11. KAPITEL
Es war Mitte Dezember. Diese Jahreszeit hatte Joshua schon immer gehasst. Er fühlte sich, als ob er die letzten Wochen in einem Vakuum verbracht hätte. Wo er auch hinschaute, glitzerte und leuchtete es weihnachtlich. Jedes Schaufenster strahlte in Rot und Grün.
Wenn er die Augen schloss, dann sah er sie. Ihre großen, blitzenden Augen, ihre süßen, zarten Lippen, die nur darauf warteten … Er konnte ihr heiseres Lachen hören. Frische Pfirsiche riechen. Ach verdammt.
Er konnte einfach an nichts anderes denken als an Jessie. Jessie, die verschmitzt einen Kranz aus Stechpalmen im Haar trug. Jessie, wie sie zu ihm auflachte und ihn in den Arm nahm. Jessie, Jessie, Jessie.
Jessie liebte Feiertage. Und Weihnachten war ihr Lieblingsfest. Die Geschichte über ihr kleines Buch mit den eingeklebten Bildern hatte ihm fast das Herz gebrochen. All diese ausgeschnittenen Fotos, aus Zeitungen und Magazinen. All diese unerfüllten Wünsche und Träume.
Wenn irgendetwas davon wahr gewesen wäre. Inzwischen war er davon überzeugt, dass selbst das Teil ihrer Lüge gewesen war. Sie hatte dieses verdammte Baby gewollt. Sie hatte ihre Attacke mit der Raffinesse eines Generals geplant und ausgeführt. Die Waffen, die sie eingesetzt hatte, waren so alt wie die Menschheit selbst, und beinahe hätte sie ihr Ziel erreicht. Gott, wie aufgebracht sie war, als er ihr von der Sterilisation erzählte.
Er wollte nicht über Jessie nachdenken. Die Tatsache, dass diese Jahreszeit ihn immer an sie erinnern würde, nervte ihn noch mehr.
Joshua drückte einen Knopf, die Tore zu seinem Anwesen öffneten sich. Ihm grauste vor der Dunkelheit und Leere des Hauses. Zum Glück hatte er Simon gebeten, auf einen Drink vorbeizukommen, bevor sie gemeinsam zum Abendessen gehen würden.
Nachdem er Jessie kennengelernt hatte, hatte er Simon kaum noch gesehen. Dabei war er gerne mit seinem Onkel zusammen, egal wie oft der versuchte, ihn zu manipulieren. Heute Abend würde er ihm aber unmissverständlich klarmachen, dass Jessie ein Tabuthema war. Sie würden was zusammen trinken, gut essen, und dann würde das Leben endlich wieder seinen normalen Verlauf nehmen.
Den meisten Angestellten hatte er den Monat freigegeben. Er hatte keine Lust mehr auf ihre vorwurfsvollen Blicke. Sie hatten Jessie angebetet. In ihren Augen war er der Buhmann. Vielleicht sollte er ihnen ja mal von ihrer wundersamen Schwangerschaft erzählen.
Seit Jessie nicht mehr da war, kam er abends in ein dunkles Haus. Er hatte sich so sehr daran gewöhnt, dass Jessie auf ihn wartete, alle Lichter anheimelnd angeschaltet. Ganz zu schweigen von ihrem warmen Lächeln und ihren tröstenden Armen. Das Haus, aus dem sie kurzzeitig ein Heim gemacht hatte, war nun wieder nichts anderes als ein Haus.
Aber egal, es war ihm vorher auch ohne sie gut gegangen, und, verdammt noch mal, das würde wieder so sein. Er brauchte sie nicht.
Er umklammerte das Lenkrad fester. Diese verräterische kleine Hexe! Die Regenbogenpresse hatte bereits Hackfleisch aus ihr gemacht. Ein Kalendergirl, das nicht einmal die zwölf Monate durchgehalten hatte. Die Gerüchte wucherten wild, was Joshua wie immer völlig ignorierte. Es war der Job seiner Public-Relations-Abteilung, die Artikel über ihn durchzusehen und ihm nur das vorzulegen, worauf er persönlich reagieren musste.
In diesem Fall hatte er jedoch seine Leute instruiert, nichts zu unternehmen, um den wilden Spekulationen Einhalt zu gebieten. Es interessierte ihn nicht, was aus ihr wurde. Jessie hatte sich die Suppe eingebrockt, jetzt musste sie sie auch selbst auslöffeln.
Er wollte sich einreden, dass sie sowieso nicht mehr als ein kurzes Intermezzo gewesen war, leicht zu vergessen. Doch die Realität war eine andere. Sie hatte sein Leben verändert. Niemals mehr wollte er eine Geliebte für einen festen Zeitraum haben. Meine Güte, er fühlte sich schon jetzt bereits wie ein Eremit, Sex war das Letzte, woran er dachte.
Selbst das hatte sie ihm verdorben.
Er hatte vor, die Weihnachtstage in London zu verbringen, ohne irgendjemanden darüber zu informieren. Inzwischen tat es ihm fast leid, dass er ihr das Haus in Tahoe überschrieben hatte. Diesmal konnte er sich an den verhassten Feiertagen nicht einmal dorthin zurückziehen.
Es begann zu regnen. Ein feiner, deprimierender Dunst lag auf den nackten Ästen der Bäume und drückte die Sträucher in der Einfahrt zu Boden. Ich kann aber auch in die Sonne fahren, dachte er, als er aus dem Jaguar stieg und die geschwungene Treppe hinaufging. Irgendwohin, wo es heiß war.
Irgendwohin, wo er mit Jessie nie gewesen war.
Das Erste, was ihm auffiel, als er eintrat, war der Geruch. Er schloss die Augen und atmete tief ein.
Offenbar war er kurz davor, durchzudrehen. Das Haus war vollkommen leer, und doch roch er den Duft von Kiefern und Zimt und gebratenen Äpfeln.
Joshua warf seinen Mantel über einen Tisch und lief durch die Eingangshalle zu seinem Refugium, wo er wie angewurzelt stehen blieb.
Der Weihnachtsbaum, in Gold und Grün geschmückt und mit kleinen, weißen Lichtern füllte eine ganze Ecke vor den Fenstern aus. In dem riesigen Kamin brannte ein Feuer, das sich in den in Folien eingepackten Geschenken spiegelte. Neben den Kristallkaraffen auf dem Getränkewagen stand ein Teller mit selbst gebackenen Plätzchen.
Jessie.
Joshuas Herz begann wie wild zu hämmern. Er schnappte nach Luft, als ob er ersticken würde.
Jessie war zu Hause.
