Blutiger Thron

Kühl und ohne sichtbare Emotion warf Tertia Gilnos den Papierstapel vor sich auf den Schreibtisch. „Damit sind es siebenundzwanzig Schiffe in den letzten sechs Monaten, das ist inakzeptabel.“ Gurpa, ehemals Admiral und nun oberster Verwalter der Familie Gilnos in Fragen der Seestreitkräfte, gab ein zustimmendes Nicken, enthielt sich jedoch eines eigenen Kommentars. „Wieso ist da nichts unternommen worden, wieso höre ich erst jetzt, dass schon so viele verloren gingen?“ Tertia war wütend. Sie würde noch heute in den Rang eines Triumvirs erhoben, um ihrer ermordeten Schwester zu folgen und hatte nicht mit derartig besorgniserregenden Berichten gerechnet.

„Es tut mir leid, Herrin. Das Triumvirat hatte Geheimhaltung über diese Vorgänge verordnet, wir sind nur eine Handvoll Eingeweihte und uns wurde verboten, darüber zu sprechen.“ Dem alten Seebären war offensichtlich unwohl dabei, ihr Rede und Antwort zu stehen, war sie noch nicht einmal zwanzig Winter alt, doch er war auch klug genug, eine angehende Triumvirin nicht zu verärgern. „Es ist nicht deine Schuld, Gurpa. Aber wir sind uns wohl einig, dass wir dieses Problem nicht länger ignorieren können. Auch wenn viele der verlorenen Schiffe nur Handelsschiffe waren, so müssen wir auf jeden Fall herausfinden, was mit ihnen passiert ist. Die neu gebaute Flotte der Tzarina schwimmt vor unsere Küste, die Welt begeht ein neues Zeitalter und meine Schwester wurde im Amt ermordet. Es ist nicht die Zeit, den Verlust von so vielen Schiffen vor unserer Küste als unwichtig abzutun.“

Wieder nickte ihr der alte Admiral stumm zu. Tertia war nicht überrascht, Gurpa hatte nun schon ein stattliches Alter erreicht und die meisten Jahre davon in Phrygia, der Stadt der Intrigen, verbracht. Er war zu erfahren und zu schlau, als das er ihr offen widersprechen würde, auch wenn seine Augen zeigten, dass er sie nur für ein dummes Kind hielt. „Du irrst dich, Gurpa. Du und all die anderen, die denken, dass sie mit mir eine leicht zu kontrollierende Marionette auf den Thron setzen. Die Zeit des Erwachens ist gekommen und die Chi Tsume wandeln wieder auf der Welt. Bald schon wird der alte Feind sich zeigen und wir werden bereit sein.

Der laute Klang von Fanfaren riss Tertia aus ihren Gedanken. Die Krönungszeremonie hatte begonnen, in Kürze schon würde sie sich dem Volk zeigen. „Sonst noch etwas, von dem ich wissen sollte?“ Vorsichtig trat nun Edara vor. Die alte Frau war die Hausherrin des großen Anwesens, in dem Tertia nach ihrer Krönung residieren würde, gut sichtbar auf dem großen Hügel der Familie. „Es sind unerwartete Gäste eingetroffen. Gesandte des Fürsten Fa-Sal, niedrige Adlige, soweit ich das beurteilen kann. Sie baten um eine Audienz mit dem neuen Oberhaupt.“ Mit genervtem Gesichtsausdruck winkte Tertia ab. „Jetzt ist keine Zeit dafür, es gibt wichtigere Probleme. Sorgt dafür, dass sie eine Unterkunft entsprechend ihrem Rang erhalten und vertröstet sie auf später.“

Zum zweiten Mal erklangen die Fanfaren, der laute Jubel von tausenden Menschen ließ keinen Zweifel daran, dass gerade die Gladiatorenspiele für den Anschluss an die Krönungszeremonie angekündigt worden waren. „Das Volk liebt Spiele und es soll sie erhalten.“ Tertia hatte entgegen dem Rat ihrer Vertrauten ihre Krönung in die große Arena im Zentrum Phrygias verlegt und zahlreiche Gladiatoren mit großen Mengen Gold in die Stadt gelockt. „Herrin, wenn ich sprechen darf?“ Pfutius war der Dritte und letzte der anwesenden Ratgeber, seine Stimme klang wie immer rau und bestimmend. Er war der Hauptmann ihrer Leibwache und hatte am heftigsten gegen ihre öffentliche Krönungszeremonie argumentiert. Tertia verstand seine Einwände, sie wusste selbst, dass niemand sie in einer dermaßen großen Menge würde schützen können. Und doch fühlte sie sich absolut sicher. „Wer auch immer Tara ermorden ließ, wollte dass stattdessen ich auf dem Thron lande. In Gefahr bin ich erst dann, wenn sie merken, dass ich nicht die Marionette bin, die sie sich erhoffen.“ Mit einem Handzeichen gab sie Pfutius die Erlaubnis, zu sprechen. Wenn sie ihrem alten Kampflehrer und Leibwächter auch mit ihrem Leben vertraute, so war er doch von niedrigem Stand und musste auch entsprechend behandelt werden.

„Wenn ihr mir erlauben würdet, mit mehr Männern die Loge zu sichern, würde das eure Familie und die anderen Triumvire sicher beruhigen.“ Schmunzelnd vernahm Tertia die Bitte ihres Leibwächters. Er wusste ebenso gut wie sie, dass der Mörder ihrer Schwester vermutlich gerade von einem der Männer und Frauen, die selbst auch in der Loge saßen, beauftragt worden war. „Vielleicht war es Tubor. Mein jüngerer Bruder ist ebenso verschlagen wie ehrgeizig. Oder Schmee, die alte Hexe. Ein Anschlag, ausgeführt von einem Magier, sähe ihr ähnlich.“ Der dritte Fanfarenstoß erklang und beendete damit ihre Überlegungen. „Nein Pfutius, alles bleibt wie geplant. Wir müssen jetzt gehen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten stand Tertia auf und betrachtete sich noch einmal kurz im Spiegel. Sie wusste, dass sie hübsch war. Nicht außergewöhnlich, aber genug, um die Augen junger Männer von Stand auf sich zu ziehen. Ihr blaues, tief ausgeschnittenes Kleid unterstrich ihre schlanke Figur und hob dabei gleichzeitig ihren etwas zu kleinen Busen, während ihr langes Blondes Haar in einem kunstvoll geflochtenen Zopf über ihrer linken Schulter hing. Ein kurzer Griff zu ihrem Schenkel bestätigte ihr den perfekten Sitz des kleinen versteckten Dolches. Obwohl sie nicht an einen Anschlag am heutigen Tag glaubte, zeichnete sie sich auch nicht durch Leichtsinnigkeit aus.

Schließlich atmete Tertia noch einmal tief ein und begann den langen Marsch durch die steinernen Korridore der Arena zur großen Loge der Triumvire. Einzig Pfutius folgte ihr auf dem langen Weg zu ihrer Krönung, während ihre Gedanken zu der Nachricht wanderten, die sie heute Morgen erhalten hatte. „Ein Chi Tsume, hier in der Stadt. Und er hat mich kontaktiert. Also ist das alte Netzwerk noch intakt, so wie es mich Onkel Tredius gelehrt hat.“ Tertia wusste nicht, was ihr Blut schneller pulsieren ließ, die Tatsache dass sie zum Triumvir gekrönt wurde oder das sich die Lehren ihres toten Onkels heute bewahrheitet hatten. „Und wenn die Chi Tsume zurückkehren, werden sich auch die Sikau wieder erheben. Es wird einen neuen Kaiser geben. Es muss einen neuen Kaiser geben. Und der alte Feind? Werden auch seine Agenten wieder durch unsere Strassen wandeln, werden auch die Kagenoha zurückkehren?“ Nicht nur die Gedanken an die Agenten des Feindes, sondern auch die Nachricht selbst gab ihr Grund zum Kopfzerbrechen. Der Chi Tsume ließ ihr mitteilen, dass er der Krönung beiwohnen werde und dass sie ihn erkennen würde. Sonst nichts. „Aber wie soll ich ihn erkennen? Und wieso besucht er mich nicht im Geheimen? Wie soll er sich in diesem Trubel zu erkennen geben, ohne dass er auffällt? Das ergibt keinen Sinn.“ Während sie noch über die seltsame Nachricht nachdachte, riss sie der lauter werdende Jubel aus ihren Gedanken. Sie hatte sich ihrem Ziel genähert und während sie noch nervös an ihrem Kleid zupfte, erreichte sie das steinerne Eingangsportal. Mit einem letzten Schritt betrat sie die Loge der größten Arena Phrygias und wurde umgehend von dem lautstarken Jubel tausender Menschen empfangen.

Schmee Kadeen und Kaldwell Trion standen bereits vor ihren Thronen, die sich auf dem linken und rechten Flügel der großen Plattform befanden. Ihr eigener Thron war zentral in der Mitte aufgestellt, so dass alle Besucher der Arena eine gute Sicht auf die Krönungszeremonie hatten. Für einen Moment stockte Tertia unter den bohrenden Blicken von Schmee und Kaldwell, ihren Mit-Triumviren und erbittertsten Gegnern, dann trat sie schließlich vor und nahm unter dem stetig lauter werdenden Jubel der Massen die Position vor ihrem Thron ein, bereit die Krone zu empfangen.

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Tosender Jubel brandete durch die riesige Arena, die von der warmen Mittagssonne in einen Glutofen verwandelt wurde. Mit einem Ruck zog Secan seine Blutkrallen aus dem toten Körper des valkallischen Barbaren. Der Tote war bereits der dritte Mann, den er während der Gladiatorenkämpfe besiegt hatte. Er war stark gewesen, und geschickt mit seinen Äxten. Secan hatte ihn während seines letzten Kampfes beobachtet, war seinen Bewegungen gefolgt und hatte ihn genau analysiert, während dieser seinen Gegner, einen Schwertmeister aus Begos besiegte. Der Barbar war durch seinen aufsehenerregenden Körperbau und seine Brutalität im Kampf zum Liebling der Massen geworden, doch der Beifall hatte ihm nichts im Kampf gegen ihn genützt. Secan hatte ihn leicht ausmanövrieren können, sein Sieg war nur eine Frage der Zeit gewesen. „Wieder kein würdiger Gegner, keine Ehre in diesem Sieg.

Der lauter werdende Beifall der Massen zeigte ihm, dass auch er inzwischen zu den Favoriten zählte. Der Jubel bedeutete ihm nichts, genau so wenig wie der Tod seiner Gegner. Er war nur aus einem einzigen Grund in der Arena, um sich seinen Verbündeten zu zeigen. Er hatte sie alle benachrichtigt und er war sicher, dass sie alle unter den Zuschauern waren. Er würde ihnen das Zeichen geben, dass sie brauchten.

Wieder hallte Applaus durch das steinerne Bauwerk, als ein kleiner Mann aus Alterra geschickt mit zwei Dolchen die Kehle seines Widersachers durchschnitt. Damit waren es nur noch vier Gladiatoren, die übrig blieben und er war einer von ihnen. Zweiunddreißig Männer und Frauen waren in der größten Arena Phrygias angetreten, zum Kampf auf Leben und Tod, und zur Ehrung der neuen Triumvirin Tertia Gilnos. Ein Blick zur großen Loge des Triumvirats zeigte ihm die in blau gekleidete frisch gekrönte Frau, deren Blick fest auf ihm lag. Sie wusste bereits, wer er war, daran hatte er keinen Zweifel. Schon bald würde es auch der Rest der Welt wissen.

Die Ankündigung der letzten beiden Paarungen vor dem Finale sorgte für erneuten Beifall von den Zuschauerrängen. Kämpfe auf Leben und Tod hatten schon länger nicht mehr in Keldur stattgefunden, doch der Jubel der Massen zeigte, dass sich die neue Triumvirin viel Sympathie mit den Spielen erkauft hatte. Der Sieger des Wettbewerbes und damit der einzige Überlebende würde mit Gold überschüttet, doch das war es nicht, weswegen Secan nach Keldur gekommen war.

Wenn die Weissagung recht hatte, dann würde er hier nicht sterben. Er würde die Sikau treffen und mit ihnen wieder vereint das schwarze Buch finden, um dann einem neuen Kaiser zu dienen. Die Zeit des Erwachens war gekommen, daran hatte er keinen Zweifel. „Wenn das gekrönte Haupt fällt in der Stadt der Legenden, wirst du dich im größten Kampf zu erkennen geben deinen Freunden, unter den Augen des neuen Führers. Die Weissagung ist eindeutig. Die Sikau sind hier, irgendwo in der Menge, und sie werden mich erkennen.

Der Aufruf zum Kampf beendete Secans Überlegungen. Sein nächster Gegner war ein Berufs-Gladiator, dem viele Jahre Erfahrung in Zweikämpfen anzusehen war. Untersetzt und muskulös bewegte er sich vorsichtig in einem Kreis um ihn und schwang dabei ein Netz in der linken Hand, während seine Rechte einen kurzen Speer bereit zum Stoß hielt. Der Mann war gefährlich, daran gab es keinen Zweifel, ebenso wie Secan hatte er bereits drei Gegner besiegt, und doch war der Ausgang des Kampfes bereits klar. Ohne Zeit zu verschwenden, ging Secan in den Angriff über. Seinen von frühester Kindheit an gelernten Kampfformen folgend setzte er seine Kampfkrallen, die er mit seinen Fäusten fest umschlossen hielt, in schnellen Stößen ein.

Sein Gegner verhielt sich zuerst abwartend defensiv und wartete auf den richtigen Moment, sein Netz einzusetzen. Hätte er ihn erst einmal in seinem Netz gefangen, wäre der Kampf entschieden. Doch Secan ließ es nicht dazu kommen. Mit schneller aufeinander folgenden Angriffen drängte er den Gladiator immer weiter zurück und täuschte dann einen kurzen Moment lang vor, außer Balance zu sein. Sein Gegner nutze die vermeintliche Chance und warf sein Netz, doch der Angriff war zu langsam. Geschmeidig wie eine Raubkatze wich Secan dem Netz aus und tauchte unter dem Speer des Mannes hindurch. Der Gladiator war bereits tot, bevor er einen Schrei aus seinen Lungen lassen konnte, durchbohrt von den fünf Klingen der Blutkrallen.

