Ein guter Freund

Sir Edward Palliser, Kronanwalt,wohnte am Queen Anne's Close, Nr. 9. Queen Anne's Close war eine Sackgasse im Zentrum von Westminster, die ihre friedliche Alt-Londoner Atmosphäre, weitab von der Hektik des zwanzigsten Jahrhunderts, bewahrt hatte. Diese Atmosphäre gefiel Sir Edward ausgezeichnet.

Sir Edward war zu seiner Zeit einer der bedeutendsten Strafverteidiger gewesen. Nun, da er nicht länger vor Gericht plädierte, beschäftigte er sich damit, eine wohlsortierte Bibliothek kriminalistischer Literatur zusammenzutragen. Darüber hinaus war er der Verfasser eines Buches mit dem Titel: Lebensläufe berühmter Verbrecher.

An diesem Abend saß Sir Edward vor dem Kamin in seiner Bibliothek, trank einen ausgezeichneten schwarzen Kaffee und zerbrach sich den Kopf über eine Ausgabe von Lombroso. Was für geistreiche Theorien, und wie überholt sie doch waren!

Die Tür öffnete sich fast lautlos. Über den tiefen Teppich kam sein wohlerzogener Diener heran und murmelte diskret: «Eine junge Dame wünscht Sie zu sprechen, Sir.»

«Eine junge Dame?» fragte Sir Edward überrascht. Das war etwas, das nicht oft geschah.

Dann fiel ihm ein, daß es seine Nichte Ethel sein könnte – aber nein, in diesem Fall würde Armour es ihm gesagt habe. Vorsichtig fragte er:

«Hat dieDame ihren Namen genannt?»

«Nein, Sir, aber sie sagte, sie wäre sicher, daß Sie sie empfangen würden.»

«Führen Sie sie herein», sagte Sir Edward Palliser. Er war neugierig und genoß dieses Gefühl.

Eine schlanke, dunkelhaarige junge Dame, Ende Zwanzig, die ein schwarzes, gutsitzendes Kostüm und einen kleinen schwarzen Hut trug, kam mit ausgestreckter Hand und einem Ausdruck freudigen Wiedererkennens auf Sir Edward zu. Armour zog sich zurück, lautlos schloß sich die Tür hinter ihm.

«Sir Edward, Sie erkennen mich doch wieder, nicht wahr? Ich bin Magdalena Vaughan.»

«Aber natürlich.» Er drückte herzlich die ausgestreckte Hand. Nun erinnerte er sich wieder genau an sie. Die Heimreise von Amerika auf der Siluric. Das reizende Kind – denn damals war sie kaum mehr als ein Kind gewesen -, dem er den Hof gemacht hatte, natürlich diskret, wie es sich für einen Mann in seiner Position ziemt. Sie war so entzückend jung gewesen, so lebhaft, so voll von Bewunderung und tiefer Hingabe – genau das, was das Herz eines Mannes gefangennimmt, der sich den Sechzig nähert. Die Erinnerung ließ zusätzliche Wärme in seinen Händedruck strömen.

«Das ist äußerst reizend von Ihnen. Bitte, nehmen Sie doch Platz.» Er rückte ihr, leicht und gefällig plaudernd, einen Sessel zurecht und fragte sich dabei, was wohl der Grund ihres Kommens war. Als endlich sein leichtes Geplauder versiegte, herrschte Stille im Zimmer.

Ihre Hand auf der Sessellehne öffnete und schloß sich nervös, sie befeuchtete ihre Lippen, dann sagte sie plötzlich: «Sir Edward – bitte helfen Sie mir!»

Er war überrascht und murmelte automatisch: «Ja?»

Sie fuhr fort, und ihr Ton wurde immer eindringlicher:

«Sie sagten damals, wenn ich irgendwann einmal Hilfe brauchen sollte – wenn es irgend etwas auf der Welt geben würde, was Sie für mich tun könnten – daß Sie es tun würden.»

