6. KAPITEL

“Victoria, öffne deine Augen. Wach auf. Jetzt!”

“Alex?” Victoria versuchte, die Augen zu öffnen, doch es gelang ihr nicht. “Alex, bist du … bist du in Ordnung?”

Tory zwang sich, die Augen zu öffnen. Sie sah sich um. Ihr Kinn schmerzte.

Sie fühlte, dass Alex belustigt war. “Liebling, es geht mir gut. Wir wollen uns lieber auf dich konzentrieren. Wo bist du verletzt? Kannst du dich bewegen?”

“Wo sind wir?”

“Im Kerker des Palazzo Visconti. Kannst du etwas sehen?”

Der Raum war etwa drei mal drei Meter groß, Boden, Wände und Decke bestanden aus dicken Felsbrocken. Das einzige Möbelstück war das Bett, auf dem sie lag – auf einer nackten Matratze, die feucht war und nach Schimmel roch.

Hoch oben in einer Wand befand sich ein kleines Fenster. Es war zu hoch, um es erreichen zu können, und zu klein, um durchzuklettern. Tory stöhnte leise auf.

“Tory.” Alex’ Stimme war ganz nah, dennoch musste sie die Augen schließen, um sich zu konzentrieren. “Wie schlimm verletzt bist du?”

Vorsichtig bewegte sie die Kiefer. Es schmerzte, genau wie ihr Arm. “Keine größeren Probleme.” Es hatte keinen Zweck, Alex unnötig zu beunruhigen.

Tory hörte, wie irgendwo in der Nähe eine Tür geöffnet wurde. Sie blickte zur Tür ihrer Zelle, die aus grobem, dunklem Holz gefertigt war und sicher schon hundert Jahre alt war. Sie war mit breiten Metallbändern verstärkt.

“Alex?” Sie bewegte sich unruhig auf der harten Matratze. Was war mit Alex geschehen?

Mehrere Male musste sie seinen Namen wiederholen, ehe sie ihn in ihrem Kopf wieder hörte. “Was ist passiert?”, fragte sie.

“Sie kommen in deine Richtung. Sie glauben, ich sei dein Freund, und sie wollen Marc haben. Hörst du mich, Tory? Sie wollen Phantom … du darfst ihnen nichts verraten.”

Tory hörte Geräusche auf dem Flur, dann drehte sich ein Schlüssel im Schloss der Tür.

Sie war wie gelähmt vor Angst, als drei Männer in die Zelle traten und die Tür hinter sich schlossen. “Guten Abend, Miss Jones.”

Sie hatte Christoph Ragno erst ein Mal gesehen, als man sie in Pescarna gefangen gehalten hatte. Doch die Erinnerung daran würde sie ihr Leben lang nicht vergessen. Sie schluckte. “Warum wurde ich hierhergebracht?”, fragte sie in einem Ton, der sie an ihre Großmutter erinnerte. “Ich möchte den amerikanischen Konsul sehen. Sie haben kein Recht, eine amerikanische Touristin zu kidnappen.”

“Sie haben hier keine Rechte, Miss Jones. Ich dachte, das hätte ich Ihnen schon bei Ihrem letzten Besuch in Marezzo ziemlich deutlich gemacht.”

Tory schob die Erinnerungen daran beiseite und biss sich auf die Unterlippe. Auf keinen Fall durfte sie jetzt den Kopf verlieren. Alex war in der Nähe, und Marc würde schon herausfinden, wo sie war. Sie musste auf jeden Fall ruhig sein, und sie durfte diesen Mann nicht dazu treiben, gewalttätig zu werden.

Ragnos Kopf war viel zu groß für seinen Körper. Er hatte fettiges blondes Haar, das an seinem rosigen Schädel klebte, und seine Ohren waren riesig. Sein Gesicht glänzte. Ein Schauer lief über Torys Rücken, als seine hellbraunen Augen sie von Kopf bis Fuß musterten.

