9

 

Damit also war alles klar: Ellie und ich heirateten.

So formuliert, klingt es sehr abrupt, aber genauso war es ja auch: Wir hatten uns entschlossen und führten unseren Entschluss aus.

Im Grunde war alles unwahrscheinlich einfach. In ihrem Freiheitsdrang hatte Ellie ihre Spuren bisher sehr geschickt verwischt. Die hilfreiche Greta hatte all die notwendigen Schritte unternommen und wachte ständig über sie. Ziemlich bald war mir klar, dass es eigentlich niemanden gab, dessen Hauptaugenmerk die Sorge um Ellies Wohlergehen oder um ihr Tun und Lassen war. Ihre Stiefmutter war vollauf mit ihren eigenen gesellschaftlichen Verpflichtungen und Affären beschäftigt, und wenn Ellie es vorzog, sie in irgendeinen Winkel der Welt lieber nicht zu begleiten, so blieb ihr das unbenommen.

Natürlich hatte man ihr all die standesgemäßen Erzieherinnen, Zofen und Ausbildungsmöglichkeiten gewährt, und wenn ihr der Sinn nach Europa stand – warum nicht? Wenn sie ihren einundzwanzigsten Geburtstag in London feiern wollte – was sprach dagegen? Jetzt, da sie die Verfügungsgewalt über ihr ungeheures Vermögen besaß, hatte sie die gesamte Familie an der Kandare. Wenn sie sich eine Villa an der Riviera, ein Schloss an der Costa Brava, eine Jacht oder sonst etwas wünschte, brauchte sie diese Tatsache nur zu erwähnen, und sofort hätte einer aus dem Gefolge, das Millionäre immer umgibt, alles Nötige veranlasst.

Greta galt der Familie offenbar als hochwillkommener Handlanger: tüchtig, ein Organisationsgenie, zweifellos unterwürfig und liebenswürdig gegenüber der Stiefmutter, dem Onkel und den verschiedenen Vettern, die sich im Dunstkreis der Familie herumzutreiben schienen. Nach dem zu schließen, was Ellie gelegentlich erwähnte, hörten nicht weniger als drei Anwälte ständig auf ihr Kommando, war sie der Mittelpunkt eines riesigen finanziellen Geflechts von Bankiers, Rechtsberatern und Treuhandverwaltern – eine Welt, in die ich nur hin und wieder einen Blick werfen konnte, meist aufgrund achtloser Zufallsbemerkungen Ellies, der es natürlich nie in den Sinn kam dass mir all dies böhmische Dörfer waren. Sie allerdings war in diesem Milieu erzogen worden und folgerte nur zu selbstverständlich, dass jeder andere im Bilde sein musste.

In der Tat genossen wir es während unserer Flitterwochen mit am meisten, solche gelegentlichen Blicke auf die besonderen Eigenheiten des Lebens werfen zu können, das der andere führte. Um es einmal ganz grob zu sagen – und ich vergröberte damals vieles, denn es war die einzige Methode, wie ich mein neues Leben bewältigen konnte –, um es also grob zu sagen: Die Armen haben keine Ahnung vom Leben der Reichen und umgekehrt, und dieser Unwissenheit abzuhelfen, birgt für beide Seiten viele Reize.

Eines Tages fragte ich etwas unbehaglich: »Schau mal, Ellie, werden sie nicht ein fürchterliches Gezeter veranstalten, wegen unserer Heirat, meine ich?«

Ellie erwog das ohne besonderes Interesse. »Oh«, sagte sie dann, »sicher, sie werden sich wahrscheinlich schrecklich anstellen.« Und sie fügte hinzu: »Hoffentlich macht es dir nicht allzuviel aus.«

»Mir? Warum denn auch? Aber du – werden sie dich deshalb schikanieren?«

»Wahrscheinlich«, meinte Ellie, »aber man muss ihnen ja nicht zuhören. Hauptsache, sie können nichts mehr dagegen tun.«

»Aber versuchen werden sie wohl alles?«

»Oh, bestimmt. Versuchen werden sie’s.« Und nach einer Pause fügte sie nachdenklich hinzu: »Vermutlich werden sie dich abfinden wollen.«

»Mich abfinden?«

»Sei nicht so schockiert.« Ellie lachte wie ein glückliches kleines Mädchen. »Man nennt es nicht gerade so, aber sie haben auch Minnie Thompsons ersten Mann mit Geld abgefunden, wusstest du das?«

»Minnie Thompson? Ist das die bekannte Ölerbin?«

»Ja, genau die. Sie brannte damals durch und heiratete einen Rettungsschwimmer vom Strand weg.«

»Hör zu, Ellie«, sagte ich nervös, »ich war auch mal Rettungsschwimmer, in Littlehampton.«

»Ach, wirklich? Wie lustig! In Dauerstellung?«

»Nein, natürlich nicht. Einen Sommer, nicht länger.«

»Mach dir nur keine Sorgen«, bat Ellie.

