8. KAPITEL
Das Geräusch von Schritten auf dem Kies hinter ihnen sagte Marc, dass die Verfolger ihnen auf der Spur waren. Noch einmal hörte er das Geräusch einer Kugel, sie spritzte in das Gras zwischen ihnen. “Verschwinde hier!”, schrie er Tory an, als er wieder einen Schuss hörte.
Er blickte über seine Schulter zurück. An der Zugbrücke erkannte er das Mündungsfeuer, und Sekunden später hörte er auch die Detonation. Irgendwie gelang es ihm, Victoria mit einer Hand zur Seite zu ziehen, in der anderen Hand hielt er die Uzi und feuerte.
Ein Mann stürzte über das Geländer der Zugbrücke in das Wasser, doch gleich darauf spritzte das Gras vor ihren Füßen auf von einer Reihe von Einschlägen. Marc stieß Victoria vor sich her, während er gleichzeitig das Feuer erwiderte. “Lauf, um Himmels willen!” Sie stolperte, doch er zog sie mit sich hoch.
“Ich werde nicht ohne dich gehen.”
Diese dumme Frau blieb wirklich stehen und wartete auf ihn. Blut rann ihm ins Auge, er stolperte, doch riss er sie mit sich. Noch hundertfünfzig Meter, hundert, achtzig. Kugeln flogen um sie herum, doch die Bäume kamen immer näher.
Leise wehten die Blätter der Bäume im Wind, ihre dunklen Äste winkten ihnen. Als er noch etwa dreißig Meter von den Bäumen entfernt war, fühlte Marc, wie eine Kugel ihn ins Bein traf. Er fiel zu Boden.
Verdammt, die Kerle waren nicht nur hinter ihnen, sie waren auch vor ihnen. Das Blut, das ihm über das Gesicht rann, sagte ihm, dass sie es ernst meinten. Er hielt die Uzi auf die Stelle, an der er das Mündungsfeuer eines Gewehrs entdeckt hatte und feuerte. Man hörte einen Schrei und dann einen dumpfen Schlag, als ein Körper hinfiel.
Die Uzi hatte noch genügend Munition, doch wenn es so weiterging, musste er ein neues Magazin einschieben. Noch einmal schoss er zwischen die Bäume vor ihnen, es bedeutete kostbare Sekunden für Victoria.
Langsam zog er sich hoch. Sie würden beide im Kugelhagel umkommen, wenn es ihm nicht gelang, sie von hier wegzubringen.
Er sah ihr verflixtes weißes T-Shirt zwischen den Bäumen, und während er loslief, zog er sich das Hemd über den Kopf. Die kühle Nachtluft tat gut auf seiner Haut, aber sein Bein brannte wie Feuer.
Er warf ihr das Hemd zu und zog sie dann hinter einige Büsche. “Zieh es schnell über.” Sein Atem ging pfeifend. Er hörte die Verfolger, die ihnen dicht auf den Fersen waren. Glücklicherweise war es dunkel zwischen den Bäumen, aber wie lange würde es noch dauern, bis man sie entdeckt hatte?
Victoria zog sich das Hemd über den Kopf, dann beugte sie sich zu ihm. “Du bist verletzt!” Ihre kühlen Finger glitten über sein Gesicht, als ob sie ihn so heilen könnte. “Marc! Du blutest ja!”
“Ja, so wirken Kugeln nun mal.” Er griff in seine Tasche. “Hier ist der Schlüssel zu einer Vespa. Sie steht dort hinten, neben der Straße. Geh vorsichtig in diese Richtung.” Mit dem Kopf deutete er die Richtung an. “Sie steht hinter einem Schuppen. Du fährst damit zu dem Ort, wo ich dich mit dem Truck abgeholt habe, dann gehst du in die Grotte. Auf keinen Fall kannst du jetzt den Helikopter erreichen, denn sie haben uns den Weg dorthin abgeschnitten. Alex wartet auf mein Signal, er wird dich an der Grotte abholen.”
“Ich werde nicht ohne dich gehen!”
“Du wirst verdammt noch mal das tun, was ich dir sage! Nun verschwinde schon. Los jetzt!” Man hörte das Geräusch knackender Äste, als einige der Männer nur wenige Schritte an ihrem Versteck vorbeiliefen. Marc legte ihr eine Hand auf den Mund, als sie etwas sagen wollte.
Doch Victoria schüttelte den Kopf und sah ihn mit großen Augen an. Sie würde nicht ohne ihn gehen.
