Vorwort



Vorwort

von Gary Gibson

Als ich jung war, hat Arthur C. Clarke für ein ziemliches Durcheinander in meinem Kopf gesorgt.

Ich glaube, es war das Jahr 1978, als ich von einem Schulfreund hörte, dass unser Englischlehrer einer Klasse ein paar Jahrgänge über uns Teile eines Aufsatzes vorgelesen hatte, den ich als Hausaufgabe geschrieben hatte. Ich hatte keine Ahnung, ob er den Aufsatz – in dem es um die Bücher von Arthur C. Clarke ging – für brillant hielt oder ob er der Meinung war, dass es sich um das mieseste Machwerk handelte, das ihm jemals untergekommen war. Ich stellte mir jedenfalls einen Haufen Fünfzehn- und Sechzehnjähriger vor, die in ihrem Klassenzimmer saßen und über meinen peinlichen, abstrusen Text lachten. Ich stählte mich innerlich, rechnete mit dem Schlimmsten und dachte mir: Ich kann immer noch davonlaufen und zur See fahren. Oder in einem Zirkus arbeiten. Ich hätte alles getan, um mir die Schmach zu ersparen, die ich erleben würde, sobald sich die Geschichte in der Schule herumsprach.

Wie sich jedoch herausstellte, gefiel mein Aufsatz dem Lehrer – der lustigerweise Mr. English hieß – wirklich, wirklich gut; so gut, dass er mir dafür die Bestnote gab. Er stellte mir Fragen zu einigen der von mir benutzten Begriffe wie »geosynchrone Umlaufbahn« und »Dreikörper-Librationspunkt«, und ich erklärte ihm, dass Arthur C. Clarke als Erster den Vorschlag gemacht hatte, Telekommunikationssatelliten zu konstruieren, die an festen Punkten über der Erdoberfläche eine stabile Umlaufbahn hielten, und dass es sich bei Dreikörper-Librationspunkten um bestimmte Stellen in Bezug auf Erd- und Mondumlaufbahn handelte, an denen man große Orbitalkolonien errichten könnte, eine Idee, die Clarke 1961 in seinem Roman »Im Mondstaub versunken« verwendete.

Ich weiß noch, dass ich den Aufsatz damals mit demselben Überschwang geschrieben hatte, mit dem ein junger Hund zu Frühlingsbeginn Kaninchen hinterher jagt. Bis dahin hatten uns die Lehrer im Englischunterricht die Aufsatzthemen immer vorgegeben – die Freiheit, mir selbst einen Autor auszusuchen, über den ich schreiben wollte, war daher in etwa mit einem Streichholz zu vergleichen, das man auf ein Stück trockenes Zeitungspapier wirft.

Und ich erinnere mich, dass ich kurz zuvor sämtliche Arthur-C.-Clarke-Romane, die ich in der Schulbücherei finden konnte, gelesen hatte, einschließlich »Die Stadt und die Sterne«. Gut möglich, dass dies sogar der allererste Roman Clarkes war, den ich jemals gelesen habe. Jedenfalls war dieses Buch mit nichts vergleichbar, was ich bis dahin kennengelernt hatte. Es brachte einen dazu, das Universum auf eine Art und Weise zu betrachten, die sich in seinem Erscheinungsjahr 1956 deutlich vom Großteil der übrigen Science Fiction unterschied.

Damals wie heute handelte es sich bei Science Fiction in erster Linie um ein US-amerikanisches Genre, das seine Boom-Phasen jeweils während der Jahre vor und nach den Weltkriegen erlebte, in Pulp-Magazinen mit Namen wie Astounding Science Fiction und Amazing Stories. Die meisten der in diesen Magazinen erschienenen Geschichten hatten etwas typisch Amerikanisches, in ihnen gab es kaum Hindernisse, die sich nicht mit Schneid und Einfallsreichtum überwinden ließen: Mit einem Rechenschieber in der einen Hand und einem Laser-Blaster in der anderen machten sich die Männer in diesen Geschichten auf, um die Sterne zu erobern – so wie ihre Vorfahren einst die weiten, grasbewachsenen Ebenen des amerikanischen Kontinents erobert hatten.

