Eins
Eins
Sie hatten viele Stunden gebraucht, um sich aus der Höhle der weißen Drachen freizukämpfen. Doch sie wussten immer noch nicht genau, ob sie den Ungeheuern entkommen waren – und die Leistungskraft ihrer Waffen war beinahe erschöpft. Sie folgten dem schwebenden Lichtpfeil, ihrem geheimnisvollen Führer im Labyrinth des Kristallberges, der ihnen den Weg wies. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich ihm anzuvertrauen, obwohl er sie in noch schrecklichere Gefahren locken konnte.
Alvin sah sich nach seinen Begleitern um. Dicht hinter ihm ging Alystra; sie trug die Kugel aus kaltem, unauslöschlichem Licht, die seit Beginn ihres Abenteuers so viele Schrecken und so viele Schönheiten enthüllt hatte. Der blasse, weiße Glanz überflutete den schmalen Gang und fiel von den glitzernden Wänden zurück. Solange die Kugel schimmerte, konnten sie ihren Weg erkennen und jede sichtbare Gefahr sofort entdecken. Aber die größten Gefahren in diesen Höhlen, das wusste Alvin nur allzu gut, waren keineswegs die sichtbaren.
Hinter Alystra schleppten sich Narillian und Floranus mit den schweren Projektoren ab. Alvin fragte sich, warum die Projektoren so schwer waren; es wäre so einfach gewesen, sie mit Schwerkraftneutralisatoren zu versehen. Er dachte immer an solche Dinge, selbst mitten in den aufregendsten Abenteuern. Wenn solche Gedanken in seinem Kopf auftauchten, schien es, als erzittere für einen Augenblick die Struktur der Wirklichkeit und er erhasche hinter der Welt der Sinne einen Blick auf ein anderes Universum …
Der Gang endete vor einer nackten Felswand. Hatte sie der Pfeil wieder betrogen? Nein – als sie näher kamen, zerbröckelte der Fels und wurde zu Staub. Durch die Mauer drang ein wirbelnder Metallspeer, der sich schnell zu einer riesigen Schraube verbreiterte. Alvin und seine Freunde zogen sich zurück und warteten, bis die Maschine den Felsen durchstoßen hatte. Mit ohrenbetäubendem Kreischen brach das Fahrzeug durch die Wand und kam neben ihnen zum Stehen. Eine massive Stahltür öffnete sich, und Callistron rief ihnen zu, sie sollten sich beeilen. Warum Callistron?, dachte Alvin. Was macht er hier? Einen Augenblick später waren sie in Sicherheit; die Maschine schwankte, als sie ihre Fahrt in die Tiefen der Erde antrat.
Das Abenteuer war vorüber. Wie immer, würden sie bald zu Hause sein, und das ganze Wunder, der Schrecken und die Aufregung würden hinter ihnen liegen. Sie waren müde und zufrieden.
Alvin erkannte an der Neigung des Bodens, dass das unterirdische Fahrzeug sich auf den Weg in die Erde hinein machte. Vermutlich wusste Callistron, was er tat, und dieser Weg führte tatsächlich nach Hause. Dennoch schien es bedauerlich …
»Callistron«, sagte er plötzlich, »warum fahren wir nicht nach oben? Niemand weiß, wie der Kristallberg wirklich aussieht. Wie herrlich wäre es, irgendwo an seinen Hängen hinauszukommen, den Himmel und das Land ringsumher zu sehen. Wir waren lange genug hier unten.«
Schon während er diese Worte aussprach, wusste er irgendwie, dass sie unrecht waren. Alystra schrie auf, das Innere des Untergrundfahrzeugs flimmerte wie ein Bild im Wasser, und jenseits der Metallwände, von denen sie umgeben waren, bemerkte Alvin wieder dieses andere Universum. Die zwei Welten schienen miteinander in Widerstreit zu liegen, wobei erst die eine, dann die andere das Übergewicht gewann. Dann war alles ganz plötzlich vorbei. Ein knackendes, reißendes Gefühl – und der Traum war zu Ende. Alvin befand sich wieder in Diaspar, in seinem eigenen, vertrauten Raum, einen halben Meter über dem Boden schwebend, da ihn das Schwerkraftfeld vor der Berührung mit der groben Materie schützte.
Er war wieder er selbst. Das war die Realität – und er wusste genau, was nun geschehen würde.
Alystra erschien als Erste. Sie war eher verwirrt als ärgerlich, denn sie liebte Alvin sehr.
»Ach, Alvin!«, jammerte sie, als sie von der Wand auf ihn heruntersah, in der sie sich ganz offensichtlich materialisiert hatte. »Das Abenteuer war so aufregend! Warum musstest du alles verderben?«
»Es tut mir leid! Das wollte ich natürlich nicht – ich dachte nur, es wäre eine gute Idee …«
Er wurde vom gleichzeitigen Erscheinen Callistrons und Floranus’ unterbrochen.