Als die Schritte sich entfernten, ließ er die Hand wieder sinken. “Du bist kein gottverdammter Held!”, fuhr er sie wütend an. “Du wirst noch bewirken, dass sie mich umbringen, wenn du in der Nähe bleibst.”
Er sah, wie sie bei seinen Worten zusammenzuckte, doch dann sagte sie: “Dann sterben wir eben zusammen. Ich werde nicht ohne dich gehen!”
Marc dachte nach, und als er dann sprach, war seine Stimme voller Verachtung. “Nur, weil ich mit dir geschlafen habe, heißt das noch lange nicht, dass du jetzt wie ein Blutegel an mir kleben musst. Hast du denn keinen Stolz, Victoria? Ich wollte nur deinen Körper, keine lebenslange Verpflichtung.” Er hörte, wie sie aufkeuchte, und bemühte sich, noch härter zu sein. “Krista wäre mir wenigstens eine Hilfe gewesen.”
Er wünschte, sie würde ihn nicht so ansehen. “Wenn ich eine Frau will, dann ganz sicher nicht eine mausgraue Buchhalterin.” Er sah ihr direkt in die Augen. “Verschwinde, Lady. Dein Bruder wartet auf dich, und ich habe zu tun.”
Er beachtete nicht, dass sie ihr Kinn hob. Er kroch von ihr weg zwischen die Bäume, ohne sich noch einmal umzusehen. Im nächsten Augenblick war er im Unterholz verschwunden. So schnell es ihm sein Bein erlaubte, kroch er weiter, bis er sicher war, weit genug von ihr weg zu sein. Dann lehnte er sich an einen Baum und ruhte einen Augenblick aus. Hoffentlich fand sie die Vespa.
Er wusste, die einzige Möglichkeit, die Verfolger von Victoria abzulenken, war, dass sie ihn zuerst fanden. Deshalb machte er so viel Lärm wie möglich, als er sich einen Weg durch das Unterholz bahnte. Und er brauchte auch nicht lange zu warten.
Mario schob sich um einen Baum herum, sein Blick ging unruhig hin und her, in seinem Arm trug er ein AK 47 Gewehr. Marc nutzte den Überraschungsmoment aus, er schwang den Fuß hoch und traf das Gewehr, das in hohem Bogen in die Büsche flog.
Mario hatte jetzt beide Hände frei, er holte aus und zielte auf Marcs Gesicht, doch Marc trat einen Schritt zur Seite und stieß ihm den Schaft der Uzi ins Gesicht. Mario schrie auf und holte noch einmal aus.
Der Schlag traf Marc an der Stirn, genau dort, wo die Kugel ihn gestreift hatte. Verflixt. Marc fuhr wütend auf, er wehrte die Schläge des anderen ab. Sein linker Ellbogen traf Marios Hals, seine Rechte landete in seinem Magen. Wieder trat er mit dem Bein zu, doch wegen der Verwundung kam er nicht hoch genug und traf nur Marios Schulter.
Mario stolperte zurück, Blut rann aus seiner Nase. Er sah sich verzweifelt nach Hilfe um, doch niemand war da. Marc stieß ihm das Gewehr in den Bauch.
“Wie ist es, wenn man hilflos ist, du Stück Müll?” Noch einmal stieß Marc zu. “Das ist dafür, dass du meine Frau angerührt hast.” Er holte aus und traf mit der Faust Marios Gesicht.
Sein letzter Schlag ließ Mario zu Boden sinken. Er lag ganz still, und Marc wischte sich mit einer Hand das Blut aus dem Gesicht. Jetzt fühlte er sich schon viel besser. Die Wunde an seiner Stirn spürte er kaum noch, nur sein Bein war taub.
“Lassen Sie Ihre Waffe fallen, Sir Ian. Oder sollte ich besser sagen, Phantom?”
Marc ließ die Uzi zu Boden sinken, als Ragno zwischen den Bäumen hervorkam, flankiert von Giorgio und noch einem anderen Mann. Ragno hielt eine 45er Magnum Halbautomatik in der Hand – keine Konkurrenz für die Uzi, doch die lag auf dem Boden. Die beiden Männer neben Ragno richteten die Waffen auf Marc.
Er rechnete damit, dass Victoria noch ungefähr zehn Minuten brauchen würde, um zu entkommen. Er entlastete sein verletztes Bein und wartete ab. Als Ragno die anderen Männer zu sich rief, entspannte er sich. Jetzt musste er nur noch so viel Zeit wie möglich herausschlagen.
“Sie sind mir schon seit vielen Jahren bei meiner Arbeit in den Rücken gefallen”, begann Ragno kalt. In seiner US-Army-Uniform sah er lächerlich aus. “Ich sollte Sie auf der Stelle erschießen.”