Autoren fantastischer Geschichten aus anderen Ländern jedoch haben die Dinge oft in einem anderen Licht gesehen, insbesondere die aus England. Dort gab es Autoren wie John Wyndham und Arthur C. Clarke und vor ihnen H. G. Wells, die das Produkt einer pessimistischeren Literaturtradition waren, entstanden im verblühenden British Empire. Ihre Geschichten und Romane zeigten eher ein Universum, das der menschlichen Spezies nicht nur gleichgültig, sondern geradezu feindselig gegenüberstand und in dem keineswegs ausgemacht war, dass man gewinnen würde – oder auch nur gewinnen konnte.

Während Wells’ Marsianer das Viktorianische England gnadenlos einäschern und Wyndhams Krake die Erde überschwemmt, ehe es sie erobert, zeigt uns Clarke in dem Buch, das Sie gerade in Händen halten, ein gefallenes Großreich in den langen Dämmerjahren seiner kollektiven Vergreisung. Die sich immer wieder selbst reparierende Stadt Diaspar siecht Millionen Jahre in der Zukunft unter unserer Sonne dahin und treibt durch eine Trümmerwüste, die Straßen und Parks voller so uralter wie altersloser Bewohner, die den längst gestorbenen Träumen ihrer abenteuerlustigeren Vorfahren nachlaufen; das Einzige, was von ihrem weltenumspannenden Reich geblieben ist, sind die Erinnerungen in den Schaltkreisen der riesigen Computeranlagen ihrer Stadt. Auf den ersten Blick scheint es sich hier um die trostlose Vision eines sterbenden Volkes zu handeln, doch tatsächlich ist es der Beginn einer optimistischen Geschichte über die Fähigkeit des menschlichen Geistes, alle Arten von Hindernissen zu überwinden, um seinen brennenden Wissenshunger zu stillen.

Alvin, seit ewiger Zeit das erste neue Kind, das in Diaspar geboren wird, ist ein typischer Clarke-Protagonist, denn er wird von eben jener drängenden Neugier getrieben: Was mag wohl jenseits der Wüste liegen, die Diaspar umgibt? Das Echo dieses Wunsches, die Grenzen unseres Wissens buchstäblich zu erweitern, ist auch in Clarkes Roman »Rendezvous mit Rama« von 1973 zu hören, in dem die Besatzung der Endeavour ein lange verlassenes außerirdisches Raumschiff von gewaltigen Ausmaßen erforscht, und ebenso bei Dave Bowmans Begegnung mit dem mysteriösen Monolithen in »2001 – Odyssee im Weltraum«. In all diesen Büchern wird ein Mensch mit dem scheinbar Göttlichen konfrontiert, das sich letztlich als Produkt der Wissenschaft erweist – der Wissenschaft einer weit fortgeschrittenen Zivilisation. Eben dieses Thema der Begegnung mit einer Zivilisation, die über derart machtvolle Technologien gebietet, dass sie ihr einen quasi gottgleichen Status verleihen, findet sich auch in »Die letzte Generation«, dem Roman, den viele als Clarkes Meisterwerk betrachten. Seinen Ansatz hat der Autor 1962 in seinem Sachbuch »Profile der Zukunft« mit den berühmten Worten formuliert: »Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.« Anders ausgedrückt: Wenn wir uns irgendwann zu den Sternen aufmachen, treffen wir womöglich auf Wesen, die unser Vorstellungsvermögen in jeder Hinsicht übersteigen.

Kaum ein anderer Autor begriff so gut wie Clarke, dass jedwede andere Zivilisation, die unsere Spezies vielleicht eines Tages entdecken wird, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ihren Aufstieg und Fall schon längst hinter sich haben und ihr Vermächtnis nur aus verstaubten Ruinen und uns unverständlichen Artefakten bestehen wird. Was »Die Stadt und die Sterne« in dieser Beziehung von Clarkes anderen Werken allerdings unterscheidet, ist, dass die unverständlichen Technologien, von denen Alvin umgeben ist, die Schöpfungen seiner eigenen Vorfahren sein müssen und nicht die von fremden Intelligenzen.

Alvins Suche ist deutlich von Olaf Stapledon beeinflusst, einem weiteren englischen Autor, den Clarke sehr verehrte. In Romanen wie »Die letzten und die ersten Menschen« oder »Der Sternenschöpfer«, die in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg erschienen, entwarf Stapledon ganze »Future Histories«, umfangreiche Geschichten der Zukunft, nicht nur der Menschheit, sondern des gesamten Universums, und präsentierte dabei eine ziemlich schwindelerregende Aussicht, von der Clarke bei seiner Beschreibung der langen Geschichte Diaspars ausgiebig Gebrauch machte.