Er massierte seine noch immer schmerzende rechte Hand. Du Narr. Denn wenn sie tatsächlich hier wäre, würde er sie innerhalb von zwei Sekunden aus seinem Haus werfen. Er brauchte sie nicht, und mit Sicherheit wollte er Weihnachten nicht feiern, weder dieses Jahr noch sonst irgendwann. Verflucht sei sie.
„Jessie!“ Er raste aus dem Zimmer, stürmte wie ein Wahnsinniger durch das leere, stille Haus und rief ihren Namen. Wo auch immer er hinschaute, sah er Anzeichen dafür, dass Jessie gekommen war.
Und wieder gegangen.
Völlig außer sich riss er Türen zu unbenutzten Zimmern auf, schaute in Wandschränke. In seinem Schlafzimmer konnte er eine Spur ihres Parfüms riechen, aber Jessie war nicht da. In ihrer Hälfte des Schrankes hingen noch immer ihre Kleider. Jedes verdammte Kleid, das er ihr geschenkt hatte. Er knallte die Tür zu, um die Erinnerung an ihren Pfirsichduft, an Glück und Zweisamkeit auszusperren.
Er war über ihr Eindringen empört. Gerade jetzt, wo er beinahe über sie hinweg war. Verflucht. Wie konnte sie es wagen, einfach in sein Haus zu kommen und das bisschen Frieden, das er gefunden hatte, wieder zu zerstören?
Die Vorstellung von Jessies rundem Bauch, in dem das Kind eines anderen Mannes heranwuchs, drückte gegen seine Hirnwindungen. Würde dieses Bild jemals verblassen? Oder würde es eines Tages von dem Bild ersetzt werden, auf dem Jessie das Kind eines anderen Mannes an ihre Brust legte?
Joshua lief wieder nach unten. Sein Kiefer schmerzte, so sehr hatte er die Zähne zusammengebissen. Das tat sie nur, um ihn zu quälen. Das würde er nicht zulassen. Er flüchtete sich in seine kontrollierte, viel leichter zu handhabende Persönlichkeit und schenkte sich einen ordentlichen Armagnac ein. Er versuchte, den 1884er Bas Armee zu genießen und den Duft der Plätzchen zu ignorieren.
Dann betrachtete er die Geschenke, die unter dem Baum gestapelt waren. Ein grünes, goldgesprenkeltes Tuch lag über etwas Langem, Gebogenem. Ein Zettel war daran geheftet.
Joshua ging in die Hocke. Seine Hände zitterten leicht, als er das Papier vom Stoff entfernte.
„Hör auf zu zweifeln“, hatte sie geschrieben. „Tu so, als ob du sieben Jahre alt wärst und an Heiligabend die Treppe herunterkommst.“ Joshua schloss einen Moment seine brennenden Augen. „Ich kann nicht Teil deiner Zukunft sein. Ich war nur ein kleiner Teil deiner Gegenwart. Ich wollte dir etwas von deiner Vergangenheit zurückgeben.“ Sie hatte nicht unterschrieben.
„Verflucht, Jessie.“ Er nahm einen großen Schluck des Armagnacs, zog das Tuch vorsichtig zur Seite und hielt den Atem an. Es war eine Eisenbahn. Eine perfekte Eisenbahn, eine schwarze, glänzende Lionel-Lok, der Kohlentender, und dahinter die Waggons, in denen kleine Geschenke verstaut waren.
Die Eisenbahn verschwand hinter einem Tränenschleier. Joshua fiel auf die Knie und blinzelte heftig, dann legte er den Schalter um. Der Zug setzte sich mit einem Pfeifen in Bewegung, kurz danach stieg aus dem Schornstein eine Rauchsäule auf. Unwillkürlich musste er lächeln, obwohl tief in ihm etwas schmerzte.
Sie hatte die Gleise entlang der Wände gelegt, unter dem Schreibtisch hindurch und um die Stühle herum. Joshua betrachtete den Zug fast eine halbe Stunde lang, während er versuchte, wieder klar zu denken. Er hatte keine Ahnung, warum sie das getan hatte. Und er wollte sich auch nicht darüber freuen.
Er stand auf, um sein Glas nachzufüllen, und nahm dann gedankenverloren den Plätzchenteller mit zurück an seinen Platz. Er schob sich ein Plätzchen in den Mund, schloss die Augen und lauschte dem Klack-Klack der winzigen Räder auf den winzigen Gleisen. Mit sieben hätte er sein Leben für eine solche Eisenbahn gegeben.
Jessie hatte das nicht vergessen.
Jessie, die niemals ein Geschenk bekommen hatte, bis sie einundzwanzig war. Jessie, die als Kind niemals Spielzeug gehabt hatte. Jessie, die ihn nie um irgendetwas gebeten hatte.
Ein kleines Päckchen fiel von einem Waggon vor sein Knie. Ein wenig beklommen öffnete er es. Ein rotes Jo-Jo kam zum Vorschein. Im nächsten waren Murmeln. Und im nächsten ein Schweizer Armeemesser.
In jedem Päckchen befand sich etwas, was er sich als Junge gewünscht hatte. Er riss das bunte Papier von einem Geschenk unter dem Baum auf und fand das Flanellhemd, das sie ihm in Tahoe versprochen hatte. In der nächsten Schachtel lag eine braune Bomberjacke.
Er zog sein Jackett aus und die Jacke über, die streng nach Leder und ein ganz klein wenig nach Jessie roch. Er griff in die Tasche und zog den langen weißen Seidenschal hervor. Sie hatte sich jeden seiner geheimen Wünsche gemerkt und ihm erfüllt. Nichts hatte sie vergessen.
Joshua lehnte sich zurück, der Armagnac und das Kaminfeuer wärmten seine Haut. Er nahm ein Kissen vom Sofa, das ebenfalls noch nach ihr roch. „Verflucht, Jessie“, rief er böse und drückte es gegen seine Brust. Wie immer erregte ihn ihr Geruch. Er stöhnte gequält auf. „Du sollst in der Hölle schmoren.“ Schließlich hatte sie ihn dort auch hingeschickt.
Er betrachtete die Geschenke und die Berge an Papier, die um ihn herumlagen, während seine Eisenbahn eine weitere Runde drehte. All das hatte er als Kind gewollt. Und Jessie hatte es ihm gegeben. Siebenundzwanzig Jahre später.
Joshua griff nach dem letzten Päckchen, das unter dem Baum lag. Eine in goldenes Papier eingewickelte Schachtel mit einer großen roten Schleife. Dieses Geschenk hatte sie unter all den anderen versteckt.
