19

 

Es fällt mir ganz außerordentlich schwer, mich an die nun folgenden Ereignisse zu erinnern. Ich meine, an ihre Reihenfolge. Bis dahin steht mir alles noch klar vor Augen, aber danach war es, als sei ein Fallbeil niedergegangen und habe mein Leben in zwei Hälften zerschnitten. Alles, was ich nach Ellies Tod anfing, scheint mir heute improvisiert – ein einziger Wirbel aufgeregter Leute und sich überstürzender Ereignisse, über die ich keinerlei Kontrolle mehr hatte. Was sich da abwickelte, hatte keinen direkten Bezug auf mich, es spielte sich nur um mich herum ab. So kam es mir jedenfalls vor.

Alle waren sie sehr freundlich zu mir – daran kann ich mich offenbar am deutlichsten erinnern. Ich stolperte wie vor den Kopf geschlagen herum, wusste nichts mit mir anzufangen. Greta aber, das weiß ich noch, war jetzt in ihrem Element. Sie hatte das erstaunliche Talent mancher Frauen, kritische Situationen zu überschauen und in die Hand zu nehmen. All diese nebensächlichen Details zu erledigen, die erledigt werden müssen. Ich wäre dazu nicht imstande gewesen.

Mir kommt es so vor, als könnte ich mich – nachdem sie Ellie fortgeschafft und ich ins Haus zurückgekehrt war – erst wieder an das Gespräch mit Dr. Shaw erinnern. Ich weiß nicht, wie viel Zeit dazwischenliegt. Jedenfalls kam Dr. Shaw vorbei und unterhielt sich mit mir, ruhig, freundlich und vernünftig. Er erklärte mir alles behutsam und offen.

Formalitäten. Ich erinnere mich, dass er von »Formalitäten« sprach. Wie verhasst mir dieses Wort ist! Gerade deshalb war ich Dr. Shaw so dankbar, denn er ging die Sache menschlich und nüchtern an, erklärte mir rücksichtsvoll, warum gewisse Formalitäten wie der Inquest unvermeidlich waren. Dabei sprach er recht langsam, erinnere ich mich, um sich zu vergewissern, dass ich auch alles begriff.

Ich hatte keine Ahnung, wie ein Inquest vor sich ging, ich war noch nie bei einem gewesen. Es schien mir alles seltsam unwirklich und naiv. Der Coroner war ein pingeliger kleiner Mann mit Kneifer. Ich musste die Identifikation vornehmen, musste schildern, wie ich Ellie beim Frühstück das letzte Mal gesehen hatte, musste ihren Aufbruch zu dem gewohnten Morgenritt beschreiben und unsere Verabredung für später zum Lunch. Ich sagte aus, dass sie mir ganz wie immer erschienen war und bei ausgezeichneter Gesundheit.

Dr. Shaws Aussage war ruhig und sachlich: keine ernstlichen Verletzungen, nur ein Schlüsselbeinbruch und Prelllungen als Resultat des Sturzes – alle nicht kritisch und erst bei Eintritt des Todes entstanden. Nach dem Sturz schien sie sich nicht mehr bewegt zu haben. Seiner Ansicht nach war der Tod auf der Stelle eingetreten. Keine erkennbaren organischen Schäden, die als Todesursache infrage gekommen wären. Seine einzige Erklärung lautete, dass sie einem durch Schock ausgelösten Herzversagen erlegen war. So weit ich das medizinische Kauderwelsch verstand, war Ellie einfach an Atemnot gestorben, an irgendeiner Asphyxie. Alle ihre Organe waren intakt, der Mageninhalt normal.

Greta, die ebenfalls aussagte, unterstrich noch stärker als seinerzeit gegenüber Dr. Shaw, dass Ellie vor drei bis vier Jahren an irgendeiner Herzkrankheit gelitten hatte. Zwar hatte sie nie etwas Definitives gehört, aber Ellies Verwandte hatten gelegentlich ihr schwaches Herz erwähnt und ihr Schonungsbedürfnis. Darüber hinaus war ihr nichts Genaueres bekannt.

Dann kamen die Leute daran, die zur Zeit des Unglücks in der Nähe gewesen waren. Der alte Torfstecher war der erste. Er hatte Ellie in etwa fünfzig Meter Entfernung vorbeireiten sehen. Er kannte sie vom Sehen, hatte aber noch nie mit ihr gesprochen: Sie war eben die Dame vom neuen Haus da oben.

»Sie erkannten sie also wieder?«

»Nein, nicht direkt, Sir, aber ich kannte das Pferd. Es hat eine weiße Fessel. Hat früher Mr Carey drüben in Shettlegroom gehört. Es hat immer als ruhig und zahm gegolten, ein richtiges Damenpferd.«

»War das Pferd irgendwie widerspenstig, solange Sie zusahen? Schwer zu bändigen oder störrisch?«

»Nein, es war ganz friedlich. Ein wunderschöner Morgen war’s.«

Es waren kaum Leute in der Nähe gewesen, sagte er aus. Jedenfalls hatte er nicht viele bemerkt. Der betreffende Pfad übers Moor wurde nicht oft benutzt, höchstens als Abkürzung zu einer der Farmen. Ein zweiter Pfad kreuzte ihn etwa anderthalb Kilometer weiter. Er hatte ein oder zwei Leute vorbeikommen sehen, einen Mann auf einem Fahrrad, einen anderen zu Fuß. Sie waren jedoch zu weit entfernt gewesen, als dass er sie hätte erkennen können, und überdies hatte er nicht sonderlich auf sie geachtet. Bevor die Dame vorbeigeritten war, sagte er, hatte er die alte Mrs Lee gesehen, oder jedenfalls glaubte er, dass sie’s gewesen war. Sie war den Pfad herauf auf ihn zugekommen, dann abgebogen und im Wald verschwunden.