»Wie war das genau mit Minnie Thompson?«

»Ich glaube, sie mussten bis auf zweihunderttausend Dollar hinaufgehen. Darunter hätte er’s nicht getan. Minnie war nämlich mannstoll und im Grunde ein Fall für die Nervenklinik.«

»Du bist einfach umwerfend, Ellie. Ich hab mir in dir also nicht allein ein Eheweib zugelegt, sondern außerdem ein Anhängsel, das ich jederzeit für gutes Geld weiter verkaufen kann.«

»Sehr richtig«, lachte Ellie. »Du brauchst nur nach einem tüchtigen Anwalt zu schicken und ihm bedeuten, du seist gewillt, Tacheles zu reden. Dann arrangiert er alles mit der Scheidung und der Abfindungssumme«, setzte Ellie meine Lektion fort. »Meine Stiefmutter beispielsweise war viermal verheiratet und hat allerhand dabei herausgeschlagen.« Sie stutzte. »Oh, Mike, schau doch nicht so entsetzt drein!«

Seltsamerweise war ich tatsächlich entsetzt. Ellie hatte so etwas Kleinmädchenhaftes, Einfaches an sich gehabt, fast etwas Rührendes, dass es mich erstaunte, sie so weltgewandt und abgebrüht zu erleben. Und doch war mein erstes Urteil im Kern richtig. Ich kannte Ellies Art ziemlich gut, ihre Geradlinigkeit, ihre Gefühlsbedingtheit und den natürlichen Liebreiz. Aber dies bedeutete nicht, dass sie zugleich weltfremd sein musste. Was sie kannte und für selbstverständlich hielt, war eine bestimmte, nicht allzu verbreitete Sorte Menschen. Andererseits wusste sie wenig über meine Welt, die Welt der Stellungslosen, der Rauschgift- und Wett-Banden, der bösen Fallstricke, der mit allen Wassern gewaschenen Erfolgstypen, die ich so gut kannte, weil ich mich mein ganzes Leben lang gegen sie hatte behaupten müssen. Sie wusste nicht, was es hieß, in allen Ehren, aber immer knapp bei Kasse aufzuwachsen, mit einer Mutter, die sich im Namen dieser Ehrbarkeit die Finger wund arbeitete und eisern entschlossen war, dass ihr Sohn ein anständiges Leben führen sollte. Die jeden Penny zusammenkratzte und sparte und dann verbittert mit ansah, wie der lebenslustige sorglose Herr Sohn auf all seine Chancen pfiff oder sein gesamtes Geld auf einen guten Tipp im 3.30-Uhr-Rennen setzte.

Ellie hörte mich genauso gern aus meinem Leben erzählen wie ich sie aus dem ihren. Jeder von uns erforschte da ein unbekanntes Land.

Jetzt in der Rückschau weiß ich, wie herrlich glücklich jene ersten Tage mit Ellie waren. Damals allerdings hielt ich dieses Leben für selbstverständlich, und sie tat es ebenfalls. Wir heirateten auf einem Standesamt in Plymouth. Guteman ist kein seltener Name, und niemand, weder Reporter noch sonstwer, wusste, dass sich die Guteman-Erbin in England aufhielt. Gelegentlich waren in den Zeitungen Meldungen aufgetaucht, wonach sie sich in Italien oder auf irgendeiner Jacht befand.

So schlossen wir die Ehe nur in Gegenwart des Standesbeamten und einer Sekretärin in mittleren Jahren als Zeugin. Der Beamte hielt uns eine ernsthafte kleine Predigt über verantwortungsbewusste Eheführung und wünschte uns zuletzt viel Glück. Dann traten wir hinaus auf die Straße, unbehelligt und frisch getraut, als Mr und Mrs Michael Rogers! Eine Woche blieben wir noch in einem Strandhotel, dann fuhren wir ins Ausland. Drei wundervolle Wochen reisten wir kreuz und quer durch die Welt, wohin es uns gerade zog und ohne dass wir uns auch nur das Geringste abgehen ließen.