Marc zuckte mit den Schultern. “Das wäre wohl angebracht.”
“Sie sind sehr überheblich für einen Mann, der bald sterben wird”, sprach Ragno weiter. “Stellen Sie sich dort hin.” Er deutete auf einen Baum. Marc griff mit beiden Händen nach seinem verletzten Bein und humpelte übertrieben langsam zu dem Baum hinüber.
“Bindet ihn fest.” Ragno holte ein Taschentuch aus seiner Brusttasche und wischte sich damit das Gesicht ab, während er seinen Männern dabei zusah, wie sie Marc an den Baum banden. “Versichert euch, dass er sich nicht befreien kann.”
Zwei Männer banden seine Hände und Füße mit dünnem Draht zusammen und stellten sich dann neben ihm auf. Marc lehnte sich gegen den Baum und testete die Stärke seiner Fesseln. Sie waren wirklich nicht zu lösen.
“Ehe ich Sie langsam umbringe, Phantom, möchte ich noch wissen, wie viele Ihrer Agenten meinen Aufenthaltsort kennen.” Ragno trat einen Schritt näher an ihn heran.
“Agenten?”, machte Marc sich über ihn lustig. “Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden, alter Junge.”
Auf ein Kopfnicken von Ragno landete eine Faust in Marcs Gesicht. Ein heißer Schmerz durchzuckte ihn, sein Magen hob sich, als weitere Schläge seine Rippen, sein Gesicht und seine Nieren trafen.
“Was ist denn mit Ihrem Kumpel geschehen, Tweedle-Dee?”, brachte Marc hervor.
“Halten Sie den Mund. Hier stelle ich die Fragen.”
“Na dann los. Ich bin im Augenblick ein wenig bewegungslos, aber ich habe Zeit genug.”
Ragnos Augen blitzten wütend. “Sie Dummkopf. Beantworten Sie meine Fragen.” Er nickte dem Mann neben Marc zu, der hieb ihm die Faust genau auf den Solar Plexus. Mit einem pfeifenden Geräusch wich die Luft aus Marcs Lungen, und er sank in sich zusammen.
“Ich mag Spielchen, Phantom, sehr sogar.” Ragnos übel riechender Atem wehte in Marcs Gesicht, als er noch näher kam. “Aber ich spiele am liebsten nach meinen eigenen Regeln. Heute Morgen haben wir ein kleines Spielchen mit Ihrer Schlampe gespielt.” Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und lächelte. “Sie ist sehr zugänglich, nicht wahr?” Ein Nicken von ihm genügte, wieder landete die Faust in seinem Gesicht. “Sie schläft mit jedem.”
Nur mit Mühe gelang es Marc, ein ausdrucksloses Gesicht zu machen. Ragno versuchte es auf einem anderen Weg. “Wie viele Ihrer Männer wissen, wo ich zu finden bin?”
“Ich würde sagen, es sind genug, die Sie und Ihre nette kleine Bande hier auslöschen können.” Marc gelang es, sich aufrecht zu halten, er warf Ragno einen herausfordernden Blick zu. “Sie haben doch wohl nicht angenommen, ich sei allein gekommen, oder?”
“Wir werden sie alle finden und sie auslöschen.”
“Sie und wer noch?” Marcs Stimme troff vor Sarkasmus. Er blinzelte in das Licht der Taschenlampen, die auf sein Gesicht gerichtet waren. Wo zum Teufel war Victoria? Er strengte sich an, den Motor der Vespa zu hören, doch alles im Wald blieb still.
Ragno trat noch einen Schritt näher, Marc verzog das Gesicht bei dem Geruch, der ihm in die Nase stieg. Himmel, ob der Mann nie badete? “Ich habe eine Armee”, erklärte Ragno überheblich und fuhr sich mit dem Finger unter den Kragen seines Hemdes.
“Ja, eine Heilsarmee. Was wollen Sie damit machen? Uns zu Tode reden?”
Ragno hob die Hand und schlug Marc ins Gesicht.
Versteckt zwischen den Bäumen zuckte Tory zusammen. Sie konnte nur Marcs Hinterkopf erkennen, der gegen den Baum schlug. Aber Christoph Ragnos Gesicht konnte sie deutlich sehen.
Schweißtropfen liefen ihr in die Augen, mit der Schulter wischte sie sich den Schweiß aus dem Gesicht. Ihr Herz schlug so laut, dass sie die Männerstimmen kaum hören konnte. Ihre Hände, die noch immer das Gewehr hielten, waren feucht. Himmel, würde sie es schaffen?