Ja, das hatte er tatsächlich gesagt. Eine Floskel, die man so zu sagen pflegt, besonders in der Stunde des Abschieds. Er konnte sich noch an das Versagen seiner Stimme erinnern, an die Art, wie er ihre Hand an die Lippen führte.

«Wenn es je etwas gibt, was ich für Sie tun kann – denken Sie daran, ich meine es ernst.»

Ja, man pflegt solche Dinge zu sagen – aber nur sehr, sehr selten muß man sein Wort einlösen. Und bestimmt nicht nach – wieviel? – neun oder zehn Jahren. Er warf ihr einen schnellen Blick zu. Sie war noch immer ein sehr gutaussehendes Mädchen, aber das, was er seinerzeit so anziehend fand, hatte sie längst verloren: ihr taufrisches, unberührtes jugendliches Aussehen. Vielleicht war ihr Gesicht jetzt ausdrucksvoller geworden – ein jüngerer Mann hätte das sicher gefunden -, aber Sir Edward war jetzt weit entfernt von der Welle der Wärme und Zuneigung, die ihn damals am Ende jener Atlantikreise überwältigt hatte.

Auf seinem Gesicht spiegelte sich Vorsicht. Er sagte förmlich: «Gewiß werde ich alles für Sie tun, was in meiner Macht steht – obwohl ich bezweifle, daß ich jetzt noch sehr viel für irgend jemanden tun kann.»

Offensichtlich bemerkte sie nicht, daß er seinen Rückzug vorbereitete. Sie gehörte zu den Menschen, die immer nur eine Idee verfolgen. Und in diesem Augenblick sah sie nur ihre eigene Zwangslage. Sir Edwards Bereitschaft, ihr zu helfen, setzte sie als selbstverständlich voraus.

«Wir sind in einer schrecklichen Bedrängnis, Sir Edward~»

«Wir? Sind Sie verheiratet?»

«Nein, ich meine meinen Bruder und mich, und natürlich auch William und Emily, in diesem Fall. Aber ich muß Ihnen das genau erklären. Ich habe... ich hatte eine Tante, Miss Crabtree.

Vielleicht haben Sie darüber in der Zeitung gelesen? Es war schrecklch. Sie wurde getötet -

ermordet».

«Ach ja», Sir Edwards Gesicht hellte sich auf. Es war interessant.

«Vor einem Monat, nicht wahr?»

Sie nickte. «Nicht ganz. Vor drei Wochen.»

«Ja, ich erinnere mich. Sie bekam einen Schlag auf den Kopf, in ihrem eigenen Haus. Den Täter hat man noch nicht gefaßt.»

Magdalena Vaughan nickte wieder. «Nein, man hat den Mann nicht gefaßt. Ich glaube, daß man ihn niemals fassen wird, denn es gibt keinen fremden Täter.»

«Was sagen Sie da?»

«Ja, es ist schrecklich. In den Zeitungen hat darüber nichts gestanden. Aber das ist es, was die Polizei vermutet. Sie weiß, daß niemand an jenem Abend das Haus betreten hat»

«Sie meinen ...»

« ... daß es einer von uns vieren gewesen ist. Es muß so gewesen sein. Die Polizei weiß nicht wer, und wir wissen es auch nicht. Wir wissen es einfach nicht! Und so sitzen wir jeden Tag herum und starren uns gegenseitig mißtrauisch und verstohlen an. Ach, wenn es doch ein Fremder gewesen wäre ...»

Sir Edward blickte Magdalena mit wachsendem Interesse an. «Sie wollen sagen, daß die Familienmitlieder unter Verdacht stehen?»

«Ja. Die Polizei hat das natürlich nicht behauptet. Die Beamten waren sehr nett und höflich. Aber sie haben das Haus auf den Kopf gestellt, sie haben uns alle und Martha immer und immer wieder verhört... Und weil sie nicht wissen, wer es war, warten sie ab. Ich habe Angst, eine schreckliche Angst!»