Ohne die jubelnde Menge zu beachten verließ er das Zentrum der Arena wieder, um dem zweiten Kampfpaar Platz zu machen. Emotionslos sah er auf das ungleiche Paar, das sich nun bereit zum Kampf machte. Eine großgewachsene Kriegerin aus dem Norden, vielleicht Kaldarra, bewaffnet mit Schwert und Schild, hatte ihre bisherigen Kämpfe souverän gewonnen und viel Applaus von den Rängen erhalten. Ihr Gegner war der Mann aus Alterra, der seine zwei krummen Dolche überaus geschickt führte. Secan wusste mit einem Blick, wer gewinnen würde. Zu selbstsicher und mit zu viel Auge für die jubelnde Menge stürzte die große Kriegerin in ihr Verderben, Kaum eine Minute später lag sie mit durchschnittener Kehle am Boden.

Das plötzliche Gefühl von Energie jagte Secan umgehend einen Schauer über den Rücken. Er hatte noch niemals vorher etwas Derartiges gespürt, es war als ob seine Blutkrallen unter fremdartigen Tönen vibrieren würden. „Die Sikau sind hier, es gibt keinen Zweifel. Jetzt wissen sie, dass die Chi Tsume zurückgekehrt sind.“ Schließlich unterbrach der Aufruf zum Finale abrupt das Gefühl von ihn durchströmender Energie. Ohne einen weiteren Gedanken an die Weissagung fokussierte er sich wieder auf die Arena. Sein letzter Gegner war unweigerlich der schwerste und auch der einzige, den er ernst nehmen musste. Secan hatte es bereits bei seinem ersten Kampf gesehen, er war gut ausgebildet in den alten Kampfformen, die man bei nur wenigen Meistern in der Welt lernen konnte. Er wusste nicht, was den Mann dazu gebracht hatte, hier in Keldur an einem Turnier auf Leben und Tod teilzunehmen und es spielte auch keine Rolle. Es würde ein ehrenvoller Kampf werden und er würde als Sieger vom Feld gehen, das war alles was zählte.

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Mit offenem Mund starrte Herm auf die Proklamation und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. „Eine Blockade! Gerade jetzt, unglaublich!“ Noch immer fassungslos versuchte er die Auswirkungen des gerade gelesenen abzuschätzen. Offenbar hatte die frisch gekrönte Triumvirin Tertia Gilnos als ihre erste Amtshandlung eine Mobilisierung der Seestreitkräfte durchgesetzt. Handelsschiffe durften nur noch in Flotten mit Geleitschutz an der Küste Keldurs segeln, der Seeraum um Kahilis wurde zum Sperrgebiet erklärt. „Das heißt, dass Kiras Entführer es schwer haben werden, ein Schiff nach Kahilis zu finden. Aber für mich wird es genau so schwer. Immerhin gewinne ich Zeit.

Mit den leichtfüßigen Schritten eines Spähers trat Lingard neben ihn und unterbrach seine Gedanken. „Ich habe mich etwas in den Tavernen umgehört. Es sind Schiffe verschwunden in den letzten Monaten. Viele Schiffe, nicht nur Händler sondern auch Kriegsschiffe. Die Seeleute erzählen wilde Geschichten über Kraken und Leviatane, aber einige glauben auch, dass sie dem Fluch von Kahilis zum Opfer gefallen sind. Die meisten verlorenen Schiffe hatten wohl Routen, die sie in die Nähe der Insel brachten.“

Mit einem Grinsen wandte sich Herm dem Waldwächter zu, dessen Fahne nach billigem Schnaps ihm beinahe die Besinnung raubte. „Wie mir scheint hast du ein Talent dafür, Informationen aus Kneipen zu sammeln, gute Arbeit.“ Mit einer Grimasse drehte Lingard seinen Atem aus dem Wind. „Dafür werde ich morgen einen Kopf so groß wie ein Pak-Mah haben. Wir sollten Ise Bescheid geben. Jetzt, wo Haschekk weg ist, wird es noch schwieriger werden, bei der neuen Triumvirin vorsprechen zu dürfen. Ohne ihre Genehmigung werden wir kaum nach Kahilis kommen.“ Herm gab ihm ein zustimmendes Nicken. Haschekk hatte sich kurz nach dem Einzug in eines der kleineren Häuser auf dem Hügel der Familie Gilnos verabschiedet. Er hatte Wort gehalten und Herm und seinen Begleitern die Tür zu der mächtigen Familie geöffnet, aber danach galt seine Pflicht wieder seinen Männern und seinem Stamm. Nachdem seine beiden überlebenden Krieger ausreichend versorgt worden waren, hatte er sich mit besten Wünschen für Herms Suche nach Kira auf den Weg zurück zu seinem Fürsten gemacht, um ihm zu berichten.

„Ja, wir sollten zurück in unsere neue Bleibe, diese Gegend hier ist nicht sehr vertrauenerweckend.“ Herm und Lingard hatten gemeinsam das Hafenviertel Phrygias erkundet, während Ise weiter versuchte, eine Audienz bei der neuen Triumvirin zu erhalten. Inzwischen hatte die Sonne begonnen, am Horizont zu verschwinden, das Zeichen für Herm und Lingard, das Hafenviertel zu verlassen. Mit aufmerksamen Blicken für ihre Umgebung und einer festen Hand an ihren Geldbeuteln gingen sie gemeinsam in Richtung des Gilnos-Familienhügels, als Lingard plötzlich anhielt. Mit weit aufgerissenen Augen sah er Herm an. „Herm, deine Hellebarde. Sie … sie vibriert.“ Verdutzt sah Herm erst Lingard und dann seine Hellebarde an. Er hatte es nicht gemerkt, aber jetzt, wo Lingard ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, konnte er es deutlich spüren. Die Waffe sendete Schwingungen aus, und die Schwingungen wurden stärker.

„Sikau, ich bin hier. Die Chi Tsume sind zurückgekehrt.“ Umgehend drehte sich Herm zu der Stimme um, die in seinem Rücken erklang. Fasziniert sah er auf den Mann, der aus einer der schmalen dunklen Gassen heraustrat und ihn mit seinen Worten adressiert hatte. Er erkannte den Mann sofort, es war der Gladiator, der das Turnier zu Ehren der neuen Triumvirin gewonnen hatte. „Sikau? Kira hat den Namen schon einmal erwähnt. Die Leibwache des alten Kaisers. Aber was bei allen Drachen ist ein Chi Tsume?“ Langsam kam der muskulöse Krieger näher und stellte sich vor Herm, seine Kampfkrallen fest von den Fäusten umschlossen und an seinen Unterarmen befestigt. Herm und Lingard hatten die Krönungszeremonie in der großen Arena besucht und genau wie tausende andere Bürger der Stadt den umjubelten Sieg des Mannes bei dem Turnier auf Leben und Tod gesehen. Seine Kampftechnik war außergewöhnlich, in Bezug auf Körperkontrolle und Reaktionsvermögen war er Kira wenigstens ebenbürtig, weder Herm selbst noch Lingard würden sich mit dem Gladiator im Nahkampf messen können.

„Mein Name ist Herm Pendrak. Die Sikau sind lange vergessen, mein Freund. Diese Waffe war ein Geschenk, mehr nicht.“ Langsam erinnerte sich Herm wieder an einige Erzählungen Kiras über die Sikau. Sie trugen die Yamasu, legendäre magische Hellebarden, mit deren Kräften sie den alten Kaiser als dessen Leibwache schützten. Kira war der Überzeugung, dass Herms Hellebarde eine dieser Yamasu war und die Magie-Verstärkenden Effekte der Waffe, die Herm nun schon mehrfach genutzt hatte, schienen ihr recht zu geben.

Schließlich hielt der Gladiator vor ihm an und sah Herm einige Sekunden lang direkt in die Augen. „Deine Klinge singt für dich, Sikau. Warum verleugnest du es?“ Ein Blick zu seiner Hellebarde ließ Herm erstarren. Die Schwingungen hatten weiter zugenommen, er unterlag keiner Täuschung. Schließlich hob der Mann seine Krallen und hielt sie dicht vor Herms Waffe. Noch immer starr sah Herm, wie die Klingen der Kampfkrallen des Kriegers in einer ähnlichen Frequenz zu schwingen schienen. Es war, wie der Mann gesagt hatte, ihre Waffen schienen gemeinsam zu singen.

„So etwas habe ich noch nie gesehen. Es ist wie in den alten Legenden.“ Lingards Stimme weckte Herm ebenso wie seinen Gegenüber aus ihrer seltsamen Starre. Dann verdunkelte sich das Gesicht des Mannes mit den Krallen und er ging einen Schritt zurück. „Du bist kein Sikau, nur ein Unwissender. Das ist unmöglich, die Weissagung war eindeutig. Und wieso singt die Yamasu für dich, wenn du kein Sikau bist?“ Wut zeigte sich auf dem Gesicht des Mannes, dessen langes weißes Haar nicht zu dem Alter seines Gesichtes passte.

Gerade als Herm antworten wollte, erklang eine andere Stimme. „Das ist alles sehr schön. Beinahe wie in den Märchen, die ich meinen Kindern erzähle. Aber wisst ihr, meine Kinder brauchen neben Geschichten auch Nahrung und Kleidung. Und wie mir scheint, habt ihr genügend Gold für uns alle, nicht wahr?“

Überrascht sah Herm sich um, wie aus dem Nichts waren sie von wenigstens zwei Dutzend Männern umzingelt worden, die teils mit kleinen Armbrüsten bewaffnet auf den umliegenden Dächern standen und teils mit Knüppeln und kleineren Klingen bewaffnet alle Eingänge zu den umliegenden Gassen versperrten. Wütend biss er sich auf die Lippe, er hatte sich dermaßen vom Auftauchen des Siegers der Arenakämpfe und seines seltsamen Geredes ablenken lassen, dass er nicht mehr auf seine Umgebung geachtet hatte. Lingard schien nicht weniger unzufrieden mit sich zu sein, seine Muskeln angespannt sah er Herm fragend an, bereit seinen Bogen zu ziehen.

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Fluchend ging Hassem über den Steg zu den äußeren Anlegestellen. „Nur einen Tag früher. Bei allen Monden, wieso habe ich es nicht einen Tag früher versucht?“ Hassem hatte sich einige Tage in einem der Slumviertel Phrygias versteckt. Das war ihm nicht schwer gefallen, bei den Sieben Spinnen hatte er alles gelernt, was er dafür brauchte und auch der magische Umhang, den er erbeutet hatte, hatte ihm dabei gute Dienste geleistet. Das schien vor einigen Tagen noch wie eine gute Idee, schließlich hatte er noch nie zuvor eine Triumvirin getötet und so hatte er seinen Plan, mit dem verdienten Gold ein Schiff nach Kahilis zu heuern, verschoben.

Aber nun war die neue Triumvirin gekrönt und hatte als erste Amtshandlung die Seewege nach Kahilis gesperrt. „Ich hätte ihre von allen Kraken verfluchte Schwester direkt mit umbringen sollen. Jetzt kann ich nur hoffen, dass die Information über den Kapitän korrekt sind.“ Hassem hatte nach einigen Tavernenbesuchen, die seinen Geldbeutel deutlich erleichterten, von einem Kapitän erfahren, der eine kleine Logger befehligte und es mit dem Gesetz nicht so genau nahm. Was aber noch wichtiger war, den Erzählungen nach war er bereits zweimal nach Kahilis gesegelt und sein Schiff war erst heute in Phrygia eingelaufen. Mit sicheren Schritten ging er weiter über den langen Steg, der den Haupthafen mit den äußeren Anlegestellen verband. Die kleineren Stege dort gaben großen Handelsschiffen nicht genügend Platz zum Manövrieren und so wurden sie meist von kleineren Schiffen, die keinen großen Handelshäusern angehörten, genutzt. Nach kurzer Zeit schon fand er die Logger, die ihm beschrieben worden war, an einem der Anlegeplätze. In einem entsprach das Schiff nicht der Beschreibung. Seinen Informationen nach sollte es in tadellosem Zustand sein, gut gerüstet für eine Fahrt auf hoher See, doch der Anblick der sich ihm bot, war wenig vertrauenerweckend.

Die unteren Segel waren behelfsmäßig repariert worden und die Spuren eines Feuers an Bord deutlich erkennbar. Teile der Reling waren zerstört und gaben Hassems geschultem Auge deutliche Hinweise auf einen Kampf an Bord. Unter normalen Umständen wären das mehr als genug Gründe, sofort wieder kehrt zu machen, doch heute hatte er keine Wahl. Die Melissa war seine einzige Chance, nach Kahilis zu kommen und er würde sie nutzen, egal was an Bord passiert war.

Als er näher kam, sah er nur fünf Personen an Deck des Schiffes. Zwei alterrische Seemänner arbeiteten an der Reparatur der Schäden, während ein glatzköpfiger älterer Mann ihnen Kommandos gab. Die anderen beiden jedoch schienen keine Seeleute zu sein und überhaupt nicht zu dem Schiff zu passen. Ein Mann und eine Frau aus Begos, beide leicht an ihrer Körperhaltung als Kämpfer zu erkennen, standen reglos an Deck und sahen ihn an, als hätten sie sein Kommen bereits erwartet. Verdutzt stellte er fest, dass er sie schon einmal gesehen hatte. Beim Orakel in Alterra war er noch vor wenigen Wochen an ihnen vorbei geritten, während sie ihre Kampfübungen ausgeführt hatten. Und nun waren sie hier, auf einem Schiff, das ihn nach Kahilis bringen könnte, es konnte kein Zufall sein.

Vorsichtig näherte sich Hassem dem seltsamen Paar und blieb schließlich vor ihnen am Steg stehen. „Kapitän Gaross?“ Für einen Moment sahen sie ihn prüfend an, dann trat der Mann einen Schritt nach vorn. „Kapitän Gaross ist in Ruhestand getreten. Mein Name ist Nakang und wir werden euch nach Kahilis bringen, zum schwarzen Turm. Das ist doch euer Ziel, nicht wahr?“

Geschockt erstarrte Hassem und sah sich mit einer schnellen Bewegung um. „Eine Falle?“ Doch niemand sonst schien von ihm Notiz zu nehmen. Keine versteckten Attentäter umkreisten ihn und auch die Seemänner der Melissa fuhren unbeeindruckt mit ihren Reparaturen fort. Hassem wusste, dass er eine Entscheidung treffen musste. Die Tatsache, dass der Mann aus Begos von der Existenz des schwarzen Turmes wusste, konnte alles oder nichts bedeuten. Auf See war er im Nachteil allein gegen fünf, falls die Einladung doch eine Falle war. Aber er hatte immer noch seine Magie und seine Begleiter und auch wenn der Mann vor ihm, der sich Nakang nannte, die Bewegungen eines geübten Kämpfers hatte, so würde auch er machtlos sein gegen das Gift eines Gelbrückenkriechers.

