7. KAPITEL
Sobald Giorgio gegangen war, streifte Tory die Schuhe von den Füßen. Sie war völlig erschöpft, doch der Kaffee, den sie getrunken hatte, machte es ihr unmöglich zu schlafen. Unruhig lief sie im Zimmer auf und ab.
Sie war gerade dabei, das Kleid auszuziehen, als es an ihrer Tür klopfte. Ihr Herz begann zu rasen. Konnte das Giorgio sein? Einen Augenblick lang blieb sie unbeweglich stehen.
“Miss Jones?”
Marc! Tory stolperte zur Tür und zog den Stuhl weg, den sie unter die Türklinke geklemmt hatte. Sie riss die Tür auf und wäre beinahe in seine Arme gesunken.
Sie wollte gerade seinen Namen sagen, doch er legte ihr einen Finger auf die Lippen. “Ich habe in meinem Zimmer Aspirin gefunden, Miss Jones. Die sollten Ihnen gegen Ihre Kopfschmerzen helfen. Wenn Sie ein paar Gläser haben, könnten Sie sie hiermit hinunterspülen.” Er hielt ihr eine Flasche hin, dann flüsterte er ihr zu. “Bitte mich ins Zimmer, verdammt.”
“Das ist sehr … nett von Ihnen. Bitte, kommen Sie doch herein.” Marc trug noch immer seinen Smoking, doch die Schleife hatte er gelöst und den Kragen des weißen Hemdes geöffnet.
Er folgte ihr und schloss die Tür hinter sich. “Ich weiß, Sie haben gesagt, Sie trinken keinen Alkohol, meine Liebe.” Er nickte zustimmend, als er sah, dass sie einen Stuhl unter die Tür geklemmt hatte. “Aber ein paar Gläser dieses vorzüglichen italienischen Weines werden Ihnen guttun. Sie werden schlafen wie ein Baby.”
“Das ist sehr nett von Ihnen, Sir … Sir Ian. Ich hole die Gläser.” Tory sah Marc zu, der durch das Zimmer ging und sich alles ansah.
“Danke.” Marc nahm die beiden Gläser und stellte sie auf den Nachttisch. Er hob den Lampenschirm von der Lampe neben dem Bett und nickte dann, ehe er den Wein eingoss. “Hier, bitte.” Er reichte ihr eines der Gläser und öffnete dann geräuschvoll die Flasche mit Aspirin. “Zwei Aspirin sollten reichen, um Ihre Kopfschmerzen zu vertreiben.” Er formte das Wort “Wanzen” mit dem Mund und deutete auf die Lampe. Torys Augen weiteten sich erschrocken.
Wanzen? Das bedeutete, dass jemand alles hören würde, was sie sagten. Marc nickte grimmig, als sie ihm einen fragenden Blick zuwarf. “Sprich weiter!”, hauchte er und sah sich im Zimmer um.
Tory wusste nicht, was sie sagen sollte. Er hielt drei Finger hoch, als er zu ihr zurückkam, dann griff er in ihr Haar.
Wie konnte er ausgerechnet jetzt an Sex denken? Tory machte einen Schritt von ihm weg, doch er hielt sie am Arm fest und zog sie an sich, so nahe, dass sie die Wärme seines Körpers fühlte.
“Sie haben wunderschönes Haar, meine Liebe. Als ich Sie heute Abend beim Essen sah, konnte ich nur daran denken, wie es sich auf meiner nackten Haut anfühlen würde.” Seine Stimme klang rau, seine Augen sahen sie warnend an. “Sag etwas, das mich ermuntert, verdammt!”
Tory konnte ihn nur ansehen, ihr Kopf war ganz leer. Wie konnte er nur glauben, dass sie gleichzeitig zwei ganz verschiedene Unterhaltungen führen konnten, wenn er dabei ihren Nacken streichelte? Sie schloss die Augen und hob ihm das Gesicht entgegen. “Küss mich!”, verlangte sie, und ihre Worte waren sowohl für Marc als auch für ihre lauschenden Zuhörer bestimmt.
Sekundenlang hielt er inne, doch dann beugte er sich mit einem erstickten Stöhnen zu ihr und küsste sie. Tory schlang die Arme um seinen Nacken und drängte sich an ihn. Sie konnte ihm nicht nahe genug sein, während seine Zunge sich tief in ihren Mund schob.
Als er einen Schritt von ihr weg machte, fiel das Kleid, das sie nur noch mit einer Hand festgehalten hatte, zu Boden. In Strümpfen und dem Büstenhalter stand sie vor ihm.
Er streichelte ihre Brüste unter der dünnen Spitze, dann schüttelte er den Kopf. “Sie haben einen bemerkenswerten Körper, Miss Jones … Victoria, wenn ich Sie so nennen darf. So sanft, so geschmeidig … O ja! So ist es recht! Soll das eine Einladung sein?”
“Ja”, antwortete Tory matt, als er sie zum Bett zog.
