Haus Nachtigall
«Auf Wiedersehen, Liebling!»
«Auf Wiedersehen, mein Schatz!»
Alix Martin lehnte sich über das schmale Gartentor und sah ihrem Mann nach, der den Weg zum Dorf hinunterging. Kleiner und kleiner wurde die Gestalt, jetzt war sie in einer Kurve verschwunden, aber Alix verharrte immer noch in der gleichen Stellung. In Gedanken versunken, strich sie eine Locke ihres dichten braunen Haares aus ihrem Gesicht .Ihre Augen blickten träumerisch in die Ferne.
Alix Martin war nicht schön, strenggenommen nicht einmal hübsch. Ihr Gesicht war das einer Frau, die nicht mehr in den besten Jahren ist .Trotzdem war es strahlend und weich, und ihre früheren Kollegen aus dem Büro hätten sie wahrscheinlich kaum wiedererkannt.
Miss Alix King war eine ordentliche, geschäftstüchtige junge Frau gewesen, etwas forsch in ihrem Verhalten, aber sie stand offensichtlich mit beiden Füßen auf der Erde.
Alix war durch eine harte Schule gegangen. Fünfzehn Jahre lang, von ihrem achtzehnten Lebensjahr an, bis sie dreiunddreißig war, hatte sie für sich selbst gesorgt, sieben Jahre davon auch noch für ihre kranke Mutter. Den Unterhalt hatte sie durch ihre Arbeit als Stenotypistin verdient. Dieser Existenzkampf hatte die weichen Linien ihres Gesichtes gehärtet.
Sicher, es hatte auch Liebe gegeben – so eine Art . Dick Windyford, ein Büroangestellter und Kollege. Ohne es sich je anmerken zu lassen, hatte Alix natürlich gewußt, was er für sie empfand. Nach außen hin waren sie Freunde gewesen, mehr nicht .Mit seinem spärlichen Gehalt konnte Dick im Moment noch nicht ans Heiraten denken. Er mußte für die Schulkosten eines jüngeren Bruders aufkommen.
Unerwartet war es dann plötzlich mit der täglichen Plackerei zu Ende. Eine entfernte Kusine war gestorben und hatte Alix ihr Geld hinterlassen. Es waren ein paar tausend Pfund, genug, um ein paar hundert im Jahr einzubringen. Für Alix bedeutete es Freiheit, Leben, Unabhängigkeit .Nun brauchten Dick und sie nicht länger zu warten.
Aber Dick reagierte eigenartig. Er hatte niemals offen zu Mix über seine Liebe gesprochen, und jetzt schien er es weniger denn je zu beabsichtigen. Er ging ihr aus dem Wege, wurde mürrisch und verschlossen.
Mix erkannte den Grund schnell. Dick war zu feinfühlend und stolz, um ausgerechnet jetzt, da sie Geld hatte, um ihre Hand anzuhalten. Sie liebte ihn dafür noch mehr und hatte sich schon vorgenommen, selbst den ersten Schritt zu tun, als zum zweitenmal das Unerwartete in ihr Leben trat
Im Hause einer Freundin lernte sie Gerald Martin kennen. Er verliebte sich stürmisch in sie, und eine Woche später waren sie bereits verlobt. Alix, die von sich selbst überzeugt gewesen war, daß ihr so etwas nie passieren könne, war im siebenten Himmel.
Damit hatte sie unwissentlich den Weg gefunden, um Dick Windyford wachzurütteln. In Rage und voller Empörung war er zu ihr gekommen.
«Dieser Mann ist ein völlig Fremder für dich. Du weißt überhaupt nichts über ihn», hatte er ihr vorgehalten.
«Ich weiß, daß ich ihn liebe.»
«Wie kannst du das nach einer Woche?»
«Nicht jeder braucht elf Jahre, um berauszufinden , daß er in ein Mädchen verliebt ist», hatte sie ihn ärgerlich angeschrien.
Sein Gesicht war weiß.
«Ich habe dich geliebt, seit ich dich zum erstenmal sah. Ich dachte, du liebst mich auch.»
Mix war ehrlich. «Ich glaubte das auch», gab sie zu. «Aber das war, weil ich nicht wußte, was Liebe ist.»
Dick war außer sich. Bitten, Flehen, sogar Drohungen -Drohungen gegen den Mann, der ihn verdrängt hatte, stieß er aus. Alix war erstaunt, als sie den Vulkan erlebte, der unter dem reservierten Äußeren des Mannes steckte, von dem sie glaubte, ihn so gut zu kennen.
Als sie an diesem sonnigen Morgen an das Gartentor des Landhauses gelehnt stand, wanderten ihre Gedanken zurück zu diesem Gespräch. Einen Monat lang war sie verheiratet, und sie war wunschlos glücklich. Jetzt, da ihr Mann, der ihr alles bedeutete, nicht da war, schlich sich trotzdem ein Beigeschmack von Angst in ihr perfektes Glück .Und der Grund für diese Angst war Dick Windyford.
Dreimal seit ihrer Hochzeit hatte sie den gleichen Traum gehabt .Die Umgebung war stets eine andere, aber die Hauptsache war immer die gleiche. Sie sah ihren Mann tot daliegen, und Dick Windyford stand über ihn gebeugt, und sie wußte, daß es Dick war, der ihn erschlagen hatte. Aber so schrecklich das auch war, es gab noch etwas Entsetzlicheres, und zwar nach dem Erwachen, denn im Traum schien es völlig natürlich und unvermeidlich zu sein. Sie, Alix Martin, war froh, daß ihr Mann tot war. Sie streckte dem Mörder die Hände entgegen, manchmal dankte sie ihm. Der Traum endete immer gleich: Sie war in Dick Windyfords Arme geschmiegt.
Sie hatte ihrem Mann nichts von diesem Traum erzählt, aber innerlich hatte er sie tiefer beunruhigt, als sie zugeben wollte. War es eine Warnung- eine Warnung vor Dick Windyford?
Alix wurde aus ihren Gedanken gerissen, als das schrille Läuten des Telefons aus dem Haus drang. Sie ging hinein und nahm den Hörer ab. Plötzlich schwankte sie und hielt sich an der Wand fest.
«Wer, sagten Sie, ist am Apparat?»
«Aber, Mix, was ist denn los mit dir? Ich hätte deine Stimme fast nicht erkannt. Hier ist Dick.»
«Oh», brachte sie hervor. «Oh! Wo – wo bist du?»
«In ‹Traveller's Arms›, so heißt das wohl, nicht wahr? Oder kennst du nicht einmal eure Dorfwirtschaft? Ich habe Urlaub, möchte ein bißchen fischen hier. Hast du etwas dagegen, daß ich euch heute nach dem Abendessen besuche?»
«Nein!» antwortete Mix scharf. «Du darfst nicht kommen!»
Nach einer kleinen Pause kam Dicks veränderte Stimme wieder. «Es tut mir leid», sagte er förmlich, «ich möchte dich natürlich nicht belästigen -»
Alix unterbrach ihn hastig. Er mußte ihr Benehmen als reichlich ungewöhnlich betrachten. Es war auch ungewöhnlich. Ihre Nerven hatten sie im Stich gelassen.