„Wir müssen unterwegs noch einmal an der Küste anlegen, einen Freund aufnehmen.“ Hassem sprach seine Forderung in einem kühlen Tonfall, der klar zeigte, dass er dem neuen Kapitän der Melissa nicht traute, doch der zeigte sich sichtlich unbeeindruckt. „Natürlich. Wir segeln noch heute Nacht, bevor die Flotte Keldurs die Blockade errichten kann.“

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Fragend sah Herm zu dem Gladiator, der sich von dem plötzlichen Auftauchen der Diebesbande sichtlich unbeeindruckt zeigte. Seine Fünf-Klingen-Krallen fest in den Händen, schien er nur auf den geeigneten Moment zu warten, um loszuschlagen.

Die größte Gefahr sind die Armbrustschützen. Ich muss einen Schild schaffen, der uns alle vor ihren Geschossen schützt.“ Herm hatte keinen Zweifel daran, dass es zum Kampf kommen würde. Die Diebe waren offensichtlich dem Gladiator gefolgt, der mit reichlich Gold für seinen Sieg beschenkt worden war. Auf ihre große Überzahl vertrauend hatten sie nun zugeschlagen, um zusammen mit ihm auch gleich noch zwei weitere Reisende auszunehmen. Nur das Herm sofort in den Augen des Gladiators hatte sehen können, dass er sich niemals ergeben würde. Er war ein Krieger, keine noch so große gegnerische Übermacht würde ihn einschüchtern können.

Also gut, wenn wir schon kämpfen müssen, dann auf meine Art.“ Tief einatmend nahm Herm die Energie seines Mondes in sich auf. Ein Blick zum Himmel zeigte ihm, dass der Quell seiner Magie nur auf einer Viertel-Sichel stand, so musste er sich stärker darauf konzentrieren, Kraft von dem dunklen Mond zu erhalten. Nach einigen Sekunden spürte er, dass die Energie ausreichend war, ein kurzes Zeichen zu Lingard, der ihn erwartungsvoll ansah, dann schlugen sie los. Binnen einer Sekunde errichtete Herm eine schwarze Kugel um sich und seine zwei Begleiter, beinahe zeitgleich schoss ein schwarzer Blitz aus seiner Hellebarde auf den Mann, der gesprochen hatte und den er für den Anführer der Räuber hielt. Zeitgleich nahm Lingard in einer fließenden Bewegung seinen Bogen von der Schulter, legte dabei einen Pfeil in die Sehne und schoss ihn bereits auf den ersten Armbrustschützen, bevor ihre Gegner überhaupt reagieren konnten. Dann brach die Hölle los.

Ein Hagel von Armbrustbolzen schlug in Herms magischen Schild ein und ließ ihn die Aufpralle spüren, als ob jemand mit einem Hammer eine Salve von Schlägen auf seinem Kopf ausführen würde. Noch während der Anführer von Herms Blitz getroffen in sich zusammenfiel, erlagen zwei weitere Schützen Lingards Pfeilen. Der Gladiator wirkte nur für einen Moment überrascht, dann stieß er einen Kampfschrei aus und stürzte an Herm vorbei in die große Ansammlung der Räuber, die von Herms Magie überrumpelt einen Moment innegehalten hatten. Fluchend sah Herm dem Angriff des Mannes zu. Er hatte den Anführer der Räuber erlegt und Magie gewirkt. Straßenräuber zeichneten sich nicht durch Tapferkeit aus und er war sich sicher gewesen, das sie flüchten würden, um sich leichtere Opfer zu suchen. Doch jetzt hatten sie diese Wahl nicht mehr, der Gladiator mit den Kampfkrallen sprang mitten in ihre Menge und begann den Nahkampf.

Darauf konzentriert, den Schutzschild für sich und Lingard aufrecht zu erhalten, starrte Herm wie gebannt auf den einsamen Krieger, der sich in unnachahmlichen Kampfformen durch ein halbes Dutzend Gegner bewegte. Klingen trafen auf Klingen und unter den Schmerzensschreien der Getroffenen vollführte der Mann einen atemberaubenden Tanz. Nur wenige Sekunden später war es vorbei und sechs tote Männer lagen zu Füßen des Gladiators, der nicht eine einzige Wunde an seinem Körper hatte. Sichtlich verschreckt bewegten sich die restlichen Räuber einige Schritte rückwärts, trotz der noch immer großen Überzahl schien keiner von ihnen Lust zu verspüren, dem tödlichen Krieger zu nahe zu kommen. Herm spürte instinktiv, dass es nicht mehr viel benötigen würde, um sie zur Flucht zu bewegen und begann, sich auf seine verbleibende Energie zu konzentrieren.

„Keiner rührt sich vom Fleck. Tötet die beiden da, ich übernehme den Chi Tsume.“ Eine weibliche Stimme durchschnitt die plötzlich aufgekommene Stille, nur einen Sekundenbruchteil später sprang eine in rot gekleidete Frau von einem der Dächer und landete direkt vor dem Gladiator. Fasziniert sah Herm auf die plötzlich aufgetauchte Frau, deren Präsenz allein die Räuber umgehend neu zu formieren schien. Ihr langes rotes Haar fiel auf einen einen ebenso roten Umhang, der um ihre Schultern hing. Der Rest ihres Körpers wurde von roten Leinen eng umhüllt, nicht unähnlich der Kleidung, die Kira sonst trug. In jeder Hand hielt sie einen schwarz glänzenden Sai und die Art und Weise, wie sie die beiden Waffen trug, gab Herm einen Hinweis auf ihre Fähigkeiten im Kampf.

Für einen Moment lag Stille über dem Kampfschauplatz, dann wurde die dunkle Gasse im Hafenviertel Phrygias wieder zum Schlachtfeld. Während sich der Gladiator und die plötzlich aufgetauchte Frau in Rot noch vorsichtig umkreisten und dabei wortlos und hasserfüllt anstarrten, stürmten ihrem Kommando folgend ein Dutzend Männer gleichzeitig an ihnen vorbei auf ihn und Lingard zu.

Herm hatte nur eine Sekunde Zeit, sich zu entscheiden und entschied sich für den Angriff. Die Energie, die er bräuchte, um den Schild aufrecht zu erhalten, wäre zu groß gewesen, also ließ er ihn los und nutzte seine verbleibende Energie stattdessen für mehrere offensive Zauber, die er gleichzeitig zu wirken versuchte. Er hatte noch nie vorher so viele Zauber gleichzeitig gewirkt, doch seine Energien fanden die richtigen Ziele, so als hätte er nie etwas anderes getan. Vier schwarze Bälle flogen auf die umliegenden Dächer und explodierten dort in schwarzem Feuer, das die verbliebenen Armbrustschützen entweder sofort tötete oder sie noch brennend von den Dächern sprengte. Gleichzeitig legte sich der Rest seiner Energie in Ringen um seine und Lingards Arme, sofort spürte er die zusätzliche Kraft in seinem Körper. Der Blick Lingards sagte ihm, dass seine Kopie von Jorns Zauber auch bei dem Waldwächter geglückt war. Ohne zu zögern ließ er seinen Bogen fallen und griff die kurze Axt und den Parierdolch aus seinem Gürtel. Gemeinsam wandten sie sich den anstürmenden Räubern zu und hoben ihre Waffen, der Nahkampf begann.

Zu Herms Überraschung zeigte sich Lingard auch im Nahkampf als äußerst geschickt, Rücken an Rücken kämpften sie gegen die Übermacht an Dieben, deren einfache Strategie darin bestand, sie mit ihrer Masse zu erdrücken und ihnen den Raum zum Kämpfen zu nehmen. Die ersten drei fielen schnell Lingards Dolch und Herms Yamasu zum Opfer, doch die folgenden kamen ihren Körpern schon näher und kurz darauf umklammerten mehrere Handpaare den Griff seiner Waffe in dem Versuch, sie ihm zu entreißen.

Gerade, als Herm befürchtete, dass er überwältigt würde, hallten die schmerzerfüllten Schreie der Diebe über das Kampffeld, als sie wie von Zauberhand von ihm weg geschleudert wurden, ihre Hände brennend in schwarzem Feuer. Ungläubig sah Herm auf seine Gegner, die nun wieder vor ihm zurückwichen. Er hatte keinen Zauber gewirkt, es war aus der Waffe selbst gekommen, die nun noch stärker als zuvor in seinen Händen vibrierte. Dann hörte Herm zum ersten Mal ihren Gesang und verschmolz mit ihr zu einer Einheit. Als ob er es schon immer gekonnt hatte, begann er die Hellebarde in eleganten Bewegungen vor sich zu führen und durchlief eine Kampfform, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Wie in Trance schnitt er durch die Reihen seiner Gegner, die nun vergeblich versuchten, ihm zu entkommen. Mit Lingard als Rückendeckung lagen nach nur kurzer Zeit vier weitere Männer tot vor ihm am Boden, dann rannten die übrigen in alle Himmelsrichtungen davon.

Der Klang des Aufeinandertreffens von metallischen Klingen riss Herm aus seiner Trance. Der Zweikampf zwischen dem Gladiator und seiner Widersacherin in rot hatte beide einige Meter weiter in eine der Gassen gedrängt, hier trafen sich ihre Klingen in immer schneller werdenden Attacken, während blanker Hass aus ihren Augen strömte. Fluchend sah Herm zu den Dächern der Gasse, die zu eng war, als das er in den Kampf würde eingreifen können. Gerade, als er Lingard das Zeichen gab, ihm auf eines der Dächer zu helfen, erklang der laute helle Ton eines Alarmhornes nur wenige hundert Meter entfernt. „Die Stadtgarde. War nur eine Frage der Zeit, wir müssen verschwinden.“ Offenbar war er nicht der Einzige mit dieser Meinung, beinahe im selben Augenblick stellten die beiden Kämpfer vor ihm ihr Duell ein. „Wir werden uns wieder sehen, Chi Tsume.“ Aus dem Stand heraus sprang die rot gekleidete Kämpferin auf eines der Dächer und war ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht war.

„Bitte nimm meine Entschuldigung an. Du bist Sikau und hörst den Gesang der Klinge.“ Die Worte des Gladiators waren ruhig gesprochen, während er langsam zu Herm trat, so als hätte er alle Zeit der Welt. „Unglaublich, er hat recht. Ich muss mehr darüber rausfinden.“ Schnell warf er einen fragenden Blick zu Lingard, den der Waldwächter mit einem Nicken beantwortete. „Keine Entschuldigung notwendig, aber wir sollten uns wirklich unterhalten. Komm mit uns, wir verschwinden hier, bevor uns die Stadtgarde findet. Es gibt da einen Ort, an dem wir sicher sind...für den Moment wenigstens.“

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Fasziniert sah Kalinde auf den großen Hafen, der sich vor ihr ausbreitete wie ein riesiges Netz. Sie hatte vorher schon Schiffe gesehen in ihrer Heimat, aber noch niemals so große und so viele auf einmal. Die Langboote ihres Volkes waren Küstenschiffe und nicht für die hohe See gebaut, anders als die riesigen Galeonen, die hier im Hafen lagen. Aufmerksam betrachtete sie eines der großen Kriegsschiffe, das mit unzähligen Schleudern und Katapulten bewaffnet war, als sie plötzlich für einen Moment stutzte. Ein Mann ging allein auf einem der äußeren Stege direkt an der großen Galeone vorbei und zog umgehend ihren Blick auf sich. Er war ein Kaldarrer und Herm ähnlich, das hatte sie stutzen lassen, doch auf dem zweiten Blick erkannte sie, dass er es nicht war. Herm ging stets aufrecht und hatte einen klaren ehrlichen Blick, anders als der Mann, der nun in Richtung eines der kleineren Schiffe an den äußeren Anlegestellen ging. Das Bild Herms hatte sich in ihren Kopf gebrannt, seit sie ihn das erste Mal getroffen hatte bei den heiligen Steinen, in ihrer Heimat Valkall.

Und nun war sie hier, in Phrygia, am anderen Ende der Welt und suchte nach ihm. „Dieser Ort ist riesig, wie soll ich ihn hier nur finden? Falls er überhaupt hier ist. Ich hoffe nur, dass wir schneller sind als Jorn und seine Männer.“ Tyr hatte schnell reagiert, als er von der Kampfgruppe erfahren hatte, die unter der Führung Jorns Herm folgen und töten sollte. Ohne zu zögern hatte er mit dem Einverständnis seines Klanlords die Verfolgung Jorns aufgenommen und dazu seinen gesamten Jagdklan mobilisiert. So hatte sich für sie die perfekte Gelegenheit ergeben, sich ihnen anzuschließen, war sie doch seit der schwarzen Nacht offiziell eine Runenleserin. Außerdem war ihr Vater, Pytros, einer von Tyrs Männern und so war sie mit ihnen durch die halbe Welt gereist, nur um den Mann zu finden, der laut Marlas Auslegung der alten Schriften der Auserwählte sein sollte.

Im Grunde genommen war es Kalinde egal, ob er es war oder nicht. Die Hauptsache war, dass sie ihn wieder sehen konnte. Sie war noch jung, aber ihr Körper war bereits der einer Frau und sie war bereit, ihm alles zu geben, wenn er es wollte. „Ob sie wirklich nicht seine Gefährtin ist?“ Einmal mehr richteten sich seine Gedanken an die kleine Frau aus Begos, die Herm als seine Gefährtin mit sich geführt hatte. Bei den Frauen aus Tyrs Klan hatte sie erfahren, dass die beiden ihr Lager nicht teilten, also bestand noch Hoffnung.

Glücklicherweise war es einfach gewesen, Herms Spur durch die Welt zu folgen. Der Reißer, den er auf unglaubliche Weise gezähmt hatte, war an mehreren Orten mit ihm gesehen worden und so war Tyrs Klan ihm und seinen Gefährten bis in die Wüste Alterras und von dort nach Phrygia gefolgt. „Aber was will er hier?“ Laut Marlas Informationen hätte er die Sternensinger in Meronis aufsuchen und dann zurückkehren sollen, doch stattdessen war er bis zum Orakel der südlichen Wüste und von dort dann nach Osten gezogen.