Die Federn quietschten ein wenig, als er sie mit sich auf das Bett zog, und eine kleine Staubwolke stieg auf. Die lavendelfarbene Decke war kühl auf ihrer erhitzten Haut. Tory begann, Marcs Hemd aufzuknöpfen, sie konnte es kaum erwarten, seine nackte Haut an ihrer zu fühlen. Er hielt ihre Hand fest und schüttelte den Kopf.
“Zuerst einmal wollen wir dir das Kleid ausziehen, nicht wahr?” Tory bekam eine Gänsehaut, als er geräuschvoll ihren Hals küsste. “Wo ist Alex?” Sie schloss die Augen und schlang die Arme um seinen Nacken, ihr Gesicht presste sie gegen seine Brust.
“Im Kerker, direkt unter diesem Zimmer hier.”
“Himmel, Sie sind so wunderbar empfänglich. Machen Sie das noch einmal, Liebling.” Er bewegte sich, damit die Federn des Bettes quietschten, dann knabberte er an der zarten Haut ihres Halses, bis sie aufstöhnte. “Sechs Stockwerke tiefer”, flüsterte er ihr zu. “Wo ist der Gürtel?”
“Der Gürtel?”
Marc schüttelte sie, bis das Bett quietschte. “Der Gürtel, Tory. Der Gürtel. Wo ist er? Konzentriere dich! Soll ich Sie hier küssen? Und hier, Liebes?”
“Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du das tust!”, zischte sie an seinem Hals.
Er hob den Kopf und sah sie an. “Dein Leben könnte davon abhängen, dass hier alles ganz echt klingt, Victoria.” Ihr wurde ganz kalt, als sie daran dachte, dass sich nur einen halben Meter weiter unter dem Lampenschirm ein Abhörgerät befand. Jemand am anderen Ende hörte alles, was hier gesprochen wurde. Sie strich sich mit der Hand das Haar aus dem Gesicht und nickte. “O ja, küss mich dort.” Ihre Stimme zitterte. “Auf dem Stuhl unter dem Fenster.”
“Du musst Geräusche machen.” Er stand auf und schlich zum Fenster, suchte unter ihren Kleidungsstücken, bis er den Gürtel fand, auf dem er heute morgen bestanden hatte. Es schien schon Monate her zu sein. Tory setzte sich auf und schlang die Beine zusammen. Ab und zu sprang sie hoch und versuchte, sexy Geräusche von sich zu geben. Sie kam sich ziemlich lächerlich vor.
Marc kam zurück auf das Bett. “Kannst du dich mit Lynx in Verbindung setzen und ihm sagen, was ich tue?”, hauchte er ihr zu.
Tory nickte. Die Federn des Bettes quietschten, als Marc sich heftig bewegte und dann laut aufstöhnte. Beinahe hätte Tory hysterisch aufgelacht, aber er warf ihr einen warnenden Blick zu. “Ah … tu das noch einmal. Nein, fester, Liebling. Ja, so!”
Vorsichtig schob er sich aus dem Bett und kletterte auf den kleinen Hocker am Fuß des Bettes. Er schob das Hosenbein hoch und bedeutete ihr, sich weiter zu bewegen.
Tory hüpfte auf dem Bett hin und her und stöhnte ab und zu auf, während sie beobachtete, wie er eine kleine achtschüssige Pistole aus der Halterung an seinem Bein zog.
“Dieses verdammte Bett ist viel zu weich!”, meinte er, zog Victoria vom Bett und deutete auf das Fenster.
“Mir ist auch der Fußboden recht.” Folgsam kam Tory hinter ihm her zum Fenster.
“Sag Alex genau, was ich tue.” Marc drückte auf einen verborgenen Knopf an dem Gürtel, und er öffnete sich. “Himmel, du bringst mich um.” Er sah sich den Inhalt des Gürtels an und zog dann eine Angelschnur hervor, die er an der Gürtelschnalle befestigte. Dann band er die Pistole daran.
“Gefällt dir das, mein Schatz?” Marcs etwas rauchige Stimme war laut in dem Zimmer. Tory konnte kaum glauben, dass sie so erregt klingen konnte, während er völlig andere Dinge tat. Ihr fiel es schwer, sich mit Alex in Verbindung zu setzen. “Und das hier? Antworte mir, um Himmels willen!”
“Ja!”, brachte Tory zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Marc öffnete leise das Fenster und ließ die Schnur dann hinunter.
“Sag Lynx, er soll das Fenster beobachten. Der Gürtel und die Pistole sind auf dem Weg nach unten. Heb deine Hüften. Liebling. Ja, so ist es richtig. Ist das gut so?”
Tory erschauerte in der kühlen Nachtluft, die durch das Fenster drang. “J-ja.” Sie versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was sie Alex sagen sollte, während sie gleichzeitig Liebesgeräusche von sich gab.
Sie konnte nicht vergessen, dass jemand ihren Worten lauschte. Sie schlang die Arme um sich selbst, und das Stöhnen, das sie ausstieß, kam von Herzen – der Wind, der durchs Fenster kam, war eisig auf ihrer nackten Haut.
“Er hat es”, flüsterte sie, und Marc wandte sich ab und schloss das Fenster. “Er sagt, er ist bereit. Er wartet auf dich in zwei Stunden, genau, wie du es gesagt hast.”
