Martha war offensichtlich sehr erschrocken. Sie konnte es nicht in Abrede stellen, und doch hätte sie es gern getan. Warum? War es, weil sie wußte, daß die Wahrheit anders aussah? Die vier Personen im Haus – war einer von ihnen schuldig? Wollte Martha diesen Schuldigen schützen? Hatte die Treppe doch geknarrt? Hatte sich jemand verstohlen heruntergeschlichen und Martha wußte, wer es war? Sie selbst war ehrlich, davon war Sir Edward überzeugt.

Er ließ nicht locker und beobachtete sie dabei. «Miss Crabtree könnte dies doch getan haben. Das Fenster des Zimmers geht auf die Straße hinaus. Sie könnte gesehen haben, daß derjenige, auf den sie wartete, ankam, ging hinaus in die Halle und öffnete ihm – oder ihr - die Tür. Vielleicht wollte sie sogar, daß niemand diese Person sah.»

Martha war verwirrt. Schließlich sagte sie widerstrebend: «Ja, Sie mögen recht haben, Sir. Daran habe ich nicht gedacht. Daß sie einen Herrn erwartete – ja, das könnte sein.» Es schien, als ob sie in dieser Idee Vorteile zu entdecken begann.

«Sie waren die letzte Person, die Miss Crabtree sah, stimmt das?»

«Ja, Sir. Nachdem ich das Teegeschirr abgeräumt hatte. Ich brachte ihr die quittierten Einkaufsbücher und den Rest von dem Geld, das sie mir gegeben hatte.»

«Hatte sie Ihnen das Geld in Fünfpfundnoten gegeben?»

«Eine Fünfpfundnote, Sir», sagte Martha mit erschrockener Stimme. «Die Lebensmittelrechnungen waren nie höher. Ich bin sehr vorsichtig.»

«Wo bewahrte Miss Crabtree ihr Geld auf?»

«Das weiß ich nicht genau, Sir. Ich würde sagen, daß sie es mit sich herumtrug – in ihrer schwarzen Samttasche. Natürlich kann sie es aber auch in einer der verschlossenen Schubladen in ihrem Schlafzimmer aufbewahrt haben. Sie hat sehr gerne Dinge weggeschlossen, obwohl sie oft die Schlüssel verlor.»

Sir Edward nickte. «Sie wissen nicht, wieviel Geld sie hatte – in Fünfpfundnoten, meine ich?»

«Nein, Sir, ich könnte nicht sagen, wie hoch der Betrag war.»

«Und sie sagte nichts zu Ihnen, woraus Sie entnahmen konnten, daß sie jemanden erwartete?»

«Nein, Sir.»

«Sind Sie ganz sicher? Was hat sie denn genau gesagt?»

Martha überlegte. «Ja... sie sagte, daß ich ein Viertelpfund Tee zuviel verbraucht hätte; und dann, daß Mrs. Crabtree schrecklich albern wäre, weil sie keine Margarine essen wolle; und einer der Sixpences, die ich zurückgebracht hatte, gefiel ihr nicht – einer von der neuen Sorte mit den Eichenblättern drauf – sie meinte, er wäre falsch, und ich hatte große Mühe, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Und sie sagte... ja, daß der Fischhändler Schellfisch anstatt Weißfisch geliefert hätte, und ob ich ihm das gesagt hätte, und ich sagte ja; und... ich glaube, das war alles, Sir.»

Marthas Erzählung hatte Sir Edward das Wesen der Verstorbenen besser erläutert, als es jede andere detaillierte Beschreibung vermocht hätte. Beiläufig sagte er: «Eine ziemlich schwierige Herrin, stimmt's?»

«Ein bißchen umständlich, aber, meine Güte, sie ging nicht oft aus, und so eingesperrt, wie sie war, brauchte sie irgend etwas, um sich aufzumuntern. Sie war peinlich genau, aber gutmütig kein Bettler ging von ihrer Tür ohne irgend etwas. Schwer zufriedenzustellen mag sie ja gewesen sein, aber eine wirklich wohltätige Dame war sie.»

«Ich bin froh, Martha, daß sie wenigstens einen Menschen hinterläßt, der ihr nachtrauert.»

Die alte Köchin hielt den Atem an. «Sie meinen... aber, sie haben sie doch alle gern gehabt, wirklich, wenn sie es auch nicht so zeigten. Hin und wieder hatten sie alle schon mal eine Meinungsverschiedenheit mit ihr, aber das hat doch nichts zu sagen.»

Sir Edward hob den Kopf und lauschte. Von oben kam ein Knarren.

«Das ist Miss Magdalena, die herunterkommt.»

«Woher wissen Sie das?» fragte er schneIl.

Die alte Frau errötete. «lch kenne ihren Schritt.», stotterte sie. Sir Edward eilte hinaus.

Martha hatte recht Magdalena war gerade am Fuß der Treppe angelangt Sie sah ihn hoffnungsvoll an.