Tyr hatte entschieden, weit außerhalb von Phrygia das Lager aufzuschlagen, da eine große Ansammlung von Valkallern in der Stadt zu auffällig gewesen wäre. Zehn Späher wurden in die Stadt gesandt, um nach Jorn und Herm zu suchen, einschließlich ihr selbst. Es war ihr nicht schwer gefallen durchzusetzen, dass sie auch gehen würde. Trotz ihrer Jugend und Unerfahrenheit besaß sie als Runenleserin einen gewissen Status und konnte auch mit ihrer magischen Fähigkeit argumentieren, die ihr möglicherweise das Auffinden von Jorn, Ise oder Herm erleichtern würde. „Ich wünschte nur, dem wäre auch so.“ Tatsächlich hatte sie nicht die geringste Ahnung, wie sie Herm finden sollte, aber irgendetwas sagte ihr, dass sie nicht weit von ihm entfernt war. Warum sollte jemand nach Phrygia gehen wollen, wenn nicht, um ein Schiff zu nehmen? Der Gedanke war ihr gekommen, während sie in den letzten Stunden die Betriebsamkeit am größten Hafen der Welt beobachtet hatte. Wenn Herm in der Nähe war, würde sie ihn nur hier finden. Was sie brauchte, war Geduld.

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Mit weit aufgerissenen Augen starrte Herm auf die riesigen Regale, die mit den verschiedensten Nahrungsmitteln, Getränken und Gewürzen befüllt waren. „Bei allen Monden, ich bin im gelobten Land.“ Er hatte die Hausdame ihrer Unterkunft auf dem Hügel der Gilnos darum gebeten, selbst für einen Gast kochen zu dürfen, was von der Frau mit einem derart verächtlichen Blick quittiert worden war, dass er für einen Moment fürchtete, aus dem kleinen Anwesen geworfen zu werden. Doch die Haushälterin hatte sich beherrscht und ihn wortlos in den Vorratskeller des Anwesens geführt. Es war offensichtlich, dass er in ihrem Ansehen nur noch tiefer gesunken war, als er und seine Begleiter es als Fremde ohnehin schon waren, doch das störte ihn nicht.

Er hatte jemanden gefunden, der ihm endlich Antworten geben konnte. Jemanden, der möglicherweise Licht ins Dunkel bringen konnte. Das war Grund genug zum Feiern, heute würde er ein Festmahl zubereiten. Sie hatten den seltsamen Krieger, der sich als Secan vorgestellt hatte, mit in das Anwesen genommen und den Wachen der Gilnos berichtet, dass sie im Hafenviertel von Räubern überfallen worden waren. Das war eine gute Erklärung für das Blut auf ihrer Kleidung und so hatte der Hauptmann der Wache sie passieren lassen und den Hügel in Alarmbereitschaft versetzt. Die Wachsoldaten der Gilnos waren seit der Ermordung ihrer Triumvirin ohnehin schon übervorsichtig, nach seiner Meldung verstärkten sie noch einmal die Wachpatroullien, Herm und seine Begleiter würden heute beruhigt schlafen können.

Mit sicheren Griffen nahm Herm einen wundervoll riechenden getrockneten Schinken von dem Seil, an dem er von der Decke des Vorratsraumes hing. Dann eine Amphore starken roten Portweins aus Meronis, einen Sack kleine Kartoffeln sowie eine Handvoll herrlich roter Paprikas. Zufrieden packte er alles in einen großen Tragekorb, der neben den Regalen stand und begann schließlich, gleich mehrere Dutzend der kleinen Gewürzkrüge aus Keramik mit einzupacken. In der Tat, heute würde es ein Festmahl geben.

Mit den eingepackten Schätzen im Korb ging Herm schließlich zurück in die Küche, wo neben frischem Brot und Schafskäse im Fass auch einige reife Zuckermelonen auf ihn warteten und begann mit den Vorbereitungen. Nach ihrem gemeinsamen Besuch im Waschhaus hatte der Gladiator darauf bestanden, zuerst die Sicherheitsvorkehrungen um das Anwesen zu kontrollieren und so war er mit Lingard losgezogen, um mögliche Schwachstellen zu finden, wie er es nannte. Für Herm spielte es keine Rolle, er fühlte sich so sicher wie schon lange nicht mehr. Und so konnte er die Zeit nutzen, um wieder einmal seiner lang vermissten Lieblingsbeschäftigung nachzugehen. „Ich wünschte nur, Kira wäre hier. Sie würde mir sicher wieder einen Vortrag darüber halten, wie einfaches Essen das innere Gleichgewicht wiederherstellt und hinterher verheimlichen, wie gut ihr mein Essen doch geschmeckt hat.“ Noch während er an Kira dachte, nahm er eines der kleineren Messer und begann, die Paprikas auszuhöhlen, als Ise in die Küche kam.

„Mach bitte etwas mehr Holz in das Feuer, der Ofen muss heiß sein.“ Mit säuerlichem Gesichtsausdruck quittierte die Magierin seine Aufforderung, packte dann aber doch widerwillig einige Holzscheite in das prasselnde Feuer. Er hatte sie bereits an anderen Gelegenheiten als Kochgehilfin eingesetzt und wusste genau, wie ungern sie in diese Rolle schlüpfte. Da Lingard und Secan allerdings unterwegs waren, war sie die einzige, die in Frage kam und so gab er ihr schmunzelnd weiter Anweisungen, während er die Paprikas mit Schinken, kleinen Kartoffelstücken und Schafskäse füllte.

„Was weißt du über ihn? War es wirklich klug, ihn mitzubringen?“ Ihr Einwand war berechtigt, genau genommen wusste Herm nahezu nichts über den Gladiator, aber das war nicht der Punkt. Der Krieger wusste offenbar etwas über ihn und das war alles, was zählte. „Er weiß etwas über mich. Du hättest es sehen sollen, wie unsere Waffen vibrierten, als er nahe bei mir stand, es fühlen sollen. Ich muss unbedingt mehr über diese Chi Tsume erfahren. Und über die Frau in rot. Sie sah gefährlich aus, und sie ist hier in der Stadt.“ Mit einem Nicken stimmte Ise ihm schließlich zu, während sie die gefüllten Paprikas nach seinen Anweisungen in den Ofen schob.

Wenige Minuten später kamen auch Lingard und Secan zurück von ihrem Rundgang, Herm konnte sofort an Lingards Blick sehen, dass sein Begleiter während ihres Weges nicht viel gesprochen hatte. Seine Kampfkrallen zu den Schultern hin hochgeschoben und an einem seltsam aussehenden metallischen Oberarmband arretiert, konnte er seine Hände frei nutzen, obwohl Herm sicher war, dass er seine Krallen innerhalb von Sekundenbruchteilen kampfbereit haben könnte. Noch während Herm darüber nachdachte, wie er das Gespräch beginnen sollte, begann er den Tisch mit Holztellern, Messern und Krügen zu decken. Eine Schale mit geschnittenem Brot sowie zwei kleine Schüsseln Schafskäse stellte er direkt auf den Tisch, wobei er etwas Olivenöl und Kräuter direkt über den Käse gab.

„Sikau. Das war die Leibwache des alten Kaisers, nicht wahr?“ Die Frage schien Herm der richtige Einstieg für ein Gespräch mit Secan zu sein, gespannt wartete er auf die Antwort, während er die reifen Melonen in Scheiben schnitt. Er konnte den Blick des Kriegers auf sich spüren, endlose Sekunden vergingen, bis schließlich eine Antwort kam. „Da du es wirklich nicht zu wissen scheinst, werde ich dir zumindest das sagen, was du wissen musst. Die Sikau sowie die Chi Tsume unterstanden beide direkt dem Kaiser, anders als die anderen Soldaten, die von ihren jeweiligen Lehnsherren in das Heer geschickt worden waren. Sie waren das Schwert und der Schild des Kaisers, bedingungslos loyal und die Säulen seines Sieges.“

Fasziniert lauschte Herm den Ausführungen des Kriegers, während er den von Ise in dünne Scheiben geschnittenen Schinken um die süßen Melonenstücke wickelte und ebenfalls auf den Tisch stellte. „Unsere Klingen, warum haben sie vibriert, als wir uns näher kamen?“ Zögernd setzten sich Secan und Lingard auf seine einladende Geste hin an den gedeckten Tisch, während er die inzwischen von der Hitze aufgeweichten und herrlich süß duftenden Paprikas aus dem Ofen nahm. „Die Agenten des alten Feindes waren allgegenwärtig. Es wäre unmöglich gewesen, das Leben des Kaisers zu schützen, wenn die singenden Waffen nicht geschaffen worden wären. Sie singen nur für diejenigen, die dem Kaiser dienen, jeder Attentäter wurde frühzeitig erkannt. Das bringt mich zu der Frage, warum die Yamasu für dich singt, wenn du nicht als Sikau ausgebildet wurdest?“

Tausend Gedanken rasten durch Herms Kopf, während er jedem der Anwesenden eine gefüllte Paprika auf sein Holzbrett legte und Ise den Portwein in die Becher füllte. „Soll das heißen, er wurde zum Chi Tsume ausgebildet? Aber wozu, es gibt doch keinen Kaiser mehr?“ Schließlich setzte er sich zu den anderen an den breiten Holztisch. „Ich fand die Hellebarde in einem Waffenladen in Magystra, der jedoch später zerstört wurde und niederbrannte. Ich wusste damals noch nicht, dass es eine Yamasu war. Erst Kira erkannte sie als eine der Waffen der Sikau.“ Für einen Moment hielt Herm inne, abgelenkt durch den Duft des Essens vor ihm auf dem Tisch. Mit einem Nicken bedeutete er seinen lauschenden Wegbegleitern, das Essen zu beginnen und nahm etwas von dem Brot und Käse, bevor er fortfuhr. „Die Yamasu, sie verstärkt meine Magie. Ist es bei dir auch so?“

Secan sah das Essen vor ihm erst einen Moment lang zögernd an, dann nahm er einige Bissen von dem Brot mit gewürztem Käse. Nach kurzem Kauen entspannten sich seine Gesichtszüge und er begann sich ebenso wie die Anderen auf das Essen zu stürzen. „Ich bin Chi Tsume, eine Blutkralle. Magie kann mich nicht aufhalten, ich bin das Schwert des Kaisers. Du bist Sikau, stark in der Magie, du bist der Schild des Kaisers.“ Als wäre damit alles gesagt, unterbrach Secan seinen Vortrag und nahm einen tiefen Schluck des kräftigen Portweins. „Ich habe noch nie davon gehört, dass Sikau kochen konnten. Aber das hier ist ausgezeichnet.“ Auch die anderen am Tisch schienen das Essen sichtlich zu genießen, während sie der Konversation lauschten. Schlagartig fiel Herm auf, dass er selbst noch kaum etwas gegessen hatte. Schnell griff er etwas von der Melone mit Schinken und genoss die einzigartige Kombination von Würze und Süße auf seinem Gaumen.

„Sag mir, wer ist Kira?“ Die Frage des Kriegers kam überraschend, Herm hatte ihren Namen gerade zum ersten Mal vor Secan erwähnt. „Kira ist eine von uns. Sie wurde entführt, wir kamen nach Phrygia, um sie zu finden. Und diejenigen, die sie entführt haben.“ Das Gesicht Secans schien sich zu verdunkeln, während er weiter essend Herms Geschichte lauschte. „Der alte Feind hat einen weiteren Zug gemacht, er versucht dich in eine Falle zu locken. Ist sie auch Sikau? Glaubst du, die Entführer sind noch hier?“

Sein Mahl langsam beendend nahm Herm eine letzte Portion des gewürzten Käses. „Nein. Sie ist weder Magierin, noch hat sie eine Yamasu. Sie kommt aus einem Kloster in Begos. Aber was die Falle angeht, hast du recht. Sie wollen mich nach Kahilis locken, auch wenn ich nicht verstehe wieso.“ Herm hatte dem Krieger einige Informationen gegeben und einige erhalten, doch hatte er nicht vor, den schwarzen Turm gegenüber jemandem zu erwähnen, den er erst seit einem halben Tag kannte.

„Das macht Sinn. Der schwarze Turm wird die Agenten des Feindes anziehen wie der Mist die Fliegen. Dich dorthin zu locken ist eine durchschaubare Falle, du solltest nicht gehen.“ Mit offenem Mund starrte Herm Secan an, der scheinbar wie selbstverständlich über den schwarzen Turm sprach, so als wäre seine Existenz allgemein bekannt. Dann stieg Wut in ihm auf. Er hasste es, sich als Spielball zu fühlen. Kira im Stich lassen? Niemals! Er würde ihr folgen, und wenn ihre Entführer sie bis in den Nexus selbst brachten. „Das kommt nicht in Frage. Ich werde Kira finden, am schwarzen Turm oder sonst wo und nichts wird mich aufhalten.“ Plötzlich merkte Herm, dass er den letzten Satz mit deutlich erhobener Stimme gesprochen, beinahe gebrüllt hatte. Stumm nickend sahen ihn Lingard und Ise an, während sich Secan in seinem Stuhl aufrichtete und ihm direkt in die Augen sah. „Bei allen Drachen, so spricht ein wahrer Sikau. Das Schicksal hat gesprochen, ich werde dich begleiten und wir werden deine Kira finden. Am schwarzen Turm oder sonst wo und nichts soll uns aufhalten.“

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Mit säuerlichem Gesicht biss Poca in die harten, schlecht gewürzten Kartoffeln. „Bah, beim großen Schatz der Meere, selbst als Sklave in Sarradazin würde ich besser essen. Ich sage euch, ich habe mal einen jungen Magier getroffen, in Kaitain, der konnte vielleicht kochen. Man gab ihm ein paar Kartoffeln und erhielt ein Festmahl.“ Lustlos stocherte der beleibte Händler in dem furchtbar schmeckenden Essen, während er seine beiden Begleiter studierte, die zusammen mit ihm am Feuer saßen.

Poca hatte eine gute Menschenkenntnis, was in seinem Beruf äußerst wichtig war. Als Händler von Weinen und anderen Waren, die er quer durch die Welt transportierte, hatte er mit Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen gehandelt, auch wenn seine eigentliche Leidenschaft das Sammeln alter Schatzkarten war. „Diese verdammte Karte, irgendwie hat sich mich hierher gebracht, an den Strand von Keldur, mit diesen beiden seltsamen Gestalten.“ Links von ihm am Feuer saß die kleine Frau aus Begos, mit der er zusammen von der Melissa geflohen war. Es grenzte an ein Wunder, dass sie beide die stürmische See überlebt hatten, mit nur einem leeren Fass als Rettungsanker. Unter normalen Umständen hätte er der kindlich wirkenden Frau keinen zweiten Blick geschenkt, doch die Geschehnisse an Bord der kleinen Logger waren noch immer klar in seinem Gedächtnis. Sie hatte sich trotz ihres schlechten Zustands nur mit ihren Fäusten gegen einen bewaffneten Mann durchgesetzt. Es befand sich unter Garantie mehr unter der Maske der kleinen Frau, als sie preiszugeben bereit war.