“Gut”, flüsterte Marc. “Und jetzt schrei.”
Tory sah ihn verständnislos an.
“Als wenn du den Höhepunkt erreichst.”
Tory wurde über und über rot. “Aber sie hören zu!”
Marc lächelte und legte einen Finger an ihr geschwollenes Kinn. “So soll es auch sein, Prinzessin. Schrei, so laut du kannst, als wäre es das Größte, was du je erlebt hast. Jetzt.”
Tory gelang ein unterdrückter Schrei, und auch Marc schrie auf. Tory zitterte, und Marc zog sie in seine Arme. “Gutes Mädchen.”
Er ließ sie los, ging zum Bett und holte die beiden Gläser. Tory nahm einen großen Schluck von dem Wein, bis sie fühlte, dass ihr ein wenig warm wurde. “Und jetzt?”
“Jetzt werden wir duschen.” Marc nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es auf den Nachttisch.
“Duschen?”
Sie folgte ihm ins Bad und sah ihm zu, wie er sich auszog und dann das Wasser anstellte.
Er öffnete ihren BH und warf ihn auf den Boden, ihre Strümpfe und ihr Slip folgten. Wie gebannt sah Tory ihm zu, als er ein Handtuch um ihren Gipsarm band und sie dann unter das warme Wasser der Dusche schob.
“Jetzt können wir reden”, meinte er zufrieden, als das Wasser über seine breiten Schultern und sein Gesicht floss. Tory starrte auf seine behaarte Brust. Wie um alles in der Welt schaffte er es nur, so zu schauspielern?
Sie schluchzte unterdrückt auf und versuchte, die Duschtür zu öffnen. Doch Marc zog sie in seine Arme. “Du warst großartig, Prinzessin”, versicherte er ihr.
Tränen standen in Torys Augen. “Ich hatte schreckliche Angst.”
Marc küsste die Wassertropfen von ihrer Wange. “Dies hier ist nur für uns allein”, flüsterte er, und Tory drängte das Schluchzen zurück, als seine Zunge in ihren Mund glitt.
Unter seinen Liebkosungen vergaß sie alles andere um sich herum, die Sehnsucht nach ihm war so groß, dass ihr Herz raste. Sie konnte nicht genug bekommen von ihm, sie stellte sich auf die Zehenspitzen und schob die Hände in sein nasses Haar. Noch immer küsste er sie, und sie presste herausfordernd die Brüste an seinen muskulösen Oberkörper.
Marc streichelte ihre aufgerichteten Knospen, ihre Taille und ihre Hüften, und sie glaubte in Flammen zu stehen. Begierig, ihm die gleiche Lust zu schenken, unterbrach sie den Kuss und umkreiste mit der Zungenspitze seine kleinen, harten Brustwarzen.
Marc keuchte.
“Wollen wir ins Bett?”, fragte sie hoffnungsvoll.
“Im Bett haben wir es noch nie getan.” Er knabberte an der zarten Haut ihres Halses. “Außerdem, wenn wir uns zum ersten Mal in einem Bett lieben, dann möchte ich keine Zuhörer haben.” Er küsste ihr Ohrläppchen und zog sie an seinen sehnigen Körper. “Himmel, ich will dich!”
“Du hast mich doch.” Verführerisch schmiegte sie sich an ihn und umfasste seinen Po.
Als er sie hochhob und sie gegen die Wand drückte, legte sie beide Beine um seine Taille. Mit einem einzigen Stoß drang er in sie ein. Tory stöhnte auf, als seine Bewegungen heftiger wurden. Sie schloss die Augen und gab sich ganz den erotischen Empfindungen hin, die sie durchströmten. Jeden Laut, jede Berührung nahm sie mit geschärften Sinnen wahr, und alles in ihr fieberte danach, endlich Erfüllung zu finden.
Doch Marc hielt plötzlich inne. “Langsam, Liebling, langsam. Ich möchte, dass es ewig dauert.”
Aber sie konnte nicht mehr warten. Sie presste die Fersen gegen seinen Rücken und steigerte ungeduldig ihr Tempo, bis auch er sich im gleichen wilden Rhythmus bewegte wie sie.
Und dann schlug die Woge der Leidenschaft über ihnen zusammen. Mit einem Schrei erreichte Tory den Höhepunkt, Marc folgte ihr einen Augenblick später.
Das Wasser rauschte noch immer, als Marc sie vorsichtig auf ihre Füße stellte und ihr das nasse Haar aus dem Gesicht strich. Er legte einen Arm um ihre Taille, seifte sie ein und spülte dann die Seife ab. Benommen lehnte sie den Kopf gegen seine Brust, während er sich nun selbst wusch.
Ihre Knie waren weich, ihr Herz raste, und dennoch konnte sie ihn nicht ansehen, als er ihr aus der Dusche half und ihr ein Handtuch reichte.
Marc nahm ihr das Handtuch aus der Hand und rieb sie trocken. “Alles in Ordnung?”, fragte er.