Er nippte an seinem Drink. Wie gerne hätte er geglaubt, dass alles, was in seinem Büro geschehen war, nur ein böser Traum gewesen war. Dass Jessie ihn niemals betrogen hatte. Dass sie jeden Moment hereinkommen würde, ihn mit ihren schönen Augen liebevoll betrachten und ihr heiseres Lachen lachen würde.
Diese Geschenke waren so typisch für sie. So absolut richtig. Sie kannte ihn zu gut – was der Grund dafür war, dass sie es geschafft hatte, seine Schutzmauern einzureißen und ihn völlig zu vernichten.
Er drehte das letzte Päckchen in seinen Händen. Strich mit den Fingern über die Schleife und das weiche Goldpapier. Er hatte eine lächerliche Angst davor, dieses letzte Geschenk zu öffnen. Als ob er sie ein paar Minuten länger in diesem Raum halten könnte, solange er nicht wusste, was sich darin befand.
Warum nur bezauberte ihn so ziemlich alles, was diese verdammte Frau tat? War es ihre Absicht gewesen, dass er sich eine Zeit lang nicht nur wie ein Siebenjähriger fühlte, sondern vielleicht auch, dass er dumm genug wäre, ihr diesen Mist über seine missglückte Sterilisation abzunehmen?
Bittere Galle stieg in ihm hoch. Er, ein Mann, der niemals schwankte, niemals unentschlossen oder zwiespältig war, wurde mit einem Mal von größten Zweifeln geplagt.
Zu gerne würde er Jessies lächerliche Geschichte glauben. Seine Wut verwandelte sich in Sekundenschnelle in Seelenqualen. Selbst das Atmen schmerzte. Er hatte das Gefühl, als ob er ohne sie langsam sterben würde. Joshua goss sich ein weiteres Glas ein und schüttete es in einem Zug hinunter.
Nach Luft schnappend und mit Tränen in den Augen blickte er auf seine Rolex. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war Gesellschaft. Hatte er noch genug Zeit, die Verabredung mit Simon abzusagen? Aber mit welcher Entschuldigung?
Ich bin nach Hause gekommen und musste feststellen, dass Jessie hier war. Wenn ich die Augen schließe, kann ich sie riechen. Sie hat mir jeden Wunsch erfüllt, den ich jemals hatte. Die Schachtel schnitt ihm in die Hand. Und sie hat mir etwas weggenommen, von dem ich gar nicht wusste, dass ich es wollte. Bis ich sie traf.
Er verlagerte sein Gewicht in der Hoffnung, damit die Enge in der Brust loszuwerden, und lehnte sich an seinen Schreibtisch. Er war kein romantischer Narr. Mit Jessie hatte er genau dieselbe Abmachung gehabt wie mit zahlreichen Frauen zuvor. Ihr vorzeitiger Abgang war nichts anderes als ein lästiger Umstand.
„Ja, klar!“ rief Joshua laut, als die Lok pfiff und kleine Rauchwölkchen ausstieß. Er schloss die Augen und verstärkte seinen Griff um die Schachtel.
Draußen war es windig, kleine Äste klopften an die Fenster. Während er wie ein Kind auf dem Boden gesessen und mit der Eisenbahn gespielt hatte, war es dunkel geworden. Er hatte kein Licht eingeschaltet. Der Scheinwerfer der Lok sandte einen schmalen Lichtstrahl durchs Zimmer, außerdem reichten der Schein des flackernden Feuers und die kleinen Lichter des Weihnachtsbaums völlig aus.
Joshua stellte das leere Glas auf den Tisch, dann ging er zum Kamin, um Jessies letztes Geschenk auszupacken, bevor Simon auftauchte.
Das Papier raschelte, bevor es sein Geheimnis preisgab. Das brachte Joshua zum Lächeln. Genauso hatte Jessie das beabsichtigt, keine Frage.
Er nahm das Armeemesser, das Jessie ihm geschenkt hatte, aus der Tasche, schnitt die Klebestreifen durch, öffnete die Schachtel und nahm vorsichtig ein Papier heraus. Es roch nach Jessie, und er wartete einen Moment, ehe er las.
„Joshua“, hatte sie geschrieben. „Bitte verzeih mir, was ich dir angetan habe. Simon und Felix haben nur geschwiegen, weil ich sie angefleht habe, dir nichts zu erzählen.“
Das Papier knisterte in seinen Händen. Was zum Teufel hatten Felix und Simon damit zu tun?
„Ich wollte dich niemals anlügen, aber ich habe mich so sehr nach einem Kind gesehnt. Ich muss zugeben, dass ich fast alles dafür getan hätte, dieses Ziel zu erreichen. Ich habe fälschlicherweise geglaubt, sofort schwanger zu werden. Nicht eine Sekunde lang hätte ich gedacht, dass ich mich in dich verlieben würde. Doch als es passierte, habe ich mich entschlossen, nicht schwanger zu werden, weil ich unbewusst ahnte, dass du mich niemals würdest lieben können. Aber wir hatten es oft so eilig, dass ich völlig vergessen habe, zu verhüten.“
Ja. Klar!
„Ich wünschte, ich hätte dich lieben und auf dich aufpassen können, als du ein Kind warst. Aber wenigstens hoffe ich, dass diese Geschenke dir irgendetwas bedeuten. Ich kann verstehen, dass du mir wegen des Babys nicht glauben wolltest. Außerdem habe ich dich schon vorher belogen. Doch die Tatsache bleibt – es ist unser Kind.“
Natürlich, Jessie.
„Ich weiß, dass du mich nie mehr wiedersehen willst. Es tut mir so leid, dass ich dir wehgetan habe.“
Er sah, dass die Worte verwischt waren. Von Tränen.
"Wenn du deine Meinung je ändern solltest … wir werden auf dich warten. Falls nicht, dann hoffe ich nur, dass du mir eines Tages vergeben kannst und eine neue Liebe findest.
Ich werde nie aufhören, dich zu lieben.
Deine Jessie."
Beinahe hätte er die Schachtel mitsamt Inhalt ins Feuer geworfen. Er hatte genug! Sie hatte ihn mit ihren Geschenken völlig durcheinandergebracht. Seine Brust fühlte sich wie zusammengeschnürt an.
Verflucht, Jessie.
In der Schachtel lagen verschiedene Papiere. Joshua knipste die Schreibtischlampe an. Er wollte dieses letzte Geschenk ansehen, bevor sein Onkel hereinkam.
Als er das nächste Papier auffaltete, stockte ihm der Atem. Mit gerunzelter Stirn ließ er seine Schultern kreisen. Was zur Hölle …? Es war ein Beleg von Tiffany’s in San Francisco. Hatte sie womöglich den Schmuck zurückgegeben, den er ihr geschenkt hatte? Das ergab keinen Sinn. Außerdem fand er noch eine Notiz, dass der Rest des Schmuckes bei seinem Anwalt hinterlegt sei.