«Mein liebes Kind, jetzt übertreiben Sie wohl ein bißchen.»

«Oh, nein. Es ist einer von uns vieren – es muß so sein.»

«Wer sind die vier, von denen Sie sprechen?»

Magdalena richtete sich auf und sprach etwas gefaßter. «Das bin ich und mein Zwillingsbruder Matthew. Tante Lily war unsere Großtante, Großmutters Schwester. Wir lebten bei ihr, seitdem wir vierzehn waren. Und dann ist da noch William Crabtree. Er ist Tante Lilys Neffe, der Sohn ihres Bruders. Er lebte gleichfalls bei ihr, zusammen mit seiner Frau Emily.»

«Hat sie ihre Verwandten unterstützt?»

«Mehr oder weniger. William hat etwas eigenes Geld. Er ist nicht gesund und kann nicht arbeiten. Er ist ein ruhiger, in sich gekehrter Mensch. Ich bin sicher, daß er unmöglich ... Ach, es ist schrecklich, daran auch nur zu denken!»

«Ich habe die ganze Angelegenheit noch immer nicht recht verstanden. Vielleicht können Sie mir die genauen Einzelheiten schildern, falls es Sie nicht zu sehr auflegt.»

«Oh, nein, ich will Ihnen gerne alles erzählen. Es ist alles noch so deutlich in meinem Gedächtnis. Wir hatten zusammen Tee getrunken; danach ging jeder seinen persönlichen Beschäftigungen nach. Ich hatte etwas zu nähen, Matthew tippte einen Artikel, denn er arbeitet nebenbei als Journalist, und William beschäftigte sich mit seinen Briefmarken. Emily war nicht zum Tee erschienen. Sie hatte eine Kopfschmerztablette eingenommen und sich hingelegt. Wir waren also alle irgendwie beschäftigt. Und als Martha um halb acht ins Wohnzimmer kam, um für das Abendessen zu decken, da lag Tante Lily da – tot. Ihr Kopf war – ganz zertrümmert.»

«Die Tatwaffe hat man gefunden, nehme ich an?»

«Ja. es war ein massiver Briefbeschwerer, der immer auf dem Tisch neben der Tür lag. Die Polizei untersuchte ihn auf Fingerabdrücke, fand aber keine. Er war abgewischt worden.»

«Und Ihr erster Verdacht?»

«Wir nahmen natürlich an, daß es ein Einbrecher war. Zwei oder drei Schubladen des Schreibtisches waren herausgezogen, so, als ob ein Dieb etwas gesucht hätte.

Selbstverständlich nahmen wir an, daß es ein Dieb war! Doch dann kam die Polizei und stellte fest, daß Tante Lily schon mindestens eine Stunde tot war, und fragte Martha, wer ins Haus gekommen wäre, und Martha sagte: ‹Niemand.› Alle Fenster waren von innen verriegelt, und es gab keine Anzeichen, daß man versucht hatte, sie zu öffnen. Und dann begannen sie, uns Fragen zu stellen ...

Sie stockte. Mit ängstlichen, flehenden Augen suchte sie Trost in Sir Edwards Blick.

«Wer hat vom Tod Ihrer Tante einen Nutzen?»

«Das ist einfach. Wir haben alle den gleichen Nutzen. Ihr Vermögen wird zu gleichen Teilen unter uns aufgeteilt.»

«Und wie groß ist dieses Vermögen?»

«Der Anwalt erklärte uns, daß es etwa achtzigtausend Pfund nach Abzug der Erbschaftssteuer beträgt.»

Sir Edward riß leicht erstaunt die Augen auf. «Das ist eine ganz beträchtliche Summe. Sie kannten, nehme ich an, die Größe des Vermögens Ihrer Tante?»