“Ja.” Aber Tory wusste, es würde nie wieder alles in Ordnung sein. Der heutige Tag hatte ihr gezeigt, wie verschieden sie waren. Nicht in einer Million Jahren würde sie in sein Leben passen, und ganz sicher passte er nicht in ihres.
Sie war zu Tode geängstigt, doch genügte ein Blick zu ihm, um das Verlangen in ihr wieder anzufachen. Sie liebte es, seine Hände und seine Lippen auf ihrer Haut zu fühlen. Sie liebte es, wenn er mit ihrem Haar spielte, sie liebte es, wie seine Augen aufleuchteten, wenn er sie berührte.
Sie liebte ihn. Und genau das war das Problem.
Marc Savin war gefährlich für sie.
“Wann können wir hier weg?”, fragte Tory so leise, dass man es beim Geräusch des noch immer laufenden Wassers nicht hörte.
Marc rieb sich mit einem Handtuch das Haar trocken. “Ich muss erst Lynx rausholen und ihn zum Hubschrauber bringen.” Er zog seine Hose an und hob das Hemd vom Boden auf. “Du weißt doch, du hast ihm gesagt, dass ich in zwei Stunden komme.”
Er nahm die Uhr aus seiner Tasche und zog sie an. “Das lässt mir noch genau vierzig Minuten, um mich mit dir zu beschäftigen.”
“Was soll ich tun?” Tory hatte sich auf die Badewanne gesetzt.
Marc blickte auf sie hinunter. “Ich muss dich hierlassen, bis Lynx in Sicherheit ist.”
“Nein!” Tory sprang auf und klammerte sich an seinen Arm. “Nein, Marc, du kannst mich nicht hierlassen. Ich komme mit dir. Ich werde dir mit Alex helfen …”
“Tory …” Seine Stimme klang ganz sanft. “Du hast mir selbst gesagt, dass er schwer verletzt ist. Ich kann nicht auf euch beide aufpassen, wir werden am Ende alle daran glauben müssen. Ich komme dich holen, das verspreche ich dir.” Er rieb sich das Kinn. “Wenn es einen anderen Weg gäbe, ich würde ihn gehen. Mit diesen Tieren möchte ich dich nicht einmal fünf Minuten allein lassen, aber es gibt leider keine andere Möglichkeit.”
Sie musste sich damit zufriedengeben, das wusste Tory. Aber sie fürchtete sich davor, hier mit den beiden Männern allein zu bleiben.
Sie wartete, bis Marc ihr mit der Stimme von Sir Ian für den wunderschönen Abend dankte. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, warf sie sich auf das Bett und weinte. Und es war ihr ganz gleich, wer ihr dabei zuhörte.
Tory wachte auf, als das Sonnenlicht durch das Fenster fiel. Das nasse Handtuch lag neben ihr, ihr Haar war noch immer feucht.
Ihr ganzer Körper schmerzte. Wie eine alte Frau stand sie vom Bett auf und ging ins Bad. Das warme Wasser tat gut, es belebte sie. Und sie fühlte, dass Alex nicht mehr da war.
Sie zog die Sachen an, die sie gestern Abend ausgesucht hatte, dann trocknete sie ihr Haar und band es mit einem Seidentuch, das sie in einer Schublade gefunden hatte, zu einem Pferdeschwanz zusammen. Die schwarze Leinenhose war ihr ein wenig zu weit, und sie suchte nach einem Gürtel. Tränen brannten in ihren Augen, doch sie biss die Zähne zusammen.
Marc war weg. Aber er würde zurückkommen, und deshalb musste sie sich zusammenreißen. Sie zuckte zusammen, als die Tür sich plötzlich öffnete. Mario kam ins Zimmer, er trug ein Tablett.
“Frühstück? Ich bin völlig ausgehungert.” Dabei ließ ihr allein der Gedanke an Essen übel werden. Doch sie wusste, sie musste sich so normal benehmen, wie es unter diesen Umständen möglich war. Erst, als sie noch einmal aufblickte, sah sie, wer hinter Mario stand.
Ragno trat einen Schritt zur Seite und ließ Samuel Hoag vor ihm in das Zimmer treten. Er nickte Mario zu, dieser stellte das Tablett auf den Tisch und verschwand dann. “Sie waren ein böses Mädchen, Miss Jones.” Ragnos eisige Stimme würde sie nie wieder vergessen. Die Haare auf ihren Armen richteten sich auf, als er näher kam. Sein süßlich riechendes Aftershave nahm ihr den Atem.
Tory legte den Kopf ein wenig schief. “Wieso?” Ganz ruhig, sagte sie sich. Bleib ruhig, Marc wird kommen …
“Ich habe Ihr kleines Stelldichein gestern Abend meinem anderen Gast erzählt, er war gar nicht begeistert davon.”
Tory zog die Augenbrauen hoch. “Ach, wirklich?”
“Nein.” Ragnos dicke Finger schlossen sich fester um den silbernen Knauf des Stockes, den er in seiner rechten Hand hielt. Er ging durch das Zimmer, roch an einem Parfümzerstäuber und stellte ihn dann wieder an seinen Platz zurück.