Sie ließ sich gar nicht erst die Zeit, um nachzudenken. Langsam schob sie sich näher. Sie erstarrte, als ein Zweig unter ihren Füßen knackte, doch niemand schien es zu bemerken. Näher wagte sie sich nicht heran. Wenn sie den Arm ausstrecken würde, könnte sie Marcs Schulter berühren. Das Gewehr schien plötzlich eine Tonne zu wiegen. Himmel, was wusste sie denn schon von Gewehren? Wenn sie nun aus Versehen Marc traf? In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken, doch nur eine Sekunde lang. Krista hätte es getan, ohne mit der Wimper zu zucken.
Sehr vorsichtig schob Tory das Gewehr mit der linken Hand hoch, den Gipsverband benutzte sie als Stütze. Dann stellte sie den Laser an und zielte. Ein roter Punkt, so groß wie eine Münze, zeigte sich auf Ragnos Schulter, wankte ein wenig und wanderte dann weiter, langsam, sehr langsam, über seine Brust, seinen Kragen, seinen Hals. Tory hielt den Atem an, um den Laserstrahl standhaft zu halten. Fühlte der Mann das Licht denn nicht? Vorsichtig ließ Tory den roten Punkt weiterwandern, über seinen schweißfeuchten Hals, höher und höher, bis er genau zwischen den Augen saß. Sekundenlang zögerte sie … dann drückte sie ab.
Eine Sekunde später hörte sie den Einschlag. Und dann brach die Hölle los. Sie sah gar nicht hin. So schnell sie konnte lief sie mit angelegtem Gewehr nach vorn.
“Verdammt!”, hörte sie Marcs Stimme, doch sie hatte keine Zeit, zu ihm hinzusehen. Sie war plötzlich ganz ruhig, hob die Waffe und zielte.
Marc rieb sich das Gesicht an der Schulter, als der Lauf von Victorias Gewehr sich durch das Gebüsch schob. Die Männer standen wie erstarrt und sahen zu der kleinen Frau hin, die langsam aus dem Dickicht trat. Das Haar hing ihr wild ins Gesicht, die Ärmel ihres weißen T-Shirts lugten unter dem schwarzen T-Shirt hervor, im Knie ihrer schwarzen Hose zeigte sich ein langer Riss. Sie sah umwerfend aus. Umwerfend und schrecklich wütend.
“Lasst die Waffen fallen”, fuhr sie die Männer an. Der Infrarotpunkt wanderte von einem Mann zum anderen. Sie gehorchten.
Sie nickte dem Mann zu, der neben Marc stand. “Binden Sie ihn los.”
Marc rieb sich die Handgelenke, als der Draht gelöst war. Sobald auch seine Füße frei waren, trat er mit dem gesunden Bein zu. Der Mann fiel zur Seite und blieb auf dem Boden liegen.
Victoria richtete die Waffe auf ihn, der kleine rote Punkt erschien auf seiner Brust.
“Er ist bewusstlos, um ihn brauchst du dir keine Sorgen zu machen.”
Aus den Augenwinkeln nahm Marc eine Bewegung wahr. “Links, Victoria!”, rief er.
Sie hob das Gewehr, und der Mann blieb wie angewurzelt stehen und ließ seine Pistole fallen.
“Beeil dich!”, rief sie Marc zu. Er sah, wie ihre Hände zu zittern begannen, und hoffte, dass die Männer es nicht bemerkten. Über den bewusstlosen Mann hinweg trat er auf sie zu, er konnte nicht riskieren, dass sieben Männer auf sie losgingen. Er humpelte zu ihr hinüber und nahm ihr das Gewehr aus der Hand.
Alle sieben Männer traten langsam zurück. “Dorthin!”, befahl Marc und zeigte ihnen mit dem Gewehrlauf die Richtung an. “Ausziehen!”, befahl er dann.
Verständnislos sahen sie ihn an.
“Nackt ausziehen, Gentlemen, und lassen Sie sich durch die Lady nicht stören.” Über seine Schulter hinweg sagte er: “Such die Uzi – ich habe sie dort drüben fallen lassen.” Er wünschte, sein verflixtes Bein wäre taub geblieben, jetzt begann es zu schmerzen, und er fühlte, wie das Blut aus der Wunde pulsierte.
Victoria kam mit der Uzi zurück, als sich auch der letzte Mann ausgezogen hatte. Sie sah nicht hin. “Hinlegen”, sagte Marc, und alle sanken mit dem Gesicht nach unten auf den Boden. “Nimm die Gürtel und alles, was du finden kannst, und fessele sie damit.” Marc wusste, er musste ihr etwas zu tun geben, damit sie keine Zeit zum Nachdenken hatte.