Von Griechenland ging es nach Florenz und von da nach Venedig, wo wir uns auf dem Lido aalten, dann weiter an die französische Riviera und in die Dolomiten: Orte, von denen ich heute nicht einmal mehr die Namen weiß. Wir flogen, charterten eine Jacht oder mieteten uns große schicke Wagen. Und die ganze Zeit, während wir das Leben genossen, hielt Greta die Heimatfront, wie ich von Ellie erfuhr. Das hieß, sie absolvierte ihre besondere Reiseroute, schrieb Briefe und sandte all die diversen Postkarten ab, die Ellie ihr vorbereitet hinterlassen hatte.

»Natürlich müssen wir irgendwann die Karten auf den Tisch legen«, sagte Ellie. »Dann bricht das ganze Ungewitter über uns herein. Aber bis dahin können wir uns genauso gut tüchtig amüsieren.«

»Und was wird mit Greta?«, fragte ich. »Muss sich nicht ein großer Teil des Zorns auf sie entladen?«

»Ganz gewiss. Aber Greta wird sich nichts daraus machen. Sie verträgt einiges.«

»Könnte es ihr nicht schaden, wenn sie einen neuen Job sucht?«

»Aber warum soll sie sich denn einen neuen Job suchen? Sie wird doch bei uns wohnen.«

»Kommt nicht infrage.«

»Wie meinst du – was kommt nicht infrage, Mike?«

»Wir wollen keine fremden Menschen im Haus haben«, sagte ich.

»Aber Greta fällt niemandem zur Last«, versicherte Ellie. »Und sie würde sich sehr nützlich machen. Wirklich, ich wüsste gar nicht, wie ich ohne sie zurechtkommen sollte. Sie organisiert und arrangiert doch alles.«

Ich runzelte die Stirn. »Aber mir gefällt das nicht so recht. Außerdem wollen wir doch unser Haus – unser Traumhaus, Ellie – ganz allein für uns.«

»Sicher, ich weiß, was du meinst. Aber trotzdem…« Sie zögerte. »Es hieße doch, ziemlich hart mit Greta umspringen, wenn wir sie so auf die Straße setzen wollten. Schließlich war sie jetzt vier Jahre bei mir, hat alles für mich getan. Denk doch nur daran, wie sie uns bei der Hochzeit geholfen hat.«

»Aber ich will nicht, dass sie überall die Finger drin hat, nicht in dem, was uns beide angeht.«

»So was liegt ihr fern, Mike, völlig fern. Du hast sie ja noch gar nicht kennengelernt.«

»Nein, ich weiß, aber… aber das hat mit Sympathie oder Antipathie gar nichts zu tun. Wir wollen doch allein sein, Ellie.«

»Lieber, lieber Mike«, sagte Ellie weich.

Und dabei beließen wir es zunächst.

Im Lauf unseres Herumreisens hatten wir uns auch mit Santonix getroffen, und zwar in Griechenland. Er wohnte dort in einer Fischerhütte an der See. Sein Zustand erschreckte mich, er sah viel schlechter aus als vor einem Jahr, bei unserer letzten Begegnung. Aber er begrüßte Ellie und mich sehr herzlich.

»Also habt ihr’s doch geschafft, ihr beiden.«

»Ja«, strahlte Ellie, »und jetzt wird unser Haus gebaut, nicht wahr?«

»Ich habe die Zeichnungen und Entwürfe fertig«, sagte er, zu mir gewandt. »Hat sie Ihnen erzählt, wie sie mich aufgestöbert und mich bombardiert hat mit ihren… Anordnungen?« Er wählte das letzte Wort mit Bedacht.

»Oh, doch nicht mit Anordnungen«, protestierte Ellie. »Ich hab ihn einfach angefleht.«

»Wissen Sie, dass wir das Grundstück schon gekauft haben?«, fragte ich.

»Ellie hat es mir telegrafiert. Und außerdem einen Stoß Fotografien gesandt.«

»Aber natürlich müssen Sie sich die Lage erst einmal ansehen«, meinte Ellie. »Vielleicht gefällt sie Ihnen nicht.«

»Doch, sie gefällt mir.«

»Aber da können Sie doch nicht sicher sein, ehe Sie’s nicht gesehen haben.«

»Mein Kind, ich habe mir den Platz bereits angesehen. Ich bin vor fünf Tagen hingeflogen und habe mich außerdem mit einem Ihrer adlergesichtigen Anwälte getroffen, dem englischen.«

»Ach, mit Mr Crawford?«

»Richtig, so hieß er. Um ehrlich zu sein, die Arbeiten haben bereits begonnen: Der Boden wird eingeebnet, die alte Ruine abgerissen, das Fundament wird ausgehoben. Dränagen gelegt… Wenn Sie nach England zurückkehren, werde ich Sie auf der Baustelle erwarten.«

Dann holte er die Pläne, und wir saßen lange, besprachen und betrachteten unser zukünftiges Haus. Außer den technischen Zeichnungen hatte Santonix sogar ein Aquarell angefertigt.