Tory wich bis zum Bett vor ihm zurück und blickte dann zu Hoag, der noch immer an der Tür stand.
“Wo ist er, Miss Jones?” Ragno kam näher und strich mit dem Knauf des Stockes über ihre Wange.
“Wo ist wer?”
Der silberne Knauf presste sich gegen ihren Wangenknochen. “Ihr früherer Liebhaber.”
“Ich habe absolut keine Ahnung. Wahrscheinlich hat ihm Ihre Gastfreundschaft genauso wenig gefallen wie mir.” Im Augenblick, als sie diese Worte aussprach, wusste Tory, dass sie einen schlimmen Fehler gemacht hatte.
Christoph Ragno schlug den Stock gegen ihre Wange, dass ihr Tränen in die Augen traten. Sie biss sich auf die Lippe und wich noch weiter zurück.
Er griff in ihr Haar und bog ihren Kopf zurück. “Zwei der Wachen sind tot, und drei andere werden wünschen, sie wären es.” Er starrte in ihre Augen. “Wo sind sie, Miss Jones?”
Samuel Hoag kam zum Bett hinüber. Tory versuchte sich aus Ragnos Griff zu befreien. “Ich … ich habe keine Ahnung.”
Schweiß glänzte auf Ragnos Stirn. “Wir wissen, dass beide Männer Agenten sind, Miss Jones. Nicht bloß einfache Agenten, sondern Männer des T-FLAC, um genau zu sein. Sie haben sich schon seit Jahren in unsere Geschäfte eingemischt, haben ihre Nasen in Dinge gesteckt, die die Vereinigten Staaten gar nichts angehen. Ich werde diese Organisation vernichten, so oder so.”
Seine Finger krallten sich noch fester in ihr Haar. “Und ich werde damit beginnen, indem ich den Kopf von T-FLAC zuerst vernichte. Fünf Jahre haben wir gebraucht, um einen von ihren Agenten zu fangen. Der Mann, den wir all die Monate gefangen hielten, hat dichtgehalten, wir konnten ihn nicht brechen. Nicht einen einzigen Namen hat er uns verraten. Wenn Sie nicht aufgetaucht wären, hätten wir ihn umbringen müssen, Miss Jones. Aber wir wussten, dass Sie ein guter Lockvogel waren, auch wenn wir keine Ahnung hatten, welche Verbindungen Sie zu der Organisation haben. Doch Samuel war sicher, dass Sie uns Ergebnisse liefern würden, wenn wir Sie in die Vereinigten Staaten zurücklassen würden. Und wie immer hatte er auch diesmal recht. Also, wer von den beiden war Phantom?”
Torys Mund war ganz trocken, als Ragno weitersprach. “Sie können uns das auf die einfache Art sagen …” Wieder zog er an ihrem Haar. “Oder auf die harte Tour. Ich versichere Ihnen, mir ist das ganz gleich. Meine Geduld ist langsam zu Ende, Miss Jones. Entweder reden Sie, oder Sie werden für immer schweigen.”
Torys Zunge glitt über ihre trockenen Lippen. “Ich … ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Ich weiß nichts von irgendwelchen Spionen, um Himmels willen … ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir wollen.”
Dies war der schlimmste Albtraum, den sie je erlebt hatte. Sie war gelähmt vor Angst, als ihr klar wurde, dass sie ganz allein auf sich gestellt war. Es würde sie nicht retten, wenn sie jetzt zusammenbrach. Zum Teufel! Sie musste sehen, wie sie allein aus diesem Durcheinander herauskam.
“Eines sage ich Ihnen. Wenn Sie nicht sofort mein Haar loslassen, dann werde ich so laut schreien, dass dieser alte Steinhaufen hier in sich zusammenfällt und alle Agenten aller Regierungen der Welt mir zu Hilfe kommen werden. Es gibt mindestens ein Dutzend Menschen, die ganz genau wissen, wo ich bin und bei wem ich bin. Also, lassen Sie mich jetzt los!”
Sie schrie auf, als er ihr den Arm hinter den Rücken drehte. Er zwang ihren Arm noch höher, der Schmerz war kaum zu ertragen.
Tory schlug mit ihrem Gipsarm zu, und das Geräusch, als sie ihn ins Gesicht traf, übertönte ihre eigenen Schmerzensschreie. Blut rann aus seiner Nase.
“Sie liebt Schmerzen”, meinte Ragno, holte ein Taschentuch aus seiner Tasche und tupfte das Blut ab. Er ließ ihren Arm so plötzlich los, wie er ihn ergriffen hatte. Er hing gefühllos herunter.
“Ich frage Sie noch einmal, Miss Jones. Wo sind sie? Und welcher von beiden ist Phantom?”
Tory nahm an, dass sie ihr nicht mehr viel Zeit lassen würden, ehe sie sie umbrachten. Auf jeden Fall würde es ziemlich unangenehm werden. “Sie stellen mir immer die gleichen Fragen”, meinte sie und biss sich auf die Lippe. “Ich habe Sir Ian zum letzten Mal nach dem Essen gesehen. Wohin er gegangen ist, weiß ich nicht.”