»Jetzt hör mal zu, Alvin«, begann Callistron. »Das ist nun das dritte Mal, dass du ein Abenteuer unterbrichst. Du hast gestern mitten in der Szene abgebrochen, als du aus dem Tal der Regenbogen hochzusteigen versuchtest. Und am Tag vorher brachtest du alles durcheinander, als du die Zeitspur bis zum Ursprung zurückverfolgen wolltest. Wenn du die Regeln nicht einhältst, musst du in Zukunft alleine gehen.«
Zornig verschwand er mit Floranus. Narillian erschien überhaupt nicht; wahrscheinlich hatte er die ganze Sache satt. Nur das Bild Alystras blieb übrig und schaute traurig auf Alvin herab.
Alvin kippte das Schwerkraftfeld, stand auf und ging zu dem Tisch, den er materialisiert hatte. Eine Schale mit exotischen Früchten erschien darauf – nicht die Speisen, die er eigentlich gewollt hatte; in der Verwirrung waren seine Gedanken abgeirrt. Er wollte sich seinen Fehler nicht eingestehen, nahm die am wenigsten gefährlich aussehende Frucht und begann vorsichtig, an ihr zu saugen.
»Nun«, sagte Alystra schließlich, »was willst du tun?«
»Ich kann’s nicht ändern«, erwiderte er mürrisch. »Ich halte die Regeln für Unsinn. Außerdem, wie soll ich mich an sie erinnern, wenn ich ein Abenteuer erlebe? Ich benehme mich ganz natürlich. Wolltest du denn den Berg nicht sehen?«
Alystras Augen weiteten sich entsetzt. »Das hätte doch bedeutet, nach draußen zu gehen!«, stieß sie hervor.
Alvin wusste, dass es zwecklos war, weiterzudiskutieren. Hier war der Graben, der ihn von allen Menschen seiner Welt trennte und ihn zu einem Leben voller Enttäuschungen verurteilen würde. Er wünschte sich immer, nach draußen zu gehen, in Wirklichkeit wie im Traum. Und dabei war »draußen« für jeden Menschen in Diaspar ein Alptraum, den keiner ertragen konnte. Wenn es sich vermeiden ließ, wurde nicht darüber gesprochen; es war etwas Unreines und Böses. Nicht einmal Jeserac, sein Hauslehrer, wollte ihm den Grund dafür verraten …
Alystra beobachtete ihn immer noch besorgt und zärtlich zugleich. »Du bist unglücklich, Alvin«, sagte sie. »In Diaspar sollte niemand unglücklich sein. Lass mich hinüberkommen und mit dir sprechen.«
Alvin schüttelte unhöflich den Kopf. Er wusste, wohin das führen würde. Im Augenblick wollte er allein sein. Alystra verschwand enttäuscht.
In einer Stadt von zehn Millionen Menschen, dachte Alvin, gab es nicht einen einzigen, mit dem er wirklich reden konnte. Eriston und Etania hatten ihn auf ihre Weise gern, aber jetzt, da ihre Vormundschaft zu Ende ging, waren sie froh, ihn eigenständig seinen Vergnügungen und der Gestaltung seines weiteren Lebens überlassen zu können. Als in den letzten Jahren seine Abweichung von der üblichen Art immer deutlicher zutage getreten war, hatte er oft den Groll seiner Eltern gefühlt. Nicht ihm persönlich gegenüber – damit hätte er wahrscheinlich leichter umgehen können –, sondern gegen den unglücklichen Zufall, der ausgerechnet sie aus den Millionen Menschen der Stadt ausersehen hatte, ihm zu begegnen, als er vor zwanzig Jahren aus der Halle der Schöpfung getreten war.
Zwanzig Jahre. Er konnte sich an den ersten Augenblick erinnern und an die allerersten Worte, die je an seine Ohren gedrungen waren: »Willkommen, Alvin. Ich bin Eriston, dein ausgewählter Vater. Das ist Etania, deine Mutter.« Die Worte hatten ihm damals nichts gesagt, aber sein Verstand zeichnete sie mit fehlerloser Genauigkeit auf. Er erinnerte sich daran, wie er an seinem Körper hinuntergesehen hatte; er war jetzt ein paar Zentimeter größer, hatte sich aber seit seiner Geburt kaum verändert. Er war fast völlig erwachsen auf die Welt gekommen und würde sich auch wenig verändert haben, wenn es in tausend Jahren Zeit war, sie wieder zu verlassen.
Vor jener ersten Erinnerung lag nichts. Eines Tages vielleicht würde dieses Nichts wiederkehren, aber schon die Vorstellung war zu entlegen, um seine Gefühle in irgendeiner Weise berühren zu können.