Magdalena schüttelte den Kopf. «Nein, das hat uns völlig überrascht Tante Lily war immer schrecklich sparsam. Sie hielt sich nur einen Dienstboten und redete immer viel über gutes Wirtschaften.»

Sir Edward nickte gedankenvolL Magdalena beugte sich in ihrem Sessel ein wenig vor. «Sie werden mir helfen, nicht wahr?»

Ihre Worte trafen Sir Edward wie ein Schock gerade in dem Moment, als er anfing, sich für den Fall zu interessieren.

«Meine liebe junge Dame, was kann ich schon tun? Wenn Sie einen guten Rechtsanwalt brauchen, kann ich Ihnen eine Adresse geben ...»

Sie fiel ihm ins Wort. «Oh, nein, das ist es nicht, was ich brauche! Ich bitte um Ihre persönliche Hilfe – als mein Freund ...»

«Das ist sehr schmeichelhaft von Ihnen, aber ...»

«Ich bitte Sie, kommen Sie in unser Haus, stellen Sie Fragen, sehen Sie sich um, und bilden Sie sich selbst ein Urteil!»

«Aber meine liebe ...»

«Erinnern Sie sich daran, was Sie versprachen? Überall, zu jeder Zeit, sagten Sie, wenn ich Hilfe brauche..»

Ihre Augen, flehend, doch zuversichtlich, suchten die seinen. Sir Edward fühlte sich beschämt und seltsam gerührt. Diese Offenheit, dieser unbedingte Glaube daran, daß ein eitles Versprechen, vor zehn Jahren, eine heilige, absolut bindende Sache ist! Wie viele Männer hatten wohl schon diese Worte ausgesprochen fast ein Klischee -, und wie wenige waren jemals aufgefordert worden, sie in die Tat umzusetzen? So entgegnete er ziemlich lahm: «Ich bin sicher, daß es eine Menge Leute gibt, die Ihnen besser helfen könnten als ich.»

«Natürlich habe ich eine Menge Freunde.» (Er amüsierte sich über die naive Selbstsicherheit, die sich darin ausdrückte.) «Aber verstehen Sie, sie sind alle nicht erfahren genug. Nicht so wie Sie. Sie haben Erfahrung darin, Menschen zu befragen. Und mit all Ihrer Erfahrung müssen Sie es wissen.»

«Wissen was?»

«Ob sie schuldig oder unschuldig sind.»

Sir Edward lächelte ziemlich grimmig in sich hinein. Er schmeichelte sich, daß er es im allgemeinen tatsächlich gewußt hatte. Leider war in vielen Fällen seine Meinung nicht die der Geschworenen gewesen.

Magdalena schob mit einer nervösen Geste ihren Hut aus der Stirn, sah sich im Zimmer um und sagte: «Wie still es ist hier. Haben Sie nicht hin und wieder das Verlangen nach etwas Leben?»

Die Sackgasse! Ihre Worte, so unabsichtlich, aufs Geratewohl sie gesprochen waren, hatten ihn an der empfindlichsten Stelle getroffen. Eine Sackgasse, ja. Aber da gab es immer einen Weg hinaus den Weg, den man gekommen war – den Weg zurück in die Welt...

Etwas Ungestümes und Jugendliches begann sich in ihm zu regen. Ihr unbedingtes Vertrauen appellierte an die besten Seiten seines Wesens; und ihr Problem weckte das Interesse des geborenen Kriminalisten in ihm. Ja, er wollte die Menschen sehen, von denen sie gesprochen hatte. Er wollte sich sein eigenes Urteil bilden.

So sagte er: «Wenn Sie tatsächlich überzeugt sind, daß ich Ihnen von Nutzen sein kann ...

Aber denken Sie daran, ich garantiere für nichts!» Er hatte erwartet, daß sie vor Freude überwältigt sein würde, aber sie nahm sein Angebot sehr ruhig auf.

«Ich wußte, daß Sie mir helfen würden. Ich habe Sie immer als wahren Freund betrachtet. Wollen Sie gleich mitkommen?»

