsere Fähigkeit, in Primus zu schreiben und einen zweiten Drachen zu schaffen.«
Fellwroths Beine zitterten nun so sehr, dass er sich kaum noch aufrecht halten konnte. »Du schwebst in weitaus größerer Gefahr, als du denkst. Mittlerweile hat die Allianz der Ketzer bestimmt von dir gehört. Was glaubst du eigentlich, von wem Deidre, diese Möchtegern-Druidin, geschickt wurde? Sobald sie die Gelegenheit hat, dich umzubringen, ohne dem Ansehen der Druiden auf dem Konzil zu schaden, wird sie es tun. Jetzt musst du es doch begreifen, Welpe. Ich bin deine einzige Hoffnung. Du musst dich mir anschließen.«
Auf einmal fing Nicodemus’ Keloid wieder an zu brennen.
Das Zittern in Fellwroths Beinen ließ nach. »Ich glaube …«, keuchte er und humpelte auf Nicodemus zu. »Ich spüre deine Anwesenheit.«
Doch Laufen erwies sich als zu schwierig, und mit seiner fahlen Hand stützte Fellwroth sich am Boden ab.
»Wenn ich dich doch nur sehen könnte«, grunzte er. »Welch geheimnisvolle Sprache verbirgt dich?«
Langsam kam er wieder auf die Beine, sein Atem ging schwer. »Vielleicht sind dir die Separatisten auch so verhasst, sind dir jene, die dich geschaffen haben, so verhasst, dass du daran denkst, dich selbst zu töten, um uns so den Smaragd zu nehmen. Es macht keinen Unterschied. Ich habe schon alles in die Wege geleitet, und schon bald wirst du einen Vetter haben. Beizeiten werde ich einen weiteren kaiserlichen Nachfolger heranziehen. Du würdest dich also ganz umsonst opfern.«
Das Ungeheuer kam herangeschlurft; es stand nur einen Fuß weit entfernt. Eines der nachtblauen Geschöpfe begann zu winseln.
»Nicodemus«, keuchte Fellwroth, »schließe dich unserer Sache an, und der Lohn wird deine kühnsten Träume übertreffen. Du brauchst bloß nach Starhaven zurückkehren. Dort werde ich dich dann abholen.«
Schwankend trat das Ungeheuer einen halben Schritt vor. Mit der Fußspitze berührte er fast Nicodemus’ Gesicht. Zwei der Nachtwesen wichen zurück.
Gerade wollte Fellwroth noch einen Fuß vorsetzen, da traf ihn ein nachtblaues Tentakel am Schienbein. Der Mörder schwankte, taumelte rückwärts und fiel auf die Knie.
Das Gesicht des Ungeheuers war von der Kapuze verhüllt, doch seine vernarbte linke Hand kam zum Vorschein und legte sich über die madenweiße Kehle.
»Diesem Golem schwinden die Kräfte«, zischelte er. »Du hast die Wahl, Nicodemus. Ergib dich und du wirst dich gottgleicher Mächte erfreuen, oder widersetz dich und stirb.«
Der Golem wurde von einem heftigen Husten geschüttelt. Die Kapuze rutschte und zum Vorschein kam eine lange, farblose Mähne. Wo die Stirn hätte sein sollen, funkelte ein Balken aus Numinus. Die Haut war weiß wie Papier. Er hatte ein zartes, schönes Gesicht – schmale Lippen, eine Stupsnase und große Augen.
Ein neuerlicher Hustenanfall überkam ihn, und er stürzte, sein Kinn schlug direkt vor Nicodemus’ Nase auf.
Eisengraue Flecken erschienen auf der Haut des Golems. Er sah Nicodemus direkt an, und seine Augen hatten weder eine weiße Iris noch eine schwarze Pupille. Sie waren blutrot mit schwarzen Sprenkeln.
Ruckartig hob der Golem die Hand, als wollte er mit einem Zauber angreifen. Doch eines der Nachtwesen stürzte sich sogleich auf ihn. Es war der Troll mit den drei Hörnern; das gedrungene Ding drückte ihm den Arm auf die Erde.
Schlagartig wurde Nicodemus klar, dass er den Troll schon einmal gesehen hatte. Viele Male gesehen hatte.
Hier stimmte etwas nicht. Stimmte ganz und gar nicht.
Nicodemus’ Herz hämmerte. Er versuchte sich aus dem Haufen der Nachtwesen zu befreien, doch vor seinen Augen tanzten orangene Flecken. Die Erde bebte, und gleich würde er ohnmächtig werden.
Die Nachtwesen wisperten und flüsterten, drängten ihn, stillzuhalten, so dass sie ihn weiter verbergen konnten. Vor Nicodemus tauchte der kleine, augenlose Drache mit den Tentakeln am Kinn auf. Ihn erkannte er auch; er hieß Tamelkan. Den Namen hatte er ihm mit vierzehn gegeben.
Seit seiner Zeit in Starhaven hatte sich Nicodemus vorgestellt, welche Schrecken wohl im nahen Wald ihr Unwesen treiben. Angeregt von den unzähligen Ritterromanen hatte Nicodemus davon geträumt, sich aus der Akademie zu stehlen und es mit seinen erdachten Feinden aufzunehmen.
Und nun, so unwahrscheinlich es ihm auch vorkam, waren diese Träume Wirklichkeit geworden. Die Nachtwesen hatten ihn vor Fellwroth versteckt, und diese Wesen, die ihn auch jetzt noch am Boden festhielten, waren die Monster aus seiner Kindheit.
In seiner Angst zappelte er noch heftiger, und es gelang ihm, zwei der blauen Wesen von sich zu schütteln. Schwankend richtete er sich auf die Knie, doch Tamelkan stürzte sich sofort auf ihn, und seine Tentakel wickelten sich um Nicodemus’ Kopf.
Und Nicodemus – überwältigt von seinen eigenen dunklen Fantasien – stürzte zu Boden und verlor das Bewusstsein.