«Ich meinte nur, daß wir für heute abend schon verabredet sind», erklärte sie und versuchte ihrer Stimme einen möglichst natürlichen Klang zu geben. «Möchtest du nicht – würdest du morgen zum Abendessen kommen?»
Aber Dick hatte den plötzlichen Meinungsumschwung offenbar bemerkt.
«Vielen Dank», antwortete er, «aber ich werde dann lieber gleich weiterfahren. Es hängt noch davon ab, ob ein Freund von mir herkommt oder nicht. Auf Wiedersehen, Alix.» Er hielt einen Moment inne und fügte dann hastig und mit veränderter Stimme hinzu: «Viel Glück, Alix»
Mit einem Gefühl der Erleichterung legte Alix den Hörer auf die Gabel. Er darf nicht herkommen, wiederholte sie in Gedanken. Er darf nicht herkommen. Gott, was bin ich dumm, mich so aufzuregen! Trotzdem bin ich froh, daß er nicht kommt.
Sie nahm einen Strohhut vom Tisch und ging wieder hinaus in den Garten. Einen Moment blieb sie stehen und blickte auf den Namen, der draußen am Tor eingeschnitzt stand: Haus Nachtigall.
«Ist das nicht ein sehr eigentümlicher Name?» hatte sie zu Gerald gesagt, bevor sie heirateten.
Er hatte gelacht.
«Du kleines Londoner Stadtklnd», hatte er liebevoll geantwortet. «Ich glaube, du hast noch nie eine Nachtigall gehört. Ich bin froh darüber. Wir werden sie an einem Sommerabend zusammen vor unserem eigenen Haus hören.»
Als sich Alix jetzt daran erinnerte, spürte sie ein Gefühl des Glücks in sich aufsteigen. Es war Gerald, der Haus Nachtigall gefunden hatte. Er war zu Alix gekommen, vor Aufregung ganz außer sich gewesen: er habe genau das richtige für sie aufgetrieben, ein Juwel, die Chance des Lebens .Und als Alix es gesehen hatte, war sie von seinem Charme ebenfalls bezaubert. Gewiß, die Lage war ziemlich einsam, zwei Meilen vom nächsten Dorf entfernt. Aber das Haus selbst war so auserlesen mit seinem an frühere Zeiten erinnernden Äußeren und seinem soliden Komfort mit Badezimmern, Heißwasseranlagen, elektrischem Licht und Telefon, daß Alix diesen Reizen sogleich erlegen war. Doch dann stellte sich heraus, daß die Sache einen Haken hatte. Der Besitzer, ein reicher Mann, lehnte es ab, das Haus zu vermieten. Er wollte nur verkaufen.
Gerald Martin war nicht imstande, sein Kapital zu diesem Zeitpunkt flüssig zu machen. Er hatte zwar ein gutes Einkommen, aber das Äußerste, was er aufbringen konnte, wären tausend Pfund gewesen. Der Besitzer wollte dreitausend. Aber Alix hatte ihr Herz schon an dieses Haus verloren, und sie wußte Rat . Über ihr eigenes Geld konnte sie sofort verfügen, da es in Pfandbriefen angelegt war. Sie würde die Hälfte davon abzweigen, um ihr Heim zu kaufen.
So wurde Haus Nachtigall ihr Eigentum, ein Entschluß, den Alix bisher keinen Augenblick bereut hatte. Sicher, das Hauspersonal mochte die ländliche Abgeschiedenheit nicht, darum hatte sie im Moment auch keine Hilfe. Aber Alix, jahrelang nur den eintönigen Bürobetrieb gewohnt, machte es Spaß, Leckerbissen zu kochen und das Haus in Ordnung zu halten. Für den Garten, in dem prachtvolle Blumen wuchsen, hatte sie einen alten Mann aus dem Dorf, der zweimal wöchentlich, und zwar immer montags und freitags, kam.
Sie war deshalb erstaunt, ihn heute, Mittwoch, hinter dem Haus in einem Blumenbeet beschäftigt, anzutreffen.
«Nanu, George, was machen Sie denn hier?» fragte sie, als sie auf ihn zukam.
Der alte Mann richtete sich mühsam auf und hob zwei Finger an den Schirm seiner uralten Mütze.
«Ich dachte mir schon, daß Sie sich wundern würden, Madam. Aber es ist so. Auf dem Gut wird am Freitag ein Fest gefeiert, und ich sagte mir, weder Mr. Martin noch seine junge Frau werden etwas dagegen haben, wenn ich mal statt Freitag schon am Mittwoch komme.»
«Ist schon in Ordnung», antwortete Alix. «Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen.»
«Das werde ich haben», meinte George treuherzig. «Es ist ńe feine Sache, zu wissen, daß man sich so richtig vollessen kann, ohne selbst bezahlen zu müssen. Der Gutsbesitzer ist bei seinen Leuten nie kleinlich gewesen. Und dann dachte ich mir auch, Madam, ich kann Sie genausogut jetzt, bevor Sie wegfahren, nach Ihren Wünschen für die Rabatten fragen. Sie wissen wohl nicht, wann Sie zurückkommen, Madam?»
«Aber ich fahre gar nicht fort.»
George starrte sie an.
«Fahren Sie denn morgen nicht nach London?»
«Nein. Wie kommen Sie auf diese Idee?»
George rückte mit einer langsamen Bewegung seine Mütze ins Genick.
«Mr. Martin hat es mir erzählt, als ich ihn gestern im Dorf traf. Er sagte, daß Sie beide morgen nach London fahren, und es sei ungewiß, wann Sie wieder zurückkämen.»
«Unsinn», lachte Mix. «Sie müssen ihn mißverstanden haben.» Trotzdem wunderte sie sich, was Gerald wohl zu dem alten Mann gesagt hatte, er konnte ihn doch nicht so mißverstanden haben. Nach London fahren? Sie wollte niemals wieder nach London.
«Ich hasse London», sagte sie plötzlich bitter.
«Aha», meinte George gelassen. «Na, dann werd' ich mich wohl verhört haben. Und doch, er sagte es ja ganz deutlich. Ich bin froh, daß Sie hierbleiben. Ich halte nichts von diesen Spazierfahrten, und von London halte ich schon gar nichts. Ich habe, Gott sei Dank, nie hinfahren müssen. Zu viele Autos – das ist das Schlimmste heutzutage. Wenn die Leute erst mal ein Auto haben, dann können sie nicht mehr an einem Platz bleiben. Mr. Ames, dem dieses Haus früher gehörte, war immer ein friedlicher, ruhiger Mann gewesen, bis er sich so ein Ding kaufte. Noch nicht einen Monat hat er es gehabt, als er schon das Haus zum Verkauf anbot Und ńe Menge Geld hatte er hier reingesteckt, mit fließend Wasser in allen Schlafzimmern und dem elektrischen licht und so. ‹Das Geld kriegen Sie nie wieder›, sagte ich ihm, aber er meinte, er bekäme zweitausend Pfund für dieses Haus, und zwar auf den Penny. Und richtig, er bekam es auch.»