“Sie hatten kein Recht, mich damals festzuhalten, und jetzt haben sich noch weniger Recht dazu. Sie wissen, dass ich …”

“Ich glaube, Sie kennen Giorgio und Mario schon?” Er lächelte und enthüllte dabei große Zähne.

Tory warf einen Blick auf Giorgios geschwollene Nase.

“Was tun Sie hier in Marezzo, Miss Jones? Ich dachte, Sie hätten von Ihrem letzten Besuch noch genug von unserer Gastfreundschaft.”

“Ich hatte meinen Besuch hier noch nicht beendet”, erklärte Tory ganz ruhig, obwohl sie innerlich zitterte.

“Wir haben Ihren Geliebten, Miss Jones”, erklärte Ragno triumphierend.

Gütiger Himmel, sie hatten Marc gefunden. Tory wurde schwarz vor Augen, ihre Knie drohten nachzugeben.

“Er hat auch gesagt, dass er hier in Marezzo Urlaub machen wollte”, sprach Ragno weiter und beobachtete sie genau. “Natürlich genießt er unsere Gastfreundschaft schon seit einigen Monaten, er hat hier auf Sie gewartet.”

Am liebsten hätte Victoria vor Erleichterung gejubelt. Er sprach von Alex! Sie hob das Kinn. “Wenn irgendein Mann behauptet, er sei mein Geliebter, dann hat er Sie belogen. Ich bin allein hierhergekommen, heute Morgen bin ich aus Neapel angereist.”

Victoria schrie auf, als er in ihr Haar griff und ihren Kopf zurückzog. Er hielt eine Rasierklinge an ihre Wange.

“Hör auf zu lügen, du Schlampe! Heute hat es gar keinen Flug aus Neapel gegeben.”

Sie starrte in sein Gesicht, Tränen standen in ihren Augen. “Ich … ich bin mit dem Postboot gekommen.” Hoffentlich war heute Morgen das Postboot gefahren.

Sie fühlte, wie sein Griff sich etwas lockerte. “Das werde ich nachprüfen.” Wieder hielt er die Rasierklinge an ihre Wange. “Wo ist Phantom, Miss Jones?”

Tory sah ihn verständnislos an. “Phantom? Wer …”

Er schlug zu, so fest er konnte. “Sagen Sie mir, wo Phantom ist! Sofort!” Sie zuckte zurück, als er noch einmal zuschlug.

Tory schluchzte. “Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen. Ich kenne niemanden, der Phantom …”

Wieder schlug er zu, dabei hielt er ihren Kopf noch immer an ihrem Zopf hoch.

Vor Torys Augen drehte sich alles, ihr Gesicht schmerzte, dann wurde alles schwarz um sie. Er ließ ihr Haar los, griff nach ihrem T-Shirt und hielt sie aufrecht. Dann holte er mit der Rasierklinge aus und zerschnitt das T-Shirt vom Hals bis zum Saum.

Tory stolperte einige Schritte zurück. “Ich gebe Ihnen eine Stunde Zeit, um Ihre Erinnerung ein wenig zu beleben, Miss Jones. Dann werde ich Giorgio erlauben, sich für Ihren kleinen Tanz auf dem Parkplatz an Ihnen schadlos zu halten. Oder wäre Ihnen vielleicht Mario lieber? Er würde Ihnen sicher gern beweisen, dass er ein ganzer Mann ist.”

Er stieß sie zurück. Tory schlug mit dem Kopf auf das Bett und rang nach Atem.

Irgendwo in ihrem Kopf hörte sie, wie Alex nach ihr rief. Mit letzter Kraft konzentrierte sie sich auf Ragno, der über ihr stand.

Tory zitterte, als er sich zu ihr beugte und mit der Rasierklinge über ihre nackte Haut fuhr, dort, wo das T-Shirt zerrissen war. “Ich spiele auch sehr gern, Miss Jones.” Noch näher beugte er sich zu ihr, sein übel riechender Atem traf ihr Gesicht. “Offensichtlich hat Giorgio Sie nicht wirkungsvoll genug gewarnt bei Ihrem letzten Besuch. Ich versichere Ihnen, dass ich absolut keine Skrupel habe, Sie zum Reden zu bringen. Ich gebe Ihnen eine Stunde Zeit, dann werden Sie mir sagen, wo er ist.”