Der Coroner erkundigte sich, weshalb Mrs Lee nicht vor Gericht zugegen sei. Seines Wissens war sie geladen worden. Man informierte ihn jedoch, dass Mrs Lee vor einigen Tagen aus dem Dorf verschwunden war – niemand wusste genau, wann. Sie hatte keine neue Adresse hinterlassen. Das war auch nicht ihre Gewohnheit, sie ging und kam öfter, ohne irgend jemandem Bescheid zu sagen. Ein oder zwei Leute meinten sogar, sie hätte das Dorf schon vor dem Unglück verlassen. Der Coroner wandte sich wieder an den Alten.

»Dennoch glauben Sie, Mrs Lee gesehen zu haben?«

»Beschwören kann ich’s nicht. Es war ne große Frau mit energischem Schritt, und sie hatte einen roten Mantel um, so wie Mrs Lee manchmal einen trägt. Aber ich hab nicht richtig hingesehen, ich hatte zu viel zu tun; ’s kann sie gewesen sein, aber genauso gut jemand anders. Wer soll das wissen?«

Sonst wiederholte er im Wesentlichen, was er schon uns berichtet hatte. Er hatte die Frau in der Nähe vorbeireiten sehen, wie schon öfter. Er hatte nicht sonderlich auf sie geachtet. Erst später, als das Pferd reiterlos vorbeigaloppierte. Sah aus, als hätte es sich über irgendetwas erschreckt, meinte er. Welche Zeit das gewesen war, konnte er nicht sagen. Vielleicht elf, vielleicht früher. Später hatte er das Pferd in größerer Entfernung noch einmal bemerkt. Es schien in den Wald zurückzulaufen.

Dann rief mich der Coroner abermals vor und stellte mir einige Fragen über Mrs Lee. Oder Mrs Esther Lee, wohnhaft in Vine Cottage. »Sie und auch Ihre Frau kannten Mrs Lee vom Sehen?«

»Ja«, antwortete ich, »sogar recht gut.«

»Haben Sie auch mit ihr gesprochen?«

»Ja, mehrfach. Oder vielmehr«, korrigierte ich, »sie sprach mit uns.«

»Hat sie Ihre Frau oder Sie jemals bedroht?«

Ich zögerte. »Schon, in gewissem Sinne«, sagte ich dann. »Aber ich hätte nie gedacht…«

»Was hätten Sie nie gedacht?«

»Ich hätte nie gedacht, dass sie’s so ernst meinte.«

»Hörte es sich so an, als hegte sie einen besonderen Groll gegen Ihre Frau?«

»Meine Frau erwähnte einmal etwas in dieser Art. Es käme ihr vor, sagte sie, als hätte Mrs Lee etwas gegen sie, aber sie konnte sich nicht denken, was das war.«

»Haben Sie oder Ihre Frau sie jemals vor die Tür gewiesen, von Ihrem Grundstück vertrieben, sie bedroht oder sonst wie grob behandelt?«

»Die Aggression ging immer von ihrer Seite aus«, antwortete ich.

»Hatten Sie je den Eindruck, dass sie nicht ganz zurechnungsfähig war?«

Ich dachte nach. »Ja«, sagte ich schließlich, »den Eindruck hatte ich. Sie schien der festen Überzeugung zu sein, dass der Grund, auf dem wir unser Haus erbaut hatten, eigentlich ihr gehöre, ihrem Stamm oder wie sie es nennen mögen. Sie war davon irgendwie besessen.« Langsam fügte ich hinzu: »Und ich glaube, diese Besessenheit wurde mit der Zeit immer schlimmer.«

»Aha. Hat sie Ihre Frau jemals körperlich bedroht?«

»Nein«, sagte ich zögernd, »das zu behaupten, wäre wohl nicht fair. Es war alles so… na ja, so Zigeuneraberglaube. ›Wenn ihr hier bleibt, wird euch Böses widerfahren‹, oder: ›Ihr seid verflucht, solange ihr nicht fortgeht.‹«

»Fiel auch das Wort ›Tod‹?«

»Ich glaube schon. Aber wir haben sie nicht für voll genommen. Ich jedenfalls nicht.«

»Ihre Frau aber doch?«

»Ich fürchte, manchmal ja. Die Alte konnte einen schon ziemlich erschrecken. Aber wahrscheinlich durfte man sie für ihre Reden und ihr Gehabe nicht voll verantwortlich machen.«

Die Verhandlung schloss damit, dass der Coroner die Sitzung für zwei Wochen vertagte. Alles schien auf Tod durch Unfall hinzudeuten, aber es gab keine ausreichenden Beweise für die Unfallursache. Also vertagte er, bis er die Aussage von Mrs Lee einholen konnte.