Er wandte seine Gedanken wieder dem Geheimnis seiner Geburt zu. Es schien ihm nicht seltsam, dass er in einem einzigen Augenblick von den Mächten und Kräften geschaffen worden war, die auch alle anderen Dinge seines Alltagslebens erzeugten. Nein, das war nicht das Geheimnis. Das Rätsel, das er nie zu lösen vermochte und für das auch niemand sonst eine Erklärung hatte, war seine Einzigartigkeit.
Einzigartig. Es war ein seltsames, trauriges Wort – genau so seltsam und traurig, wie es zu sein. Wenn es auf ihn angewendet wurde – er hatte es oft gehört, wenn ihn niemand in der Nähe vermutete –, schienen unheimliche Untertöne mitzuschwingen, die mehr als nur sein eigenes Glücklichsein bedrohten.
Seine Eltern, sein Lehrer – jeder, den er kannte – hatten versucht, ihn vor der Wahrheit zu beschützen, als wollten sie unbedingt die kindliche Unschuld seiner lang andauernden Jugend bewahren. Doch wenn diese Begründung stimmte, würde sie bald nicht mehr zählen; in wenigen Tagen würde er ein vollberechtigter Bürger Diaspars sein, und dann durfte ihm nichts mehr vorenthalten werden, was er zu wissen begehrte.
Warum, zum Beispiel, passte er nicht zu den Abenteuern? Von den vielen tausend Formen der Unterhaltung in dieser Stadt waren sie die populärste. Wer in ein Abenteuer eintrat, war nicht nur passiver Beobachter wie bei den rohen Vergnügen primitiver Zeiten, die Alvin gelegentlich ausprobiert hatte. Jeder war aktiv daran beteiligt und besaß – oder so schien es jedenfalls – einen freien Willen. Die Ereignisse und Szenen der Abenteuer waren zwar von inzwischen längst vergessenen Künstlern vorbereitet worden, aber sie hatten einen beachtlichen Spielraum. Man konnte sich mit seinen Freunden in diese Fantasiewelten begeben, jene Spannung suchen, die es in Diaspar nicht gab – und solange der Traum andauerte, war er nicht von der Wirklichkeit zu unterscheiden. In der Tat, wer hätte schon mit Sicherheit sagen können, dass Diaspar nicht selbst der Traum war?
Niemand konnte jemals alle Abenteuer bis zur Neige kosten, die seit dem Beginn der Stadt erdacht und aufgezeichnet worden waren. Sie wirkten auf alle Gefühle und waren von einer unendlich mannigfaltigen Raffiniertheit. Einige, vor allem bei den ganz Jungen sehr beliebt, waren unkomplizierte Entdecker- und Abenteuerromane. Andere stellten sich als Erforschungen psychologischer Zustände dar, während wieder andere Übungen der Logik oder Mathematik waren, die fortgeschritteneren Geistern Vergnügen bereiteten.
Aber obwohl die Abenteuer seine Freunde zu befriedigen schienen, ließen sie Alvin stets mit einem Gefühl der Schalheit zurück. Trotz all ihrer Farbigkeit und Spannung, ihrer ständig wechselnden Örtlichkeiten und Themen – es fehlte etwas.
Jetzt wusste er, was es war: Die Abenteuer verharrten immer auf der Stelle. Die Leinwand, auf die sie gemalt waren, war immer viel zu schmal. Es gab keine großen Ausblicke, keine der hügeligen Landschaften, nach denen sich seine Seele sehnte. Und vor allem, es gab auch nicht die geringste Andeutung der Unermesslichkeit, in der die Heldentaten der Menschen tatsächlich stattgefunden hatten – der leuchtenden Leere zwischen den Sternen und Planeten. Die Schöpfer der Abenteuer waren von derselben merkwürdigen Angst befallen gewesen, die alle Bürger Diaspars beherrschte. Selbst ihre Abenteuer mussten sich im tiefen Innern abspielen, in unterirdischen Höhlen oder in hübschen schmalen Tälern, umgeben von riesigen Bergen, die alles andere ihren Blicken entzogen.
Es gab nur eine einzige Erklärung: Vor längst vergangenen Zeiten, vielleicht sogar vor der Gründung Diaspars, war etwas geschehen, das nicht nur die Neugier und den Ehrgeiz des Menschen zunichtemachte, sondern ihn auch von den Sternen nach Hause trieb, wo er sich in der winzigen, geschlossenen Welt der letzten Stadt der Erde verbarg. Er hatte dem Universum entsagt und war in den künstlichen Mutterleib Diaspars zurückgekehrt. Der flammende, unbesiegbare Drang, der ihn einst über die Milchstraße hinaus zu den nebligen Inseln jenseits von ihr getrieben hatte, war völlig zum Erliegen gekommen. Seit unzähligen Jahrtausenden hatte kein Raumschiff mehr das Sonnensystem angesteuert; dort draußen, mitten unter den Sternen, mochten die Nachfahren des Menschen immer noch Imperien errichten und Sonnen zerstören – die Erde wusste es weder, noch wollte sie es wissen.
Die Erde nicht. Aber Alvin.