Der Mann zu seiner Rechten allerdings war noch außergewöhnlicher. Seine graue unauffällige Kleidung und die seltsam alterlosen Gesichtszüge würden ihn in jeder Menschenmenge verschwinden lassen, ohne das sich hinterher jemand an ihn würde erinnern könnte. Doch das war nur eine Fassade, er bewegte sich mit der Grazie einer Raubkatze. Und obwohl der Mann, der sich als Perkles vorgestellt hatte, ihm und seiner Fluchtgefährtin das Leben gerettet hatte, konnte Poca die Gefahr spüren, die von dem grauen Krieger ausging.

„Einfaches Essen bringt Körper und Geist ins Gleichgewicht.“ Die Worte der Frau, die Kira hieß, kamen Poca wie ein Hohn vor angesichts der der geschmacklosen, zu kurz gekochten Kartoffeln. „Wie soll ein schlechtes Essen irgendetwas ins Gleichgewicht bringen können, geschweige denn Körper und Geist? So ein Unsinn. Was würde ich jetzt nur für einen gewürzten Wildschweinbraten geben.

Dann sah Poca es wieder, Kira und Perkles musterten sich. Immer dann, wenn sie glaubten, dass ihr Gegenüber nicht hinsah, sahen sie sich mit bohrenden Blicken an, als würden sie auf diese Weise etwas Verborgenes sichtbar machen. Poca hatte es direkt gespürt, nachdem er von Perkles geweckt worden war. Es lag eine Spannung in der Luft zwischen seinen Begleitern, während er selbst von beiden weitestgehend ignoriert wurde.

„Wohin wollt ihr gehen, jetzt, da ihr frei seid?“ Die Frage des grauen Kriegers durchschnitt die aufgekommene Stille wie eine scharfe Klinge und riss Poca unsanft aus seinen Gedanken. Kira zögerte mit einer Antwort, und so nahm Poca die Gelegenheit wahr, sein Anliegen vorzubringen. „Seht, ich habe hier eine Schatzkarte. Ich war auf dem Weg zu der Insel, die hier verzeichnet ist, als der Kapitän der Melissa mich verriet und überwältigen ließ.“ Vorsichtig nahm er die Lederrolle aus seinem Gürtel, öffnete sie und breitete die Karte vor ihnen aus. Ein schneller Blick zeigte Poca, dass Kiras Aufmerksamkeit ganz auf dem Krieger lag, der wohl eher aus Höflichkeit und mit unterdrücktem Grinsen einen Blick auf die Karte warf.

„Was ist der Schatz?“ Kiras Frage kam unerwartet, umso dankbarer nahm Poca den Faden wieder auf. „Nun, das ist das Interessante daran. Ich habe viele der alten Schriften studiert und konnte so die Echtheit der Karte erkennen. Aber wenn ich die Schrift richtig übersetzt habe, ist der Schatz ein Buch. Merkwürdig aber nicht desto trotz aufregend.“ Überrascht sah nun auch der Krieger auf. Sein zuerst nur locker über die Karte schweifender Blick schien sie nun immer intensiver zu mustern. „Ein Buch? Was für ein Buch?“

Nachdem nun Perkles seine Aufmerksamkeit auf die Karte gerichtet hatte, beugte sich auch Kira vor und musterte das mit alten Zeichen bedeckte Pergament, das die Umrisse einer Insel zeigte. „Hier bin ich mir bei der Übersetzung nicht sicher. Das Buch der Nacht, oder das dunkle Buch vielleicht.“ Die weit aufgerissenen Augen des grauen Kriegers ließen Poca augenblicklich innehalten. Einige Worte in einer Sprache murmelnd, die Poca nicht verstand, drehte Perkles das Pergament und begann, mit seinen Fingern über die Schriftzeichen zu fahren. Als ob er die alte Schrift ohne Übersetzungshilfen lesen könnte, wanderten seine Augen über das Pergament. „Das schwarze Buch. Unglaublich. Das Orakel hatte recht, ihr seid ein Geschenk des Meeres.“ Verdutzt sah Poca erst Perkles und dann das Pergament an. Der Krieger hatte recht, seine Übersetzung der alten Schrift passte genau. Aber woher konnte er die Schrift lesen? Nun wurde auch Kira hellhörig. „Das schwarze Buch? Es existiert wirklich? Und die Karte zeigt, wo es sich befindet?“ Jetzt waren es Poca und Perkles, die innehielten und die kleine Frau ansahen. „Was beim Horn des großen Behemoth ist das schwarze Buch? Und warum weiß hier jeder etwas über meinen Schatz außer mir?

Es spielte keine Rolle, warum. Wichtig war nur, dass ihn das Schicksal zusammen mit zwei Personen an den Strand von Keldur gespült hatte, die beide etwas über die beste Schatzkarte wussten, die er je in den Händen gehalten hatte. Das konnte kein Zufall sein und er würde diese Chance ergreifen. „Seht hier, die Linien hier am Rand sind Sternzeichen. Ich habe sie von Gelehrten in Magystra prüfen lassen und sie deuten auf ein Sternbild, wie man es hier in Keldur, in der Nähe Phrygias am Nachthimmel sehen kann. Die Form zeigt, dass es eine Insel ist. Also vermutlich eine der kleinen Inseln vor der Küste.“ Eine plötzliche Handbewegung von Perkles unterbrach seinen Redeschwall, überrascht hielt Poca inne. „Nein, das ist keine Insel. Es ist ein Tempel.“ Zögernd sah Poca noch einmal auf das Pergament. „Ein Tempel? Das wäre möglich, aber wie kommt er darauf?“ Die Linien zeigten einen rundlichen Bereich, in dem einige Gebäude und so etwas wie ein dunkles Loch verzeichnet waren. „Ich nahm an, es ist eine Insel. Wenn man den Sternzeichen folgt, muss es östlich von Phrygia liegen.“ Mit einem Schmunzeln lehnte sich Perkles zurück. „Wer es auch immer war, der für Euch die Sternzeichen gedeutet hat, irrt sich in diesem Punkt. Meister Poca, ich bin kein Dieb, aber ich brauche diese Karte. Verkauft sie mir, ich gebe Euch Gold oder sonst etwas, was Ihr braucht.“

Langsam lehnte sich Poca zurück und betrachtete seinen Gegenüber. „Ich kann Euch die Karte nicht verkaufen. Es ist die erste echte Schatzkarte, die ich je gefunden habe und vielleicht auch meine letzte. Wenn Ihr wirklich dieses Buch wollt, lasst uns zusammen suchen. Ich habe kein Interesse an einem Buch, ich will nur dabei sein, wenn es gefunden wird.“ Poca spürte, dass die Aufregung von ihm Besitz ergriffen hatte, die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus, während er unruhig auf dem steinigen Boden hin und her rutschte. „Ich will auch mit. Ich muss wissen, ob dieses Buch wirklich existiert.“ Kiras Einwurf überraschte Poca nicht, er glaubte nicht mehr an einen Zufall. Nun kam es auf den grauen Krieger an, Poca hatte keinen Zweifel daran, dass er sie beide mit Leichtigkeit überwältigen oder gar töten und allein mit der Karte verschwinden könnte, wenn er es wollte. Für einen Moment schien der graue Mann seine Optionen zu durchdenken und Pocas Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken, dass er sich dafür entscheiden könnte, doch ein Dieb zu sein. Dann plötzlich nahm der Krieger seine Panflöte in die Hand und begann, eine seltsame Melodie zu spielen, die Poca fremdartig und doch vertraut vorkam, für einen Moment schien es ihm, als wäre er selbst in einer alten, vergessenen Zeit. „Gut, wir gehen zusammen.“

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Kalter Wind aus Norden blies Kermo in sein von den Stürmen der Tundra gegerbtes Gesicht. Ruhig stand er zwischen den Zwillingsfingern, wie die seltsame Felsformation genannt wurde, die sich schwarz glänzend in den Himmel erhob. Angeblich waren die beiden mehrere hundert Meter hohen Felsen in der Zeit der Legenden entstanden, als eine große Schlacht auf der Ebene geführt wurde, aber das interessierte ihn nicht. „Legenden, pah! Nur Schwächlinge leben in der Vergangenheit.

Kermo, Klanlord der Tomaren, hatte noch nie viel für Legenden übrig gehabt. Und jetzt hatte Marla, die alte Hexe, diesen verfluchten Kaldarrer zum Auserwählten ernannt. Sie hatte versucht, den Krieg zu verhindern und ihn so gezwungen, seinen Angriff vorzuziehen. Eigentlich hatte er zuerst die nördlichen Eisenminen erobern und dann aus der Position der Stärke heraus den Rat auflösen wollen. Doch Marlas Handeln hatte ihn dazu gebracht, früher anzugreifen wie geplant, was sich nun langsam rächte. Es fehlte an Nahrung und Packtieren, seine neue Flotte war noch immer im Bau und einige der Bündnisse mit befreundeten Stämmen waren noch nicht so gefestigt, wie er es gerne hätte. Besonders die Langboote fehlten ihm. Sie ermöglichten schnellen Transport über die großen Flüsse und an der Küste, einsetzbar zur Versorgung oder zum Angriff und hatten eine entscheidende Rolle in seinen Angriffsplänen gespielt.

Das laute Grollen der Bären riss ihn aus seinen Gedanken. Zu seiner rechten Seite hatte Kreug mit seinen Kriegsbären Aufstellung genommen. Sein Cousin war ein ausgezeichneter Bestienmeister und hatte die Bären von klein auf in blutrünstige Bestien verwandelt, die ihre Gegner in Stücke rissen, wenn sie einmal losgelassen waren. An seiner linken Seite nahmen die Langbärte Aufstellung. Sie waren die Veteranen seines Klans, allesamt kampferfahrene Krieger, die wenigstens dreißig Winter gesehen hatten. Sie würden die Mitte halten, kein Langbart würde jemals in der Schlacht weglaufen, sie würden kämpfen bis zum Tod. Aber das war heute nicht notwendig. Ihr Gegner war ihnen zahlenmäßig unterlegen, wenn er auch die bessere Position hielt. Eine Kampfgruppe aus Teschokks Klan hatte in einem mutigen Vorstoß die Linien der Tomaren durchbrochen und eine der Eisenminen zurück erobert. Doch nun, abgeschnitten von Verstärkungen und Nachschub, war ihre Position hoffnungslos. Kermo selbst war mit seiner Hauptarmee zu den Zwillingsfingern vorgerückt, um den Vorstoß der Ygmaren schon im Keim zu ersticken und die vorgestoßene Armee vollständig zu vernichten.

„Mein Lord, die meisten Pferde sind erschöpft und wir haben zu wenig Nahrung. Wir sollten die Kavallerie schonen.“ Kermo nickte seinem General stumm zu. Es wäre tatsächlich besser, seine Pferde zu schonen. Da auch seiner Kampfgruppe zu wenige Pak-Mahs zur Verfügung standen, musste er die Nahrung zum Teil mit Pferden transportieren, doch dafür waren die valkallischen Schlachtrösser weder gezüchtet noch trainiert worden.

„Stellt die zweite Speergruppe nach außen vor die Kavallerie. Keine Schilde, nur Speere“ Kermos Befehl war knapp und leise gesprochen, und doch wurde er sofort von seinen Adjutanten umgesetzt. Als Klanlord besaß er uneingeschränkte Befehlsgewalt im Krieg und genoss unter seinen Kriegern hohen Respekt. Die zweite Speergruppe bestand aus den jüngeren Kriegern, die sich schnell bewegen und so die Kavallerie ersetzen konnte. Das würde für den ersten Angriff genügen.

Mehr Sorgen bereitete ihm das Wetter. Der kalte Wind verhinderte schon seit Tagen das Aufkommen von Regen und so war die Luft trocken und ohne jede Feuchtigkeit. Das bedeutete, dass die Sehnen der Armbrüste einsetzbar waren, ein klarer Vorteil für die Verteidiger, die nördlich von ihm am Fuß der Mine ihre Stellung bezogen hatten. Valkallische Krieger waren keine großen Bogenschützen, sondern suchten den Nahkampf. Eine volle Salve Armbrustbolzen abzuschießen, bevor man seine Axt oder seinen Speer griff, war jedoch eine durchaus gängige Taktik. Nachdem er auch die zweite und dritte Speergruppe in Stellung gebracht hatte, wandte sich sein letzter Blick zu seinen Axtmännern. Die Sturmgruppe, die sich hinter den wilden Bären in Stellung brachte, war der Schlüssel zum Sieg. Schafften sie es, die Verteidigungsstellung zu durchbrechen, wäre das der Sieg.

Ein weiterer Blick zum Himmel und Kermo wusste, dass es unnütz wäre, auf Regen oder Nebel zu hoffen. Das Wetter würde sich in den nächsten Tagen nicht ändern, strahlender Sonnenschein begleitete den kalten Wind, es war ein guter Sommertag in Valkall. Erinnerungen kamen in Kermo auf, als er zurückdachte an jenen seltsamen Sommer vor zwanzig Jahren, als er das zweigeteilte Amulett gefunden hatte. Seine Frau brachte am selben Tag Ise zur Welt und starb noch im Kindbett. Andere hätten es für ein schlechtes Omen gehalten, doch Kermo glaubte nicht an derlei Dinge. Das Amulett war etwas Reelles. Keine Legende, keine Prophezeiung. Es strahlte Macht aus und schien zu ihm zu sprechen, versprach ihm Schutz vor der Dunkelheit, die da kommen würde. Er hatte Ise und Jorn je eine Hälfte des Amuletts gegeben, in der Hoffnung dass es sie schützen würde, doch nun hatte sie ihn verraten, seine eigene Tochter. Fluchend kehrte Kermo mit seinen Gedanken zurück in die Gegenwart. Ise war ein Problem von morgen, möglicherweise hatte Jorn sie bereits gefunden. Jetzt und hier hatte er eine Schlacht zu gewinnen. Ohne sich ein weiteres Mal umzudrehen, hob er seine gewaltige Axt und gab das Zeichen zum Angriff.