Er reckte sich, dann winkte er Giorgio mit dem Kopf. Die beiden Männer verließen hinter ihm die Zelle und schlossen die Tür hinter sich. Tory zitterte so sehr, dass sie sich nicht aufsetzen konnte. Sie rollte sich auf dem Bett zusammen, Tränen liefen über ihr Gesicht.

“Victoria!”

Alex. Er durfte es nicht wissen, er würde verrückt vor Wut.

“Verdammt, Tory, antworte mir. Sofort!”

Sie setzte sich auf, ihr Kopf dröhnte. Sie presste die Hände vor den Mund, um ihr Schluchzen zu unterdrücken. Und sie blockierte ihre Gedanken, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte.

“Ich bin in Ordnung”, teilte sie ihm Sekunden später mit.

“Was haben diese Bastarde mit dir gemacht?”

“Ragno weiß, dass Marc hier ist. O Himmel, Alex, er weiß es.”

“Beruhige dich. Er weiß gar nichts. Hörst du mich, Tory? Er weiß überhaupt nichts. Er hat gehofft, du würdest ihm etwas verraten. Aber er weiß nichts von Marc.”

“In einer Stunde will er mich holen … Alex, das gefällt mir nicht.”

“Ich weiß, mein Schatz.” Alex’ Trost half ihr ein wenig. “Hattest du die Möglichkeit, Marc alles zu sagen, was ich dir übermittelt habe?”

“Ja.”

Sie hörte die Erleichterung aus seinen nächsten Worten. “Dann wird er uns holen. Reiß dich zusammen und versuche, dich zu beruhigen. Schaffst du das, Tory?”

“Welche andere Möglichkeit hätte ich denn schon?”

“So ist es richtig. Halte durch.”

Sie hielt durch, bis sich eine Stunde später die Tür öffnete. Sie blinzelte, als das Licht aus dem Flur ihre Augen traf. Ihr Herz sank, als sie Giorgio erkannte.

“Der Boss will Sie sehen. Oben.”

Tory hielt das zerrissene T-Shirt vor ihrer Brust zusammen und folgte ihm durch die Tür.

“Rechts”, befahl er und kam hinter ihr her. Tory folgte dem Flur, sie fühlte, dass Alex nur zwei Türen von ihr entfernt gewesen war, seine Gedanken gaben ihr Kraft.

Die Taschenlampe, die Giorgio in der Hand hatte, erhellte den Flur nur ein kurzes Stück. “Links”, befahl er. In der Ferne erkannte Tory ein Licht. “Weiter.” Er stieß sie von hinten an. Am liebsten hätte sie ihm noch einmal auf die gebrochene Nase geschlagen.

Vor einer riesigen Tür aus Mahagoni blieb Tory stehen, dann trat sie zur Seite und ließ Giorgio die Tür öffnen.

Sie traten in einen riesigen Raum. Ein wundervoller Perserteppich bedeckte den Marmorboden, die Decke war mit Fresken bedeckt. Doch überall hingen Spinnweben, und schwarze Flecken waren auf dem Teppich zu erkennen. Alles sah vernachlässigt und heruntergekommen aus. In einer Vase aus venezianischem Glas standen vertrocknete Blumen auf einem Glastisch an der Wand. Auch die Statuen aus weißem Carrara-Marmor und andere Kunstgegenstände waren von Staub bedeckt.

Am anderen Ende des großen Raumes saßen drei Männer auf Sofas. Giorgio stieß Victoria in den Rücken, als sie langsamer ging. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Ragno erkannte sie, doch die anderen beiden Männer drehten ihr den Rücken zu.