«Es waren dreitausend», unterbrach Mix lächelnd seinen Redeschwall.
«Zweitausend», wiederholte George. «Die Summe, die er damals verlangte, wurde hier lange genug diskutiert»
«Es waren wirklich dreitausend», sagte Mix.
George war nicht zu überzeugen «Frauen verstehen nichts von Zahlen», meinte er. «Sie wollen mir doch nicht erzählen, daß Mr. Ames den Nerv hatte, von Ihnen dreitausend zu verlangen?»
«Er verlangte es nicht von mir, sondern von meinem Mann», antwortete Mix.
George kniete sich wieder hin.
«Der Preis war zweitausend», murmelte er störrisch.
Alix hatte keine Lust, sich mit ihm zu streiten. Sie ging zu einem anderen Beet und pflückte sich einen schönen, dicken Blumenstrauß.
Als sie ins Haus gehen wollte, bemerkte sie im Vorbeigehen einen kleinen dunkelgrünen Gegenstand, der zwischen den Blättern eines Beetes hervorschaute. Sie bückte sich, hob ihn auf und sah, daß es das Notizbuch ihres Mannes war.
Sie öffnete es und durchblätterte amüsiert die Eintragungen. Gleich zu Beginn ihres Ehelebens hatte sie erkannt, daß Gerald, der impulsiv und gefühlvoll war, einen ausgeprägten Sinn für Ordnung und Systematik besaß, was eigentlich nicht zusammenpaßte. Er war geradezu versessen darauf, daß die Mahlzeiten pünktlich eingehalten wurden, und er plante seinen Tagesablauf mit der Präzision eines Uhrwerkes voraus.
Während sie das Notizbuch durchstöberte, entdeckte sie zu ihrer Erheiterung die Eintragung vom 14. März: ‹Alix heiraten, 14 Uhr 30, St.-Peters-Kirche.»
«Der große Junge», murmelte sie und blätterte weiter. Plötzlich stutzte sie
«‹Mittwoch, 18. Juni›» – das ist ja heute!»
In dem Raum, der für dieses Datum zur Verfügung stand, war mit Geralds gestochener Schrift eingetragen: «21 Uhr.» Sonst stand da nichts.
Was hatte Gerald um neun Uhr abends vor? Alix überlegte. Sie lächelte, denn sie sagte sich, wenn das eine Geschichte wäre, eine solche, wie man sie öfter liest, wäre unzweifelhaft mehr darüber aus dem Notizbuch zu entnehmen gewesen. Zumindest hätte es den Namen der anderen Frau enthalten.
Langsam durchblätterte sie auch die zurückliegenden Eintragungen. Es gab Verabredungen, Besprechungstermine, knappe Anmerkungen über Geschäftsabschlüsse, aber nur einen Frauennamen, nämlich ihren eigenen.
Dennoch, als sie das Büchlein in die Tasche steckte und mit ihrem Blumenstrauß ins Haus ging, spürte sie eine leichte Unruhe. Dick Windyfords Worte kamen ihr in den Sinn, als hätte er sie in diesem Moment wiederholt: «Dieser Mann ist ein völlig Fremder für dich. Du weißt überhaupt nichts über ihn.»
Das stimmte. Was wußte sie von ihm? Gerald war immerhin vierzig. In vierzig Jahren mußte eine Frau in seinem Leben eine Rolle gespielt haben ...
Alix schüttelte ungeduldig den Kopf. Sie durfte solchen Gedanken keinen Platz einräumen.
Sie hatte ein viel brennenderes Problem. Sollte sie ihrem Mann erzählen, daß Dick angerufen hatte, oder nicht? Es war ja möglich, daß Gerald ihn sowieso im Dorf getroffen hatte. In diesem Fall würde er es sicher, sobald er nach Hause kam, erwähnen. Dann wäre die Sache ohne ihr Zutun erledigt. Wenn nicht, was dann? Alix entschied, daß sie lieber nichts sagen würde. Wenn sie ihrem Mann davon erzählte, würde er sicher vorschlagen, Dick einzuladen.
Dann müßte sie ihm erklären, daß Dick sich schon selbst einladen wollte, daß sie aber eine Ausrede gebraucht hatte, um sein Kommen zu verhindern. Und wenn Gerald sie dann fragen würde, weshalb sie das getan habe – was sollte sie dann sagen? Ihm ihren Traum erzählen? Er würde doch nur lachen, oder, was noch schlimmer wäre, er würde sagen, er verstehe nicht, warum sie diesem Traum eine derartige Bedeutung zukommen ließ.
Endlich beschloß Mix, nichts zu erwähnen. Es war das erste Geheimnis, das sie vor ihrem Mann hatte, und sie war nicht glücklich dabei.
Als sie hörte, wie Gerald kurz vor dem Mittagessen aus dem Ort zurückkam, eilte sie in die Küche, und um ihre Verlegenheit zu verbergen, gab sie sich hier sehr beschäftigt. Sie merkte sofort, daß Gerald Dick Windyford nicht getroffen hatte. Mix war erleichtert und beklommen zugleich. Jetzt war sie zur Verschwiegenheit verdammt.
Erst am Abend nach dem Essen, als sie in dem eichengetäfelten Wohnzimmer saßen, fiel Alix das Notizbuch wieder ein.
«Hier hast du etwas, mit dem du die Blumen gegossen hast», sagte sie und warf es ihm in den Schoß.
«Das habe ich wohl in den Randbeeten verloren, was?»
«Ja. Und jetzt kenne ich alle deine Geheimnisse.»
«Nicht schuldig», lachte Gerald und schüttelte den Kopf.
«Wie steht's mit deinem Vorhaben heute abend um neun Uhr?»
«Ach, das?» Er schien einen Augenblick etwas überrascht, dann lächelte er, als ob ihm irgend etwas ganz besonderen Spaß machte. «Es ist eine Verabredung mit einem außergewöhnlich netten Mädchen, Alix. Sie hat braunes Haar, blaue Augen und ist dir sehr ähnlich.»
«Ich verstehe nicht», antwortete Alix mit vorgetäuschter Strenge. «Du weichst mir aus.»
«Nein, das tue ich nicht. Spaß beiseite – ich wollte nur nicht vergessen, heute abend einige Negative zu entwickeln. Ich möchte gern, daß du mir dabei hilfst.»
Gerald Martin war ein begeisterter Fotograf. Er besaß eine altmodische Kamera mit hervorragenden Objektiven und entwickelte seine Filme in einem kleinen Keller selbst, den er als Dunkelkammer eingerichtet hatte.
«Und das muß genau um neun Uhr sein», neckte ihn Alix.
«Mein liebes Kind», erwiderte Gerald, und eine Spur Gereiztheit lag in seiner Stimme, «man sollte eine Sache immer für eine ganz bestimmte Zeit planen. Dann erledigt man seine Arbeit ordnungsgemäß.»