Er starrte noch eine Weile auf das Blatt, bevor er es auf den Tisch legte. Er sehnte sich nach einem weiteren Drink, aber seine Beine wollten sich einfach nicht bewegen. Neugierig schlug er das nächste Dokument auf. Was zum …?
Ein Scheck … über mehr als sechs Millionen Dollar? Woher um Himmels willen hatte Jessie so viel Geld? Und warum gab sie es ihm?
Dann zog er dreifach gefaltete Unterlagen aus Jessies Büchse der Pandora. Die Papiere sahen abgegriffen aus und so, als wären sie oft geöffnet und wieder gefaltet worden. Das Licht reflektierte von einem glänzenden Viereck in der rechten oberen Ecke. Verwirrt starrte er auf die Scheidungspapiere. Dann hielt er mit gerunzelter Stirn das schimmernde Viereck ins Licht. Es handelte sich um ein Polaroidfoto, um das Bild eines abgerissenen jungen Mädchens mit wirrem orangefarbenen Haar und riesigen braunen Augen.
Der Schmerz traf ihn so plötzlich, dass er auf die Knie sank. Er breitete sich in seiner Brust aus. Joshuas Gesicht verzerrte sich, er presste die Augen zusammen, stand wieder auf und schwankte zurück zum Schreibtisch. Eine rote Welle rauschte über ihn hinweg, er blieb atemlos und zitternd zurück. Er schwitzte.
Jessie hatte also erreicht, was sie von vornherein geplant hatte. Sie wollte ihm nicht nur das Herz aus dem Leib reißen, sondern ihm gleich einen ganzen Herzinfarkt bescheren.
Er sah, wie Scheinwerfer in der Auffahrt auftauchten. Zu weit weg. Zu spät.
Joshua tastete nach dem Telefon, drückte sich den linken Arm gegen die Brust. Es gelang ihm, die Schnellwahltaste zu drücken.
„Hallo, hier ist Jessie. Ich kann gerade leider nicht ans Telefon …“
Eine Brandbombe explodierte in seiner Brust. Flammen schossen seine Arme entlang.
Der Hörer fiel aus seinen gefühllosen Fingern. Er knallte auf die fahrende Lokomotive und landete auf dem dicken Teppich. Aus der Ferne hörte er das Pfeifen des Zuges, dessen Räder in der Luft durchdrehten. Dann donnerte der Puls in seinen Ohren und blendete alles andere aus.
Das Telefon. Er musste … 911 … anrufen … Schmerzen … O Gott … Das war es … Er musste … musste …
Schwarzer Schnee rieselte vor seinen Augen, dann verschwamm sein Blick, er spürte, wie er in ein tiefes, schwarzes Loch stürzte.
„J-Jessieee.“
„Du hattest verdammtes Glück“, sagte Simon, der an Joshuas Bett im Krankenhaus saß.
„Mir geht’s gut. Es war wohl nur eine heftige Panikattacke.“ Joshua zog verlegen eine Grimasse.
„Es hätte aber durchaus ein Herzinfarkt sein können. Der Arzt sagt, es war ein Warnschuss. Du sollst halblang machen.“
„Nun, das hat ja auf jeden Fall schon mal funktioniert.“ Joshua bewegte sich ruhelos unter der Decke, seine Beine waren zu lang für das Bett. „Danke, dass du rechtzeitig da warst, Simon.“
„Ich war zu Tode erschrocken, als ich dich gefunden habe. Zum Glück hatte ich ja einen Schlüssel. Du lagst völlig bewegungslos auf dem Boden, deine Lippen warenganz blau. Himmel, Junge, ich habe beinahe selbst einen Herzinfarkt bekommen.“ Simon stand auf und durchquerte das Zimmer. Joshua sah ihm neidisch dabei zu. Er selbst war mit jeder Menge Kabel verdrahtet und ans Bett gefesselt.
Simon fuhr sich mit den Händen durch sein weißes Haar. „Du wirst tun, was sie dir sagen, verstanden? Sie wollen dich vierundzwanzig Stunden lang beobachten, und du hältst dich besser dran. Ich bin nämlich entschlossen, vor dir abzutreten, also durchkreuz mir meine Pläne nicht. Kapiert?“
Joshua nahm etwas vom Nachttisch. „So lange könntest du mir das hier erklären“, sagte er durch zusammengebissene Zähne. Die Maschine neben seinem Bett begann zu piepsen.
„Was ist das? Oh. Jessies Scheidungspapiere.“
Joshua schloss die Augen und zwang sich, ruhig zu bleiben. Der Monitor neben ihm gab mehrere hohe Warnsignale von sich. Eine Krankenschwester rauschte herein und befahl ihm, ruhig liegen zu bleiben. Sie begann, seinen Puls zu messen, strich die Bettdecke glatt und brachte Joshua nur noch mehr in Rage. Simon warf ihm einen warnenden Blick zu.
Als die Frau gegangen war, sagte Joshua kalt: „Simon? Ich will eine Erklärung.“
„Sie hat gesagt, dass sie dir die verflixten Papiere geben will. Nun, jetzt hast du sie. Jessie lässt sich von dir scheiden.“
„Was nicht so einfach ist, nachdem wir nie geheiratet haben“, sagte er. Er wollte hören, dass Simon seinen Verdacht bestätigte.
„Jessie ist Vera, mein Sohn.“
Der Monitor stieß eine Reihe von Piepstönen aus. „Dann ist es also wahr.“
Simon nickte bedächtig.
Joshua setze sich auf, lehnte sich an das Metallkopfteil und ignorierte den Schmerz, den die Kanüle in seiner Hand ihm verursachte. „Soll das vielleicht heißen, dass du es die ganze Zeit gewusst hast? In all den Jahren, in denen du mir von der Innenarchitektin erzählt hast, die bei Conrad und Archie arbeitet, hast du gewusst, wer sie ist?“ Er zuckte kurz zusammen, als er sich die Nadel aus dem Handrücken riss.
„Ich habe ihr den Job sogar selbst besorgt.“ Simon sah Joshua fasziniert dabei zu, wie er ein weiteres Klebeband löste und die Nadel herauszog. „Weißt du, was du da tust?“
„Offensichtlich nicht.“ Joshua verzog das Gesicht, als sich ein Tropfen Blut auf seiner Handfläche bildete. Er blickte seinen Onkel an. „Verdammt, Simon. Auf welcher Seite stehst du eigentlich?“
„Du hast dieses arme Mädchen geheiratet und bist dann verschwunden, bevor du noch ihren Namen richtig wusstest. An diesem Tag ist sie ein Teil der Familie geworden – irgendjemand musste ihr doch helfen. Felix und ich haben sie unter unsere Fittiche genommen. Das war das Mindeste, was wir tun konnten.“
Joshua fluchte. Er warf die Bettdecke zur Seite, schwang die Beine aus dem Bett und stand auf.
