Siebzehn



Siebzehn

Es sah genauso aus, wie er es verlassen hatte; die große schwarze Senke schluckte das Sonnenlicht, ohne die Strahlen zu reflektieren. Alvin stand vor den Ruinen der Festung und schaute auf den See hinaus, dessen regungslose Oberfläche bewies, dass der große Polyp nicht mehr als ein eigenes, empfindungsfähiges Lebewesen existierte. Er hatte sich in eine Wolke von Animalkülen aufgelöst.

Der Roboter schwebte noch neben ihm, aber von Hilvar war nichts zu sehen. Er hatte keine Zeit, sich zu wundern oder über die Abwesenheit seines Freundes besorgt zu sein, weil im nächsten Augenblick etwas so Fantastisches geschah, dass alle anderen Gedanken aus seinem Kopf verdrängt wurden.

Der Himmel begann sich zu spalten. Ein dünner Keil Dunkelheit reichte vom Horizont bis zum Zenit hinauf und verbreiterte sich langsam, als brächen Nacht und Chaos über das Universum herein. Unerbittlich weitete sich der Keil, bis er ein Viertel des Himmels erfasst hatte. Trotz seiner genauen Kenntnisse der Astronomie konnte sich Alvin nicht des überwältigenden Eindruckes erwehren, dass er und seine Welt unter einer großen blauen Kuppel lagen und dass jetzt irgendetwas von außen durch diese Kuppel hereinbrach.

Der Nachtkeil hörte auf zu wachsen. Die Mächte, die ihn geschaffen hatten, starrten jetzt auf das eben entdeckte Spielzeuguniversum herunter und berieten sich vielleicht, ob es ihre Aufmerksamkeit lohnte. Unter dieser kosmischen Überprüfung fühlte Alvin keine Unruhe, keine Angst. Er wusste, dass er einer Macht und Weisheit gegenüberstand, vor der ein Mensch wohl Scheu, aber nicht Entsetzen empfinden konnte.

Und jetzt hatten sie sich entschieden – sie würden einige Splitter der Ewigkeit an die Erde und ihre Bewohner verschwenden. Sie kamen durch das Fenster, das sie in den Himmel gebrochen hatten.

Wie Funken einer himmlischen Schmiede trieben sie auf die Erde hinab. Dichter und dichter kamen sie, bis ein feuriger Wasserfall vom Himmel herabströmte und sich in Seen aus flüssigem Licht niederschlug. Alvin brauchte die Worte nicht mehr, die in seinen Ohren wie eine Segnung klangen: »Die Großen sind erschienen.«

Das Feuer hatte ihn erfasst, doch es verbrannte nichts. Es war überall, es füllte die große Senke von Shalmirane mit goldenem Glühen. Alvin sah, dass es keine formlose Lichtflut war; es besaß Form und Struktur. Es begann sich in deutliche Umrisse aufzuteilen, in getrennten wilden Wirbeln zu sammeln. Die Wirbel drehten sich immer schneller um ihre Achsen, sie stiegen empor und bildeten Säulen, in denen Alvin seltsame Formen erkennen konnte. Von diesen glühenden Säulen tönte es leise, unendlich fern und geheimnisvoll süß: »Die Großen sind erschienen.«

Diesmal erfolgte eine Antwort. Als Alvin die Worte hörte: »Die Diener des Meisters grüßen euch. Wir haben euer Erscheinen erwartet«, wusste er, dass die Sperre sich gelöst hatte. Und in diesem Augenblick stand er wieder vor dem Zentralgehirn in den Tiefen Diaspars.

Es war nur eine Illusion gewesen, nicht realer als die Fantasiewelt der Abenteuer, in der er viele Stunden seiner Jugend verbracht hatte. Aber wie war sie geschaffen worden? Woher kamen die seltsamen Bilder?

»Es war ein außergewöhnliches Problem«, sagte die ruhige Stimme des Zentralgehirns. »Ich wusste, dass der Roboter eine physische Vorstellung von den Großen haben musste. Wenn ich ihn davon überzeugen konnte, dass die ihm vermittelten Sinneseindrücke mit diesem Bild übereinstimmten, war das Übrige einfach.«