Alix saß eine oder zwei Minuten still und beobachtete ihren Mann, wie er in einem Sessel lag und rauchte, betrachtete den zurückgeworfenen dunklen Kopf, die klar gezeichneten Linien seines glattrasierten Gesichts, die gegen den düsteren Hintergrund abstachen. Und plötzlich, aus heiterem Himmel, überfiel sie eine Welle der Panik, und bevor sie sich zurückhalten konnte, rief sie: «Ach, Gerald! Ich wünschte, ich wüßte mehr über dich!»
Ihr Mann wandte sich ihr mit erstauntem Gesicht zu.
«Aber, meine liebe Alix, du weißt alles über mich. Ich habe dir von meiner Jugendzeit in Northumberland erzählt, von meinem Leben in Südafrika und von den letzten zehn Jahren in Kanada, die mir Erfolg brachte.»
«Ach, Geschäfte», meinte Mix wegwerfend.
Plötzlich lachte Gerald auf.
«Ich weiß, was du meinst – Liebesgeschichten. Ihr Frauen seid doch alle gleich. Etwas anderes interessiert euch nicht»
Mix fühlte, wie ihr der Hals trocken wurde, während sie undeutlich murmelte: «Nun, aber es muß doch – Liebesgeschichten gegeben haben. Ich meine, wenn ich nur wüßte ...»
Wieder trat minuteniang Stille ein. Unwillig runzelte Gerald Martin die Stirn. Als er zu reden anfing, tat er es ernst und ohne eine Spur seiner vorherigen neckenden Art: «Alix, hältst du dieses Blaubart-Gehabe für klug? Es gab Frauen in meinem Leben. Ich streite es nicht ab. Du würdest es mir auch sowieso nicht glauben. Aber ich kann dir ehrlich versichern, daß keine von ihnen mir etwas bedeutete.»
Es war eine Aufrichtigkeit in seinem Ton, die Alix beruhigte.
«Zufrieden?» fiagte er mit einem Lächeln. Dann blickte er sie mit einem Anflug von Neugierde an.« Wie bist du eigentlich ausgerechnet heute abend auf dieses unerquickliche Thema gekommen?»
Mix stand auf und begann ruhelos hin und her zu laufen.
«Ach, ich weiß es nicht», antwortete sie. «Ich war schon den ganzen Tag über nervös.»
«Das ist seltsam», sagte Gerald leise, als spräche er mit sich selbst, «sehr seltsam.»
«Was ist daran seltsam?»
«Aber, mein Liebes, ich habe das nur so gesagt, weil du gewöhnlich ausgeglichen und nett bist.»
«Heute war alles dazu angetan, mich zu verärgern», beichtete sie. «Sogar der alte George. Er hatte so eine lächerliche Idee im Kopf, daß wir nach London fahren würden. Er sagte, du hättest es ihm erzählt.»
«Wo hast du ihn getroffen?» fragte Gerald scharf.
«Er kam statt Freitag schon heute zur Arbeit»
«Der verdammte alte Dummkopf», schnauzte Gerald zornig.
Alix blickte ihn überrascht an. Das Gesicht ihres Mannes war vor Wut verzerrt. Niemals vorher hatte sie ihn so aufgebracht gesehen. Als er ihr Erstaunen bemerkte, bemühte er. sich, seine Selbstkontrolle wiederzugewinnen.
«Na, er ist auch ein verfiixter alter Schwätzer», knurrte er.
«Was hast du denn zu ihm gesagt, daß er auf solche Ideen kommt?»
«Ich? Ich habe überhaupt nichts gesagt. Wenigstens – ach ja, jetzt erinnere ich mich. Ich habe einen kleinen Witz gemacht und ihm erzählt, daß ich am Morgen nach London fahre. Das hat er wohl ernst genommen. Vielleicht hört er auch nicht mehr richtig. Du hast ihn natürlich aufgeklärt?»
Gespannt wartete er auf ihre Antwort.
«Sicher. Aber er ist einer von der Sorte alter Männer ,die sich von einer Idee nicht mehr abbringen lassen.»
Dann erzählte sie Gerald von Georges Behauptung, das Haus habe nur zweitausend Pfund gekostet.
Gerald war einen Augenblick still, dann sagte er langsam:
«Ames war gewillt, zweitausend Pfund in bar und den Rest in Pfandbriefen zu nehmen. Ich nehme an, daß er das durcheinandergebracht hat»
«Wahrscheinlich», stimmte Alix zu.
Dann blickte sie auf die Uhr.
«Wir sollten anfangen, Gerald. Fünf Minuten Verspätung!»
Ein undefinierbares Lächeln trat in sein Gesicht.
«Ich habe es mir heute anders überlegt», antwortete er ruhig. «Ich werde heute abend keine Bilder mehr entwickeln.»
Die Gedanken einer Frau sind eine seltsame Sache. Als Alix an diesem Mittwoch abend zu Bett ging, war sie ruhig und mit sich zufrieden. Der Ärger war vergessen und ihr Glück ungetrübt wie eh und je.
Aber am Abend des folgenden Tages spürte sie, daß irgendwelche Kräfte wieder daran waren, dieses Gefühl des Glücks zu unterminieren. Dick Windyford hatte nicht noch einmal angerufen. Trotzdem führte sie ihre Unruhe auf seinen Aufenthalt im Dorf zurück. Immer und immer wieder kamen ihr seine Worte in den Sinn: «Dieser Mann ist ein völlig Fremder. Du weißt überhaupt nichts über ihn.» Und sie sah ihren Mann wieder vor sich, wie er sagte: «Alix, hältst du dieses Blaubart-Gehabe für klug?» Weshalb hatte er das gesagt? Eine Warnung hatte in diesen Worten gelegen ein Anflug von Drohung, so als wollte er sagen: «Schnüftle nicht in meiner Vergangenheit, Alix, sonst kannst du eine peinliche Überraschung erleben.»
Bis Freitag morgen hatte sich Alix eingeredet, daß es tatsächlich eine Frau in Geralds Leben gegeben hatte, eine Affäre, die er eifrig vor ihr zu verbergen versuchte. Ihre Eifersucht kannte keine Grenzen.
War es eine Frau, die er neulich abends um neun Uhr treffen wollte? War seine Geschichte, Negative entwickeln zu wollen, eine Notlüge, die er aus dem Augenblick heraus erdacht hatte? Vor drei Tagen noch hatte sie geschworen, daß sie ihren Mann durch und durch kannte.
Jetzt hatte sie das Gefühl, daß er ein Fremder war, über den sie nichts wußte. Sie erinnerte sich an seinen Ärger über den alten George. So aufgebracht war er noch nie gewesen. Eine Kleinigkeit, vielleicht, aber sie zeigte ihr, daß sie den Mann, mit dem sie verheiratet war, nicht wirklich kannte.
Am Freitag mußten verschiedene Kleinigkeiten aus dem Dorf besorgt werden. Am Nachmittag schlug Alix vor, daß sie dies erledigen werde; Gerald könne im Garten bleiben.
Aber zu ihrer Verwunderung war er damit nicht einverstanden und erklärte eigensinnig, daß er sich um die Sachen kümmern werde und daß sie zu Hause bleiben solle.
Alix gab nach, aber seine Beharrlichkeit erstaunte und alarmierte sie. Weshalb wollte er so ängstlich vermeiden, daß sie ins Dorf ging?