«Ich bin kaum weitergekommen», sagte Sir Edward, ihren Blick beantwortend, und fügte hinzu: «Sie wissen nicht zufällig, welche Briefe Ihre Tante am Tag ihres Todes erhielt?»

«Sie liegen noch alle zusammen. Die Polizei hat sie natürlich schon durchgesehen.»

Sie führte ihn in das große Wohnzimmer, schloß eine Kommode auf und entnahm ihr eine große schwarze Samttasche mit einer altmodischen Silberschnalle. «Das ist Tantes Tasche. Es liegt alles noch genauso drin wie am Tag ihres Todes. Dafür habe ich gesorgt.»

Sir Edward dankte ihr und begann, den Inhalt der Tasche auf dem Tisch auszubreiten. Sie war, dachte er sich, das typische Beispiel für eine einer exzentrischen alten Dame gehörenden Handtasche. Er fand Wechselgeld, zwei Pfeffernüsse, drei Zeitungsausschnitte, ein vor Rührung triefendes gedrucktes Gedicht über die Arbeitslosen, einen Old Moore's-Almanach, ein großes Stück Kampfer, zwei Brillen und drei Briefe. Einen ziemlich versponnenen von jemandem, der sich «Kusine Lucy» nannte, eine Rechnung für eine Uhrreparatur und den Bettelbrief einer Wohlfahrtsorgatnsation.

Er sah sich alles sehr sorgfältig an, dann räumte er die Tasche wieder ein und gab sie Magdalena mit einem Seufzer zurück. «Ich danke Ihnen, Miss Magdalena. Leider ist hier auch nicht viel zu finden.» Er stand auf, überzeugte sich, daß man vom Fenster einen guten Blick auf die Vordertreppe hatte, und ergriff dann Magdalenas Hand.

«Sie wollen schon gehen?»

«Ja.»

«Aber wird... wird alles in Ordnung kommen?»

«Niemand, der mit dem Gesetz zu tun hat, wird sich jemals zu so einer vorschnellen Aussage verleiten lassen», sagte Sir Edward ernst und verabschiedete sich.

Gedankenverloren ging er nach Hause. Die Lösung des Rätsels mußte in Reichweite liegen, doch er hatte sie noch nicht entdeckt. Irgend etwas fehlte noch, nur eine Kleinigkeit, um ihn auf die richtige Spur zu bringen.

Eine Hand legte sich plötzlich auf seine Schulter, und er zuckte zusammen. Es war Matthew Vaughan, etwas außer Atem.

«Ich habe Sie gesucht, Sir Edward, um mich für mein unhöfliches Verhalten vorhin zu entschuldigen. Es tut mir leid, aber ich war nicht in der besten Gemütsverfassung. Ich freue mich, daß Sie sich um die Sache kümmern. Fragen Sie mich, was Sie wollen. Wenn ich Ihnen in irgendeiner Form helfen kann...»

Sir Edwards Haltung versteifte sich plötzlich. Sein Blick war fest auf etwas gerichtet, nicht auf Matthew, sondern auf etwas auf der anderen Straßenseite. Leicht verwundert wiederholte Matthew: «Wenn ich Ihnen in irgendeiner Form helfen...»

«Das haben Sie bereits getan, lieber junger Freund», erwiderte Sir Edward, «indem Sie mich an diesem ganz bestimmten Punkt anhielten und meine Aufmerksamkeit auf etwas lenkten, was mir sonst bestimmt entgangen wäre.» Dabei zeigte er auf ein kleines Restaurant auf der anderen Straßenseite.

«Die vierundzwanzig Amseln?» fragte Matthew verwundert.

«Genau.»

«Das ist ein merkwürdiger Name – aber man kann dort ganz gut essen, glaube ich.»

«Auf den Versuch würde ich es nicht ankommen lassen», sagte Sir Edward. «Zwar bin ich von den Tagen meiner Kindheit weit entfernt, doch erinnere ich mich vermutlich an meine Kinderverse besser als Sie, junger Freund. Da gibt es eine Art Klassiker, der, wenn ich mich recht erinnere, so lautet: ‹Sing' ein Lied vom Sixpence, die Tasche voll mit Korn; vierundzwanzig Amseln, die waren bald verlor'n.› Der Rest interessiert uns nicht» Er drehte sich auf dem Absatz um.

«Wohin gehen Sie?» fragte Matthew Vaughan.

«Zurück in Ihr Haus, mein Freund.»

Schweigend gingen sie zurück. Matthew warf hin und wieder einen verwunderten Blick auf seinen Begleiter. Als sie das Haus betreten hatten, ging Sir Edward zu der Kommode, nahm die Samttasche heraus und öffnete sie. Er blickte Matthew an, und der verließ widerwillig das Zimmer.

Sir Edward schüttelte das Wechselgeld auf den Tisch.

Dann nickte er. Seine Erinnerung hatte ihn nicht getäuscht.