“Hier ist das Mädchen”, sagte Giorgio. Ragno stand auf, seine Augen blitzten Giorgio wütend an. “Danke, Giorgio”, sagte er. “Aber konntest du nicht zu einer anderen Zeit kommen, du siehst doch, dass wir unerwarteten Besuch bekommen haben.” Seine Stimme ließ Tory einen Schauer über den Rücken laufen.

Ragnos dicke, rosige Finger hielten ein zerbrechliches Weinglas, es sah lächerlich aus. Er nahm einen Schluck davon. “Hat sie Schwierigkeiten gemacht?”, fragte er Giorgio.

“Nein, Sir.”

“Gut. Du kannst dann draußen warten.”

Giorgio wandte sich um und ging. Ragno umfasste fest ihren Oberarm. “Passen Sie auf, was Sie sagen, Miss Jones”, raunte er ihr zu. “Wenn unser Besucher irgendetwas Außergewöhnliches vermutet, werden Sie beide sterben.”

Er hielt ihren Arm in einem eisenharten Griff, doch für die beiden anderen Männer musste es so aussehen, als führte er sie freundschaftlich zu ihnen. Tory hörte ein kleines Geräusch, sie blickte zu dem Mann, der ihr am nächsten saß.

Beinahe wäre sie in Ohnmacht gefallen.

Marc!

Er betrachtete sie ausdruckslos, dann senkte er grüßend den Kopf, seine Augen blitzten warnend.

“Kommen Sie, setzen Sie sich, meine liebe Miss Jones. Darf ich Sie meinen Freunden vorstellen?”

Tory befreite sich von Ragnos Griff und sank auf eines der Sofas. Sie nahm das Glas Wein entgegen, das Ragno ihr reichte. Sicher sahen alle drei Männer, wie heftig ihr Herz klopfte. Sie wagte es nicht, Marc anzusehen, der ihr gegenüber saß.

“Das ist Samuel Hoag.” Tory wandte sich dem Mann zu, der ihr vorgestellt wurde. Er war sehr groß und sehr dünn, hatte schwarzes Haar, das ordentlich gescheitelt war. Auf seiner Oberlippe wuchs ein kleiner Bart, der ihn bösartig aussehen ließ. Seine Augen besaßen eine beinahe hypnotische Kraft.

Tory erschauerte und umklammerte ihr Weinglas.

“Und das ist unser neuer Freund, Sir Ian Spencer.” Marc toastete ihr mit seinem Glas zu, sein Gesicht verriet keine Regung.

“Erfreut, Sie kennenzulernen. Miss Jones.” Sein britischer Akzent war überdeutlich. Tory nahm einen Schluck von ihrem Wein und hätte beinahe hysterisch aufgelacht.

Sie hatte keine Ahnung, woher Marc den gut sitzenden Anzug bekommen hatte. Er war teuer und sah aus, als sei er für ihn maßgeschneidert. Am Handgelenk trug er eine schmale goldene Uhr, zu dem blütenweißen Hemd hatte er den konservativen Schlips einer Universität gewählt.

Er sah absolut umwerfend aus. Während er an seinem Wein nippte, machte er ein gelangweiltes Gesicht und betrachtete sie, als habe er sie nie vorher gesehen.

Tory wollte lieber nicht wissen, was in seinem Kopf vorging, während er ihr zerschlagenes Gesicht und das zerrissene T-Shirt betrachtete. Sie fragte sich nur, wie Ragno das wohl “Sir Ian” erklären würde.

Ragno räusperte sich. “Sir Ian wird heute Abend unser Gast sein. Er ist gekommen, um seinen alten Schulfreund, Prinz Draven Visconti, zu besuchen. Leider macht der zurzeit mit seiner Familie Urlaub in Amerika. Schade, dass Sie einander verpasst haben, Sir Ian.”