Plötzlich fiel ihr eine Erklärung dafür ein. War es nicht möglich, daß er Dick Windyford getroffen hatte, ohne ihr etwas davon zu sagen? Als sie heirateten, war Alix nicht eifersüchtig gewesen. Und jetzt? – Konnte es mit Gerald nicht das gleiche sein? Vielleicht wollte er nur verhindern, daß sie Dick wiedersah? Diese Erklärung war so einleuchtend, und sie hatte etwas so Tröstliches, daß Alix sich nur zu gern daran klammerte.
Aber später, nach dem Tee, war sie wiederum ruhelos und nervös. Sie kämpfte mit einer Versuchung, die sie seit Geralds Weggehen verspürte. Zu guter Letzt, als sie sich lange genug eingeredet hatte, daß das Ankleidezimmer ihres Mannes eine gründliche Reinigung nötig habe, ging sie mit einem Staubtuch hinauf. «Wenn ich nur sicher wäre», wiederholte sie immer wieder, «wenn ich nur ganz sicher wäre!»
Vergeblich versuchte sie, sich davon zu überzeugen, daß alles, was kompromittierend sein könnte, gewiß schon vor Jahren vernichtet worden war. Dagegen wiederum argumentierte sie, daß Männer oft die verrücktesten Beweisstücke aus übertriebener Sentimentalität aufbewahrten.
Am Ende unterlag der letzte Widerstand in Alix. Ihre Wangen brannten vor Scham über ihr Tun, während sie atemlos in gebündelten Briefpäckchen und Dokumenten wühlte, die Schubladen herauszog und sogar die Taschen der Anzüge ihres Mannes durchstöberte. Nur zwei Schubladen machten ihr einen Strich durch die Rechnung. Die unterste der Kommode und eine schmale lade rechts im Schreibtisch waren verschlossen. Aber inzwischen hatte Alix jede Hemmung verloren. Sie war nun fest überzeugt, in einem dieser beiden Fächer Beweise für die Existenz dieser eingebildeten Frau aus der Vergangenheit zu finden, die ihr im Kopf herumspukte.
Ihr fiel ein, daß Gerald seine Schlüssel achtlos unten auf die Anrichte gelegt hatte. Sie holte sie und probierte einen nach dem anderen aus. Der dritte paßte für das Schreibtischfach.
Begierig öffnete Mix. Sie fand ein Scheckbuch und eine prall mit Geldnoten gefüllte Brieftasche und dann, ganz hinten, ein Bündel Briefe, säuberlich mit einem Band zusammengeschnürt. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, als sie das Band löste.
Brennende Schamröte übergoß ihr Gesicht, und sie ließ das Bündel zurück in die Schublade fallen, schob sie zu und verschloß sie wieder. Es waren die Briefe, die sie vor ihrer Hochzeit an Gerald geschrieben hatte.
Sie wandte sich jetzt der Kommode zu, mehr aus dem Gefühl heraus, nichts auslassen zu wollen, als in der Erwartung, etwas zu entdecken. Ärgerlich stellte sie fest, daß keiner der Schlüssel von Geralds Bund paßte. Sie ging in ein anderes Zimmer und kam mit einer Auswahl kleiner Schlüssel zurück. Befriedigt fand sie heraus, daß ein Reserveschlüssel vom Kleiderschrank paßte. Sie schloß die Schublade auf und zog sie heraus. Was sie fand, war nichts als eine Rolle Zeitungsausschnitte, die durch die Zeit bereits verschmutzt und vergilbt waren.
Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr Mix. Nichtsdestoweniger las sie die Ausschnitte. Sie war neugierig, was Gerald so sehr interessiert haben könnte, daß er diese vergilbte Zeitungsrolle aufbewahrt hatte. Es waren fast alles amerikanische Zeitungen, beinahe sieben Jahre alt, die von einem notorischen Schwindler und Bigamisten, Charles Lemaitre, handelten. Lemaitre wurde verdächtigt, seine Frauen um die Ecke gebracht zu haben. Unter dem Fußboden in einem der Häuser, die er gemietet hatte, war ein Skelett gefunden worden, und die meisten Frauen, die er ‹geheiratet› hatte, waren wie vom Erdboden verschwunden.
Er hatte sich mit außerordentlicher Geschicklichkeit verteidigt und wurde dabei von einem der besten Anwälte der Vereinigten Staaten unterstützt Das Urteil ‹Freispruch mangels Beweisen› mochte vielleicht diesen Fall am besten charakterisiert haben. Jedenfalls wurde er, was die Hauptanklage betraf, für nicht schuldig erklärt .Für andere Delikte, die ihm zur Last gelegt wurden, erhielt er eine längere Gefillignisstrafe.
Alix erinnerte sich an die Aufregung, die dieser Prozeß seinerzeit verursacht hatte, und auch an die Sensation, als es Lemaitre nach ungefähr drei Jahren gelungen war, auszubrechen. Er wurde niemals wieder gefaßt. Die Persönlichkeit dieses Mannes und seine außergewöhnliche Macht über Frauen war ausführlich in der englischen Presse diskutiert worden. Auch seine Reizbarkeit vor Gericht, seine leidenschaftlichen Proteste und seine manchmal auftretenden physischen Zusammenbrüche, die er seines schwachen Herzens wegen erlitt, wurden eingehend besprochen.
In einem der Zeitungsausschnitte war ein Bild von ihm, und Mix betrachtete es mit Interesse.
Ein Herr mit Vollbart, der etwas Schulmeisterhaftes an sich hatte.
An wen erinnerte sie dieses Gesicht nur? Plötzlich wurde es ihr mit Schrecken bewußt: an Gerald selbst .Seine und dieses Mannes Augen und Stirn hatten eine Ähnlichkeit, die nicht zu übersehen war. Vielleicht hatte er die Ausschnitte deswegen aufgehoben? Ihr Blick ging weiter zur Bildunterschrift. In dem Notizbuch des Angeklagten waren gewisse Daten gefunden worden, und man war überzeugt, daß es die Daten waren, an denen er seine Opfer umgebracht hatte. Und dann war da noch von einer Frau die Rede, die den Verhafteten durch die Tatsache identifiziert hatte, daß er am linken Handgelenk ein Muttermal hatte, genau über der Innenfläche seiner Hand.
Alix ließ das Papier zu Boden fallen. Sie schwankte. Ihr Mann hatte an der gleichen Stelle eine Narbe.
Später wunderte sie sich darüber, daß sie sofort so überzeugt gewesen war. Gerald Martin war Charles Lemaitre. Sie fühlte es. Nein, sie wußte es jetzt Gedankenfetzen jagten durch ihr Gehirn. Das Geld für das Haus, ihr Geld. Die Pfandbriefe, die sie auf seinen Namen eingetragen hatte. Sogar ihr Traum erschien ihr in seiner wirklichen Bedeutung. Ihr Unterbewußtsein hatte sich immer vor Gerald gefürchtet und hatte versucht, sich von ihm freizumachen. Es war Dick Windyford gewesen, an den sich ihr Unterbewußtsein um Hilfe gewandt hatte. Das war es auch, weshalb sie die Wahrheit so schnell erkannt hatte. Ohne Zweifel sollte sie das nächste Opfer Lemaitres werden.