«Nein. Ich denke, es wird zweckmäßiger sein, wenn ich Sie morgen aufsuche. Bitte, geben Sie mir noch die Adresse von Miss Crabtrees Rechtsanwalt. Es konnte sein, daß ich ein paar Fragen an ihn habe.»

Sie schrieb die Adresse auf und gab sie ihm. Dann stand sie auf und sagte ein wenig verlegen: «Ich ... ich bin Ihnen überaus dankbar. Auf Wiedersehen!»

«Und Ihre eigene Adresse?»

«Wie dumm von mir! Palatine Walk 18, in Chelsea.»

Es war drei Uhr am Nachmittag des folgenden Tages, als Sir Edward Palliser mit ruhigen, gleichmäßigen Schritten das Haus am Palatine Walk erreichte. In der Zwischenzeit hatte er verschiedene Dinge herausgefunden. Zunächst hatte er Scotland Yard einen Besuch abgestattet, dessen stellvertretender Commissioner ein alter Freund von ihm war, und dann hatte er ein Gespräch mit dem Anwalt der verstorbenen Miss Crabtree geführt. Nun konnte er den Fall besser beurteilen.

Miss Crabtrees pekuniäre Regelungen waren ein bißchen sonderbar gewesen. Sie hatte niemals von einem Scheckbuch Gebrauch gemacht, sondern ihren Anwalt von Zeit zu Zeit angewiesen, eine bestimmte Summe in Fünfpfundnoten für sie bereitzuhalten. Es war fast immer die gleiche Summe, viermal im Jahr dreihundert Pfund. Wenn sie das Geld abholte, pflegte sie in einer vierräderigen Kutsche zu kommen, das einzige sichere Transportmittel in ihren Augen. Sonst verließ sie nie das Haus.

In Scotland Yard erfuhr Sir Edward, daß man die Frage der Finanzen besonders sorgfältig untersucht hatte. Die nächste Abhebung von Miss Crabtree war fällig gewesen. Vermutlich waren also die vorhergehenden dreihundert Pfund verbraucht, oder zumindestens fast verbraucht worden. Doch dieser Punkt schien nicht klar zu sein. Bei Überprüfungen des Haushaltsbuches wurde es schnell klar, daß diese Aufwendungen von Miss Crabtree wesentlich weniger als dreihundert Pfund im Vierteljahr betrugen. Auf der anderen Seite hatte sie die Angewohnheit, notleidenden Verwandten oder Freunden etwas zukommen zu lassen. Ob zur Zeit ihres Todes sich viel oder wenig Geld im Haus befand, war also ein ungeklärter Punkt. Gefunden hatte man keins.

Es war dieser spezielle Punkt, der Sir Edward im Kopf herumging, während er sich seinem Ziel näherte. Die Tür des Hauses (das ohne Kellergeschoß war) wurde von einer kleinen, wachsam blickenden, ältlichen Frau geöffnet. Sie führte ihn in ein großes Wohnzimmer auf der linken Seite der kleinen Eingangshalle, wo ihn Magdalena begrüßte. Deutlicher noch als am Tag zuvor bemerkte er die Spuren nervöser Anspannung in ihrem Gesicht.

«Sie haben mich gebeten, Fragen zu stellen, und deswegen bin ich gekommen», sagte Sir Edward lächelnd, während er ihr die Hand gab. «Zunächst einmal möchte ich gern wissen, wer Ihre Tante zuletzt sah und zu welcher Uhrzeit das war?»

«Martha war das, nach dem Fünf-Uhr-Tee. Sie hatte am Nachmittag die Rechnungen bei den Kaufleuten beglichen und brachte Tante Lily nun die Belege und das Wechselgeld.»

«Vertrauen Sie Martha?»

«Oh, ja, unbedingt. Sie ist schon warten Sie ich glaube dreißig Jahre bei Tante Lily beschäftigt. Sie ist absolut ehrlich und zuverlässig.»

