Fünf



Fünf

In seinen zwanzig Lebensjahren hatte Alvin nicht einmal ein Tausendstel der Einwohner Diaspars kennengelernt. Es überraschte ihn daher nicht, dass der Mann vor ihm ein Fremder für ihn war. Was ihn erstaunte, war die Tatsache, dass er hier, in diesem verlassenen Turm, an der Grenze zum Unbekannten, überhaupt einem Menschen begegnete.

Er wandte der Spiegelwelt den Rücken zu und starrte den Eindringling an. Ehe er den Mund aufmachen konnte, sprach ihn der andere an.

»Du bist Alvin. Als ich entdeckte, dass jemand diesen Turm besucht, hätte ich mir denken können, dass du es bist.«

Die Bemerkung sollte offensichtlich nicht beleidigend sein; es war eine einfache Feststellung, und Alvin akzeptierte sie als solche. Es überraschte ihn nicht, dass er erkannt worden war; durch seine Einzigartigkeit und noch im Verborgenen ruhenden Kräfte war er nun einmal jedem Einwohner Diaspars bekannt.

»Ich bin Khedron«, fuhr der Fremde fort, als erkläre das alles. »Man nennt mich den Spaßmacher.«

Alvin sah ihn verständnislos an, und Khedron zuckte spöttisch resigniert die Achseln.

»Nun ja, so geht es mit dem Ruhm. Immerhin, du bist noch jung, und in deinem Leben hat es noch keine Späße gegeben. Deine Unwissenheit ist entschuldigt.«

Khedron hatte etwas erfrischend Ungewöhnliches an sich. Alvin forschte in Gedanken nach der Bedeutung des seltsamen Wortes »Spaßmacher«; es rief irgendeine verschwommene Erinnerung in ihm wach, aber er konnte sie nicht definieren. In der komplizierten Gesellschaftsstruktur der Stadt gab es viele unterschiedliche Titel, und man brauchte meistens sein ganzes Leben, um sie alle behalten zu können.

»Kommen Sie oft hierher?«, fragte Alvin ein wenig eifersüchtig. Er betrachtete den Turm von Loranne als sein persönliches Eigentum und ärgerte sich darüber, dass er auch anderen bekannt war. Aber hatte Khedron jemals auf die Wüste hinausgeblickt oder die Sterne im Westen versinken sehen, fragte er sich fast im selben Moment.

»Nein«, sagte Khedron, als beantworte er Alvins unausgesprochene Fragen. »Ich bin noch nie hier gewesen. Aber ich habe das Vergnügen, über alle ungewöhnlichen Vorkommnisse in der Stadt unterrichtet zu sein, und es ist sehr, sehr lange her, seit jemand dem Turm von Loranne einen Besuch abgestattet hat.«

Alvin fragte sich flüchtig, wie Khedron von seinen früheren Besuchen erfahren haben konnte. Diaspar war voller Augen und Ohren und anderer scharfsinnigen Sinnesorgane, die alle Vorgänge registrierten. Eine Person, die sich entsprechend dafür interessierte, konnte zweifellos eine Möglichkeit finden, diese Kanäle anzuzapfen.

»Selbst wenn es ungewöhnlich ist, dass jemand hierherkommt«, sagte Alvin, »warum interessieren Sie sich dafür?«

»Weil das Ungewöhnliche in Diaspar meine Domäne ist«, erwiderte Khedron. »Ich habe dich seit langer Zeit vorgemerkt; ich wusste, dass wir eines Tages zusammentreffen würden. In meiner Art bin auch ich einzigartig. O nein, nicht so wie du: Das ist nicht mein erstes Leben. Ich bin tausendmal aus der Halle der Schöpfung getreten. Aber irgendwann am Anfang wurde ich zum Spaßmacher bestimmt, und in Diaspar gibt es jeweils immer nur einen Spaßmacher. Die meisten Leute sind der Auffassung, das sei schon einer zu viel.«

Khedron sprach mit einer Ironie, die Alvin verwirrte. Es galt nicht als hervorragendes Benehmen, direkte persönliche Fragen zu stellen, aber schließlich hatte Khedron mit diesem Thema angefangen.

»Ich bitte, meine Unwissenheit zu entschuldigen«, sagte Alvin. »Aber was ist ein Spaßmacher, und was tut er?«

»Du fragst, was er ist und was er tut«, erwiderte Khedron. »Ich werde damit beginnen, dir das Warum zu erklären. Es ist eine lange Geschichte, aber ich glaube, sie wird dich interessieren.«

»Ich bin an allem interessiert«, sagte Alvin.