»Und wie gelang es dir?«

»Einfach ausgedrückt, indem ich den Roboter fragte, wie die Großen aussehen, und dann die Struktur übernahm. Sie war sehr unvollkommen, und ich musste improvisieren. Ein- oder zweimal begann das vor mir geschaffene Bild erheblich von der Vorstellung des Roboters abzuweichen, aber ich bemerkte seine Verwirrung und veränderte das Bild, ehe er Verdacht schöpfen konnte. Du kannst dir vorstellen, dass ich über Hunderte von Anlagen verfügen kann, während der Roboter nur eine einzige hat. Ich vermag so schnell von einem Bild zum anderen überzuwechseln, dass der Wechsel nicht erkennbar wird. Eigentlich war es ein Zaubertrick; es gelang mir, die Sinnesanlagen des Roboters zu überladen und auch seine kritischen Fähigkeiten zu überwältigen. Was du gesehen hast, war nur das letzte, korrigierte Bild – jenes, das den Eröffnungen des Meisters am meisten entsprach. Es war unvollkommen, aber es genügte. Der Roboter war so lange von seiner Echtheit überzeugt, dass die Sperre aufgehoben wurde, und in diesem Augenblick konnte ich mit seinem Verstand in Verbindung treten. Er ist nicht mehr besessen; er wird alle Fragen beantworten, die du ihm stellen willst.«

Alvin war immer noch nicht richtig zu sich gekommen; die Scheinapokalypse hatte sich tief in sein Hirn eingebrannt. Er gab nicht vor, die Erklärungen des Zentralgehirns in vollem Umfang zu begreifen, und das musste er auch gar nicht – die wundersame Heilung war so oder so vollzogen, die Tore zu den Schätzen des Wissens standen weit offen. Er musste nur noch eintreten.

Dann erinnerte er sich an die Warnung des Zentralgehirns und fragte besorgt: »Wie steht es mit den moralischen Einwänden, die dich zögern ließen, die Befehle des Meisters außer Kraft zu setzen?«

»Ich habe den Grund dafür entdeckt. Wenn du seine Lebensgeschichte im Einzelnen durchgehst, wie es jetzt möglich ist, wirst du feststellen, dass er behauptete, viele Wunder vollbracht zu haben. Seine Anhänger glaubten ihm, und ihre Überzeugungen steigerten seine Macht. Aber für all diese Wunder gab es natürlich irgendeine einfache Erklärung – wenn die Wunder überhaupt stattfanden. Es überrascht mich, dass auch sehr intelligente Menschen auf solche Dinge hereinfallen.«

»Der Meister war also ein Betrüger?«

»Nein, so einfach ist es nicht. Wenn er nur ein Scharlatan gewesen wäre, hätte er nie diesen Erfolg gehabt, und seine Bewegung hätte sich niemals so lange gehalten. Er war ein guter Mensch, und vieles an seiner Lehre war richtig und weise. Am Schluss glaubte er an seine eigenen Wunder, aber er wusste, dass es einen Zeugen gab, der sie widerlegen konnte. Der Roboter kannte seine sämtlichen Geheimnisse; er war sein Sprecher und sein Mitstreiter; wenn man ihn aber ausführlich befragte, würde er die Grundlage seiner Macht zerstören können. Deswegen befahl er ihm, seine Erinnerungen bis zum letzten Tag des Universums, wenn die Großen kämen, nicht preiszugeben. Es scheint kaum glaublich, dass in einem Menschen eine derartige Mischung aus Aufrichtigkeit und Täuschung bestehen kann, aber so ist es eben.«

Alvin fragte sich, was der Roboter über seine Befreiung von der uralten Fessel dachte. Er war genügend kompliziert, um Gefühle wie Groll und Zorn empfinden zu können. Vielleicht hasste er den Meister, weil er ihn versklavt hatte – vielleicht hasste er Alvin und das Zentralgehirn, weil sie ihn überlistet und ihm seinen Verstand wieder aufgezwungen hatten.

Die Zone des Schweigens war aufgehoben; sie brauchten nichts mehr geheim zu halten. Der Augenblick, auf den Alvin gewartet hatte, war gekommen. Er wandte sich an den Roboter und stellte ihm die Frage, die ihn verfolgte, seit er die Geschichte des Meisters gehört hatte.

Und der Roboter antwortete.

Jeserac und die Wachen warteten immer noch geduldig auf ihn. Oben auf der Rampe, bevor sie sich wieder auf den Rückweg machten, blickte Alvin noch einmal auf den Saal zurück. Die Illusion hatte sich noch verstärkt: Unter ihm lag eine tote Stadt aus seltsamen weißen Gebäuden, eine vom grellen Licht gebleichte Stadt, nicht für menschliche Augen gedacht. Ja, sie war tot, sie hatte nie gelebt, aber ihre pulsierende Energie war stärker als alles, was jemals organische Wesen befeuert hatte. Solange die Welt bestand, würden diese stummen Maschinen hier sein und über die Ideen nachdenken, die ihnen vor Urzeiten von einigen genialen Menschen eingespeist worden waren.