Sir Edward nickte. «Eine andere Frage. Warum nahm Ihre Verwandte, Mrs. Crabtree, eine Kopfscnmerztablette ein?»

«Nun, weil sie Kopfschmerzen hatte.»

«Natürlich, aber warum hatte sie Kopfschmerzen?» «Nun, beim Mittagessen hatte es einen ziemlichen Streit gegeben. Emily ist sehr nervös und erregbar. Sie und Tante Lily hatten hin und wieder einmal Krach miteinander.»

«Und das war während des Mittagessens der Fall?» «Ja. Tante Liliy regte sich oft über Nichtigkeiten auf. Es fing mit einer Kleinigkeit an,und im Handumdrehen hatten sie einen großen Streit Emily sagte Dinge, die sie gar nicht so gemeint haben konnte – daß sie das Haus verlassen und niemals wiederkommen wolle, daß man ihr jeden Bissen im Mund mißgönnen würde – solche albernen Sachen. Und Tante Lily entgegnete, je schneller sie und ihr Mann die Sachen packen und verschwinden würden, desto besser wäre es. Aber niemand hat das ernst gemeint, glauben Sie mir.»

«Weil Mr. und Mrs. Crabtree es sich gar nicht leisten konnten, zu packen und das Haus zu verlassen?»

«Oh, nein, nicht nur deshalb. William hatte Tante Lily sehr gern, wirklich!»

«Und dieser Tag war nicht zufällig ein Tag, an dem allgemein gestritten wurde?»

Magdalena stieg die Röte ins Gesicht. «Spielen Sie auf mich an? Auf den Ärger wegen meines Wunsches Mannequin zu werden?»

«Ihre Tante war damit nicht einverstanden?»

«Nein.»

«Warum wollten Sie Mannequin werden, Miss Magdalena?. Erscheint Ihnen dieses Leben besonders attraktiv?»

«Nein, aber alles andere schien besser als das abhängige Leben hier.»

«Ich verstehe. Aber zukünftig werden Sie über ein ausreichendes Einkommen verfügen können, nicht wahr?»

«Ja, das stimmt. Jetzt hat sich alles geändert.» Diese Bemerkung machte sie mit entwaffnender Einfalt.

Sir Edward schmunzelte, ging aber nicht weiter darauf ein. Statt dessen fragte er: «Und Ihr Bruder? Hatte der auch Ärger?»

«Matthew? Nein.»

«Dann hatte er also kein Motiv, seine Tante aus dem Weg zu räumen?» Ihm entging nicht die momentane Bestürzung in ihren Zügen. Beiläufig sagte er: «Ach, ich vergaß. Er hatte doch eine Menge Schulden, nicht wahr?»

«Ja. Armer alter Matthew.»

«Aber das ist ja nun auch vorbei.»

Sie seufzte. «Ja. Es ist schon eine Erleichterung.»

Begriff sie eigentlich noch immer nicht? Hastig wechselte er das Thema «Sind Ihre Verwandten und Ihr Bruder zu Hause?»

«Ja, ich sagte ihnen, daß Sie kommen. Sie sind bereit, zu helfen. Oh, Sir Edward, irgendwie habe ich das Gefühl, daß Sie herausfinden werden, daß alles in Ordnung ist daß niemand von uns etwas mit dem Mord zu tun. hat – daß es, trotz allem, ein Eindringling war!»

«Ich kann keine Wunder wirken. Es kann sein, daß ich die Wahrheit herausfinde, aber ich kann diese Wahrheit nicht zu der von Ihnen gewünschten machen.»

«Können Sie das nicht? Ich habe das Gefühl, daß Sie alles können – alles.»

Sie verließ das Zimmer. Verstört dachte er: Was meint sie damit? Will sie, daß ich ihr eine Verteidigungslinie vorschlage? Für wen?