»Nun gut. Die Menschen – wenn es Menschen waren, was ich manchmal bezweifle –, die Diaspar schufen, standen vor einem unglaublich komplizierten Problem. Diaspar ist nicht nur eine Maschine, verstehst du – es ist ein lebender Organismus, und zwar ein unsterblicher. Wir haben uns so sehr an unsere Gesellschaftsart gewöhnt, dass wir uns nicht mehr vorstellen können, wie seltsam sie unseren Vorfahren erschienen wäre. Wir haben hier eine winzige, abgeschlossene Welt, die sich, abgesehen von unbedeutenden Einzelheiten, niemals verändert, die aber trotzdem, Zeitalter für Zeitalter, stabil bleibt. Sie hat wahrscheinlich längere Zeit überdauert als die übrige menschliche Geschichte – und doch gab es in dieser Geschichte, so sagt man, unzählige Tausende verschiedener Zivilisationen, die sich eine Weile hielten und dann untergingen. Wie erreichte Diaspar diese außergewöhnliche Beständigkeit?«

Alvin war überrascht, dass jemand eine so einfache Frage stellte. Seine Hoffnung, etwas Neues zu lernen, schwand.

»Durch die Gedächtnisanlagen, natürlich«, erwiderte er. »Diaspar besteht immer aus den gleichen Menschen, obwohl ihre tatsächliche Zusammensetzung jeweils unterschiedlich ist.«

Khedron schüttelte den Kopf.

»Das ist nur ein sehr kleiner Teil der Antwort. Mit genau denselben Leuten könnte man sehr verschiedene Gesellschaftssysteme bilden. Das kann ich nicht beweisen, aber es ist mit großer Sicherheit denkbar. Die Planer dieser Stadt legten nicht nur ihre Bevölkerung fest, sie bestimmten auch die Gesetze, die ihr Verhalten regelten. Wir haben kaum eine Ahnung von der Existenz dieser Gesetze, aber wir gehorchen ihnen. Diaspar ist eine erstarrte Kultur, die sich außerhalb engster Grenzen nicht verändern kann. Die Gedächtnisanlagen speichern außer den Strukturen unserer Körper und Persönlichkeiten noch sehr viele andere Dinge. Sie speichern das Bild der Stadt selbst und bewahren jedes Atom davon gegen alle Veränderungen der Zeit. Sieh dir dieses Pflaster an – es wurde vor Millionen Jahren eingesetzt, und zahllose Füße sind darübergegangen. Siehst du das geringste Zeichen einer Abnutzung? Ungeschützte Materie, gleichgültig, wie diamanthart sie auch sein mag, wäre schon vor langer Zeit zu Staub zermahlen worden. Aber solange Energie zur Betreibung der Gedächtnisanlagen vorhanden ist, und solange das Schema, das sie beinhaltet, die Stadt kontrolliert, wird sich die physikalische Struktur Diaspars niemals ändern.«

»Aber es hat doch schon Veränderungen gegeben«, wandte Alvin ein. »Seit der Gründung der Stadt wurden viele Gebäude niedergerissen und neue errichtet.«

»Natürlich – aber nur durch Löschung der in den Gedächtnisanlagen enthaltenen Muster und anschließender Speicherung neuer Schemata. Übrigens habe ich darauf nur als auf ein Beispiel hingewiesen, wie sich die Stadt physisch erhält. Worauf ich aber hinauswill, ist die Tatsache, dass es ebensolche Maschinen in Diaspar gibt, die unsere gesellschaftliche Struktur bewahren. Sie beobachten alle Veränderungen und korrigieren sie, ehe sie zu umfangreich werden. Wie sie das machen? Ich weiß es nicht – vielleicht durch die gesteuerte Auswahl derjenigen, die aus der Halle der Schöpfung treten. Vielleicht auch, indem sie unsere Persönlichkeitsstrukturen verändern; wir mögen ja glauben, dass wir einen freien Willen besitzen, aber können wir da ganz sicher sein?

Auf jeden Fall wurde das Problem gelöst. Diaspar hat überlebt und alle Jahrtausende durchzogen wie ein großes Schiff, das als Fracht das trägt, was von der Menschheit übrig blieb. Das ist eine gewaltige Tat der Sozialtechnik; ob es sich gelohnt hat, ist eine andere Sache.