Ein dünner Schrei entrang sich ihren Lippen. Mittwoch um neun Uhr. Der Keller mit seinen Steinplatten, die man so leicht hochheben konnte! Schon einmal hatte er sein Opfer in einem Keller vergraben. Es war alles vorausgeplant gewesen für Mittwoch abend. Aber es noch niederzuschreiben ein Wahnsinn!
Nein, das war ja logisch. Gerald machte sich stets Notizen über seine Verabredungen. Mord war für ihn ein Geschäft wie alles andere. Aber wie war sie nur davongekommen? Was hatte sie geschützt? In letzter Minute hatte er umdisponiert ...
Wie ein Blitz kam ihr die Antwort: der alte George!
Jetzt verstand sie den offenen Zorn ihres Mannes. Zweifellos hatte er sich den Weg geebnet, indem er jedem erzählt hatte, daß sie am nächsten Tag nach London fahren würden. Dann war George unerwartet zur Arbeit gekommen, hatte London ihr gegenüber erwähnt, und sie hatte die Geschichte richtiggestellt. Es war zu riskant gewesen, sie an diesem Abend zu beseitigen.
Wenn sie diese triviale Geschichte nicht erwähnt hätte! Alix schauderte.
Aber sie hatte keine Zeit zu verlieren. Sie mußte gehen, bevor er zurückkam. Eilig legte sie die Zeitungsausschnitte in das Fach zurück und verschloß es. Dann stand sie bewegungslos da, wie zu Stein erstarrt. Sie hatte das Quietschen des Gartentors gehört. Ihr Mann war bereits zu Hause.
Einen Augenblick blieb sie starr vor Schreck, dann schlich sie auf Zehenspitzen ans Fenster, versteckte sich hinter den Gardinen und sah hinaus.
Ja, es war Gerald. Er lächelte und summte eine kleine Melodie. In seiner Hand hielt er etwas, das der entsetzten Frau das Herz stillstehen ließ: es war ein nagelneuer Spaten.
Instinitv kam Alix zu der Gewißheit, es würde heute abend sein.
Aber noch hatte sie eine Chance. Summend ging Gerald um das Haus herum zur Rückseite.
Ohne einen Moment zu zögern, rannte sie die Treppe hinunter und aus dem Haus. Doch als sie gerade aus der Tür kam, erschien ihr Mann von der anderen Seite. «Hallo», rief er.
«Wohin läufst du so eilig?»
Alix bemühte sich verzweifelt, ruhig und unauffällig zu erscheinen. Ihre Chance war für den Augenblick verpatzt,aber wenn sie vorsichtig war und seinen Verdacht nicht erregte, konnte noch alles gutgehen.
«Ich wollte ein bißchen spazierengehen», sagte sie. Aber ihre Stimme war schwach und klang nicht überzeugend.
«Fein», sagte Gerald, «ich komme mit.»
«Nein, bitte, Gerald. Ich bin nervös. Ich habe Kopfschmerzen und möchte lieber allein sein.»
Besorgt sah er sie an. Sie bildete sich sofort ein, daß in seinen Augen Verdacht aufglomm.
«Was ist los mit dir, Alix? Du bist blaß, und du zitterst ja.»
«Nichts.» Sie zwang sich zu einem Lächeln. «Ich habe Kopfschmerzen, das ist alles. Ein wenig frische Luft wird mir guttun.»
«Aber es ist nicht schön von dir, zu sagen, du möchtest mich nicht dabeihaben», erklärte Gerald mit einem leichten Lächeln. «Ich gehe mit, ob du willst oder nicht.»
Sie wagte nicht, weiter zu protestieren. Falls er Verdacht schöpfte, daß sie wußte ...
Mit Mühe gelang es ihr, sich unbefangen zu geben. Dennoch hatte sie das unbehagliche Gefühl, daß er sie von Zeit zu Zeit verstohlen betrachtete, als wenn er nicht ganz zufrieden wäre.
Als sie nach Hause zurückkehrten, bestand er darauf, daß sie sich hinlegte. Er spielte, wie immer, den besorgten Ehemann, brachte Eau de Cologne und rieb ihr damit Stirn und Schläfen ein. Alix fühlte sich so hilflos, als wäre sie in eine Falle geraten.
Nicht eine Minute ließ er sie allein. Er ging mit ihr in die Küche und half ihr, die kalte Platte hereinzutragen, die sie schon vorbereitet hatte. Sie würgte die Bissen hinunter und zwang sich, fröhlich und natürlich zu wirken. Sie wußte jetzt, daß sie um ihr Leben kämpfte. Sie war allein mit diesem Mann, meilenweit von jeder Hilfe entfernt. Sie war völlig in seiner Gewalt.
Ihre einzige Chance lag darin, sein Mißtrauen zu zerstreuen. Vielleicht ließ er sie ein paar Minuten allein, wenigstens so lange, daß sie in die Diele gehen und Hilfe herbeitelefonieren konnte. Das war jetzt ihre einzige Hoffnung.
Plötzlich erinnerte sie sich, daß er seinen Plan schon einmal geändert hatte. Angenommen, sie erzählte ihm, daß Dick Windyfort heute abend kommen werde?
Die Worte lagen ihr schon auf der Zunge, aber sie schwieg. Diesen Mann konnte man ein zweites Mal nicht von seinem Vorhaben abhalten. Seine Entschlossenheit hatte etwas Beängstigendes an sich. Sie würde das Verbrechen nur noch beschleunigen. Wahrscheinlich würde er sie dann gleich umbringen und Dick Windyford anrufen, um ihm irgendeine Geschichte zu erzählen, die ihn entschuldigte.
Ach, wenn nur Dick Windyford heute abend käme!
Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie blinzelte verstohlen zu ihrem Mann hinüber, als hätte sie Angst, daß er ihre Gedanken erraten könnte. Während sie sich ihren Plan zurechtlegte, schöpfte sie wieder Hoffnung. Sie benahm sich jetzt so ungezwungen und natürlich, daß sie sich selbst bewunderte. Sie machte Kaffee und trug ihn auf die Veranda hinaus, wo sie manchmal an schönen Abenden saßen.
«Übrigens», sagte Gerald plötzlich, «ich möchte, daß du mir nachher hilfst, einige Negative zu entwickeln.»
Alix spürte einen kalten Schauder ihren Rücken hinunterlaufen. Aber es gelang ihr, gleichgültig zu fragen: «Kannst du das nicht allein? Ich bin heute abend wirklich etwas müde.»
«Es wird nicht lange dauern.» Er lächelte maliziös. «Und ich kann dir versichern, daß du danach überhaupt nicht mehr müde sein wirst»
Die Worte schienen ihn zu amüsieren. Alix zitterte. Jetzt oder nie war der Zeitpunkt gekommen, wo sie ihren Plan ausführen mußte. Sie erhob sich.
«Ich rufe nur rasch den Metzger an», meinte sie leichthin. «Den Metzger? Um diese Zeit?»