„Wohin willst du?“, fragte Simon alarmiert.
„Ich habe etwas zu erledigen. Und wenn ich zurück bin, werde ich mich um Felix und dich kümmern.“ Joshua riss verschieden Schubladen auf. „Aber zuerst muss ich meine Klamotten finden.“
„Sie war immer schon ein gieriges kleines Miststück“, sagte Simon milde und starrte seinen Neffen durchdringend an. Eine Schublade wurde zugeknallt.
„Nenn sie nicht Miststück“, rief Joshua drohend. „Aha.“ Er hatte seine Schuhe gefunden und seine Socken. Wo zum Teufel war der Rest?
„Geldgierig.“
„Jessie hat mich nie um etwas gebeten, Simon.“
„Dann eben egoistisch. Wie alle Frauen.“
Joshua öffnete den Schrank und nahm seine Kleider heraus. „Jessie ist die großzügigste, liebevollste Frau, die ich kenne.“ Der Geruch nach Leder, Jessie und unerfüllten Wünschen umfing ihn. Er warf die braune Lederjacke aufs Bett.
„Okay, dann eben unfähig, einen Mann zu lieben.“
„Blödsinn.“ Joshua zog seinen Slip an, dann die Hose. „Jessie ist voller Liebe.“
„Sie wollte einfach nur teure Geschenke. Wie alle anderen.“
„Jessie wollte keine Geschenke.“
„Dann wollte sie mit dem berühmten Joshua Falcon in der Öffentlichkeit gesehen werden. Und der Lear hat ihr bestimmt gefallen.“
„Nein.“ Joshua zog das Hemd über. „Den Lear hat sie nicht sonderlich gemocht. Sie hat immer gesagt, dass sie lieber mit offiziellen Fluglinien fliegt, weil sie die Leute so verdammt interessant findet.“ Er schloss den Gürtel.
„Zum Teufel“, fuhr Simon fort. „Eine Geliebte sollte ihren Platz kennen. Sie hätte stolz darauf sein müssen, dir zu gehören, verflucht.“ Simon starrte Joshua aus halb geschlossenen Augen an.
„Eine Frau gehört einem Mann nicht wie ein Hund, Simon.“
„Nein? Jedenfalls verstehe ich nicht, dass sie sich so gedemütigt fühlte, als die Presse sie als dein Kalendergirl bezeichnet hat. Himmel, sie wusste doch, dass es nach zwölf Monaten vorbei sein würde.“
„Zehn.“ Joshua warf sich aufs Bett und zog die Socken an.
„Hat nicht bis zum Ende durchgehalten, wie? Sie brauchte nicht mal ein ganzes Jahr, um ihren finanziellen Nutzen daraus zu ziehen.“
Joshua durchsuchte seine Taschen. „Sie hatte keinen finanziellen Nutzen, Simon. Jessie hat alles zurückgegeben. Himmel, ich konnte ihr nur Schmuck schenken, solange sie dachte, dass es sich um Modeschmuck handelt.“
Simon johlte: „Und das hast du geglaubt, Sohn? Ach Gott, eine Frau kann Diamanten aus hundert Metern Entfernung erkennen. Ein cleverer Schachzug, keine Frage. Frauen können ganz schön geschickt sein. Wir Männer sollten besser aufpassen. Gott verhüte, dass wir ihnen auch nur das geringste Vertrauen entgegenbringen.“
„Gib’s auf, Simon. Ich weiß, was du zu tun versuchst.“
Simon erhob sich seufzend und blickte Joshua ernst an. „Jessie ist das Beste, das dir je passiert ist.“ Er wandte ihm den Rücken zu und starrte aus dem Fenster. „Lass nicht zu, dass die Ehe deiner Eltern dein ganzes Leben zerstört. Du kannst den Spuk beenden, Joshua. Jessie ist eine gute Frau. Sie hat Mumm und Rückgrat und Anstand – genau wie du. Und sie hat mehr Liebe zu geben, als ein einzelner Mann in einem Leben aufbrauchen kann. Wie kann jemand nur so dumm sein, sie sich durch die Lappen gehen zu lassen?“
„Ach, verflucht“, sagte Joshua sarkastisch. Zu seinen eigenen Schuldgefühlen gesellte sich jetzt auch noch der Ärger seines Onkels. „Tut mir leid, dass ich ein Mensch bin!“
„Wir unterhalten uns später über deine angebliche Spezies. Was willst du wegen Jessie unternehmen?“
„Was soll ich denn verdammt noch mal tun? Sie hat mir einen Hieb direkt in den Magen versetzt.“
„Bist du sicher, dass es nicht eher dein Herz war?“
„Vermutlich glaubt sie nicht mal, dass ich eines habe.“ Joshua nahm die gefalteten Papiere vom Nachttisch und steckte sie in die Tasche. „Hatte ich keine Brieftasche dabei?“
„Im Nachttisch“, sagte Simon geistesabwesend. „Du hast nichts verloren. Jessie hat für dich alles aufgegeben. Den Job, den sie sehr liebt. Die meisten ihrer Freunde. Sie hat dir auf Abruf zur Verfügung gestanden.“ Simon seufzte schwer und erhob sich aus seinem Stuhl. „Sag mal, Joshua. Hast du jemals darüber nachgedacht, wie eine Frau wie Jessie sich als deine Geliebte fühlt?“
Joshua blickte Simon an, der so alt aussah, wie er sich im Moment fühlte, antwortete aber nicht.