Ragno hob den Arm, und der Stock sauste auf ihren Rücken. Tory schrie auf.
Sie sah, wie er noch einmal ausholte, doch Hoag hielt seinen Arm fest. “Ich glaube, Miss Jones hat genug, mein Freund. Es gibt noch andere Wege …” Er warf Victoria einen grimmigen Blick zu. “Nicht wahr, meine Liebe?”
Tory maß den Abstand zur Tür. Mit beinahe übermenschlicher Kraft riss sie sich von den beiden Männern los und rannte zur Tür. Die Türklinke rutschte aus ihren feuchten Händen, dann fühlte sie eine Hand, die sie nach hinten riss.
“Nein!” Sie trat um sich, als Hoag sie zurück in das Zimmer zog. Brutal stieß er sie auf das Bett.
In der nächsten Sekunde schon war sie bis zur Wand zurückgewichen. “Kommen Sie nicht in meine Nähe”, warnte sie ihn.
Hoag hielt Ragno zurück, der sich mit wütendem Gesicht auf sie stürzen wollte, um sie mit dem Stock zu schlagen. Tory zog die Beine an, als der Stock auf das Bett niedersauste.
Marc, wo bist du? dachte sie verzweifelt, als Hoag zur Tür ging und mit Mario sprach, der draußen stand. Mit dem Kopf winkte er Ragno, aus dem Weg zu gehen, dann setzte er sich auf das Bett. Tory wich noch weiter zurück.
“Mein Freund hier möchte gern die Wahrheit wissen, Miss Jones.” Seine Stimme klang tief und völlig ausdruckslos. Tory zitterte.
Hinter ihm schlug Ragno ungeduldig mit dem Stock auf den Teppich. “Es gibt immer Wege, selbst eine solche Hure wie Sie zum Reden zu bringen, und ich versichere Ihnen, wir werden vor nichts zurückschrecken, um zu unserem Ziel zu kommen.” Er wandte den Kopf, als Mario und Giorgio ins Zimmer kamen.
“Haltet sie fest”, befahl er den beiden.
Beinahe verrückt vor Angst, blickte Tory von einer Seite des Bettes zur anderen. Sie hatte keine Ahnung, was die beiden vorhatten, aber sie wusste, es würde sehr schlimm sein. Mit aller Macht wehrte sie sich, doch die beiden hielten sie an Armen und Beinen auf das Bett gedrückt.
Hoag nahm ein kleines Kästchen, das Mario mitgebracht hatte, und holte eine Spritze daraus hervor. Entsetzt starrte Tory darauf, als er die Spritze hob und einen Tropfen der Flüssigkeit herausdrückte.
Sie versuchte sich von den beiden Männern loszureißen, als er dann auf sie zukam. Die Nadel der Spritze glänzte im Sonnenlicht. Tory schüttelte verzweifelt den Kopf. “Bitte. Oh, bitte …” Ihre Augen wurden ganz groß, als er ihr den Ärmel des T-Shirts hochschob.
“Es ist nur ein wenig Phenobarbital, Miss Jones, es tut auch gar nicht weh.” Sie fühlte den Einstich der Nadel, dann durchfuhr sie eine Hitzewelle. Ihr Blick verschleierte sich, und sie schloss die Augen. Noch ehe alles um sie herum schwarz wurde, hörte sie Ragnos Stimme. “Du hast ihr zu viel gegeben, verdammt, Samuel. Du hast ihr zu viel …”
Marc fühlte nach Torys Puls an ihrem Hals, doch seine Finger zitterten zu stark. Es war stockdunkel, aber er wagte nicht, die Taschenlampe zu benutzen. Endlich fühlte er den Puls, er war sehr schwach, doch stabil.
“Dem Himmel sei Dank.” Er schüttelte sie, und als sie stöhnte, legte er ihr eine Hand auf den Mund.
“Victoria”, drängte er. “Du musst aufwachen!! Hörst du mich?”
Sie rührte sich nicht. Noch einmal schüttelte er sie, härter, weil ihm klar wurde, dass sie nicht einfach schlief. Sie hatten nur zehn Minuten Zeit, höchstens fünfzehn, ehe jemand die bewusstlose Wache unten in der Halle finden würde.
Er hob sie hoch, hielt sie in seinen Armen, doch ihr Kopf fiel kraftlos auf seine Schulter. Er konnte sie nicht tragen und sie beide gleichzeitig schützen, doch hierlassen würde er sie auf keinen Fall. Zum Glück hatten sie sie nicht in den Kerker gebracht. Nach einer Stunde des Suchens hatte er sie endlich gefunden, doch sie aus dem Palast herauszubringen bedeutete, dass sie von einem Ende des riesigen Gebäudes unbemerkt bis zum anderen Ende kommen mussten.
Wenn er sie wenigstens aufwecken könnte, dann würden sie es vielleicht schaffen. Er wollte sie bei Licht sehen, sich vergewissern, dass sie in Ordnung war, aber dafür hatte er keine Zeit.