Seine Überlegungen wurden durch den Eintritt eines etwa fünfzigjährigen Mannes unterbrochen. Er war von kraftvoller Gestalt, ging aber etwas vornübergebeugt. Seine Kleidung war unordentlich, sein Haar nachlässig gekämmt Er machte einen gutmütigen, aber etwas weichlichen Eindruck.

«Sir Edward Palliser? Wie geht es Ihnen? Magdalena schickt mich. Es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie uns helfen wollen. Obwohl ich bezweifle, daß Sie etwas Neues entdecken. Ich glaube, daß man den Burschen nie mehr erwischen wird.»

«Sie glauben also, daß es ein Einbrecher war?»

«Nun, es muß so sein. Es kann niemand aus der Familie gewesen sein. Diese Burschen sind heutzutage sehr gerissen. Sie klettern wie die Katzen und kommen rein und raus, wie sie wollen.»

«Wo waren Sie, Mr. Crabtree, als die Tragödie geschah?»

«Ich beschäftigte mich mit meinen Briefmarken – oben in meinem kleinen Wohnzimmer.»

«Haben Sie irgend etwas gehört?»

«Nein, aber ich höre nie etwas, wenn ich mich mit einer Sache intensiv beschäftige. Sehr dumm von mir, aber das ist nun einmal so.»

«Liegt das Wohnzimmer, von dem Sie sprachen, über diesem Zimmer?»

«Nein, es liegt auf der Rückseite des Hauses.»

Wieder öffnete sich die Tür. Eine kleine blonde Frau trat ein. Ihre Hände zitterten nervös. Sie sah aufgeregt und gereizt aus.

«William, warum hast du nicht auf mich gewartet. Ich sagte doch: warte!»

«Entschuldige, meine Liebe, ich vergaß es. Sir Edward Palliser – meine Frau.»

«Wie geht es Ihnen, Mrs. Crabtree? Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle. Ich weiß, wie Ihnen daran gelegen ist, daß die Sache aufgeklärt wird.»

«Natürlich. Aber ich kann Ihnen überhaupt nichts sagen, nicht wahr, William? Ich war fest eingeschlafen und wachte erst auf, als Martha schrie.» Ihre Hände zitterten noch immer.

«Wo liegt Ihr Zimmer, Mrs. Crabtree?»

«Über diesem hier. Aber ich habe nichts gehört – wie konnte ich auch? Ich schlief fest.»

Etwas anderes konnte Sir Edward nicht aus ihr herausbekommen. Sie wußte nichts – sie hatte nichts gehört – sie hatte fest geschlafen. Das wiederholte sie mit der Hartnäckigkeit einer verängstigten Frau. Doch Sir Edward wußte, daß es tatsächlich so sein konnte, daß es möglicherweise die reine Wahrheit war.

Er entschuldigte sich schließlich mit der Bemerkung, daß er Martha ein paar Fragen stellen wolle. William Crabtree erbot sich, ihn in die Küche zu führen. In der Eingangshalle stieß Sir Edward fast mit einem schlanken, dunkelhaarigen jungen Mann zusammen, der auf dem Weg zur Haustür war

«Mr. Matthew Vaughan?»

«Ja, aber hören Sie, ich kann nicht warten, ich habe eine Verabredung.»

«Matthew!» Die Stimme seiner Schwester kam von der Treppe. «Matthew, du hast versprochen ..»

«Ich weiß, Schwesterlein. Aber ich kann nicht. Muß einen Freund treffen. Und, nebenbei, was hat es für einen Sinn, über die verdammte Sache immer und immer wieder zu reden? Wir haben genug mit der Polizei darüber geredet. Die ganze Sache hängt mir zum Hals heraus.»

Die Haustür schlug zu. Mr. Matthew Vaughan war gegangen.

Sir Edward wurde in die Küche geführt. Martha bügelte. Sie machte eine Pause, mit dem Bügeleisen in der Hand. Sir Edward schloß die Tür hinter sich. «Miss Vaughan hat mich gebeten, ihr zu helfen», sagte er. «Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?»