»Gefällt es Ihnen, Mike?«

Ich holte tief Atem. »Ja, das ist es, voll und ganz.«

»Sie haben mir ja auch genug davon vorgeschwärmt, Mike. Wenn ich in Phantasierlaune war, kam mir immer der Gedanke, dass dieser Fleck Sie geradezu verhext hatte. Sie waren verliebt in ein Haus, das Sie wahrscheinlich niemals besitzen und niemals sehen würden, ja, das wahrscheinlich nie gebaut werden würde.«

»Aber nun wird es doch gebaut«, sagte Ellie. »Es wird gebaut, oder?«

»Mit Gottes oder des Teufels Hilfe«, bestätigte Santonix. »Von mir jedenfalls hängt es nicht ab.«

»Es geht Ihnen… nicht besser?«, fragte ich besorgt.

»Für mich gibt es keine Besserung, ist das denn nicht in Ihren Dickschädel hineinzukriegen? Es soll eben nicht sein.«

»Unsinn«, sagte ich, »man entwickelt ständig neue Therapien für alle möglichen Krankheiten. Nur diese brutalen Schwarzseher, die Ärzte, geben die Leute immer gleich auf, aber dann drehen ihnen gerade diese Patienten lachend eine lange Nase und leben noch fünfzig Jahre gesund und in Freuden.«

»Ihr Optimismus ist bewundernswert, Mike, aber mein Leiden gehört nicht zu dieser Kategorie. Sie bringen einen ins Krankenhaus, machen einen Blutaustausch und entlassen einen mit einer kurzen Galgenfrist; und immer weiter so, bloß, dass man jedes Mal ein wenig schwächer wird.«

»Wie tapfer Sie sind«, sagte Ellie.

»O nein, nicht tapfer. Bei etwas so Unabänderlichem bleibt kein Spielraum für Tapferkeit. Das Einzige, was man tun kann, ist, sich ein bisschen Trost zu suchen.«

»Indem man Häuser baut?«

»Nein, das nicht. Man verliert von Mal zu Mal mehr Vitalität, müssen Sie wissen, und deshalb fällt einem die Arbeit immer schwerer, nicht leichter. Die Kraft lässt nach. Nein, aber es gibt Trost, wenn auch mitunter recht seltsamen.«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte ich.

»Nein, das hab ich auch nicht erwartet, Mike. Ich weiß auch nicht, ob Ellie es versteht. Möglicherweise doch. Ich habe jetzt carte blanche aufs Leben und kann alles tun, was mir gefällt.«

Als wir nach dem Besuch bei Santonix nach Athen zurückfuhren, sagte Ellie: »Ein seltsamer Mensch, dieser Santonix. Manchmal fürchte ich mich direkt vor ihm.«

»Vor Rudolf Santonix? Warum denn das?«

»Weil er so ganz anders ist und so etwas… na ja… so eine Skrupellosigkeit und Arroganz an sich hat. Wahrscheinlich wollte er uns nur andeuten, dass das Bewusstsein des nahen Todes diese seine Arroganz noch verstärkt hat. Angenommen«, Ellie sah mich ganz aufgeregt an, fast hingerissen, »angenommen, er baut uns diese wunderbare Burg da auf den Klippen im Wald, und angenommen, wir ziehen ein, er erwartet uns auf der Schwelle…«

»Und was, Ellie?«

»Und er kommt uns nach, schließt langsam die Tür hinter uns und opfert uns da auf der Schwelle. Schneidet uns die Kehle durch oder so.«

»Also, Ellie, du machst mir Angst. An was du manchmal denkst!«

»Der Haken bei uns beiden, Mike, ist, dass wir gar nicht in der Wirklichkeit leben. Wir träumen uns phantastisches Zeug zusammen, das nie eintritt.«

»Aber denk nicht an Blutopfer in Zusammenhang mit Gipsy’s Acre.«

»Ach, daran ist nur der Name schuld, oder auch der Fluch.«

»Es gibt keinen Fluch!«, schrie ich. »Das ist alles Quatsch. Wir wollen nie mehr davon reden.«

Das war in Griechenland.