Andere, nicht-literarische Einflüsse auf Clarkes Schreiben sind ebenfalls erkennbar. Er war sein ganzes Leben lang erklärter Atheist und hat bekanntermaßen einmal gesagt, es sei »eine der großen Tragödien der Menschheit, dass die Moral von der Religion übernommen wurde«. Dieses Thema untersucht er hier ebenso sorgfältig wie seinen Glauben daran, dass jede außerirdische Zivilisation, die hinreichend fortschrittlich ist, um durch das Weltall zu reisen, definitionsgemäß wohlgesonnen sein muss, da eine feindselige Spezies mit fortschrittlicher Technologie sich aller Wahrscheinlichkeit nach selbst auslöschen würde, lange bevor sie Gelegenheit hätte, zu anderen Sternen aufzubrechen. Als Alvin also ein alptraumhaftes Geschöpf entdeckt, bemerkt sein Freund Hilvar: »Nichts ist gefährlich, was Verstand besitzt.« Die Menschheit hätte »längst ihren kindlichen Schrecken vor einem fremdartigen Aussehen verloren«.

Wenn ich auf die dreißig Jahre zurückblicke, die zwischen meinem Schulaufsatz und der Gegenwart liegen, wird mir klar, wie sehr Clarkes Philosophie mein eigenes Denken geprägt hat. In den von ihm erschaffenen Zukunftswelten gibt es kaum eine größere Tugend als das menschliche Streben nach Wissen, und fortschrittliche außerirdische Lebensformen sind nicht feindlich und auf unsere Unterwerfung oder Vernichtung aus, sondern wollen die Menschheit fördern, schützen und anleiten. Während seine Zeitgenossen damit beschäftigt waren, düstere Visionen einer von Atomwaffen verwüsteten Erde zu erschaffen, schien Clarke anzudeuten, dass die Zukunft nicht nur besser sein würde als die Gegenwart, sondern dass wir diese bessere Zukunft sogar aktiv gestalten können.

Aus Clarke’scher Perspektive ist die Menschheit eine Spezies, die gerade erst aus einer langen, dunklen Kindheit erwacht, noch immer von Aberglaube und Unwissen geplagt, aber bereit, nach einer strahlenden, ruhmreichen Zukunft zu greifen, in der es keine Grenzen zwischen Völkern oder Religionen geben wird. Auf seine Art war er also das, was in der Science Fiction einem echten Propheten am nächsten kommt: Er wies uns den Weg in eine Zukunft, die dann real und greifbar erscheint, wenn wir den Mut haben, sie als die unsere anzuerkennen.

Heute – während ich an meinem Computer sitze und mit einer gewaltigen, weltumspannenden Informationsbibliothek verbunden bin, die sich nicht so sehr von dem unterscheidet, was Clarke selbst einmal vorschwebte – ist leicht zu erkennen, dass wir in einer Welt leben, die er zu einem kleinen Teil mit erschaffen hat. Nicht nur schlug er, wie erwähnt, als Erster vor, Satelliten zur Übertragung von Telekommunikationssignalen zu verwenden, er wurde auch alt genug, um Entwicklungen in der Weltraumforschung mitzuerleben, die als abstruse Fantasien abgetan worden waren, als seine ersten Geschichten erschienen.

Als Arthur C. Clarke im Jahre 2008 starb, hinterließ er ein Werk, das nach wie vor eine große Inspiration für zukünftige Generationen ist. Er war ein Mann, der jede neue wissenschaftliche Entdeckung mit unstillbarem Hunger begrüßte – und der gerne im Meer tauchte, weil das dem Gefühl von Schwerelosigkeit am nächsten kam. Alvin, der Held dieses Romans, eingeschlossen in einer glänzenden Stadt der weit entfernten Zukunft, ist in jeder Hinsicht die Verkörperung von Clarkes Überzeugungen über den menschlichen Geist.

Gary Gibson ist einer der bekanntesten britischen Science-Fiction-Autoren der Gegenwart. Im Wilhelm Heyne Verlag sind seine Romane »Lichtkrieg«, »Lichtzeit« und »Lichtraum« erschienen.