„Haben wir Männer jemals überlegt, wie es ist, wenn jeder weiß, dass die Frau an unserer Seite nur kurzfristig mit uns zusammen ist? Dass sie nicht gut genug ist, um länger bei uns zu bleiben? Patti hat mir wirklich eingehämmert, wie eine Frau das empfindet. Ich kann’s dir sagen, Sohn. Es ist übel. Die sind für ein Leben gezeichnet, werden verachtet und bedauert. Die Schundblätter nehmen sie zur Freude ihrer Leser komplett auseinander. Und wir drehen uns einfach um und jagen schon der Nächsten nach, bevor die Frau noch weiß, dass wir mit ihr fertig sind. Wir haben keine Ahnung, was für ein Schlachtfeld wir hinterlassen.“
„Ich habe Jessie nie so behandelt.“
„Und hast du dich mal gefragt, wieso?“
Joshua warf dem älteren Mann einen durchdringenden Blick zu. „Ja, ich habe mich das gefragt.“ Sein Ton war streng. „In den letzten Wochen habe ich sogar kaum über etwas anderes nachgedacht.“
„Und?“
„Du wünschst ihr das unbedingt, oder nicht?“
„Ich wünsche es euch beiden, mein Junge. Aber überwiegend wünsche ich es mir für dich, weil ich glaube, dass Jessie ihr Leben auch ohne dich einigermaßen hinbekommt. Allerdings glaube ich nicht, dass du ohne sie sonderlich gut auskommen wirst.“
„Sie ist schwanger.“
„Gratuliere.“
„Das Kind ist nicht von mir.“
„Sei nicht albern. Natürlich ist es das.“
„Ich habe mich vor Jahren sterilisieren lassen.“
Simon schüttelte den Kopf. „Es wäre nicht das erste Mal, dass die Natur sich gegen irgendeinen chirurgischen Eingriff durchgesetzt hat. Wenn du Zweifel hast, dann überprüfe es. Himmel, du bist doch schon mal hier, bitte doch einfach deinen Arzt darum.“
Joshua sank aufs Bett. „Jesus Christus, du schlauer Hurensohn, meinst du nicht, dass ich schon genug Demütigungen für einen Tag habe über mich ergehen lassen müssen?“
Simon lächelte. „Offenbar nicht.“
Jessie saß in ihrem Auto und starrte auf das Restaurant. Hier hatte alles begonnen. Der Anfang des Endes. Regen strömte über die Windschutzscheibe und verwischte die Lichter. Das Geräusch der Scheibenwischer begann, ihr auf die Nerven zu gehen.
Ein scharfer weißer Speer erhellte den Himmel: Donner folgte. Perfekt, einfach perfekt. Kalte Trauer schnürte ihr Herz ab, sie schluckte heftig.
Als sie aus dem Auto stieg, waren ihre Augen trocken, brannten aber noch immer von ihrem letzten Heulkrampf. Sie sprintete zur Tür. Der vertraute Geruch nach Fett und Kiefernholzpolitur umfing sie, sie suchte sich einen Platz im hinteren Teil. Dort zog sie den nassen Regenmantel aus und blickt sich um. Etwa ein halbes Dutzend Gäste saßen an den Tischen, die meisten von ihnen waren Lastwagenfahrer.
Am Tresen saß eine Familie. Mutter, Vater und zwei goldige Kinder. Jessie streichelte ihren Bauch und warf dem kleinen Mädchen ein Lächeln zu, das sich immer wieder hinter der Lehne seines Stuhls zu verstecken versuchte, bis die Mutter mit ihm schimpfte und es aufforderte, sich richtig hinzusetzen.
Jessie genoss diese kurze Ablenkung. Die Kaugummi kauende Bedienung umrundete die Theke und fragte, ob sie Kaffee wolle. Sie bestellte sich etwas zu essen, obwohl sie nicht hungrig war, und starrte dann verdrossen auf die zerkratzte Tischplatte.
In den letzten Wochen hatte sie in einem Hotel in San José gewohnt. Niemand sollte wissen, wo sie war, bis sie herausgefunden hatte, was sie künftig tun und wo sie leben wollte. Doch vor Joshua Falcon zu fliehen, war nicht einfach. Am besten wäre es, in eine andere Galaxie zu verschwinden, weit, weit weg. Doch leider war sie dafür nicht klug genug, sie hatte andere Pläne.
Ihr Herz machte einen Satz. Wenn sie nur richtig wütend sein könnte, das wäre eine herrliche Erlösung, aber dazu hatte sie kein Recht. Denn alles, was Joshua im Büro gesagt hatte, stimmte. Aus seiner Sicht betrachtet.
Sie war immer so stolz darauf gewesen, die Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Und sie war einhundertprozentig verantwortlich dafür, dass ihr Herz gebrochen war. Joshua hatte sie niemals angelogen.
Die Bedienung stellte einen Teller vor sie. Jessie verteilte Ketchup über die Pommes Frites. Sie hatte dieses Baby gewollt. Das zumindest tat ihr nicht leid. Sie hatte es riskiert, zu lieben. Und sie hatte verloren.
Bis zur nächsten Runde.
Wenn sie auf jemanden wütend sein konnte, dann nur auf sich selbst. Dafür, dass sie geglaubt hatte, einen so festgefahrenen Mann wie ihn ändern zu können. Den Eisklotz. Steinhart und unerbittlich. Und so daran gewöhnt, von Frauen betrogen zu werden.
Sie schlürfte den starken Kaffee und blickte sich um. Seit sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte sich so viel in ihrem Leben verändert. Es war merkwürdig zu sehen, dass hier alles beim Alten geblieben war. Dieselben staubigen Plastikpflanzen hingen von der vergilbten Decke. Dieselben Risse in denselben Vinylsitzen. Dieselbe geschmacklose Weihnachtsdekoration.
Jessie seufzte. Zumindest manche Dinge änderten sich nie.
Sie schaute auf die Uhr und dann durch das regennasse Fenster nach draußen. Der fast leere Parkplatz wurde von einem Blitz hell erleuchtet. Sie wartete auf den Donner, aber das Geräusch, das folgte, erinnerte eher an ihren altersschwachen Scheibenwischer.
Sie aß noch ein paar Pommes Frites, beäugte den sehr mitgenommen aussehenden fettigen Fisch, piekte ein Stück auf die Gabel und zog es durch den Ketchupsee.
Es war bereits spät, weit nach zehn Uhr. Jessie fragte sich, um wie viel Uhr Joshua heute nach Hause gekommen war, ob er überhaupt im Land war. Wie hatte er auf den Weihnachtsbaum und ihre Geschenke reagiert? Gott, sie hoffte so, dass es ihn ein wenig erweicht hatte, dass er das, was sie ihm angetan hatte, jetzt besser ertragen konnte. Aber bei Joshua wusste man nie, wie er reagieren würde.
Sie wollte ihm vierundzwanzig Stunden Zeit geben, alles zu verarbeiten, und dann alles daransetzen, dass er begriff, wie sehr er sie liebte.
Jedenfalls, wo auch immer er gerade war, er täte besser daran, noch eine Weile alleine zu sein. Jessie richtete sich auf. Es war noch etwas früh für Geliebte Nummer … wie viel auch immer, aber Joshua war so außer sich gewesen, dass er womöglich sogar seinen eigenen Zeitplan ignorierte.