Beständigkeit allein genügt jedoch noch nicht. Sie führt zu leicht zum Stillstand und von da zum Verfall. Die Planer dieser Stadt sahen ausgeklügelte Maßnahmen vor, um das zu verhindern, obgleich diese verlassenen Gebäude darauf schließen lassen, dass es ihnen nicht gänzlich gelungen ist. Ich, Khedron der Spaßmacher, bin ebenfalls ein Teil dieses Plans. Vielleicht nur ein sehr kleiner Teil. Ich würde gerne anderer Meinung sein, aber ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.«

»Und worin besteht nun dieser Teil?«, fragte Alvin, immer noch im Dunkeln tappend und des ganzen Gespräches etwas überdrüssig.

»Lass es uns so formulieren, dass ich kalkulierte Unordnung in die Stadt bringe. Eine Erklärung meiner Tätigkeit würde ihre Wirksamkeit zerstören. Beurteile mich nach meinen wenigen Taten, statt nach meinen vielen Worten.«

Alvin war noch nie einem solchen Menschen begegnet. Der Spaßmacher war eine wirkliche Persönlichkeit – ein Charakter, der weit über das allgemeine, für Diaspar typische Niveau der Einförmigkeit hinausragte. Obwohl er kaum herausfinden würde, worin seine Pflichten nun eigentlich bestanden und wie er sie ausführte, schien das nicht weiter von Belang zu sein. Es kam nur darauf an, dass er jemanden gefunden hatte, mit dem er reden konnte – wenn sich in dem langen Monolog einmal eine Lücke ergab – und der ihm vielleicht Antworten auf die vielen Fragen geben konnte, die ihn beschäftigten.

Sie gingen miteinander durch die Gänge des Turms von Loranne zurück und traten unmittelbar neben der fließenden Straße ins Freie. Erst als sie wieder in der Stadt waren, fiel Alvin ein, dass ihn Khedron überhaupt nicht danach gefragt hatte, was er hier an der Grenze zum Unbekannten gesucht habe. Er argwöhnte, dass Khedron Bescheid wusste und interessiert, aber nicht überrascht war. Irgendetwas verriet ihm, dass es sehr schwer sein würde, Khedron zu überraschen.

Sie tauschten ihre Registernummern aus, so dass sie sich gegenseitig rufen konnten, wenn sie dazu Lust hatten. Alvin wollte unbedingt mehr von dem Spaßmacher erfahren, obwohl er sich vorstellen konnte, dass seine Gesellschaft auf die Dauer sehr anstrengend sein würde. Ehe sie sich jedoch wieder trafen, wollte er herausfinden, was seine Freunde über Khedron wussten.

»Bis zum nächsten Mal«, sagte Khedron und verschwand. Alvin ärgerte sich. Wenn man jemanden traf und dabei nur sein Bild projizierte, verlangte der gute Ton, dass man das von Anfang an klarstellte. Wahrscheinlich hatte Khedron die ganze Zeit über gemütlich zu Hause gesessen – wo immer sich sein Zuhause befand. Die Nummer, die er Alvin gegeben hatte, würde dafür sorgen, dass ihn alle Mitteilungen erreichten, aber sie offenbarten nicht seine Adresse. Das zumindest entsprach dem Brauch. Man konnte sehr freigebig mit Registernummern sein, aber die genaue Anschrift teilte man nur seinen engsten Freunden mit.

Während er in die Stadt zurückging, dachte er über das nach, was ihm Khedron über Diaspar und seine gesellschaftliche Ordnung erzählt hatte. Seltsam, dass er vorher noch nie mit einem Menschen zusammengetroffen war, den diese Lebensweise unbefriedigt ließ. Diaspar und seine Einwohner waren Teil eines Masterplans. Die Bürger der Stadt langweilten sich während ihres ganzen Lebens nicht. Obwohl ihre Welt, am Maßstab früherer Zeitalter gemessen, winzig klein erscheinen mochte, war ihre Vielfältigkeit überwältigend, ihr Reichtum an Wundern und Schätzen jenseits aller Vorstellung. Hier hatte der Mensch alle Früchte seines Genies gesammelt. Alle Städte, die jemals existierten, so sagte man, hatten zu Diaspar etwas beigetragen; vor dem Auftreten der Invasoren war ihr Name in allen Welten, die der Mensch inzwischen verloren hatte, bekannt gewesen. In die Erschaffung Diaspars war die ganze Fertigkeit, die ganze Kunst des Imperiums eingeflossen. Als die großen Tage zu Ende gingen, hatten geniale Männer die Stadt umgeformt und ihr Maschinen gegeben, die sie unsterblich machten. Was auch immer vergessen sein mochte, Diaspar würde leben und die Nachfahren der Menschen sicher durch den Strom der Zeiten tragen.