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Wütend starrte Lingard in den Spiegel, während Herm hinter ihm stand und nur mühsam sein Lachen unterdrücken konnte. Ein Wams aus feinster grüner Seide zierte seinen Oberkörper und fiel eng über seine Hüften, von denen schwarze Strumpfhosen bis zu den Samtpantoffeln liefen, die mit leuchtenden Rubinen bestickt waren. Ein schwarzes Haarband, passend zu den eng anliegenden Strumpfhosen stützte seine Frisur, die nach Art des meronischen Königshauses gesteckt war und ihn noch lächerlicher aussehen ließ.

Hätte ich nur meine Klappe gehalten.“ Zum wiederholten Male verfluchte Lingard seine Herkunft. Seit er denken konnte, hatte er versucht, dem Leben bei Hofe und seinen Auswüchsen, der Etikette und den Intrigen, zu entkommen. Als Vierter in der Erbfolge war ihm das schon früh gelungen und er hatte sich weitgehend der höfischen Verantwortung entziehen können. Vor drei Jahren dann hatte sich sein größter Wunsch erfüllt, als er den Waldwächtern beitreten konnte. Sein Vater hatte nichts dagegen gehabt, dass er eine militärische Laufbahn einschlug, doch hätte er ihn lieber bei der königlichen Garde oder den Luftreitern gesehen. Schließlich hatte sich Lingard durchsetzen können und nie zurück gesehen. Es war sein Schicksal, sein Land zu verteidigen, daran hatte er keinen Zweifel. Prinz von Meronis oder nicht, er würde so kämpfen, wie es die Waldwächter von Meronis seit jeher getan hatten, mit ruhiger Hand und starkem Arm.

Aber nun stand er hier, in der Hauptstadt von Keldur, so gekleidet, wie es seinen Vater erfreut hätte. Lingard hatte schon seit Jahren keine höfische Kleidung mehr getragen und die Tatsache, dass sein Anblick Herm offenbar stark amüsierte, verstärkte sein Unbehagen nur noch weiter. „Warum hast du uns nicht früher gesagt, dass du ein Prinz bist? Immerhin verstehe ich jetzt, warum wir in Paitai so freundlich behandelt worden sind.“ Der Gedanke an Paitai und den Angriff der Attentäter auf den Tempel der Sternensinger verdunkelte Lingards Gesichtszüge umgehend. Dort hatte alles begonnen, dort hatte er Herm und seine seltsamen Begleiter getroffen. Zuerst war es nur ein Gefühl gewesen, aber inzwischen war er sich sicher. Herm Pendrak, noch so jung und doch schon so mächtig, ritt auf der Welle des Schicksals und Lingard würde so dicht bei ihm bleiben, wie er nur konnte.

„Ich bin ein Waldwächter, das ist jetzt mein Leben. Meine Herkunft ist nicht von Belang.“ Lingard hatte die Worte wütender und lauter gesprochen, als er es beabsichtigt hatte. Herm hatte keine Schuld an der derzeitigen Situation, es war seine eigene Entscheidung gewesen. Nachdem alle Versuche, bei Triumvirin Tertia Gilnos in ihrer Sache vorzusprechen gescheitert waren, hatte er schließlich seinen Stand preisgegeben und eingewilligt, eine Audienz als Prinz von Meronis zu erbitten.

Die Triumvirin hatte erstaunlich schnell reagiert und die Audienz schon für den nächsten Tag bewilligt, so war ihnen nicht viel Zeit geblieben, für standesgemäße Kleidung und Frisur zu sorgen. Ein Luftzug strich durch den Raum, als Ise die Tür öffnete und mit schnellen Schritten in den Raum trat. Sie hatte noch einige letzte Einkäufe mit Gold aus seinem Geldbeutel erledigt und Lingard hoffte inständig, dass sie einen passenden Gürtel gefunden hatte. Erleichtert sah er sie einen schwarz glänzenden Gürtel aus ihrem Wollbeutel ziehen und nahm ihn dankbar entgegen. Er passte wie angegossen und so nahm er dann auch den Zierdolch seiner Familie aus seinem Rucksack und platzierte ihn an seiner Hüfte. Der Dolch lag in einer kunstvoll gefertigten Scheide aus reinem Silber, auf dem das Wappen von Meronis zu sehen war. Er war ein klar erkennbares Statussymbol und würde seinen Auftritt als Prinz unterstützen.

„Dieses Theater sollte nicht notwendig sein. Herm Pendrak ist Sikau, wir werden ein Schiff erhalten.“ Lingard ignorierte den Einwurf Secans, der im Gegensatz zu Herm und Ise kein Lachen in seinem Gesicht trug. Lingard verstand genug von Politik und Intrigen bei Hofe, um zu wissen, dass die Triumvirin ihnen nicht einfach ein Schiff samt Mannschaft und Erlaubnis, nach Kahilis zu segeln, geben würde. Es würde diplomatisches Geschick erfordern, und nicht alte Legenden über vergangene Krieger und Kaiser.

„Wir bleiben bei unserem Plan. Wir gehen zusammen, Herm und Ise als meine Diener, du als meine Leibwache.“ Lingard sprach selten mit der Bestimmtheit und Autorität eines Herrschers, doch wenn er es tat, hinterließen seine Worte stets Wirkung. Ohne weitere Diskussionen nickten die anderen bestätigend und begannen, ihre Dienerkleidung anzulegen, die sie ebenfalls in der Stadt gekauft hatten. Herm würde leicht als sein Diener durchgehen, aber Ise war eine andere Geschichte. Die große rothaarige Valkallerin war ebenso außergewöhnlich schön wie selbstbewusst, niemand in ganz Keldur würde ernsthaft glauben, dass sie seine Hofdame war. Ise selbst hatte eingeworfen, dass man sie für seine Konkubine halten würde, was eine akzeptable Tarnung war. Für einen Moment hielt er bei dem Gedanken inne und stellte verschämt fest, dass ihn die Vorstellung, Ise als Konkubine zu haben, erregte. Doch dann kehrten seine Gedanken in die Wirklichkeit zurück. Ise würde weder seine Konkubine sein, noch die eines anderen Mannes. Sein Werben war ihr nicht verborgen geblieben auf ihrer Reise nach Alterra, doch am Ende waren sie Freunde geworden und nicht Gefährten. Sie war eine außergewöhnliche Frau und er hoffte sehr, dass auch sie ihr Glück eines Tages finden würde.

Dann war da noch Secan. Zu einem Zeitpunkt, an dem Lingard gedacht hatte, dass ihre seltsame Reisegruppe wohl kaum noch exotischer werden könnte, war der seltsame Krieger zu ihnen gestoßen, der sich selbst als Mitglied eines Geheimbundes aus der Zeit der Legenden sah. Nichts an ihm ließ ihn wie einen einfachen Leibwächter aussehen, er würde überall auffallen, allein schon durch die Aura von Gefahr, die ihn umgab.

Wir gehen höchstens als Zirkustruppe durch, niemals als Gesandte aus Meronis.“ Lingard gab sich keinen Illusionen hin. Es war ebenso wahrscheinlich, dass Tertia Gilnos ihnen ein Schiff gab, wie das sie sich vor ihren Augen mit einem Tempok paarte. Aber sie hatten keine Wahl, sie mussten es versuchen. Gemeinsam verließen sie das kleine Anwesen und gingen langsam zum Hauptsitz der Triumvirin des Hauses Gilnos.

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„Was bei allen Monden soll das heißen?“ Wütend schlug Ausgrabungsleiterin Camille von den Trionen auf den steinernen Altar des kleinen Tempels, den sie als Hauptquartier nutzte. „Die Männer sagen, dass die verschütteten Katakomben von Dämonen bewacht werden. Dämonen aus dem Zeitalter der Legenden. Sie wollen nicht weiter graben.“ Camille konnte nicht glauben, was sie da hörte. Waren alle um sie herum wahnsinnig geworden? „Dämonen aus dem Zeitalter der Legenden? Dort unten ist nichts außer Staub und Asche, auch wenn mein widernatürlicher Cousin in seinem Wahnsinn annimmt, dass dort ein Schatz zu finden sei. Und ich werde nicht zulassen, dass ich bei Hofe schlecht dastehe, weil man glaubt, dass ich meine Arbeiter nicht im Griff habe.“

Offensichtlich unkomfortabel sah Hauptmann Makus vor sich auf den Boden. Er stammte aus dem einfachen Volk und hatte sich ohne Adelstitel hochgearbeitet, was viel über seine soldatischen Fähigkeiten aussagte. Aber es bedeutete auch, dass er im Rang weit unter Camille stand, die direkt mit Triumvir Kaldwell verwandt war. Der hilflose, leicht ängstliche Blick in seinen Augen zeigte deutlich, dass er mit der derzeitigen Situation wenigstens ebenso unglücklich war wie sie selbst, und er zeigte auch, dass er wusste, auf wen sich ihre Wut entladen würde, wenn es zum Äußersten kam.

Die Arbeiter machten schon seit Tagen Schwierigkeiten. Obwohl Camille es verboten hatte, erzählten sie sich abends Schreckensgeschichten an den Feuern, wenn keine Wachen in der Nähe waren. Trotz drakonischer Strafen für Desertation waren bereits zwei dutzend Arbeiter und eine handvoll Soldaten in den Nächten verschwunden und jetzt hatten sie offenbar beschlossen, die Arbeiten ganz niederzulegen.

„Was genau ist passiert? Ist einer dieser Dämonen aufgetaucht und hat jemandem den Kopf abgebissen?“ Camilles Frage kam ebenso bissig aus ihrem Mund, wie sie es auch beabsichtigt hatte. Es war die Aufgabe des Hauptmanns, für Ruhe und Ordnung an der Ausgrabungsstätte zu sorgen und damit war er offensichtlich überfordert. „Zwei Männer wurden enthauptet gefunden, Herrin. Ich habe ihre Leichen selbst angesehen, was auch immer ihre Köpfe vom Rumpf trennte war scharf wie ein Henkersbeil. Das war keiner der anderen Arbeiter.“ Mit zusammengekniffenen Augen lauschte sie dem Bericht ihres Hauptmanns und begann noch im selben Augenblick, alle Möglichkeiten zu durchdenken. Sprach Makus die Wahrheit, konnte es nur einer der Soldaten gewesen sein. Vermutlich ein Saboteur, geschickt von einer der anderen Familien oder wahrscheinlicher, aus ihren eigenen Reihen.

Es gab genügend Verwandte in Phrygia, die ihr ihre Stellung neideten und viel dafür tun würden, dass sie scheiterte. Ebenso gut möglich war, dass Makus selbst ein Verräter war, der ihre Ausgrabung von innen sabotierte. Sie musste auf alles gefasst sein und konnte niemandem trauen. „Sagt mir, Makus, wart ihr sehr überrascht, dass die alten Katakomben nicht überflutet waren, wie wir erwartet hatten?“ Von dem plötzlichen Themenwechsel überrascht sah der Hauptmann sie direkt an und antwortete nur zögerlich. „Nun...ich...ich weiß nicht. Ich habe mich um die Sicherheit hier am Tempel gekümmert, ich verstehe nicht viel von Wasser und alten Bauwerken.“ Der hochgewachsene breitschultrige Mann schien unter ihrem bohrenden Blick immer weiter in den Boden zu sinken, doch sie konnte keine Lügen in seinen Augen erkennen. Er schien nicht zu den Saboteuren zu gehören, es musste jemand von Außen sein.

„Sag den Arbeitern, dass ich selbst in die Tunnel gehen werde. Ruf ein Dutzend deiner besten Männer, nur diejenigen, die ihre Nerven behalten können. Wir gehen da runter und rasseln etwas mit den Säbeln. Dann sehen die Leute, dass es keine Dämonen gibt. Wir müssen etwas Zeit gewinnen, um die Saboteure zu finden.“ Makus Blick sagte Camille umgehend, dass er nicht im Geringsten verstand, wovon sie redete, doch das überraschte sie nicht. Er war selbst nicht von Adel und wusste daher auch nichts von den Intrigen in ihrem eigenen Haus und denen der anderen Triumvire. Er mochte ein guter Soldat im Kampf sein, doch außerhalb der Schlacht war er nichts als ein naives Kind, ein hilfloser Spielball der Politik. Das alles spielte keine Rolle, er würde ihren Befehl ausführen und nur das zählte. „Dämonen, Pah.“ Wer auch immer in den Katakomben ihre Arbeiter enthauptete, würde sie schon bald kennen lernen.

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Blut spritzte im weiten Bogen aus dem Rumpf des Kriegers, als Kermos Axt ihm den Kopf mit einem einzigen Schlag vom Körper schlug. Die Schlacht war zu einem Gemetzel geworden, die Kampflinie hatte sich aufgelöst und nun kämpften beide Seiten in einem heillosen Chaos, Mann gegen Mann. Fluchend stieß der Klanlord einen weiteren Gegner mit dem Schaft seiner Axt gegen den Kehlkopf, während er unter dessen Speerhieb wegtauchte und stieg mit einem großen Schritt auf die Spitze des kleinen Felsens, der inmitten des Schlachtfeldes lag.

Verfluchte Ygmaren, mögen sie im Bauch der Mutter aller Tempoks verdaut werden.“ Endlich auf dem Felsen konnte er den Kampfschauplatz wieder überblicken. Zu seinen Füßen lagen die Leichen seiner Axtmänner, die als erste die Verteidigungslinie ihrer Feinde erstürmt hatten. Doch der Ansturm hatte sich als Fehler herausgestellt. Die gegnerischen Speerträger hatten sich nicht von den rasenden Kriegsbären einschüchtern lassen und standen noch immer in Formation, als die Axtmänner ihre Linien erreichten. Hunderte starben in der Mauer aus stählernen Spitzen, die sich ihnen entgegen richtete und es war ihnen nicht gelungen, die Reihen des Feindes zu durchbrechen.