Obwohl Jeserac auf dem Weg zum Ratssaal Alvin befragte, erfuhr er nichts von dem Gespräch mit dem Zentralgehirn. Nicht dass Alvin besonders diskret gewesen wäre – er konnte schlicht noch nicht fassen, was er eben erlebt hatte, er war noch so berauscht von seinem Erfolg, dass er zu keinem vernünftigen Gespräch fähig war. Jeserac musste sich in Geduld fassen und darauf vertrauen, dass Alvin bald aus seinem Trancezustand aufwachen würde.

Im Vergleich mit der grellen Maschinenstadt schienen die Straßen von Diaspar in blasses, mattes Licht getaucht zu sein. Aber Alvin hatte sowieso keine Augen für seine Umgebung. Er achtete nicht auf die vertraute Schönheit der großen Türme, die an ihm vorbeizogen, auch die neugierigen Blicke der Mitbürger bemerkte er nicht. Vielmehr stellte er voller Erstaunen fest, dass all seine Erlebnisse auf diesen Moment hingezielt hatten; seit seiner Begegnung mit Khedron strebten die Ereignisse scheinbar automatisch auf ein vorbestimmtes Ziel zu. Die Monitore, Lys, Shalmirane – jedes Mal hätte er die Augen verschließen und sich abwenden können, aber er hatte weitergemacht, als würde ihn irgendetwas antreiben. Hatte er sein Leben selbst in der Hand? Oder begünstigte ihn das Schicksal in besonderer Weise? Vielleicht gründete das alles nur auf den Auswirkungen der Wahrscheinlichkeiten, auf den Gesetzen des Zufalls … Der Weg, den er beschritten hatte, konnte genauso gut von jedem anderen beschritten werden, und in früheren Zeitaltern hatten ihn sicher auch unzählige andere beschritten, wenn auch nicht ganz so weit wie er. Zum Beispiel die früheren Einzigartigen – was war mit ihnen passiert? Oder war er doch der Erste, der so viel Glück hatte?

Während des ganzen Rückwegs trat Alvin immer mehr in Verbindung mit dem Roboter, den er aus seiner langen Gefangenschaft befreit hatte. Der Roboter war immer in der Lage gewesen, seine Gedanken zu empfangen, aber vorher hatte er nie gewusst, ob er seinen Befehlen gehorchen würde. Jetzt gab es diese Unsicherheit nicht mehr; er konnte mit ihm wie mit einem anderen Menschen sprechen, aber er wies ihn an, einfache Gedankenbilder zu verwenden, solange sie nicht allein waren. Manchmal ärgerte er sich über die Tatsache, dass Roboter miteinander telepathisch verkehren konnten, obwohl es dem Menschen nicht möglich war – außer in Lys. Auch diese Fähigkeit hatte Diaspar verloren oder absichtlich beseitigt.

Er setzte das stumme, aber etwas einseitige Gespräch fort, während sie im Vorraum des Ratssaales warteten. Bei der gegenwärtigen Situation bot sich unabweisbar der Vergleich mit Lys an, als Seranis und ihre Berater versucht hatten, ihm ihren Willen aufzuzwingen. Er hoffte, eine weitere Auseinandersetzung vermeiden zu können, aber wenn es so weit kommen sollte, war er jetzt weit besser gerüstet als zuvor.

Sein erster Blick auf die Räte verriet ihm die Entscheidung. Er war weder überrascht noch besonders enttäuscht und zeigte keine der Gefühlsaufwallungen, die die Ratsmitglieder erwartet haben mochten, als der Präsident die Entscheidung begründete.

»Alvin«, begann der Präsident, »wir haben mit großer Sorgfalt die Situation geprüft, die durch deine Entdeckung entstanden ist, und sind zu einer einstimmigen Entscheidung gelangt. Weil niemand eine Veränderung unserer Lebensweise will, und weil ferner nur sehr selten jemand geboren wird, der Diaspar überhaupt verlassen kann, ist das Tunnelsystem nach Lys unnötig und sicher auch eine Gefahr. Der Zugang zu dem Knotenpunkt der Fließstraßen wurde daher versiegelt.

Überdies ist eine Durchsuchung der Monitor-Gedächtnisanlagen veranlasst, da möglicherweise noch andere Wege aus der Stadt hinausführen.