Jessie stützte den Kopf in die Hand und schloss die Augen. Sie konnte es nicht ertragen, ihn sich mit einer anderen Frau vorzustellen. Sie hatte sich geschworen, nie mehr eine Zeitschrift zu lesen oder entsprechende Sendungen im Fernsehen anzuschauen. Sie würde es nicht überleben, wenn er eine andere Frau auch nur küsste.
Sie spürte an ihren Fingern die Wärme, als ihre Tasse nachgefüllt wurde. „Danke.“ Jessie fragte sich, was die Bedienung wohl von dieser Frau hielt, die da vor sich hin murmelte, und öffnete die Augen.
Wenn sich die Bekleidung von Bedienungen in den letzten Jahren nicht drastisch geändert hatte, dann hatte ihr jemand anderes den Kaffee eingeschenkt. Jessies Herz machte einen Sprung. Sie wagte es nicht, aufzublicken, und hielt den Blick auf die Schuhe Größe 45 gerichtet. Sie hörte das Leder knarren.
„Jessie.“
Die vertraute Stimme jagte ihr einen Schauer durch den Körper. Langsam schaute sie auf. Er sah erschöpft aus, aber ungeheuer attraktiv. Sein dunkles Haar war zerzaust. Er trug Jeans und die braune Bomberjacke über dem roten T-Shirt aus Tahoe. Er gab der Bedienung die Kaffeekanne zurück und steckte die Hände in die Taschen.
„Hat das mit der Abendübelkeit aufgehört?“
Sie schluckte schwer und umklammerte ihre Kaffeetasse mit beiden Händen, weil sie ihn so gerne berühren wollte.
„Ja. Mir geht es jetzt wieder wunderbar.“
Joshua ließ sich ihr gegenüber auf die Bank sinken, den Blick auf ihr Gesicht geheftet.
„Wie hast du mich gefunden?“ Sie konnte in seinem düsteren Gesicht nicht erkennen, was er dachte.
„Conrad und Archie haben mir verraten, dass du auf dem Weg zur Hütte bist. Da bin ich hinter dir hergefahren. Ich hatte das Gefühl, dass du hier eine Pause einlegen würdest.“
Jessie blickte auf den Parkplatz. Tatsächlich parkte sein silberner Sportwagen neben ihrem Auto.
„Ich wollte noch einmal in die Hütte gehen.“ Jessies Augen brannten. Nicht jetzt, verflucht. „Die Besitzurkunde wollte ich dir dann nächste Woche zurückschicken.“
Er nahm mit ernstem Blick ihre Hand. „Ich wollte, dass die Hütte dir gehört.“ Sein Griff verstärkte sich. „Aber ich bin nicht gekommen, um das mit dir zu diskutieren.“ Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar. Jessie starrte ihn an.
„Wenn du noch mehr Entschuldigungen hören willst, kannst du sie haben.“ Sie versuchte, ihre Hand wegzuziehen, aber das ließ er nicht zu. Sie warf ihm einen spitzen Blick zu. „Aber ich werde mich nicht bis in alle Ewigkeit entschuldigen.“
„Ich will keine Entschuldigungen.“
„Ich kann einfach nicht … Was willst du denn, Joshua?“
„Ich will, dass du mich heiratest.“
Jessie schloss die Augen. Als sie ihn wieder ansah, war ihr Blick kalt. „Ich kann dir nicht vorwerfen, dass du mich verletzen willst, nach all den Lügen, die ich dir aufgetischt habe. Aber bitte“, sie wollte sich erheben, aber er hielt sie jetzt mit beiden Händen fest, „bitte, mach dich nicht über mich lustig.“
Jessie biss sich auf die zitternden Lippen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie starrte aus dem Fenster.
„Mami? Warum kniet der Mann da vor der Frau?“ Die süße Kinderstimme des kleinen Mädchens brachte alle Gäste zum Verstummen.
„Honey, man starrt fremde Leute nicht an.“
Jessie drehte sich um.
„Heirate mich. Im Ernst. Und für immer, Jessie.“ Joshuas Stimme war so leise, dass sie sich anstrengen musste, ihn zu verstehen.
Hoffnung wallte in ihr auf. Langsam öffnete sie die Augen. Joshua kniete mit gesenktem Kopf vor ihr. „O Gott, Joshua.“ Sie konnte es nicht ertragen, ihn so demütig zu sehen.
Er sah ihr direkt in die Augen. „Werde meine Frau, Jessie.“ Seine Stimme zitterte fast unmerklich. „Bitte.“
Sie berührte sein Gesicht, seine Haut fühlte sich kühl an.
„Sag Ja.“
„Bitte steh auf.“
„Erst, wenn du Ja gesagt hast.“
„Wir müssen uns unterhalten“, rief Jessie verzweifelt, denn sie wollte nicht zulassen, dass noch mehr unbegründete Hoffnung in ihr aufkeimte. „Da ist so vieles, was wir noch nicht …“
Er stand auf und legte ihr einen Finger auf die Lippen. „Pst. Wir haben ein Leben lang Zeit, alles zu sagen, was uns auf dem Herzen liegt.“ Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl.
Sie saugte an ihrer Lippe und schmeckte Blut. Das Leben war sowieso schon schwer genug für ein Kind. Aber sie würde ihrem Kind niemals einen Vater zumuten, der es nur halbherzig liebte.
„Heute ist Donnerstag“, sagte er lächelnd. Jessie blickte ihn verständnislos an. „Weißt du nicht mehr? Damals hast du gesagt, dass du Fremde nur donnerstags heiratest.“ Er nahm ihre Hand und spielte mit ihren Fingern. Jessie fuhr ein elektrischer Schlag durch den Körper bis in die Zehenspitzen.
„Das ist eine Ewigkeit her“, wisperte sie, erstaunt darüber, dass er sich daran erinnern konnte. „In der Zwischenzeit ist so viel geschehen …“
„Ja. Ich bin endlich erwachsen geworden.“ Er klang ungeduldig. „Ich hätte schon damals bei dir bleiben sollen, Jessie. Wir hätten diese sieben Jahre zusammen sein können, wenn ich nicht so ein gefühlloser Idiot gewesen wäre.“
„Du warst mein starker Ritter in der schimmernden Rüstung“, erklärte Jessie ruhig. Sie blickte ihn sehr ernst an.
„In eher zerbeulter Rüstung.“ Seine Mundwinkel verzogen sich. „Was meine Mutter und Stacie mir angetan haben, hat mein ganzes Denken beeinflusst. Und beinahe hätte ich Narr das Beste verloren, was mir je passiert ist.“ Er legte einen Finger unter ihr Kinn und hob es an. „Kannst du mir denn jemals vergeben, Jessie?“
„Du weißt, dass ich das schon habe.“ Heiß strömten Tränen ihre Wangen hinab. Sie kämpfte gegen den Impuls an, sich in seine Arme zu werfen.