Er sah, dass sie unter Schock stand, doch sie tat, was er ihr aufgetragen hatte. Sie zog die Gürtel aus den Hosen, die Schuhbänder aus den Schuhen und band den Männern Hände und Füße zusammen. Voller Bewunderung sah er, dass Victoria die Fußfesseln mit den Handfesseln verband, sodass die Füße der Männer zu ihrem Kopf zeigten.
“Gut gemacht, Mädchen.” Er würde schon bald ohnmächtig werden, das fühlte er, aber er wehrte sich dagegen, so gut er konnte. Jetzt blieb ihm noch die Aufgabe, sie wenigstens noch sicher in die Grotte zurückzubringen.
Marc warf den sieben nackten Männern noch einen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht so schnell würden befreien können, dann nahm er Victorias Arm und zog sie mit sich.
Schon nach wenigen Metern wusste er, dass er es nicht schaffen würde. Er hatte zu viel Blut verloren, er konnte kaum sehen, und seine Beine trugen ihn nicht mehr. Er blieb stehen und lehnte sich an einen Baum. “Prinzessin, du musst allein in die Grotte gehen und dich dort mit Lynx treffen. Sag ihm, wo er mich findet, dann wird er jemanden schicken, der mich holt, während er dich in Sicherheit bringt.”
Victoria antwortete ihm nicht, sie schob ihre Schulter unter seinen Arm, hielt seine Hand fest und zwang ihn weiterzugehen. Der Wald war hier nicht mehr so dicht, doch die Wege zwischen den Bäumen waren zugewachsen.
Es schien ihr wie Stunden, doch waren sicher nicht mehr als vierzig Minuten vergangen, als sie endlich zur Straße kamen. Beide atmeten schwer, sie hatte Marc fast die ganze Zeit beinahe tragen müssen. Ihre Kleider klebten an ihrem Körper.
“Ich … ich werde die Vespa holen”, keuchte sie und lehnte Marc gegen einen alten Traktor, der neben der Straße stand. “Ich bin gleich wieder da.”
“Victoria …” Doch sie hörte ihm gar nicht zu. Jeder einzelne Muskel in ihrem Körper schmerzte. Wenn sie jetzt auch nur eine Sekunde stehen blieb, würde sie nicht weiter können. Sie fand den Schuppen, ging um ihn herum und entdeckte die Vespa.
Es gelang Marc, sein gesundes Bein über den Sitz zu heben, als Victoria vorfuhr. “Fahr los”, befahl er und schlang die Arme um sie.
Die Vespa fuhr nicht sehr schnell, aber sie fuhren in die richtige Richtung und hatten hoffentlich genug Vorsprung. Marc legte seinen Kopf an ihre Schulter, und Tory brauchte ihre ganze Konzentration, um das Fahrzeug aufrecht zu halten. Das Geräusch des kleinen Motors war laut. Es besaß keinen Rückspiegel, sie hätte sich am liebsten umgedreht, um festzustellen, ob ihnen jemand folgte, doch sie wagte es nicht.
Es war schon beinahe taghell, als sie durch Pavina fuhren und den Weg zum Strand einschlugen. Sie fühlte, wie Marcs Körper hinter ihr zusammensank, doch er hatte seine Arme noch fest um sie geschlungen. Staub wirbelte auf, und kleine Steinchen flogen hoch, als sie schnell über den unbefestigten Weg in Richtung auf die Grotte fuhr.
Sie hielt an, gerade als sie fühlte, dass Marcs Körper zur Seite rutschte. Während sie die Vespa auf den Ständer hob, hielt sie ihn mit einem Arm fest.
Mit ihrem Körper als Stütze gelang es ihr, ihn von der Vespa zu ziehen. “Marc, Marc, du musst durchhalten! Wir müssen in die Grotte, damit ich Alex rufen kann. Marc?” Sein Kopf rollte zur Seite. “Marc, bitte. Du musst aufwachen.”
Sie blickte über die Schulter und entdeckte den Scheinwerfer eines Wagens, der in ihre Richtung kam. Es war Ebbe, der weiße Sand glänzte feucht.
Tory blickte zum Himmel und suchte nach dem Hubschrauber und Alex, doch alles blieb still. Sie biss sich auf die Lippe. Sollte sie hier am Strand auf ihn warten? Oder hatten Marc und Alex sich einen anderen Plan zurechtgelegt?