Wir haben uns auch überlegt, ob gegen dich persönlich etwas zu unternehmen sei. Unter Berücksichtigung deiner Jugend und der seltsamen Umstände deiner Herkunft kamen wir zu der Auffassung, einen Tadel für dein Verhalten als unberechtigt anzusehen. Im Gegenteil. Durch die Aufdeckung einer möglichen Gefahr für unsere Lebensweise hast du unserer Stadt einen Dienst geleistet, und wir sprechen dir dafür ausdrücklich unsere uneingeschränkte Anerkennung aus.«

Es gab ein zustimmendes Gemurmel, und die Mienen der Räte nahmen einen Ausdruck der Zufriedenheit an. Man hatte eine schwierige Situation schnellstens bereinigt, eine Zurechtweisung Alvins vermieden und konnte nun wieder seiner Wege gehen, in der Überzeugung, als Bürger von Diaspar seine Pflicht getan zu haben. Mit einigem Glück würde es Jahrhunderte dauern, bis man wieder zusammentreten musste.

Der Präsident sah Alvin erwartungsvoll an; vielleicht hoffte er, dass Alvin in seiner Erwiderung die Güte des Rates würdigen werde, so einfach davongekommen zu sein. Er wurde enttäuscht.

»Darf ich eine Frage stellen?«, fragte Alvin höflich.

»Selbstverständlich.«

»Das Zentralgehirn hat Ihrem Vorgehen vermutlich zugestimmt?«

Normalerweise wäre das eine unverschämte Frage gewesen. Der Rat brauchte seine Beschlüsse nicht zu rechtfertigen oder mitzuteilen, wie er zu ihnen gelangt war. Aber Alvin genoss das Vertrauen des Zentralgehirns, aus irgendeinem seltsamen Grund. Er nahm eine privilegierte Stellung ein.

Die Frage verursachte sichtbar einige Verwirrung, und die Antwort wurde etwas widerwillig gegeben.

»Wir haben uns mit dem Zentralgehirn besprochen. Es hat uns angewiesen, nach eigenem Ermessen zu entscheiden.«

Das entsprach Alvins Vermutung. Das Zentralgehirn hatte sich im selben Augenblick mit dem Rat verständigt, als es auch mit ihm sprach. Es wusste ebenso gut wie Alvin, dass die Entscheidungen des Rates jetzt nichts mehr bedeuteten. Die Zukunft war den Räten in dem Augenblick für immer aus der Hand genommen worden, als sie in glücklicher Unwissenheit glaubten, die Krise endlich überwunden zu haben.

Alvin fühlte keine Überlegenheit, keine süßen Freuden des Triumphes, als er diese lächerlichen alten Männer ansah, die sich für die Herrscher Diaspars hielten. Er hatte den wirklichen Herrscher der Stadt gesehen und in der ernsten Stille seiner strahlenden, unterirdischen Stadt zu ihm gesprochen. Diese Begegnung hatte die Arroganz fast ganz aus ihm vertrieben, aber der Rest reichte noch für ein letztes Wagnis, das alle anderen übertreffen würde.

Als er sich von dem Rat verabschiedete, fragte er sich, ob sie wohl über seine stille Zustimmung erstaunt waren. Die Wachen begleiteten ihn nicht mehr; er stand offensichtlich nicht mehr unter Beobachtung. Nur Jeserac folgte ihm in die bunten, überfüllten Straßen hinaus.

»Nun, Alvin«, sagte er. »Du hast heute deine besten Manieren gezeigt, aber mich kannst du nicht täuschen. Was hast du vor?«

Alvin lächelte. »Ich wusste, dass Sie es ahnen würden. Wenn Sie mich begleiten wollen, werde ich Ihnen zeigen, warum die Untergrundverbindung nach Lys nicht mehr wichtig ist. Ich möchte auch noch ein anderes Experiment versuchen; es wird Ihnen nichts passieren, aber vielleicht unangenehm für Sie sein.«

»Nun gut. Eigentlich bin ich zwar immer noch dein Lehrer, aber die Rollen scheinen vertauscht zu sein. Wohin führst du mich?«

»Wir gehen zum Turm von Loranne, und ich werde Ihnen die Welt außerhalb Diaspars zeigen.«

Jeserac erblasste. Dann nickte er kurz, als traue er sich nicht zu sprechen, und folgte Alvin hinaus auf das gleitende Band der Fließstraße.