“Wirklich schade, alter Junge.” Dabei wusste Marc genau, dass man den Prinzen vor einigen Monaten hingerichtet hatte. Marc stand auf und ging zur Bar. “Darf ich?” Sein Hosenbein berührte Torys Fuß. “Noch etwas Wein, Miss … Jones?” Er hielt die Karaffe hoch und goss sich noch ein Glas Wein ein. Dann wandte er sich zu den beiden anderen Männern um. Tory hatte die kleine Ader an seinem Kinn gesehen, die heftig pulsierte.

Er war wütend wie die Hölle, dazu brauchte Tory keine Gedanken lesen zu können. Sicher hatte er nicht damit gerechnet, sie hier zu finden. Sie wäre auch lieber in der Grotte gewesen und hätte auf ihn gewartet!

“Miss Jones hatte heute Nachmittag einen kleinen Unfall auf dem Marktplatz”, erklärte Ragno ihr Aussehen, dann warf er Tory einen warnenden Blick zu. “Mr. Hoag und ich haben ihr unsere Gastfreundschaft angeboten, in Abwesenheit der königlichen Familie. Sicher hat die Prinzessin etwas, das Sie zum Abendessen anziehen können, Miss Jones.” Er blickte auf ihr zerrissenes T-Shirt, dann rief er nach Giorgio.

“Bring Miss Jones zu den königlichen Gemächern”, befahl er. “Sorge dafür, dass sie etwas zum Anziehen findet.”

Es gelang Tory, Marc nicht anzusehen, als sie aus dem Zimmer ging. Doch sie fühlte seine Blicke in ihrem Rücken.

Als Giorgio die große Tür öffnete, entdeckte sie einen Mann, der als Wache davorstand – eine blonde Version von Giorgio, mit einer Pistole an der Hüfte. Der Mann warf ihr einen neugierigen Blick zu, als sie mit Giorgio eine schmale Treppe hinaufging.

Der Korridor im nächsten Stockwerk war nur schwach beleuchtet, doch je weiter sie gingen, desto kostbarer wurden die Möbel. Schließlich deutete Giorgio auf eine Tür mit einer Einlegearbeit aus Gold und Elfenbein.

“Zimmer der Prinzessin.” Er nahm Torys Arm, öffnete die Tür und stieß sie hinein.

Über ihre Schulter hinweg sah sich Tory nach ihm um. “Wie geht es Ihrer Nase?”, fragte sie übertrieben freundlich.

Er trat einen Schritt zurück und befühlte vorsichtig mit den Fingerspitzen die riesige Schwellung, dann warf er ihr einen bösen Blick zu. “Signore Ragno sagt anziehen.” Er ging zur Tür. “Anziehen”, warnte er sie noch einmal. “Ich komme Sie holen.”

“Sie brauchen sich meinetwegen nicht zu beeilen”, sagte Tory, doch er hatte die Tür schon hinter sich geschlossen. Sie hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte.

In Gedanken setzte sie sich mit Alex in Verbindung, um ihn wissen zu lassen, was geschah. Dann sah sie sich in dem Zimmer um.

Es war wunderschön eingerichtet, alles war in zarten Lavendeltönen gehalten. Doch wie schon unten, lag auch hier alles unter einer dicken Staubschicht, und die einst frischen Blumen waren vertrocknet.

Tory entdeckte ihr Spiegelbild in dem großen Spiegel und stöhnte auf. Ihr Haar war zerzaust, ihr Kinn blau unterlaufen von Giorgios Faustschlag. Ihre Wangen waren schmutzig und voller Tränenspuren.

Sie ging in das große Badezimmer. Die riesige Badewanne mit Wasser zu füllen würde beinahe die Hälfte der ihr zur Verfügung stehenden Zeit beanspruchen, doch das störte sie nicht. Sie schüttete eine reichliche Menge des duftenden Badesalzes in das Wasser, dann ging sie zurück ins Schlafzimmer, um nach Kleidung zu suchen.

Als Giorgio einige Zeit später die Tür aufschloss und ins Zimmer kam, war Tory fertig. Sie hatte gebadet, ihr Haar gewaschen und es auf die elektrischen Wickler gedreht, die sie auf der Kommode gefunden hatte. Der riesige, begehbare Schrank der Prinzessin war mit Kleidern für alle Gelegenheiten reichlich gefüllt.