“Verdammt, Victoria, hörst du mich?” Er schob den Kopf von seiner Schulter und hielt ihr Gesicht in beiden Händen. “Wenn du jetzt nicht aufwachst und mir hilfst, hier herauszukommen, sind wir beide tot!”
Als er fühlte, dass sie sich bewegte, schlug er sie ins Gesicht. Sie wimmerte und versuchte sich aus seinem Griff zu befreien.
“Marc?” Ihre Stimme war schwach, aber wenigstens war sie wieder bei Bewusstsein.
“Komm schon, Tory!” Er stellte sie auf die Füße und wartete einen Augenblick, bis er sicher war, dass sie stehen konnte. “Komm schon, Prinzessin.” Sie sank gegen ihn, doch Marc zwang sie, von einer Seite des kleinen Zimmers zur anderen zu gehen und wieder zurück. Dabei lauschte er angestrengt auf Geräusche von draußen.
Als sie etwa ein Dutzend Mal hin- und hergegangen war, wurde sie langsam stärker.
“Weißt du, was sie dir gegeben haben?”, drängte er und ließ sie los, um zu sehen, ob sie allein stehen konnte.
“Pheno… irgendetwas.”
“Barbital.” Er fühlte, wie sie zusammensank, doch er hielt sie nicht fest. Wenn sie lebend hier herauskommen wollten, musste sie auf eigenen Füßen stehen können. “Wie lange ist das schon her?”, fragte er grob.
“Heute Morgen, glaube ich.”
“Gut. Dann sollte dein Körper es schon beinahe wieder abgebaut haben. Geh weiter”, befahl er, als sie stehen bleiben wollte. Er hörte ihre Schritte, dann ging er zum Bett und warf eine Tasche auf die stinkende Matratze.
“Hast du schon einmal ein Gewehr benutzt?”
“Nein.”
“Nun, für alles gibt es ein erstes Mal. Komm her.”
Als sie nahe genug war, nahm er ihre Hand und schloss ihre Finger um eine automatische Waffe mit Laserzielgerät. Er hielt ihre Finger fest, als sie zurückschreckte. “Hör mir zu, hör mir gut zu, Prinzessin. Unser beider Leben hängt davon ab, dass du dich jetzt zusammenreißt. Konzentriere dich, ich werde dir jetzt erklären, wie du die Waffe benutzen musst.”
Als er sicher war, dass sie alles verstanden hatte, zog er sie mit sich auf den Flur. Alles war ruhig.
Mit Tory hinter sich ging Marc vorsichtig zur Treppe. Wenn jemand kam, würden sie in der Falle sitzen, denn es gab keine Fluchtmöglichkeit. Die Lampen an den Wänden warfen nur ein schwaches Licht auf den langen Korridor, es gab viel zu viele dunkle Ecken und Türeingänge.
Aus dem Augenwinkel warf er einen Blick auf Victoria. Ihr Gesicht war kreidebleich, ihre Augen dunkel und weit aufgerissen. Doch sie war auf den Beinen, und sie bewegte sich. Das Gewehr hing in ihrer Hand, als fürchte sie sich davor. Mit seiner eigenen Waffe hob er ihr Gewehr hoch. “So musst du es halten”, befahl er grob. Sie nickte und nahm es dann in beide Hände. Dabei war ihr der Gipsverband im Weg, doch wenigstens konnte sie es so benutzen.
Die Treppe war gefährlich. Marc bedeutete ihr, dicht hinter ihm zu bleiben, als er langsam die Stufen hinunterging. Dabei hielt er sich dicht an der Wand.
Schließlich standen sie vor der Tür des Salons, in dem er sie gestern Abend wiedergesehen hatte. Vorsichtig öffnete Marc die Tür, hinter Tory schloss er sie leise wieder. Der große Raum war leer, als sie ihn durchquerten.
Marc fluchte leise. Der Palast war riesig, überall gab es Möglichkeiten, sich zu verstecken. Der einzige Weg nach draußen ging durch die Haupteingangshalle und die große Tür – wenn man sie bis dahin nicht schon längst entdeckt hatte. Als er Lynx herausgeholt hatte, hatte er die Bewegungsmelder ausgeschaltet, aber das bedeutete nicht, dass nirgendwo Wachen standen, die auf sie warteten.
Er dachte an Lynx, der in dem Hubschrauber auf sie wartete. Wie dieser Kerl in seinem Zustand das Ding noch fliegen wollte, konnte Marc nicht verstehen. Aber Lynx hatte darauf bestanden, die Insel nicht ohne seine Schwester zu verlassen.
Über die Schulter hinweg warf er Victoria einen Blick zu. Der Seidenschal, mit dem sie ihr Haar zusammengebunden hatte, hatte sich gelöst, lange Haarsträhnen hingen ihr ins Gesicht. Ihre Augen waren verängstigt aufgerissen.
Als er die Tränenspuren auf ihren Wangen sah, stieg Wut in ihm auf, doch dann hob sie ein wenig das Kinn, hielt die Waffe höher, und er hätte beinahe gelächelt. Gebeugt, doch nicht geschlagen. Diese verflixte Frau.