“Marc, wach auf!”
Er öffnete die Augen einen Spalt und starrte zu ihr hoch, dann schüttelte er den Kopf. “Zu viel Blut verloren. Geh!”, murmelte er.
“Ach, halt den Mund!” Tory biss sich auf die Lippe. Langsam zog sie ihn hoch, schob ihre Schulter unter seinen Arm und ging Schritt für Schritt den Weg zum Strand hinunter.
Sie musste das Risiko eingehen, entdeckt zu werden, denn sie konnte nicht direkt an der Felswand durch den trockenen Sand gehen. Sie wählte den Weg am Wasser entlang über den festen, feuchten Sand.
Ihre Arme schmerzten, doch schließlich schaffte sie es, Marc bis zur Felswand unter der Grotte zu ziehen. Jetzt musste sie ihn nur noch über einen Berg von Felsblöcken und Steinen nach oben schaffen. Sie konnte es schaffen. Sie musste es schaffen!
Und sie schaffte es. Marc war bei Bewusstsein und konnte ihr helfen, auch wenn sie manchmal harte Worte brauchte, um ihn dazu zu bringen weiterzugehen. Es war ein langsamer, mühevoller Weg, aber schließlich waren sie am Eingang der Höhle angekommen.
Sie sank neben Marc zu Boden und atmete heftig. Schweiß brannte in ihren Augen, ihre Lungen schmerzten, doch sie mussten weiter.
Sie setzte sich auf und schüttelte Marc. “Du musst weiterkriechen, bis dorthin, wo die Toiletten sind”, schärfte sie ihm ein. Bis zu ihrem Lager würde er es auf keinen Fall schaffen, doch sie wollte nicht, dass sie hier festsaßen, wenn die Verfolger kamen. “Hörst du mich, Marc. Krieche …”
“Ich habe gehört, General.” Marc versuchte sich aufzusetzen, er grinste sie ein wenig schief an. “Du bist eine verflixt tolle Frau, weißt du das?”
“Wie kann ich Alex erreichen?”
“Das habe ich schon erledigt. Ich habe mich mit ihm in Verbindung gesetzt, ehe ich dich gefunden habe. Wenn wir … wenn wir es nicht zum Hubschrauber schaffen, wird er hier nach uns suchen.” Seine Stimme wurde leiser, er schloss die Augen. Victoria stieß ihn in die Seite.
“Ich bin wach.” Es klang zwar nicht so, doch seine Stimme war stark genug, dass sie nicht befürchten musste, er würde in Ohnmacht fallen. “Du … musst … die Vespa … holen …” Er leckte sich über seine Lippen und legte dann den Kopf gegen die Felswand. Sein Gesicht war ganz grau.
“Was?”
“Sie werden … sie finden. Mond … zu hell.”
Victoria stöhnte auf. “Ich bin gleich wieder da.”
Die Vespa stand noch da, wo sie sie verlassen hatte. Tory sah sich um und schüttelte dann den Kopf. Es war schon beinahe unmöglich gewesen, Marc die steile Felswand hochzuschaffen, wie um alles in der Welt sollte sie die Vespa dort hinaufbringen?
Sie sah sich nach einem Versteck um, doch sie fand keines. Die Felsbrocken waren groß, aber sie lagen viel zu dicht beieinander. Also zog sie die Vespa langsam über einen Felsblock nach dem anderen hoch, fluchte, weil sie keine Luft mehr bekam, und benutzte alle Schimpfwörter, die ihr einfielen.
Nach den letzten Metern sank sie zu Boden, den Kopf auf den Knien. Es wäre schön, sich jetzt ausruhen zu können, doch dazu hatte sie keine Zeit. Sie musste sich um die Wunde in Marcs Bein kümmern, der Himmel wusste, was sie noch alles hier erwartete.
Während sie die Vespa durch den Höhleneingang auf den See zuschob, betete sie, dass Alex bald kommen würde. Mit letzter Kraft schob sie das Gefährt hinter die drei Toilettenhäuschen.
Marc war bis zum See gekrochen, er lehnte an einer Felswand. “Lady, dich möchte ich jeden Tag an meiner Seite haben”, begrüßte er sie. Seine Stimme klang ein wenig kräftiger, doch Victoria ließ sich durch sein Kompliment nicht beeindrucken.
“Ich hole den Erste-Hilfe-Kasten. Brauchst du sonst noch etwas aus unserem Lager?”
Er schloss die Augen. “Bring den Rucksack mit.”