«Sein Geschäft ist natürlich geschlossen. Aber er ist sicher zu Hause. Morgen ist Sonnabend, und ich möchte, daß er mir ein paar Kalbskoteletts bringt, bevor sie mir jemand vor der Nase wegschnappt. Der Gute tut alles für mich.»
Rasch ging sie ins Haus und schloß die Tür hinter sich. Sie hörte, wie Gerald ihr nachrief: «Laß die Tür offen!»
«Ich will nicht, daß die Nachtfalter hereinkommen», sagte sie rasch. «Ich kann sie nicht ausstehen.» Dann fügte sie hinzu: «Hast du Angst, ich flirte mit dem Metzger, mein Lieber?»
Kaum drinnen, wählte sie die Nummer des Gasthauses «Traveller's Arms». Augenblicklich war die Verbindung hergestellt.
«Mr. Windyford, bitte. Ist er noch da? Kann ich mit ihm sprechen?»
Dann blieb ihr das Herz stehen. Die Tür wurde aufgestoßen, und ihr Mann kam in die Diele.
«Geh weg, Gerald», sagte sie empfindlich, «ich mag nicht, wenn man mir beim Telefonieren zuhört.»
Er lachte nur und ließ sich auf einem Stuhl nieder. «Ist das wirklich der Metzger, den du anrufst?» fragte er spöttisch.
Alix war verzweifelt. Ihr Plan war schiefgegangen. Im nächsten Moment würde Dick Windyford an den Apparat kommen. Sollte sie es wagen und um Hilfe rufen?
Und dann, während sie nervös den kleinen Schlüssel am Apparat, mit dem man ein Gespräch beliebig unterbrechen konnte, hin und her drehte, fiel ihr ein anderer Plan eir Es wird schwierig sein, sagte sie sich. Es bedeutet, daß ich den Kopf nicht verliere, die richtigen Worte wähle und nicht stottere. Aber ich glaube, ich schaffe es. Ich muß es schaffen!
Und in diesem Augenblick hörte sie Dick Windyfords Stimme am anderen Ende der Leitung.
Alix holte tief Luft, dann drehte sie den Schlüssel und sprach: «Hier ist Mrs. Martin, Haus Nachtigall. Bitte kommen Sie» – sie drehte den Schlüssel um - «morgen früh mit sechs Kalbskoteletts.» Sie drehte den Schlüssel. «Vielen Dank, Mr. Hexworthy. Entschuldigen Sie, wenn ich so spät noch angerufen habe, aber die Koteletts sind wirklich» – wieder Drehen – «eine Sache von Leben und Tod.» Schlüsseldrehen. «Gut, morgen früh.» Schlüsseldrehen. «So schnell wie möglich»
Sie legte den Hörer auf und wandte sich ihrem Mann zu. «So redest du also mit deinem Metzger», sagte Gerald. «Das ist weibliche List», erwiderte Alix leichthin. Die Aufregung brachte sie halb um. Er hatte nichts gemerkt. Selbst wenn Dick sie nicht verstanden hatte - kommen würde er jedenfalls.
Sie ging hinüber ins Wohnzimmer und schaltete das elektrische Licht ein. Gerald folgte ihr.
«Du scheinst wieder bester Laune zu sein», sagte er und beobachtete sie gespannt.
«Ja», entgegnete sie, «meine Kopfschmerzen sind vergangen.»
Sie setzte sich in ihren Sessel und lächelte ihrem Mann zu, als er ihr gegenüber Platz nahm.
Sie war gerettet. Es war erst fünfundzwanzig Minuten nach acht. Lange vor neun würde Dick kommen.
«Der Kaffee, den du mir serviert hast, hat mir nicht geschmeckt», beschwerte sich Gerald. «Er war bitter.»
«Ich habe eine neue Sorte ausprobiert. Ich werde ihn nicht mehr nehmen, wenn du ihn nicht magst, Liebling.»
Alix nahm sich eine Handarbeit und begann zu sticken. Gerald las ein paar Seiten in seinem Buch, dann blickte er zur Uhr und legte es weg.
«Halb neun. Zeit, um in den Keller zu gehen und mit der Arbeit anzufangen.»
Die Handarbeit fiel Mix aus den Händen.
«Oh, noch nicht. Laß uns bis neun warten.»
«Nein, mein Kind. Halb neun. Diese Zeit habe ich mir vorgenommen. Um so früher kannst du zu Bett gehen.»
«Aber ich möchte lieber bis neun warten.»
«Du weißt, wenn ich mir eine Zeit festsetze, halte ich mich daran. Komm, Alix. Ich werde keine Minute länger warten.»
Alix blickte zu ihm auf, und sosehr sie sich auch dagegen wehrte, eine Welle des Entsetzens durchflutete sie. Die Maske war gefallen. Gerald zupfte an seinen Fingern. Seine Augen leuchteten vor Aufregung. Immer wieder fuhr er mit der Zunge über seine trockenen Lippen.
Jetzt machte er sich nicht mehr die Mühe, seine Erregung zu verbergen.
Alix dachte: Es ist wahr. Er kann es nicht abwarten. Er benimmt sich wie ein Wahnsinniger.
Er kam auf sie zu und berührte ihre Schulter. Sie sprang auf.
«Komm, mein Schatz. Oder ich werde dich tragen.»
Seine Stimme klang fröhlich, aber eine unmißverständliche Grausamkeit schwang im Unterton mit. Mit letzter Kraft machte sie sich frei und hielt sich kauernd an der Wand fest.
Sie war machtlos. Sie konnte nicht weglaufen. Sie konnte überhaupt nichts tun. Und er kam immer näher.
«Also, Alix...»
«Nein – nein!» Sie schrie. Kraftlos streckte sie ihre Hände aus, um ihn abzuhalten.
«Gerald, halt ein. Ich muß dir etwas sagen, etwas beichten!»
«Beichten?» fragte er neugierig.
«Ja, beichten» Sie hatte dieses Wort aufs Geratewohl gewählt Verzweifelt redete sie weiter und versuchte, damit seine Aufmerksamkeit zu fesseln.
«Ein ehemaliger Liebhaber, nehme ich an», sagte er höhnisch.
«Nein», antwortete Alix «Etwas anderes. Man nennt es – ich glaube, man nennt es ein Verbrechen»
Sofort merkte sie, daß sie den richtigen Ton angeschlagen hatte. Instinktiv hörte er ihr zu. Als sie das fühlte, beruhigten sich ihre Nerven etwas. Noch hatte sie eine Chance. Sie ging durch das Zimmer und setzte sich wieder in ihren Sessel.
«Du solltest dich auch lieber hinsetzen», sagte sie leise.
Sogar ihre Handarbeit hatte sie wieder aufgenommen. Aber ihre Ruhe war auch nur eine Fassade. Sie mußte eine Geschichte erfinden, die ihn fesselte, bis Hilfe kam.
«Ich erzählte dir», begann sie, «daß ich fünfzehn Jahre lang als Stenotypistin gearbeitet habe.