Jeserac zeigte keine Furcht, als sie den langen Tunnel durchschritten, durch den der kalte Wind nach Diaspar wehte. Der Tunnel hatte sich verändert; das Steingitter, das den Zugang zur Außenwelt versperrt hatte, war verschwunden. Es diente keinem strukturellen Zweck, und das Zentralgehirn hatte es auf Alvins Bitte hin kommentarlos entfernt. Später würde es die Monitoren vielleicht anweisen, das Gitter wieder anzubringen. Aber im Augenblick öffnete sich der Tunnel unversperrt und ungeschützt zur Stadtmauer.

Erst als Jeserac das Ende des Luftschachtes fast erreicht hatte, begriff er, dass die Außenwelt unmittelbar vor ihm lag. Seine Schritte wurden unsicherer, und schließlich blieb er ganz stehen. Alvin erinnerte sich, dass Alystra damals davongelaufen war, und er überlegte, wie er Jeserac zum Weitergehen bewegen konnte.

»Ich will ja nur, dass Sie hinaussehen«, bat er, »und nicht, dass Sie die Stadt verlassen sollen. Das werden Sie doch wohl schaffen!«

Während seines kurzen Aufenthaltes in Airlee hatte Alvin eine Mutter beobachtet, die ihrem Kind das Laufen beibrachte. Er wurde unweigerlich daran erinnert, als er Jeserac mit schmeichelnden und aufmunternden Worten zum Weitergehen veranlasste, während sein Lehrer widerwillig Fuß vor Fuß setzte. Er wollte gegen den inneren Zwang ankämpfen, aber es war ein verzweifelter Kampf. Alvin fühlte sich fast so erschöpft wie Jeserac, als er ihn schließlich an einen Punkt gelotst hatte, von dem aus er die endlose Wüstenlandschaft sehen konnte.

Die seltsame Schönheit dieser Szene schien Jeserac seine Angst vergessen zu lassen. Die riesigen Sanddünen und fernen, alten Berge schlugen ihn ganz offensichtlich in ihren Bann. Es war Spätnachmittag, und bald würde die Nacht über dieses Land hereinbrechen.

»Ich habe Sie hergebeten«, sagte Alvin hastig, als könne er seine Ungeduld kaum bezähmen, »weil ich weiß, dass Sie mehr als jeder andere berechtigt sind, zu sehen, wohin mich meine Reisen geführt haben. Ich wollte, dass Sie die Wüste sehen, und ich brauche Sie auch als Zeugen, damit der Rat weiß, was ich getan habe.

Wie ich dem Rat schon berichtete, brachte ich den Roboter von Lys mit, in der Hoffnung, das Zentralgehirn werde in der Lage sein, die vom Meister errichtete Gedächtnissperre aufzuheben. Mit einem Trick, den ich immer noch nicht ganz begreife, hatte das Zentralgehirn Erfolg. Jetzt stehen mir alle Erinnerungen des Roboters zur Verfügung, ebenso auch seine Spezialfertigkeiten. Eine von ihnen werde ich jetzt anwenden. Sehen Sie nur.«

Auf einen stummen Befehl hin schwebte der Roboter durch die Tunnelöffnung hinaus, beschleunigte und war im Verlauf weniger Sekunden nur noch ein fernes metallisches Blitzen im Sonnenlicht. Er flog in niedriger Höhe über die Wüste dahin, über die Sanddünen, die sich wie erstarrte Wellen kreuzten. Jeserac gewann den Eindruck, dass er etwas suchte.

Dann stieg der glitzernde Punkt plötzlich auf und kam dreihundert Meter über dem Boden zum Stillstand. Im selben Augenblick seufzte Alvin erleichtert. Er sah Jeserac an, als wollte er sagen: »Das ist es!«

Zuerst konnte Jeserac keine Veränderung erkennen. Dann sah er, dass sich langsam eine Staubwolke aus der Wüste erhob.

Nichts ist schrecklicher als eine Bewegung, die es gar nicht geben dürfte, aber Jeserac befand sich jenseits von Überraschung und Angst, als sich die Sanddünen zu teilen begannen. Unter dem Wüstenboden rührte sich etwas, und dann erreichte seine Ohren das Donnern stürzender Erde und das Kreischen berstender Felsen. Plötzlich stieg eine riesige Sandfontäne Hunderte von Metern empor und wälzte sich über den Boden.

Langsam trieb der Staub auf die gezackte Wunde in der Wüste zu. Aber Jeserac und Alvin starrten immer noch auf den Himmel, in dem anfänglich nur der Roboter zu sehen gewesen war. Jetzt endlich wusste Jeserac, warum Alvin die Entscheidung des Rates so gleichmütig aufgenommen hatte. Warum er sich nicht empört gezeigt hatte, als er von der Versiegelung der Fließstraßenkaverne hörte.