„Ach, Jessie.“ Er beugte sich nach vorne und tupfte die Tränen mit einer Serviette ab. „Ich bin gestern Nachmittag nach Hause gekommen“, sagte er. „Ich hatte Angst, schon wieder in dieses verdammt kalte, dunkle Haus zu gehen. Ich war schon so weit, es zu verkaufen. Weil du überall warst, Jessie. Alles, was ich gesehen habe, gehört, geschmeckt und gespürt, alles hatte mit dir zu tun. Da ist mir klar geworden, dass ich meine Häuser und Jachten und Flugzeuge verkaufen könnte, es würde keinen Unterschied machen. Denn egal, was ich tue, egal, wo ich bin, du wirst immer bei mir sein. In meinem Herzen.“
Sie starrte ihn mit großen Augen an, hatte Angst davor, ihm zu glauben. Und Angst, es nicht zu tun.
„Ich habe jedes Geschenk aufgemacht und mich gefragt, wer dich gelehrt hat, so liebevoll zu sein. Wer hat dir gezeigt, wie ungeheuer schön eine zärtliche Berührung sein kann? Deine Mutter nicht. Und auch kein Mann.“
Er ließ die nasse Serviette fallen und zog sein Taschentuch hervor, mit dem er fortfuhr, ihre Tränen wegzuwischen. „Ich habe fast zu spät bemerkt, dass du mir das gegeben hast, wonach du dich selbst ein Leben lang gesehnt hast. Zärtlichkeit, Vertrauen und bedingungslose Liebe.“
Sie wollte etwas sagen, irgendetwas. Aber ihr Herz hatte offenbar aufgehört, zu schlagen. Die Welt, ihre Welt, hatte aufgehört, sich zu drehen.
Erneut griff Joshua in seine Jackentasche. Diesmal zog er einen Umschlag heraus, dann legte er eine blaue Schachtel auf den Tisch.
„Ich liebe dich, Jessie Adams. Ich brauche vielleicht etwas länger, aber wenn ich mal etwas kapiert habe, dann vergesse ich es nie mehr. Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen. Bitte heirate mich noch mal und erlöse mich von meiner Qual.“
Jessie starrte auf die blaue Schachtel.
Er schubste sie in ihre Richtung.
„Was ist mit dem Baby?“ Sie nahm ihm das Taschentuch aus der Hand und wischte sich das Gesicht ab. Er warf ihr dieses wunderbare Lächeln zu, das kleine Fältchen um seine Augen entstehen ließ, und schob ihr den Umschlag hin.
„Ich liebe unser Baby.“
„Du glaubst nicht, dass sie dein Kind ist“, sagte sie und hielt den Atem an.
„Ist es ein Mädchen? Sie ist mein Baby, Jessie. Wenn sie ein Teil von dir ist, dann ist sie auch ein Teil von mir.“ Er lächelte. „Weißt du, was ein guter Vater für seine Kinder tut?“
Jessie fielen tausend Dinge ein. Sie schüttelte den Kopf.
„Das Beste, was ein Vater für seine Kinder tun kann ist, die Mutter zu lieben.“
Jessie fühlte einen Schmerz in der Brust.
Sie tupfte sich erneut über die Augen. „Ich bin froh, wenn meine Hormone endlich wieder Ruhe geben“, sagte sie verärgert. „Ich hasse es, dauernd vor deinen Augen in Tränen auszubrechen.“
„Du kannst vor meinen Augen tun, was immer du magst, Jess.“
„Was ist in dem Umschlag?“
„Mach ihn auf.“ Er nahm einen Schluck Kaffee. „Klar, dass du dich für den Umschlag mehr interessierst als für den Schmuck.“
Sie warf ihm einen schiefen Blick zu und öffnete die kleine Samtschachtel. „Der ist auf jeden Fall echt.“ Der Diamant war schlicht und ungeheuer schön, eingerahmt von einfachen Goldstäben. Sie schob ihn über den Tisch und streckte die linke Hand aus. „Steck ihn mir schnell an“, forderte sie.
Joshua lachte, stand auf und setzte sich neben sie. Sie schloss die Augen, als er ihr mit den Händen übers Haar streichelte. Dann küsste er sie. Sanft und ausgiebig und mit all der Liebe, die er empfand. Als er von ihr abließ, war ihr schwindlig.
Die wenigen Gäste in dem Restaurant applaudierten. Joshua streifte ihr mit großem Theater den Ring über. Sein Blick verweilte auf ihrem Gesicht, dann schaute er auf ihren Bauch.
„Gott, Jess“, sagte er atemlos und berührte ihn ehrfürchtig. Als er wieder aufblickte, standen seine Augen voller Tränen.
„Ich liebe dich, Joshua Falcon.“
„Das weiß ich, Jessie. Ich werde den Rest meines Lebens damit verbringen, dich glücklich zu machen. An jedem einzelnen Tag sollst du wissen, wie sehr ich dich liebe.“
„Bist du sicher?“
„Absolut, ohne Zweifel, hundertprozentig.“ Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wirst du das irgendwann aufmachen?“, fragte er und legte ihr einen Arm um die Schultern.
„Ist es wichtig?“
„Nein, es ist nur ein kleiner Test, den ich gemacht habe.“
„Was für ein Test?“
„Ich habe mich auf meine Fruchtbarkeit untersuchen lassen.“
Sie blickte auf den versiegelten Umschlag.
„Und du hast ihn nicht geöffnet.“
„Das Resultat ist mir nicht wichtig, das habe ich bereits gesagt.“
„Und du willst mich noch mal heiraten und das Kind lieben, egal, was auf diesem Papier steht?“
„Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern“, versicherte er.
Jessie gab ihm den Umschlag zurück. „Mach du ihn auf.“
„Es ist nicht …“
„Mach ihn auf.“
Sie beobachtete ihn, wie der den Umschlag mit seinem Schweizer Taschenmesser aufschlitzte, das Papier herausnahm und durchlas.
„Nun?“ Sie hob die Augenbrauen.
„Da steht …“ Joshua schluckte mehrmals. „Da steht, dass du einen Vollidioten heiratest, der dich anbetet, und dass wir bis an unser Lebensende miteinander glücklich sein werden und noch mindestens zwei Kinder bekommen.“
Jessie spürte, wie ein Lächeln aus ihrem Herzen aufstieg. „Ich liebe Happy Ends, und du?“
– ENDE –