Sie sah ihn an, dann schüttelte sie den Kopf. «Niemand von ihnen hat es getan, Sir. Ich weiß, was Sie denken, aber das ist nicht so.»

«Das bezweifle ich nicht Aber, wissen Sie, ihr nettes Wesen ist nicht das, was man einen Entlastungsgrund nennt»

«Mag sein, Sir. Das Recht ist schon eine ziemlich spaßige Sache. Aber es gibt einen Entlastungsgrund, wie Sie es nennen, Sir. Niemand hätte es tun können, ohne daß ich es wüßte.»

«Aber sicherlich ...»

«Ich weiß, wovon ich rede, Sir. Da, horchen Sie!» Über ihren Köpfen war ein. knarrendes Geräusch zu hören.

«Die Treppe, Sir. Jedesmal, wenn jemand hinauf- oder hinuntergeht, knarrt sie entsetzlich. Dabei kommt es nicht darauf an, wie leise man geht. Mrs. Crabtree lag in ihrem Bett, und Mr. Crabtree beschäftigte sich mit seinen scheußlichen Marken, und Miss Magdalena arbeitete oben an ihrer Nähmaschine; wenn einer der drei heruntergekommen wäre, hätte ich es gewußt Aber es kam niemand.»

Sie sprach mit einer festen Gewißheit, die den ehemaligen Anwalt beeindruckte. Eine gute Zeugin, dachte er. Sie würde Gewicht habe.

«Vielleicht haben Sie es nicht bemerkt?»

«Doch, ich hätte es. Ich hätte es bemerkt, ohne es zu bemerken, sozusagen. Genauso, wie Sie es bemerken, wenn eine Tür schlägt und jemand hinausgeht»

Sir Edward änderte seine Meinung. «Das sind drei, von denen wir gesprochen haben. Aber da ist noch ein vierter. War Mr. Matthew Vaugban gleichfalls oben?»

«Nein, er war in dem kleinen Zimmer direkt nebenan und schrieb auf der Maschine. Das kann man hier hören. Die Maschine stand nicht für einen Moment still. Nicht für einen Moment, Sir, das kann ich beschwören. Das Tippen kann einen schrecklich nervös machen, nebenbei gesagt.»

Sir Edward schwieg eine Weile, dann fragte er: «Sie haben sie gefunden, nicht wahr?»

«Ja, Sir. Lag da in ihrem Blut. Und niemand hat einen Ton gehört, wegen des Lärms von Mr. Matthews Schreibmaschine.»

«Wenn ich Sie recht verstehe, sagten sie, daß niemand das Haus betrat?»

«Ja! Wie sollte das auch geschehen, ohne mein Wissen? Die Türglocke läutet hier drinnen. Und es gibt nur die eine Tür.»

Er sah ihr direkt ins Gesicht «Sie waren Miss Crabtree sehr zugetan?»

Ein warmes Leuchten erhellte Marthas Züge. «Ja, das war ich, Sir. Aber für Miss Crabtree ... nun, ich werde alt, und es macht mir nichts mehr aus, darüber zu sprechen. Ich kam in Schwierigkeiten, Sir, als ich ein junges Mädchen war, und Miss Crabtree stand mir bei, nahm mich wieder in ihren Dienst, als alles vorbei war. Ich hätte mein Leben für sie gegeben, ich hätte es wirklich getan.»

Sir Edward erkannte Aufrichtigkeit Martha war aufrichtig.

«Soviel Sie wissen, kam also niemand durch die Haustür?»

«Es hätte niemand kommen können.»

«Ich sagte, soviel Sie wissen. Aber wenn Miss Crabtree jemanden erwartet hätte wenn sie diesem Jemand selbst die Tür geöffnet hätte.»

«Oh!» Martha schien überrascht zu sein.

«Das wäre doch möglich, Sir, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich Ich meine ...»