Die stolzen Konturen des Schiffs, das sich mit einem Mal aus der gespaltenen Wüste erhob, verschwommen unter der Decke aus Erde und Steinen, ohne ganz zu verdeckt zu werden. Jeserac sah zu, wie es sich langsam zu ihnen drehte, bis sich ein kreisförmiger Umriss abzeichnete, der sich allmählich weiter ausdehnte.

Alvin sprach schnell, als habe er nicht viel Zeit.

»Dieser Roboter wurde als Begleiter und Diener des Meisters gebaut und war vor allem Pilot dieses Schiffes. Ehe er nach Lys kam, landete er auf dem Flughafen von Diaspar, der jetzt dort draußen unter dem Sand begraben ist. Selbst damals dürfte er zum großen Teil unbenutzt gewesen sein; ich glaube, dass das Schiff des Meisters eines der letzten Raumfahrzeuge war, die auf der Erde landeten. Er lebte geraume Zeit in Diaspar, ehe er nach Shalmirane aufbrach; die Untergrundbahn muss damals noch verkehrt haben. Aber das Raumschiff brauchte er nie mehr; es hat die ganze Zeit hier unter dem Wüstenboden gewartet. Wie Diaspar selbst, wie dieser Roboter, wurde es von seinen eigenen Gedächtnisanlagen bewahrt. Solange es eine Energiequelle besaß, konnte es weder zerfallen noch vernichtet werden; das in seinen Erinnerungszellen vorhandene Bild konnte nie vergehen, und dieses Bild bewahrte seine physische Struktur.«

Das von dem Roboter gelenkte Schiff war ihnen inzwischen immer näher gekommen; Jeserac konnte sehen, dass es etwa dreißig Meter lang war und an beiden Enden spitz zulief. Man sah keine Fenster oder andere Öffnungen, die dicke Erdschicht verbarg sicher manches.

Sie wurden plötzlich mit Schmutz überschüttet, als sich ein Teil der Außenhülle öffnete; Jeserac erhaschte einen Blick auf eine kleine, leere Kabine mit einer zweiten Tür. Das Raumschiff schwebte dreißig Zentimeter vor der Öffnung des Luftschachtes, an die es sich vorsichtig heranmanövriert hatte.

»Leben Sie wohl, Jeserac«, sagte Alvin. »Ich kann mich von meinen Freunden in Diaspar nicht verabschieden; erledigen Sie das bitte für mich. Sagen Sie Eriston und Etania, dass ich bald zurückzukehren hoffe; wenn es nicht möglich sein sollte, danke ich ihnen für alles, was sie für mich getan haben. Und ich bin auch Ihnen dankbar, obwohl Sie vielleicht die Art und Weise nicht schätzen, in der ich Ihre Lektionen umsetze.

Was den Rat angeht – so sagen Sie ihm, dass man einen Weg, der einmal den Menschen offengestanden hat, nicht durch Beschlüsse wieder verschließen kann.«

Das Raumschiff war nur noch ein dunkler Fleck am Himmel; wenig später hatte Jeserac es ganz aus den Augen verloren. Er bekam überhaupt nicht mit, wie es verschwand, doch vom Himmel hallte plötzlich das seltsamste Geräusch herab, das ein Mensch jemals erzeugt hatte – das gedehnte Donnern der Luft, die Kilometer für Kilometer in den Vakuumtunnel stürzte, der sich mit einem Mal quer durch den Himmel bohrte.

Selbst als die letzten Echos in der Wüste verklungen waren, rührte sich Jeserac nicht. Er dachte an den Jungen, der verschwunden war, denn für Jeserac würde Alvin immer ein Kind bleiben, das einzige Kind, das seit langer Zeit in Diaspar zur Welt gekommen war. Alvin würde nie erwachsen werden; für ihn war das ganze Universum ein Spielzeug, ein Rätselspiel, das seinem Vergnügen diente. Jetzt hatte er das letzte, todbringende Spielzeug gefunden, das den Rest der menschlichen Zivilisation zerstören konnte – aber gleichgültig, wie es ausging, für ihn war es nur ein Spiel.

Die Sonne stand tief am Horizont; ein kühler Wind strich von der Wüste herüber. Aber Jeserac überwand seine Angst, und bald darauf sah er zum ersten Mal in seinem Leben die Sterne.