Ihr Lager war noch genau so, wie sie es verlassen hatten. Tory packte einige Decken zusammen. Die Streichhölzer lagen neben dem Propangaskocher, sie steckte sie in die Brusttasche ihres T-Shirts, dann nahm sie den Rucksack und ging.
Sie rümpfte die Nase, als Marc einige Aspirintabletten trocken kaute und sie dann hinunterschluckte. Die Wasserflasche und die Becher waren noch an ihrem Lagerplatz. Sein Bein sah schlimm aus, das Hosenbein klebte an der Wunde.
“Ich glaube, die Kugel ist noch drin.”
“Nein, das ist sie nicht.” Marcs Gesicht war kreidebleich. “Du brauchst die Wunde nur zu säubern … Psst!”
Man hörte ein leises Geräusch von draußen, als sei ein Schuh gegen einen Stein gestoßen. Sie erstarrten beide, Tory kroch leise den Gang entlang bis zur Haupthöhle. Sie blickte über ihre Schulter zurück und hob vier Finger. Vier Männer.
Marc fluchte, er band einen Gürtel um seinen Oberschenkel und machte ihr ein Zeichen, zu bleiben, wo sie war. Sie sah, wie die vier Männer um den See herumgingen und nach ihnen suchten.
Als sie sich umwandte, hatte Marc sich aufgerichtet und humpelte auf die Vespa zu. Er machte sich daran zu schaffen, und einen verrückten Augenblick lang dachte Tory, er wolle damit aus der Höhle hinausfahren.
Aus seinem Rucksack zog er einen Gaszylinder und hielt ihn triumphierend hoch.
“Was tust du da?”, flüsterte sie.
“Wir werden das hier in den See gießen.” Er deutete auf die Vespa. “Roll sie zum Wasser hinüber.”
Tory schob die Vespa aus ihrem Versteck und duckte sich, so gut es ging, hinter die Büsche und Farne. Sie folgte Marc zum Ufer des Sees.
Marc öffnete den Tank und goss vorsichtig das Benzin in das Wasser. “Zieh deine Hose und deine Schuhe aus”, flüsterte er ihr zu. “Lass das T-Shirt an.” Er öffnete seine Hose und ließ sie zu Boden sinken.
Tory wurde ganz schlecht beim Anblick der Wunde. Sie sah, dass die Kugel hinten am Bein wieder ausgetreten war und eine große Wunde ins Fleisch gerissen hatte. Sie hockte sich hinter ihn und legte eine Hand auf seine nackte Schulter.
Einer der Männer hatte ihr Lager entdeckt, er rief die anderen zu sich, und alle verschwanden hinter der Felswand. Hinter Marc ging Tory vorsichtig zum See.
Sie bahnten sich einen Weg durch die Büsche am Rande des Wassers. Der Boden war kühl und feucht unter ihren nackten Füßen, Wasser tropfte von den Farnen auf ihr Gesicht.
Die vier Männer kamen zurück, jeweils zu zweit gingen sie zu beiden Seiten um den See. Tory drängte sich dichter an Marc. “Was jetzt?”
Marc ließ die Männer nicht aus den Augen. “Wir warten, bis sie dort drüben an dem kleinen Baum sind … Verdammt!” Er griff nach seiner Hüfte. “Die Streichhölzer sind noch im Rucksack!”
Wortlos griff Tory in die Brusttasche ihres T-Shirts und holte die Streichhölzer heraus. Marc sah sie sekundenlang verwundert an, dann legte er beide Hände um ihr Gesicht. “Du bist ein toller Partner. Bleib in meiner Nähe, Kleines – gleich sind wir hier heraus.” Er gab ihr schnell einen Kuss, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den Männern zu, die immer näher kamen.
“Können wir nicht einfach weglaufen?”, flüsterte Tory verzweifelt. Sie fühlte sich in die Enge getrieben. Das Benzin hatte einen dünnen Film auf dem Wasser gebildet. Sie legte eine Hand auf Marcs Arm. “Können wir nicht an ihnen vorbeischlüpfen?”
“Wir haben unsere Gewehre nicht dabei, Tory, sie würden uns sehen, sobald wir unsere Deckung verlassen. Außerdem wissen wir nicht, ob draußen noch mehr Männer warten. Wir müssen sie ablenken.” Er hielt inne. “Hörst du?”
Das Geräusch des Helikopters war unmissverständlich zu hören. Alle vier Männer blieben plötzlich stehen, dann gingen sie schneller in Richtung des Ausganges – sie kamen genau auf sie zu.