Victoria hatte einige Kleidungsstücke herausgesucht und sie zur späteren Benutzung versteckt. Dann waren ihre Finger bewundernd über kostbare Abendkleider geglitten.

Es war unter diesen Umständen unverantwortlich, das wusste sie, aber sie wollte, dass Marc sie in einem wunderschönen Kleid sah, das … sexy war.

Das Kleid, das sie schließlich auswählte, war aus grüner Seide, mit Perlen besetzt und hatte einen tiefen Ausschnitt, der die cremig zarte Haut ihrer Brüste enthüllte. Das Haar trug sie offen. Die weiten Ärmel des Kleides waren eng am Handgelenk und verbargen den größten Teil ihres schmutzigen Gipsverbandes.

Als sie sich in dem großen Spiegel sah, wurde Tory klar, dass das Kleid viel zu gewagt war. Es war an einer Seite geschlitzt, und wenn sie ging, sah man ihr Bein bis hin zum Oberschenkel.

“Das Essen ist fertig.” Giorgio hatte sich umgezogen, er trug jetzt einen Anzug, der viel zu klein für ihn war.

Tory schlüpfte in die Schuhe, legte einen seidenen Schal um den Hals und folgte ihm. Oben an der Treppe blieb sie stehen. Ich muss den Verstand verloren haben, als ich dieses Kleid auswählte, dachte sie. Woran habe ich nur dabei gedacht? An Marc natürlich, an wen sonst.

Sie wollte nicht, dass diese Männer sie so sahen. Schnell wandte sie sich um, dabei stieß sie beinahe mit Giorgio zusammen, der hinter ihr ging.

Er zog die Pistole unter seiner Jacke hervor und richtete sie auf Tory. “Weiter.”

“Ich muss mich umziehen.” Tory schluckte.

“Runter.”

“Hören Sie”, versuchte es Tory. “Es wird nur zwei Sekunden dauern. Ich suche mir etwas anderes zum Anziehen und bin gleich wieder da.”

“Runter.” Er presste den Lauf der Pistole gegen ihre Brust, und Tory sah in seinen Augen, dass er nicht zögern würde abzudrücken.

Seufzend ging sie die Treppe hinunter, dabei hielt sie sich am Geländer fest. Die ungewohnten hochhackigen Schuhe, das Kleid und ihre weichen Knie konnten ohne Weiteres dazu führen, dass sie die Treppe hinunterfiel und sich das Genick brach, deshalb ging sie langsam und vorsichtig.

Der Mann, der unten vor der Tür stand, öffnete die Tür, als er sie kommen sah. Tory warf das eine Ende des seidenen Schals über ihre Schulter, um den Ausschnitt des Kleides zu verbergen.

Die drei Männer standen auf, als Tory ins Zimmer kam. Sie holte tief Luft, hob das Kinn und ging dann auf sie zu.

“Miss Jones, wie reizend, dass Sie uns Gesellschaft leisten.” Ragno zog ihr einen Stuhl zurecht, und Tory sank darauf. Sie sah in Marcs Augen, der ihr genau gegenübersaß.

Sekundenlang blitzte so etwas wie Leidenschaft in seinen Augen auf, doch dann hob er sein Glas und nippte daran mit ausdruckslosem Gesicht.

“Ich hoffe, es war alles zu Ihrer Zufriedenheit.” Ragnos Stimme klang unangenehm freundlich.

“Alles war ausgezeichnet. Nein, danke.” Sie hielt die Hand über ihr Glas, als Ragno ihr Wein eingießen wollte.

“Sie trinken keinen Alkohol, Miss Jones?”, fragte Marc höflich und hielt Ragno sein Glas hin. Er sah umwerfend gut aus in seinem schwarzen Smoking und dem weißen Hemd. Der Diamantohrring blitzte in seinem Ohr, das Haar hatte er zurückgebunden. Er sah genau so aus, wie seine Stimme klang – kultiviert, reich, britisch und ein wenig gelangweilt. Sekundenlang ruhte sein Blick auf ihrer Brust, die durch die dünne Seide nur wenig verhüllt war.