Er stand auf und läutete. Dabei verbarg er etwas in seiner Hand. Auf das Läuten hin meldete sich Martha.

«Sie erzählten mir doch, Martha, wenn ich mich recht erinnere, daß Sie eine kleine Meinungsverschiedenheit mit Ihrer verstorbenen Herrin wegen eines der neuen Sippences hatten?»

«Ja, Sir.»

«Aha! Aber das Merkwürdige ist, daß unter diesem Wechselgeld sich kein neuer Sixpence befindet. Hier sind zwei Sixpences, aber sie stammen beide aus der alten Serie.»

Martha starrte Sir Edward verwirrt an.

«Verstehen Sie, was das bedeutet? Jemand kam an diesem Nachmittag ins Haus – jemand, dem Ihre Herrin einen Sixpence gab – vermutlich im Austausch dagegen...»

Mit einer raschen Bewegung hielt er ihr die Knittelverse vor die Augen. Ein Blick in ihr Gesicht genügte. «Das Spiel ist aus, Martha. Sie sehen, ich habe es durchschaut Sie können jetzt ruhig alles gestehen.»

Martha sank auf einen Stuhl. Tränen liefen ihr übers Gesicht «Es ist wahr... es ist wahr... Die Türglocke hatte nicht richtig geläutet ich war nicht sicher. Aber dann dachte ich, daß ich besser doch mal nachsehe. Ich öffnete die Tür, als er sie gerade niederschlug. Das Bündel mit den Fünfpfundnoten lag vor ihr auf dem Tisch – das hatte ihn dazu gebracht, sie umzubringen - das und die Annahme, sie wäre allein im Haus, weil sie ihm selbst geöffnet hatte. Ich konnte nicht einmal schreien, so gelähmt war ich. Und dann drehte er sich um – und ich sah, daß es mein Junge war...

Er ist schon immer schlecht gewesen. Er hat von mir immer alles Geld bekommen, das ich nur übrig hatte. Zweimal hat er schon im Gefängnis gesessen. Er muß wohl gekommen sein, um mich zu besuchen, und als Miss Crabtree merkte, daß ich die Tür nicht öffnete, tat sie es selbst. Er war überrascht und zog eins von seinen Arbeitslosengedichten heraus, und die Herrin, immer wohltätig, ließ ihn herein und gab ihm einen Sixpence. Und die ganze Zeit lag das Bündel Geldscheine auf dem Tisch, wo es gelegen hatte, als ich mit ihr abrechnete. Und dann überwältigte der Teufel meinen Ben, und er schlich sich hinter sie und schlug sie nieder.»

«Und dann?» fragte Sir Edward.

«Oh, Sir, was konnte ich tun? Mein eigen Fleisch und Blut! Sein Vater war ein schlechter Mensch, und er gerät nach ihm – aber er ist doch mein Sohn! Ich schob ihn schnell hinaus und ging in die Küche zurück. Dann ging ich zur gewohnten Zeit hinein, um für das Abendessen zu decken. Glauben Sie, daß es sehr schlecht von mir war, Sir? Ich habe mich bemüht, Sie nicht zu belügen, als Sie mir Ihre Fragen stellten.»

Sir Edward stand auf. «Meine arme Frau», sagte er voller Mitleid. «Sie tun mir sehr leid.

Trotzdem muß das Gesetz seinen Weg gehen, das wissen Sie.»

«Er ist ins Ausland geflohen, Sir. Ich weiß nicht, wo er ist.»

«Dann mag er vielleicht eine Chance haben, dem Galgen zu entgehen. Aber bauen Sie nicht darauf. Bitten Sie jetzt Miss Magdalena herein!»

«Oh, Sir Edward, wie wundervoll ist das wie wundervoll sind Sie!» rief Magdalena aus, als er seinen kurzen Bericht beendet hatte. «Sie haben uns alle gerettet. Wie kann ich Ihnen jemals danken?»

Sir Edward lächelte sie an und tätschelte zart ihre Hand. Er fühlte sich großartig. Die kleine Magdalena war so reizend auf der Siluric gewesen, so entzückend in der Blüte ihrer siebzehn Jahre! Natürlich war das jetzt vorbei.

«Das nächste Mal, wenn Sie einen Freund nötig haben...»

«... komme ich sofort zu Ihnen.»

«Nein, nein», rief Sir Edward erschrocken. «Das ist genau das, was Sie nicht tun sollen. Gehen Sie zu einem jüngeren Mann!»

Gewandt entzog er sich den Dankbarkeitsbezeugungen der Familie, ließ ein Taxi kommen und sank mit einem Seufzer der Erleichterung in die Wagenpolster.

Selbst der Charme einer taufrischen Siebzehrjährigen schien fragwürdig zu sein. Mit einer wohlsortierten Bibliothek über Kriminalistik konnte er jedenfalls nicht konkurrieren.

Das Taxi bog in den Queen Anne's Close ein, seine Sackgasse.