Sie hatten nichts erreicht als zu überleben, und damit waren sie zufrieden. Es gab Millionen Dinge, mit denen sie sich beschäftigen konnten. In einer Welt, in der alle Männer und Frauen Intelligenz in einem Grad besaßen, den man früher nur einem Genie zuerkannt hätte, gab es die Gefahr der Langeweile nicht. Die Freuden des Gespräches und der Diskussion, die komplizierten Formeln des gesellschaftlichen Verkehrs – sie allein schon reichten aus, einen beträchtlichen Teil des Lebens auszufüllen. Darüber hinaus gab es die großen, formellen Debatten, denen die ganze Stadt gebannt lauschte, während ihre größten Geister miteinander rangen, oder jene Gipfel der Philosophie zu erklimmen versuchten, die niemals bezwungen werden, deren Herausforderung aber immer wieder lockt.

Niemand war ohne besonderes geistiges Interesse. Eriston zum Beispiel verbrachte viele Stunden im Zwiegespräch mit dem Zentral-Elektronengehirn, das die Stadt praktisch leitete, hatte aber doch Muße für nebenher laufende Diskussionen mit jedem, der seinen Verstand mit dem seinen messen wollte. Seit dreihundert Jahren bemühte sich Eriston, logische Paradoxe zu konstruieren, die auch die Maschine vor unlösbare Aufgaben stellen sollte. Er erwartete keinen Fortschritt seiner Bemühungen, ehe er nicht noch mehrere Lebensperioden zurückgelegt hatte.

Etanias Interesse war mehr ästhetischer Natur. Sie entwarf und konstruierte mit Hilfe von Materiebildnern dreidimensionale, ineinander verwobene Muster von herrlicher Vielfalt, die letztendlich wie enorm komplexe topologische Themen wirkten. Ihre Arbeiten waren in ganz Diaspar zu finden, und einige ihrer Muster waren in die Fußböden der großen Choreographiehallen eingelassen worden, wo sie als Grundlage für die Erschaffung neuer Ballette und Tanzfiguren dienten.

Leichtathletik und andere Sportarten, die zum größten Teil erst durch die Überwindung der Schwerkraft möglich geworden waren, bildeten das Vergnügen der Jugend in ihren ersten Jahrhunderten. Für Spannung und Übung der Fantasie sorgten die Abenteuer. In den Abenteuern war die Illusion vollkommen, weil die entsprechenden Sinneseindrücke unmittelbar dem Gehirn zugeführt und damit die im Widerspruch zu ihnen stehenden Gefühle abgelenkt wurden. Der gebannte Zuschauer war für die Dauer des Abenteuers von der ihn umgebenden Realität abgeschnitten; es schien ihm, als lebe er in einem Traum, in dem er glaubte, wach zu sein.

In einer Welt der Ordnung und Beständigkeit, die sich, im Ganzen gesehen, seit tausend Millionen Jahren nicht verändert hatte, konnte ein überragendes Interesse an Glücksspielen nicht wundernehmen. Die Menschheit war immer von dem Geheimnis der fallenden Würfel, dem Umdrehen einer Spielkarte, dem Drehen des Rades fasziniert gewesen. Auf seiner niedrigsten Stufe wurde dieses Interesse aus bloßer Habgier hervorgerufen – und ein solches Gefühl hatte in einer Welt keinen Platz mehr, in der jeder alles besaß, was er vernünftigerweise jemals brauchen konnte. Aber auch wenn diese Motivation wegfiel, konnte der rein geistige Reiz des Zufalls die scharfsinnigsten Menschen verführen. Maschinen, die ausschließlich dem Zufall gehorchten, Ereignisketten, die völlig unvorhersehbare Ergebnisse lieferten, ganz egal, wie viele Informationen zur Verfügung standen – all dies konnte Philosophen und Spieler gleichermaßen faszinieren.

Und dann gab es noch für alle gleichermaßen die miteinander verflochtenen Welten der Liebe und der Kunst. Warum miteinander verflochten? Weil Liebe ohne Kunst und Geschick nur der rohen Befriedigung der Lust dient, und Kunst nur mit Liebe und Verständnis richtig genossen werden kann.

Der Mensch hatte die Schönheit in vielerlei Form gesucht – in Tonreihen, in Linien auf Papier, in Steinoberflächen, in den Bewegungen des menschlichen Körpers, in im Raum verteilten Farben. All diese Darstellungsweisen existierten in Diaspar noch, und im Lauf der vielen Zeitalter waren andere hinzugekommen. Niemand wusste genau, ob alle Kunstrichtungen entdeckt worden waren oder ob sie außerhalb des menschlichen Geistes überhaupt von Bedeutung waren.

Und dasselbe galt für die Liebe.