Tory zwang sich, ihrer Stimme einen leichten Klang zu geben. “Nicht auf einen leeren Magen, Sir Ian.” Sie verschränkte die Hände im Schoß.

“Es sieht aus, als sei Ihr Gesicht geschwollen, Miss Jones”, bemerkte Marc. “Das muss ja ziemlich schlimm gewesen sein, heute Nachmittag.” Hätte Tory nicht in diesem Augenblick aufgesehen, ihr wäre entgangen, wie Marcs Hand sich bei diesen Worten fester um sein Glas schloss und er die Lippen zusammenpresste.

“Man könnte sagen, ich kam in Kontakt mit einem unbeweglichen Objekt.” Ragno hatte unter dem Tisch warnend eine Hand auf ihr Knie gelegt. Sie rückte ihr Bein zur Seite und nippte an dem Wasser. Über den Rand des Glases warf sie ihm einen bösen Blick zu.

Würde das denn nie zu Ende gehen? Ragno und Hoag hatten keine Ahnung, wer Marc wirklich war, dessen war sie sicher. Doch es bestand kein Zweifel daran, dass die beiden ihn vorsichtig beobachteten. Marc schien ziemlich gelangweilt zu sein – wenn man das Blitzen in seinen Augen nicht sah. Was würde er tun? Wie um alles in der Welt wollte er sie und Alex hier herausholen, vor den Augen dieser Männer?

Ein weiß gekleideter Kellner servierte das Essen. Torys Magen knurrte, sie wunderte sich, dass ihr Körper noch normal reagierte.

Das Essen sah gut aus, doch es war beinahe ungenießbar. Während Tory das versalzene Essen hinunterzuwürgen versuchte, erzählte Marc den beiden Männern von seiner Freundschaft mit dem abwesenden Prinzen. Er sprach über seine geschäftlichen Interessen in England und Europa, und sie hätte ihm jedes Wort geglaubt, wenn sie es nicht besser gewusst hätte. Er spielte seine Rolle vorzüglich.

Das Essen lag ihr wie ein Stein im Magen. Die Männer schienen gar nicht zu bemerken, dass Victoria schweigend der Unterhaltung lauschte. Erleichtert atmete sie auf, als die letzten Gerichte abgeräumt wurden und Ragno vorschlug, den Brandy im Salon zu nehmen.

Marc kam um den Tisch herum und nahm ihren Arm, als sie das Esszimmer verließen. Auf dem Marmorfußboden klapperten ihre hohen Absätze laut. Tory war dankbar dafür, dass Marc sie hielt, denn ihre Knie waren weich, und ihr Herz schlug heftig.

“Wie um alles in der Welt konntest du nur ein solches Kleid … um Himmels willen, leg das Haar über deine Brust!”, murmelte Marc zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während er sie zu dem Sofa führte. “Und lächle, verdammt.”

Es gelang Tory zu lächeln, sie legte ihr Haar so, dass es ihr in den Schoß fiel. Marc setzte sich neben sie und lehnte sich zurück, als gebe es für ihn keine Sorgen. Tory fühlte, wie ihr der Schweiß ausbrach.

Die beiden anderen Männer setzten sich auf das Sofa ihnen gegenüber, Ragno deutete auf das schon etwas angelaufene silberne Kaffeeservice. “Würden Sie bitte eingießen, Miss Jones?”

Tory beugte sich vor, sie zuckte zusammen, als sie Marcs Hand in ihrem Haar fühlte. Erschrocken bemerkte sie, dass er ihr das Haar aus dem Gesicht strich.

“Sie haben wundervolles Haar, Miss Jones. Es wäre schade, wenn es in die Kaffeetasse geraten würde.” Während ihre Blicke einander trafen, war es für Sekunden so, als wären sie die einzigen Menschen in diesem Raum.