Das ist nicht ganz die Wahrheit Es gab zwei Unterbrechungen. Die erste passierte, als ich zweiundzwanzig Jahre alt war. Ich begegnete einem Mann, einem älteren Herrn, der ein wenig Besitz hatte. Er verliebte sich in mich und wollte mich zur Frau. Ich sagte zu, und wir heirateten.» Sie machte eine kleine Pause. «Ich brachte ihn dazu, eine Lebensversicherung zu meinen Gunsten abzuschließen.»
Alix sah das außerordentliche Interesse im Gesicht ihres Mannes und fuhr mit neuer Sicherheit fort.
«Während des Krieges arbeitete ich in der Arzneimittelabteilung eines Krankenhauses. Ich hatte dort die Verwaltung von Medikamenten und Giften unter mir..»
Wieder unterbrach sie sicIh. Jetzt hatte sie ihn gepackt. Daran bestand kein Zweifel. Mörder haben Interesse an Mordgeschichten. Sie hatte damit gerechnet und Erfolg gehabt. Verstohlen blickte sie auf die Uhr. Es war fünfundzwanzig Minuten vor neun.
«Es gibt ein Gift so ein kleines weißes Pulver. Eine Prise davon bringt den Tod. Kennst du dich vielleicht ein wenig mit Giften aus?»
Sie bebte, als sie diese Frage stellte. Wenn er mit Giften Bescheid wußte, mußte sie auf der Hut sein.
«Nein.» antwortete Gerald «Ich weiß sehr wenig davon..»
Ein Seufzer der Erleichterung kam über ihre Lippen.
«Du hast sicher schon einnial etwas von Hyoszamin gehört? Das Gift, von dem ich spreche, hat die gleiche Wirkung, nur ist es absolut unnachweisbar. Jeder Arzt würde den Totenschein auf Herzschlag ausstellen. Ich habe ein kleines Quantum davon gestohlen und aufbewahrt.»
Sie schwieg und ordnete ihre Gedanken.
«Weiter!» befahl Gerald.
«Nein. Ich habe Angst Ich kann es dir nicht sagen. Ein andermal..»
«Jetzt.» rief er ungehalten. «Ich will es jetzt hören!»
«Wir waren einen Monat lang verheiratet .Ich war sehr gut zu meinem Mann. Er rühmte mich bei allen Nachbarn. Jeden Abend bereitete ich ihm seinen Kaffee. Eines Abends, als wir allein waren, streute ich eine Prise des tödlichen Alkaloids in seine Tasse..»
Wieder machte Mix eine Pause und fädelte sorgfältig einen neuen Faden in ihre Nadel. Sie, die niemals schauspielern konnte, überflügelte jetzt die größten Mimen der Welt .Sie lebte ihre Rolle als kaltblütige Giftmischerin.
«Es war sehr friedlich. Ich saß und beobachtete ihn. Nur einmal hat er ein wenig nach Luft geschnappt. Ich öffnete die Fenster. Er sagte, er könne nicht mehr vom Stuhl aufstehen. Dann starb er ...»
Sie lächelte. Es war nur noch eine Viertelstunde bis neun Uhr. Gewiß würde Dick jeden Augenblick hier sein.
«Wie hoch war die Versicherungssumme?» erkundigte sich Gerald.
«Ungefähr zweitausend Pfund. Ich habe damit spekuliert und das Geld verloren. Ich ging wieder ins Büro. Aber nicht lange. Dann lernte ich einen anderen Mann kennen. Ich hatte im Geschäft meinen Mädchennamen behalten, daher wußte er nicht, daß ich schon einmal verheiratet war. Er war jung, sah gut aus und war ganz gut situiert .Wir haben in aller Stille in Sussex geheiratet Er wollte keine Lebensversicherung abschließen. Aber er hat natürlich ein Testament zu meinen Gunsten gemacht Er liebte es, daß ich ihm seinen Kaffee selbst zubereitete, genau wie mein erster Mann.»
Alix lächelte nachdenklich und fügte dann schlicht hinzu: «Ich mache einen sehr guten Kaffee.» Dann fuhr sie fort: «Ich hatte einige Freunde im Dorf, in dem wir lebten. Sie bemitleideten mich sehr, daß mein Mann so plötzlich einem Herzschlag erlag. Der Arzt war mir unsympathisch. Ich glaube zwar nicht, daß er mich verdächtigte, aber er war jedenfalls über den plötzlichen Tod meines Mannes sehr überrascht
Ich weiß nicht genau, weshalb ich wieder in mein Büro zurückging. Gewohnheit, wahrscheinlich. Mein zweiter Mann hinterließ viertausend Pfund. Diesmal spekulierte ich nicht. Ich investierte es. Und dann, na, du weißt ja -»
Aber sie wurde unterbrochen. Gerald Martin, hochrot im Gesicht, halb erstickt, deutete mit dem Zeigefinger auf sich.
«Der Kaffee! Mein Gott, der Kaffee!»
Sie blickte ihn starr an.
«Ich weiß jetzt, warum er so bitter war. Du Teufelin! Du hast deinen Trick zum dritten Mal angewendet!»
Seine Hände umklammerten die Armlehnen seines Sessell. Er war nahe daran, sich auf sie zu stürzen.
«Du hast mich vergiftet!»
Alix war vor ihm zum Kamin zurückgewichen. Sie wollte schon die Lippen öffnen, um es abzustreiten, dann hielt sie inne. Jede Sekunde würde er sie anspringen. Sie nahm all ihre Kraft zusammen. Ihre Augen hielten seinem Blick stand.
«Ja», sagte sie, «ich habe dich vergiftet Das Gift wirkt schon. Du kannst schon nicht mehr aus dem Sessel aufstehen. Du kannst dich nicht mehr bewegen.»
Nur noch ein paar Minuten!
Da. Was war das? Schritte auf der Straße. Das Quietschen des Gartentors. Dann Schritte auf dem Weg zum Haus. Die äußere Tür öffnete sich.
«Du kannst dich nicht bewegen», wiederholte sie. Dann schlüpfte sie an ihm vorbei und flüchtete kopfüber aus dem Zimmer. Ohnmächtig fiel sie in die Arme von Dick Windyford.
«Mein Gott, Alix!» rief er aus.
Dann wandte er sich an den Mann neben ihm, eine große, kräftige Gestalt in Polizeiuniform.
«Sehen Sie nach, was passiert ist!»
Er legte Alix behutsam auf eine Couch und beugte sich über sie.
«Mein kleines Mädchen», murmelte er, «mein armes kleines Mädchen. Was haben sie mit dir gemacht?»
Ihre Lider zuckten, und ihre Lippen murmelten seinen Namen.
Dick fuhr hoch, als der Polizist seinen Arm berührte. «In dem Zimmer ist nichts, Sir, außer einem Mann, der in einem Sessel sitzt .Er sieht aus, als hätte er einen schweren Schock erlitten, und ...»
«Und?»
«Nun, Sir, er ist tot»
Sie waren überrascht, als sie Alix' Stimme hörte. Sie sprach wie im Traum; ihre Augen waren noch geschlossen.
«Und dann», sagte sie, als ob sie etwas zitierte, «starb er.»