Die Jünglinge auf Kermos rechter Flanke waren den Armbrustbolzen ihrer Gegner zum Opfer gefallen, so dass er doch die Kavallerie zum Sturm befehligen musste, seine Hoffnung auf einen leichten Sieg hatte sich schnell zerschlagen. Schließlich war es ihnen gelungen, die Schlinge um die Stellung ihrer Gegner langsam enger zu ziehen, als das Unmögliche geschehen war. Ygmarische Klankrieger kamen auf Bären reitend aus der Mine gestürmt und zerschlugen seine Kavallerie bereits im ersten Ansturm. Aus Furcht vor den Bären in Panik und Raserei getrieben gingen viele der Pferde mit ihren Reitern durch und nahmen der ohnehin schon geschwächten Reiterei jede Chance auf eine geordnete Verteidigung. „Bärenreiter. Wie beim großen Eiswurm ist ihnen das gelungen?“ Kermo kannte die alten Legenden wie jeder Krieger in Valkall. Geschichten von Kriegern, die auf Bären reitend in die Schlacht zogen, wurden schon an den Feuern erzählt, seit er denken konnte. Aber nie hätte er gedacht, dass er jemals welche zu Gesicht bekommen würde, geschweige denn gegen sie kämpfen musste. Es hatte Berichte gegeben von Klankriegern, die an Marla und ihre Prophezeiungen glaubten, ebenso wie an den Auserwählten, der einen Reißer als Reittier gezähmt hatten. Offenbar war es einigen von Marlas fanatischen Anhängern tatsächlich gelungen, Bären als Reittiere zu zähmen und auf ihnen in die Schlacht zu reiten. Sie hatten ihn überrascht und seinen Angriffsplan vereitelt. Nun gab es keine klare Kampflinie mehr und das Chaos war auf dem Schlachtfeld ausgebrochen, er musste seine Truppen neu formieren und zwar schnell.

Fluchend sah sich Kermo nach den Langbärten um, sie waren nun seine beste Chance auf den Sieg. Die Veteranen seines Klans waren allesamt grimmige Krieger und hatten noch nie in einer Schlacht den Rückzug angetreten. Bereits nach wenigen Sekunden erspähte er seine Elitekrieger, die wie geplant das Zentrum hielten. Die schwarzen Bärenfelle, die über ihre Schultern hingen, waren unverkennbar, ebenso wie die langen Bärte, die von ihnen mit besonderem Stolz getragen und gepflegt wurden.

Noch während Kermo überlegte, wie er zu den Elitekriegern gelangen könnte, sah er aus den Augenwinkeln eine schnelle Bewegung und ging augenblicklich in Kampfhaltung. Einer der Bärenreiter hatte ihn erspäht und ritt in schnellem Galopp auf ihn zu, den Speer im Anschlag zu einem tödlichen Stoß. Andere Männer wären vielleicht zurückgewichen oder vor Angst erstarrt bei dem Anblick des mächtigen Angreifers, dem drei weitere Ygmaren mit blutigen Handäxten folgten. Nicht aber der Klanlord der Tomaren. Unbewegt erwartete er den Angriff und stand in voller Konzentration auf dem Felsen, bis der richtige Moment gekommen war. Dann explodierte Kermo und wurde eins mit seiner Axt. Sich vom Felsen abstoßend sprang er dem überraschten Reiter entgegen und trat dabei gegen dessen Speer, der durch die Wucht ins Leere gelenkt wurde. Dann traf Kermos Axt den Schädel des Bären und zertrümmerte ihn mit seinem schweren Hieb, während er selbst gegen den Körper des Reiters schlug und zusammen mit ihm von der tot zusammenbrechenden Bestie fiel. Noch während Kermo aufstand, durchschnitt sein Dolch die Kehle des Reiters, einen Sekundenbruchteil später hatte er neben seinem Dolch in der Linken noch seinen Kriegshammer in der rechten Hand und warf einen durchdringenden Blick auf die drei Männer, die hinter dem Bärenreiter auf ihn zu gestürmt waren und nun abrupt inne hielten.

Kermo war schon sein ganzes Leben lang ein Krieger, bereits als junger Mann war er stärker, schneller und vor allem ruchloser als andere gewesen. Als seine älteren Brüder schließlich nacheinander in seltsamen Unfällen ums Leben kamen, erlangte er seine Bestimmung als Klanlord der Tomaren und führte seinen Klan zur Macht. Drei ängstliche Krieger waren keine Gegner für ihn. Ohne zu zögern stieß er einen Kampfschrei aus und stürmte den zögernden Männern entgegen.

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„Prinz Lingard von Meronis, mit seinem Gefolge.“ Die Ankündigung des Hofmeisters ließ Lingard augenblicklich zusammenzucken. Jetzt gab es kein zurück mehr, und er bereute inständig, dass er seine adelige Herkunft preisgegeben hatte. „Zu spät. Zeit für unseren Auftritt.“ Ein letztes Mal drehte er sich um und sah in die Gesichter seiner drei Begleiter, die mehr wie eine bizarre Gruppe von Schaustellern wirkten als sein Gefolge und konnte nur mühsam ein Lachen unterdrücken. „Wenn Vater davon erfährt, wird er mir das nie verzeihen.“ Lingard war sich wohl bewusst, dass er ohne Einwilligung seines Vaters, des Königs von Meronis, überhaupt nicht zu einer derartigen Audienz befugt war, aber das waren Sorgen für die Zukunft. Jetzt und hier mussten sie erst einmal die Audienz überstehen, ohne dass die Triumvirin sie als Hochstapler dem Henker übergab.

Sich an seine Erziehung erinnernd richtete er sich gerade auf, hob Nase und Kinn ein wenig an und versuchte erfolglos, einen teilnahmslosen Gesichtsausdruck aufzulegen. Dann schritt er durch den Vorhang in den Audienzsaal der Triumvirin. Der Anblick, der sich Lingard hinter dem Vorhang bot, war nicht weniger als atemberaubend. Mächtige Säulen liefen vom Halleneingang in den Raum und erweckten beim Betrachter den Eindruck, dass sie direkt auf den großen Thron zuliefen, der sich am Ende der Halle befand. Optische Tricks dieser Art hatten die Aufgabe, Besucher und Bittsteller direkt beim Eintritt einzuschüchtern und waren nicht neu für Lingard, dennoch konnte auch er sich der Wirkung nicht entziehen. Bewaffnete Wachen mit geladenen Armbrüsten standen vor jeder Säule, die sie passieren mussten und ließen keinen Zweifel daran, dass sie jeden sofort mit ihren Armbrustbolzen spicken würden, der auch nur eine falsche Bewegung in Richtung der Triumvirin machte.

Noch einmal atmete Lingard tief ein und schritt langsam auf den Thron zu, auf dem eine einzelne, kleine Frau saß. Hinter dem Thron standen zu jeder Seite vier weitere Leibwächter, deren bohrende Blicke allein einem unvorbereiteten Mann das Blut in den Adern würde gefrieren lassen, sowie ein einzelner älterer Mann direkt hinter der Triumvirin. Doch für Lingard waren die Sicherheitsvorkehrungen keine Überraschung, erst vor wenigen Tagen war die Vorgängerin und ältere Schwester der Triumvirin ermordet worden, er hatte nicht weniger Wachen als anwesend erwartet.

Noch während sie unter den stechenden Blicken der Wachen weiter auf den Thron zugingen, musterte er nun zum ersten Mal die Triumvirin selbst. Sie war noch jung, doch ihr ausdrucksloses Gesicht, das mehr wie eine Maske wirkte zeigte ihm, dass sie bereits viel Erfahrung in der Politik sammeln konnte und vermutlich bereits als Kind auf eine derartige Verantwortung vorbereitet worden war. „Beinahe wie ich, nur das ich dem goldenen Käfig entkommen bin.“ Sie war hübsch auf ihre Art und das blaue Kleid unterstrich ihre schlanke Figur, während sie starr auf dem Thron saß und auf ihn herabsah. Dann musterte sie auch seine Begleiter und für einen Moment war ihm, als würde er ein erkennendes Aufblitzen in ihren Augen sehen. „Ob sie einen von uns kennt? Vielleicht Secan, sie hatte ihn sicher in der Arena gesehen.

Dann blieb er in gebührendem Abstand vor ihrem Thron stehen und vollführte eine einwandfreie höfische Verbeugung, deren Perfektion ihn selbst überraschte, offenbar hatte er nichts von seiner Ausbildung vergessen. Herm und Ise waren wie abgesprochen einige Schritte hinter ihm stehen geblieben und hatten sich zusammen mit ihm verneigt, während Secan in der Rolle seiner Ehrenwache bewegungslos hinter ihm blieb. „Eure Hoheit. Ich überbringe Euch die besten Wünsche meines Königs und des Volkes von Meronis. Wir hoffen, dass Eure Krönung die freundschaftlichen Beziehungen unserer Völker weiter vorantreiben wird.“ Für einen Augenblick konnte Lingard einen Anflug von Belustigung in den Augen der jungen Triumvirin sehen, sie wusste ziemlich genau, dass er nicht als offizieller Botschafter seines Vaters hier war. Doch hielt sie sich genauso an das höfische Protokoll wie er auch, was ihn daran erinnerte, wie sehr er diesen goldenen Käfig verabscheute. „Ihr seid der Familie Gilnos willkommen, Prinz Lingard, und wir bedanken uns für Eure Wünsche wie für die Eures Vaters. Möge der Bund der Freundschaft zwischen uns durch Euren Besuch noch enger geknüpft werden.“

Das Auftreten der jungen Frau auf ihrem Thron beeindruckte ihn zunehmend. Trotz der akuten Gefahr, in der sie sich befand und trotz ihrer Jugend besaß sie Augen, die furchtlos und intelligent wirkten. Nichts würde die Frau auf diesem Thron einschüchtern können. „Oder hat sie ihre Schwester selbst ermorden lassen und ist deswegen frei von Furcht?“ Der Gedanke kam Lingard nicht ohne Grund. In vielen adligen Familien ging die höchste Gefahr von jüngeren Geschwistern aus, die in der Erbfolge aufrücken wollten, doch in diesem Fall glaubte er nicht daran. Ihr ganzes Auftreten, der Blick den sie ihm zuwarf, all das entsprach nicht dem Auftreten eines ehrgeizigen Mörders. Plötzlich kam ihm ein beängstigender Gedanke. Falls der Mörder ihrer Schwester auch sie umbringen wollte, war nun eigentlich ein guter Zeitpunkt. Lingard und seine Begleiter wären gute Sündenböcke, falls ihr während der Audienz etwas zustoßen würde.

„Attentäter!“ Secans Schrei durchschlug die Stille wie ein Gongschlag. Bevor Lingard überhaupt reagieren konnte, sprang der weißhaarige Krieger an ihm vorbei auf die Triumvirin zu und wehrte dabei noch in der Luft zwei metallische Wurfgeschosse mit seinen Krallen ab, die von der Decke der Halle auf sie zugeflogen kamen. Weitere Metallsterne flogen in einem Hagel zeitgleich auf ihre Leibwächter, während sich in schwarz gekleidete Mörder von oben an herunter geworfenen Seilen auf die Armbrustschützen stürzten.

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Sichtlich beeindruckt schritt Camille durch die Katakomben. „Unglaublich. Wie eine unterirdische Stadt.“ Es war das erste Mal, dass sie sich persönlich hinab begeben hatte in den Ort der Ausgrabungen, und obwohl sie eine Beschreibung der bisher freigelegten Höhlen und Gänge auf Pergament gesehen hatte, raubte ihr der Anblick den Atem. Sie hatte kein wirkliches Interesse an den Ausgrabungen gehabt, die ihr von ihrem Cousin Kaldwell aufgetragen wurden, und bei unterirdischen Gängen eher an in Stein gehauene Höhlen gedacht. Tatsächlich aber waren es beinahe kunstvoll gearbeitete Passagen durch den Fels, die wie Gänge in einem Palast wirkten, gesäumt von Säulen, die mit mannsgroßen steinernen Figuren verziert waren. Anders als in heutigen Palästen stellten die Figuren jedoch keine mythischen Wesen dar, sondern allesamt menschliche Krieger, die in unterschiedlichsten Posen große Äxte in ihren Händen hielten. „Als ob sie die Katakomben bewachen würden. Was für eine wundervolle Arbeit.

Während sie weiter die steinernen Wachen bewunderte, folgten ihr Makus und sechs seiner Männer still auf dem Weg zum aktuellen Ausgrabungsort, wo die geköpften Leichen gefunden worden waren. Sie alle trugen ihre Rüstungen und waren mit Schwert und Schild bewaffnet, Makus selbst hielt eine kleine Offiziersarmbrust im Anschlag. Es war eine jener Armbrüste, die ein kleines Magazin hatte und sich durch eine einfache Repetiermechanik schnell nachladen ließ. Er wirkte nervös und schien mit seinen wachsamen Augen in alle Richtungen gleichzeitig zu blicken. Camille hatte ihm erklärt, warum sie Saboteure in den Gängen vermutete und das es hier unten sicher keine Dämonen gab, doch sie konnte die Angst in seinen Augen sehen. Er gehorchte ihr, aber wenn es nach ihm gegangen wäre, würden sie jetzt nicht durch die von einer endlosen Reihe von Fackeln erleuchteten Gänge gehen.

Sie selbst trug ebenfalls ihre kunstvoll verarbeitete Lederrüstung samt Helm mit Federbusch, der sie klar als Anführerin auswies. Damit war sie zwar ein leichtes Ziel für einen Pfeil aus dem Hinterhalt, aber sie glaubte nicht an einen derartigen Angriff. Es war das Ziel der Saboteure, Angst zu verbreiten und es so aussehen zu lassen, als ob dunkle Mächte in den Gängen am Werk waren, ein versteckter Pfeil wäre da kaum ein geeignetes Mittel.

Nach einem längeren stillen Fußmarsch erreichten sie schließlich den letzten Punkt, an dem die Ausgrabungen zum Stocken gekommen waren. Mehrere Gänge, ähnlich dem, in dem sie jetzt gingen, mündeten in einer großen Halle, die zum Teil eingestürzt war. Mächtige Säulen hatten einst ihr Dach getragen, doch das musste schon Ewigkeiten her sein. Nun wurde die Decke von eingezogenen Holzbalken gestützt und der Schutt war bereits an mehren Stellen aus der Halle herausgebracht worden. „Irgendwo hier ist bestimmt ein versteckter Durchgang, und auch das Versteck der Saboteure. Ich werde euch schon finden, ihr kleinen Ratten.“ Camille war nicht unvorbereitet in die Katakomben gegangen. Sie hatte Makus und den anderen nichts erzählt, aber sie hatte einen klaren Plan. Sie war nicht in ihre Position gekommen, weil sie die Schlafzimmer von mächtigeren Männern teilte, wie man ihr nachsagte. Ihre Erfolge waren stets das Resultat von guter Planung und Improvisationsvermögen, sie würde auch hier erfolgreich sein.