Marc spürte dieses wohlbekannte Gefühl der Wärme, als er sie berührte. Es war ein großes Risiko, aber seit sie ins Zimmer gekommen war, hatte er an nichts anderes denken können.

Tory vermied es, ihn anzusehen, als sie ihm die Tasse reichte. Sie war blass. Die Schwellung an ihrem Kinn färbte sich blau und war trotz des Make-ups deutlich zu sehen. Marc schwor sich, den Schuft umzubringen, der sie geschlagen hatte.

Sie war unglaublich schön in diesem eng anliegenden grünen Kleid. Ihr Haar glänzte und fiel in dichten Locken über ihren Rücken. Wie hatte er jemals glauben können, dass sie eine ganz gewöhnliche Frau war?

Er fühlte Hoags Blicke und zuckte mit den Schultern, als wolle er sagen, ich finde sie attraktiv, warum nicht?

Er wusste, dass er ein gefährliches Spiel spielte, doch er musste Lynx hier herausholen. Torys Bruder würde ihm wahrscheinlich mit ein paar gebrochenen Rippen keine große Hilfe sein, doch das Wichtigste war, die beiden hier herauszuholen.

Er betrachtete die beiden Männer und ließ sich alles, was er über sie wusste, noch einmal durch den Kopf gehen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Victoria immer tiefer in die Kissen sank. Doch dann setzte sie sich mit einem Ruck wieder auf, stellte die Tasse auf den Tisch und reckte sich. Marc hätte beinahe aufgelacht, als sie trotzig das Kinn hob.

Sie musste schrecklich müde sein. Schon seit der Morgendämmerung waren sie unterwegs, und sie hatte kaum etwas gegessen. Dafür hält sie sich erstaunlich gut, dachte er voller Stolz.

“Es scheint, dass Miss Jones beinahe einschläft”, meinte er, zu den beiden anderen gewandt, dann stand er auf und streckte ihr seine Hand hin. “Erlauben Sie, dass ich Sie zu Ihrem Zimmer bringe, meine Liebe?”

Tory klammerte sich an seine Hand, als sei es ein Rettungsring. “Danke … ich habe Kopfschmerzen.”

“Oh, lassen Sie nur, Giorgio wird sie nach oben bringen, Sir Ian, Sie brauchen sich nicht zu bemühen”, unterbrach Ragno die beiden und schnippte mit den Fingern.

Marc wartete, bis Giorgio kam. Dann lächelte er Tory noch einmal zu und setzte sich wieder.

“Eine wunderschöne Frau”, sagte Marc, als sich die Tür hinter Tory geschlossen hatte.

Ragno blickte zu Hoag und dann zurück zu Marc. “Mir scheint, die Anziehungskraft beruht auf Gegenseitigkeit.”

“Finden Sie wirklich, alter Junge? Wie interessant.” Marc zog belustigt eine Augenbraue hoch. “Ich denke, ich werde nach oben gehen und nach Miss Jones sehen … mich um ihre Kopfschmerzen kümmern.”

Ragnos Blick wurde kalt. “Ich würde mich an Ihrer Stelle nicht zu sehr darauf verlassen, dass ich auch willkommen wäre, Sir Ian. Trotz ihres Kleides heute Abend gibt Miss Jones mir nicht den Eindruck, dass sie eine Frau ist, die ihre Gunst einem Mann schenkt, den sie gerade erst kennengelernt hat.” Er sah zu Hoag. “Wir könnten Sir Ian vielleicht eine junge Dame aus dem Dorf zur Verfügung stellen, nicht wahr, Samuel?”

Marc zog an seinen Manschetten, als er aufstand. “Nicht nötig, alter Junge. Warum wollen Sie erst jemanden suchen, wenn das, was ich möchte, gleich hier vor meinen Augen ist.” Er lächelte und meinte dann. “Ich glaube, ich werde es einfach versuchen. Sind Sie ein Spieler, Ragno?”