Bewunderung stieg in ihm auf, er legte ihr kurz eine Hand an den roten Fleck auf ihrer Wange. “Komm.”
Es war ein Uhr am Morgen, alle schienen zu schlafen, und auch die Eingangshalle war leer. Er hörte Victorias leise Schritte hinter sich, als er auf die Eingangstür blickte, die nur noch etwa fünfzig Meter entfernt war. Dahinter lag die Zugbrücke und dann der große Park und die Freiheit.
Marc wagte das Risiko, die Eingangshalle zu durchqueren, anstatt den längeren Weg an der Wand vorbei zu nehmen. Er machte Victoria das mit Handzeichen klar. Sie nickte. Das Haar hing ihr jetzt lose über den Rücken, ein Ärmel ihres T-Shirts war noch hochgeschoben. Marc erkannte die Einstichstelle der Nadel, und die Wut machte ihn beinahe blind. Es würde Spaß machen, zurückzukommen und diese Bastarde zusammenzuschlagen. Aber zunächst einmal musste er Victoria in Sicherheit bringen. Er blickte sich noch einmal um, dann umfasste er ihren Arm, und sie liefen beide zusammen durch die große Halle. Schwer atmend stand sie an der Tür neben ihm.
Das Türschloss knarrte, und die Tür quietschte, als er sie öffnete, doch niemand schien etwas gehört zu haben. Draußen sah Marc sich prüfend um.
Mitten auf dem großen Hof stand ein großer Brunnen. Jetzt lief kein Wasser. Das Mondlicht erhellte das Moos und das schleimige Wasser in dem Becken.
Sie waren auf drei Seiten von hohen Mauern umgeben, der Palast lag in ihrem Rücken. Im Schatten der Mauern führte Marc Victoria über den Hof.
Sie folgte ihm, blieb stehen, wenn er stehen blieb und hielt immer den gleichen Abstand. Marc schlich sich durch die überwucherten Beete an den Mauern vorbei und hoffte, niemand würde aus einem der Fenster sehen. Dann blieb er stehen und sah sich nach ihr um. Mit dem Kopf deutete er auf das kleine Tor neben dem großen Portal.
Victoria nickte, sie hob die Waffe höher. “Wir haben es beinahe geschafft”, flüsterte er ihr zu, als sie an dem kleinen Tor angekommen waren, das er bei seiner Ankunft unverschlossen gelassen hatte. Es war zu schön, um wahr zu sein. Waren Spiders Männer alle so unfähig, dass sie nichts bemerkt hatten? Im Mondschein warf Marc einen Blick auf seine Uhr und stellte überrascht fest, dass sie nur sechzehn Minuten gebraucht hatten, um aus dem Palast zu entkommen.
Die mittelalterliche Zugbrücke lag über dem Graben, in dem mehr Schlamm als Wasser zu erkennen war. Marc nahm Victorias Hand und lief mit ihr zusammen über die hölzerne Brücke, durch den Park auf die Bäume zu.
Victoria atmete schwer hinter ihm. Hier, in dem offenen Gelände, würden sie gute Zielscheiben abgeben. Aber sie hatten keine andere Wahl, sie mussten so schnell wie möglich in den Schatten der Bäume gelangen.
“Tory, hör mir zu. Wir müssen schnell zu den Bäumen dort drüben laufen. Wenn du irgendetwas hörst, reagiere nicht, laufe nur noch schneller. Ich bin gleich hinter dir.”
“Okay.” Im Mondlicht waren ihre Augen groß und voller Schrecken.
Marc warf einen Blick auf die Waffe in ihrer Hand. Er dachte daran, sie zurückzulassen, damit sie schneller laufen konnte. Doch es konnte auch ihm etwas zustoßen, dann hätte sie wenigstens die Möglichkeit, sich selbst zu verteidigen. Er deutete auf die Waffe. “Du weißt, wie du sie benutzen musst?”
Sie nickte. “Wenn das rote Licht aufleuchtet, muss ich schießen.”
“Richtig. Los jetzt.”
Der Mond stand hoch am Himmel, es war beinahe taghell. Victorias weißes Hemd war eine gute Zielscheibe, als sie über den Kiesweg so schnell wie möglich auf die Bäume zuliefen. Sobald sie in Deckung wären, würde er ihr sein Hemd geben.
Doch zuerst mussten sie den breiten Weg um den Burggraben herum überqueren, dann die Wiese, bis sie zu dem kleinen Wald kamen, der die Grenze des Grundstückes bildete.
Sie waren schon bis zu der Wiese gekommen, als ein hoher Pfeifton Marc eine Sekunde zu spät sagte, dass sie doch kein Glück gehabt hatten. Die Kugel traf ihn an der Stirn, er sank auf die Knie. Der Schmerz würde erst später einsetzen, jetzt fühlte er nur das warme Blut, das ihm in die Augen lief. Victoria war stehen geblieben, ihr weißes T-Shirt leuchtete hell im Mondlicht.
“Lauf, verdammt noch mal!”, rief Marc.