Marc reichte Tory einen kleinen Gaszylinder und zeigte ihr, wie sie das Mundstück in ihren Mund nehmen musste, damit sie unter Wasser atmen konnte. “Los jetzt.” Er zündete ein Streichholz an und warf es so weit er konnte ins Wasser. Im gleichen Augenblick rief er: “Spring!”
Als sie in das Wasser eintauchten, setzte das Streichholz das Benzin in Brand. Das Feuer breitete sich rasch aus und bedeckte beinahe ein Drittel des Sees. Torys Kopf war über der Wasseroberfläche, und mit weit aufgerissenen Augen sah sie, wie die Flammen auf sie zukamen. Marc nahm ihren Arm und zog sie zu dem Wasserwirbel am Ende des Sees.
Tory versuchte, oben zu bleiben, ihre Augen brannten von dem Rauch. Marc schlang einen Arm um ihre Taille, sie hörte die Schreie der Männer, als sie das Feuer entdeckten. Sie riefen nach Verstärkung.
Die Flammen breiteten sich weiter aus. Marc hielt Victoria fest und zog sie auf das sprudelnde Wasser zu. Die Stimmen kamen näher, dann hörte man einen Schuss, der von den Wänden der Höhle widerhallte. Die Kugel schlug ins Wasser ein, es spritzte bis zu ihnen hin.
“Benutze den Sauerstoff!” Marc holte tief Luft, er hielt sie noch fester. Die Strömung erfasste ihre Beine, zog sie unter die Oberfläche. Tory presste die Augen zu und hielt sich an Marc fest.
Sekundenlang überlegte sie, wie Marc wohl so lange die Luft anhalten konnte, bis sie durch den etwa fünfzehn Meter langen Tunnel ins offene Meer gelangten. Doch dann konnte sie nicht mehr denken.
Es ging unglaublich schnell nach unten, der Tunnel war so eng, dass sie sich darin nicht drehen konnten. Marc wurde von der Gewalt des Wassers von ihr losgerissen, dann stieß Tory gegen einen sandigen Boden. Der Gaszylinder wurde aus ihrem Mund gerissen, und sie wusste nicht mehr, wo oben und unten war.
Panik ergriff sie, ihre Lungen drohten zu bersten. Sie zwang sich, die Augen zu öffnen. Kleine Luftblasen stiegen über ihre Schulter nach oben, mit letzter Kraft stieß sie sich vom Boden ab.
Ihr Gesicht kam an die Wasseroberfläche, tief sog sie Luft in ihre Lungen. Sie hörte das Dröhnen des Helikopters über sich, der Propeller wühlte das Wasser auf. Verzweifelt hielt sie Ausschau nach Marc.
Der blassgraue Himmel ging in das dunkelgraue Meer über und machte es schwer, etwas zu erkennen. Wellen hoben sie hoch und ließen sie wieder sinken.
“Tory!” Sie hörte, wie Marc ihren Namen rief. Hustend und keuchend kämpfte sie gegen die Wellen, das Haar hing ihr ins Gesicht und machte es unmöglich, etwas zu sehen.
“Halte durch!” Ganz plötzlich war er hinter ihr aufgetaucht, sie fühlte seine Beine an ihren, dann hielt er ihren Kopf hoch.
Über ihnen wirbelte der Propeller des Hubschraubers, immer tiefer sank er herab. Dann sahen sie die Rettungsleine zu ihnen herunterkommen. Sie stieß gegen ihren Kopf, und als Tory aufblickte, sah sie, dass die Unterseite des Helikopters nicht mehr als zehn Meter über ihr war.
Marc griff nach der Rettungsleine, er schob ein Bein zwischen ihre Schenkel und schaffte es, die Leine unter ihren Armen hindurchzuführen und sie dabei gleichzeitig über Wasser zu halten.
Tory wurde zuerst hochgezogen. Sobald Alex sie gepackt hatte, wurde die Leine für Marc wieder heruntergelassen. Erst als Marc auch sicher an Bord war, ging Alex zurück zu seinem Pilotensitz, ein paar Sekunden später kniete Angelo neben ihnen.
“Buon giorno, Signorina Victoria”, begrüßte er sie fröhlich und untersuchte dann die Wunde an Marcs Stirn. “Viel Blut für eine Kopfverletzung, aber keine Sorge. Er wird haben … wie sagen Sie doch gleich? Il mal di testa … ein wenig Kopfschmerzen, das ist alles.”
Tory sank in sich zusammen. Alex würde sie hier herausbringen. Nach Hause. Zurück zu ihrem sicheren, normalen Leben. Dann könnte sie wieder ein Feigling sein.
Aber warum war sie dann nicht glücklich?