Mit leiser Stimme teilte sie den Männern ihre Aufgaben zu und nur Minuten später prasselte ein kleines Feuer in der Mitte der Halle. Dann nahm sie den Beutel mit dem blauen Pulver aus ihrer Tasche, den sie extra für diesen Zweck mitgebracht hatte und warf eine Handvoll in die Flammen. Der gewünschte Effekt setzte umgehend ein und blauer Rauch stieg aus dem Feuer empor. Langsam bewegte sich der Rauch durch die Halle und begann, sich in einer kreisenden Bewegung unter der Decke entlang zu ziehen. Mit zusammengekniffenen Augen folgte sie der Bewegung des Rauchs, bis sie schließlich das Erhoffte sah. Eine kleine Rauchschwade, schwer zu sehen, aber doch vorhanden, bewegte sich in den Schutt und verschwand anscheinend in einer der Wände. „Dort ist es. Los, die Stemmeisen.“ Der Luftzug hatte den geheimen Durchgang sichtbar gemacht, jetzt mussten sie schnell handeln. Auf Camilles Befehl hin sprangen zwei der Männer umgehend zu der vom Rauch gekennzeichneten Stelle und begannen, mit ihren Stemmeisen die Wand aufzubrechen. Zwei weitere Soldaten positionierten sich mit angeschlagenen Waffen direkt hinter ihnen, während Makus den Bereich mit seiner Armbrust abdeckte. Die verbleibenden beiden Männer deckten den Gang, aus dem sie gekommen waren ab, um Überraschungen von hinten zu vermeiden. Zufrieden sah sie auf ihre Männer, während sie langsam eine Öffnung in der Wand freilegten.

Schon nach den ersten weg gestemmten Steinen wurde der Luftzug stärker und zog den blauen Rauch nun auch deutlich sichtbar in die zu erkennende Öffnung. Die plötzliche Bewegung im Halbdunkel ließ Camille erstarren. Es waren nicht die erwarteten Saboteure, die sich hinter der aufgebrochenen Wand verbargen, stattdessen bot sich ihnen ein Anblick, den keiner von ihnen erwartet hatte. Eine Erscheinung sah durch die freigelegte Öffnung, die so fremdartig und unnatürlich aussah, dass Camille und ihren Begleitern der Atem stockte. Wie ein verschwommener Schatten schwebte die Figur durch das Loch in der Wand und ließ die Soldaten augenblicklich zurückweichen. Dann musterte das schemenhaft menschlich aussehende Wesen die atemlos erstarrten Soldaten und schließlich Camille, bevor es in einer unnatürlich wirkenden Stimme sprach. „Mein Schatten wacht über das Buch. Ihr habt kein Recht auf das Buch. Mein Schatten ist euer Tod.“

Noch während Camille ungläubig auf den Geist vor ihr starrte und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln, klatschte das Wesen kräftig in seine Hände. Der klirrende Klang lief wie eine Welle durch die Halle und riss Camille beinahe durch seine Wucht von den Beinen. Dann geschah das Unglaubliche. Die steinernen Figuren, die an den Säulen der Halle standen, fingen plötzlich an, sich zu bewegen und wurden lebendig. Wie betäubt sah sie die auf axtbewehrten Steinkrieger, die sich von den Säulen lösten und langsam mit laut hallenden Schritten und erhobenen Äxten auf sie und ihre Männer zugingen. „Raus hier, nichts wie raus.“ Ein letztes Kommando schreiend löste sich Ausgrabungsleiterin Camille von den Trionen aus ihrer Starre und begann in wilder Flucht, in die unterirdischen Gänge zu rennen.

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Mit einer geübten Bewegung wischte Kermo das Blut von seiner Axt und warf einen Blick auf das Schlachtfeld. Hunderte tote und tausende verletzte Krieger bedeckten die Ebene zwischen den Zwillingsfingern und der umkämpften Mine. Die Schlacht hatte den ganzen Tag gedauert und war von beiden Seiten außerordentlich brutal und ohne Rücksicht geführt worden. Obwohl zahlenmäßig unterlegen hatten seine Feinde ihre Stellung für viele Stunden erfolgreich verteidigt, bevor sie schließlich den Todesstoß bekamen.

Nachdem Kermo endlich die Langbärte erreicht hatte, zerschlug er an ihrer Spitze die Verteidigungsstellung seiner Gegner und überrannte die letzten ihrer Krieger. Er hatte gesiegt, wieder gesiegt. Seit Beginn der Kampfhandlungen hatte er noch nie eine Schlacht verloren, aber auch noch nie so viele Verluste hinnehmen müssen wie heute. Seine Strategie eines schnellen Sieges ging nicht auf, langsam dämmerte dem mächtigen Klanlord, dass dieser Krieg sehr viel länger und verlustreicher werden würde, als er es geplant hatte.

Verfluchte Marla und ihre Prophezeiungen.“ Kermo hatte keinen Zweifel daran, dass es die alte Runenleserin war, die seinen Feinden ihren Mut und die Kraft zum Kampf gab. Viele Tomaren kämpften nur, weil sie ihrem Klanlord Teschokk folgten, aber einige taten es auch aus Überzeugung, dass sie für den Auserwählten kämpften. Noch waren es nur wenige, aber auch in seinen eigenen Zelten wurden Stimmen laut, die sich mit den alten Schriften befassten.

Der Kaldarrer muss sterben. Ich wünschte, Jorn wäre zurück und würde mir seine Leiche bringen.“ Kermo hatte nur zwei Kinder, Ise und Jorn. Nachdem seine Frau gestorben war, war seine Entscheidung gegen eine erneute Heirat gefallen. Er wähnte seine Kinder gut beschützt von den zwei Amuletthälften, die er ihnen gegeben hatte. Nie hätte er gedacht, dass sich eins seiner Kinder je gegen ihn richten würde. „Kümmert euch um die Verwundeten und die Tomaren, wir machen keine Gefangenen.“ Mit grimmigem Gesichtsausdruck vernahm Urka, einer der Hauptleute der Langbärte, seinen Befehl. Er würde in den nächsten Stunden viele Leben beenden, wenn er und seine Männer mit ihren Äxten durch die Reihen der Verletzten gingen. Kermo hatte den Befehl nicht gegeben, weil er grausam war und auch nicht, weil er die Tomaren hasste. Sie waren valkallische Krieger und hatten überaus tapfer gekämpft, aber er durfte nicht zulassen, dass sie von ihren Taten berichten konnten.

Während seine Elitekrieger ihr blutiges Werk begannen, sammelten sich langsam die anderen Überlebenden an seiner Stellung. Gerade mal eine handvoll Kavalleristen hatte die Schlacht unbeschadet überstanden und die Jünglinge waren fast vollständig aufgerieben worden. Die wilden Bären waren allesamt tot, ihre Führer würden neue Tiere finden müssen. Immerhin hatten neben den Langbärten die meisten Krieger seiner Speergruppen die Schlacht überstanden, aber Kermo wusste, dass er sie in ihrer jetzigen Verfassung in keine weitere Schlacht würde führen können. Er würde hier im Norden sein Lager aufschlagen müssen und neue Kräfte sammeln. Nahrung, Verbandszeug, neue Reittiere, Rüstungen und Waffen, all diese Dinge mussten organisiert werden, bevor er wieder nach Süden vorstoßen konnte.

Noch während er über seine logistischen Probleme nachdachte, weckte ihn ein plötzlicher Schrei aus seinen Gedanken. „Seht dort. Ein Riesenadler, er kommt auf uns zu.“ Überrascht sah Kermo zum Himmel. Er hatte schon Riesenadler gesehen, aber zumeist in den südlicheren Gebirgen an der Grenze zu Meronis, wo ihr Kreisen am Himmel ein typischer Anblick war. Der Adler, der sich nun auf sie zubewegte, hielt offenbar eine große Beute in seinen Klauen, was sein Verhalten noch mysteriöser machte. Ein Tier, das seine Beute erlegt hatte, kehrte normalerweise umgehend in seinen Hort zurück, es würde niemals auf eine Menschenmenge wie diese zufliegen.

Als der Adler näher kam, bestätigte sich Kermos Verdacht, umgehend gab er Befehl an seine Männer, die Armbrüste zu senken und dem Adler Platz für die Landung zu machen. Es war Belk, einer der Runenleser, der Jorn und seine Kampfgruppe nach Süden begleitet hatte. Die Tatsache, dass er allein zurück kam, verhieß sicher nichts Gutes. Angestrengt versuchte Kermo zu erspähen, was er in seinen riesigen Klauen hielt, aber sein flaues Bauchgefühl sagte ihm bereits, was es war.

Furcht machte sich in ihm breit und ließ Sorgenfalten auf seiner Stirn entstehen. Kein noch so starker Gegner hätte dem mächtigen Klanlord so viel Furcht einjagen können wie der Gedanke daran, dass sein einziger Sohn verletzt sein könnte. Ohne zu zögern ließ er einen breiten Landeplatz freimachen und die Runenleser rufen, die sich um die Verwundeten kümmerten. Belk war nun nahe genug, dass man Jorns reglosen Körper in seinen Klauen erkennen konnte und die Furcht verknotete seinen Magen noch weiter. „Mein Sohn. Wenn ihm etwas zugestoßen ist…“ Noch während Belk vor ihm landete und Jorns Körper sanft zu Boden legte, schlug Kermos Furcht in Wut um.

„Belk! Was ist geschehen? Was ist mit meinem Sohn?“ Wütend stapfte er auf den Runenleser zu, noch während dieser sich zurück in seine menschliche Form verwandelte. „Mein Lord, euer Sohn ist wohlauf. Ich habe ihn in einen heilenden Schlaf versetzt.“ Kermo kannte Belk schon seit Jahren und obwohl der Klanlord der Tomaren nur wenigen Runenlesern traute, hatte er Belk in diesen engen Kreis mit aufgenommen. Das änderte aber nichts daran, dass er nun das Ziel seiner Wut war und einiges zu erklären hatte. Mit einer energischen Geste winkte er seine Adjutanten zu sich „Bringt Jorn in die Höhle und riegelt sie ab. Nur die Heiler dürfen zu ihm, der Rest der Männer macht hier weiter.“ Kermo hatte nicht vor, sich hier vor seinen Männern Belks Geschichte anzuhören. Die Tatsache, dass die beiden alleine zurückgekehrt waren ließ vermuten, dass ihr Auftrag, den kaldarrischen Hund zu töten, nicht günstig verlaufen war.

Ein scharfer Blick aus Kermos Augen, der andere Männer hätte erzittern lassen, hinterließ keine Wirkung bei dem außergewöhnlich begabten Runenleser. Der Mann war fähig und tapfer, zwei Eigenschaften die Kermo respektierte. Mit einem Kopfnicken wies er ihn an, ihm zu folgen und ging in die Höhle, in der Jorn inzwischen von zwei Runenlesern begutachtet wurde. „Er schläft einen heilsamen Schlaf, Herr. Wir können keine bleibenden Verletzungen finden.“ Ein schneller Blick bestätigte Kermo, dass sein Sohn noch immer seine Amuletthälfte trug und Erleichterung machte sich in ihm breit. Er war wohlauf. „Weckt ihn auf. Und du, Belk, erzähle mir was passiert ist.“

Der ältere Runenleser stellte sich vorsichtig neben Jorn, der nun langsam durch Magie geweckt wurde, und erzählte von der langen Reise seiner Kampfgruppe bis zu dem Punkt, wo Jorn dem Kaldarrer im Duell unterlag. Erneut ergriff Kermo das heiße Gefühl von Wut. Es war nicht so sehr der Verlust der Kampfgruppe, der ihn störte, die Krieger konnten ersetzt werden. Es war die Niederlage seines Sohnes, die ihn wirklich hart traf. „Wie konnte der Kaldarrer siegen?“ Alle seine Lehrer, sogar Marla selbst, hatte in höchsten Tönen von Jorns Fertigkeiten in Kampf und Magie gesprochen. Wie hatte er den Kampf verlieren können? „Mein Lord, lasst mich sprechen. Der kaldarrische Magier ist … außergewöhnlich. Er ist kein normaler Mann, die Niederlage war keine Schande.“ Mit einer herrischen Handbewegung beendete Kermo Belks Entschuldigungsversuche. „Du wirst Jorn mitnehmen in die Krallenfeste. Dort erhält er Unterricht von morgens bis abends, keine Pausen. Ich schicke dir weitere Lehrer zur Unterstützung. Und Belk, du bist verantwortlich für ihn. Sollte er sein nächstes Duell wieder verlieren, wirst du es mit deinem Kopf bezahlen.“

Langsam verdüsterte sich auch der Himmel, passend zu Kermos Stimmung. Nichts lief, wie es sollte. Von der Niederlage seines Sohnes gedemütigt und von seiner Tochter verraten. „Hat sie mich wirklich verraten? Oder spielt sie nur ein verwegenes Spiel?“ Mit seinen Gedanken bei seiner Tochter starrte Kermo nach Südosten. Dort war Ise, und dort war auch sein Todfeind. Herm Pendrak würde sterben, früher oder später.

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Fluchend sprang Lingard neben den Thron der Triumvirin und griff reflexartig nach seinem nicht vorhandenen Bogen. „Verdammte Zeremonienkleidung.“ Suchend tasteten seine Hände nach einer Waffe und fanden den kleinen Zierdolch an seinem Gürtel. Mit der lächerlich kleinen Waffe in der Hand musste er feststellen, dass er niemandem eine Hilfe sein würde. Ohne Bogen oder eine vernünftige Nahkampfwaffe konnte er sich kaum selbst verteidigen, geschweige denn die Triumvirin schützen, ganz davon abgesehen, dass seine Samtschuhe ihm keinerlei schnelle Bewegungen erlaubten.

Glücklicherweise hatte Secan diese Probleme nicht. Als Lingards Leibwächter war er in seiner Kampfmontur zur Audienz gekommen und im Moment der einzige unter ihnen, der voll bewaffnet war. Doch auch Herm und Ise waren schnell in Aktion getreten. Noch im Moment des Angriffs hatte sich eine schwarze Kugel um Tertia Gilnos und ihren Thron gebildet, während Strahlen aus Feuer aus den Händen der rothaarigen Magierin gegen die versteckten Gegner an der Decke der Halle schossen.

In Sekunden hatte sich die Audienzhalle in ein Schlachtfeld verwandelt, als sich schwarz vermummte Attentäter an Seilen von der Decke herab auf die Wachen stürzten. Die Leibwächter der Triumvirin, die links und rechts neben dem Thron standen, waren bis auf den alten Mann bereits dem ersten Geschosshagel zum Opfer gefallen, während sich die Wachen an den Säulen der Halle nun im Nahkampf mit einer Übermacht von Mördern befand. Lingard erkannte die Männer in schwarz sofort, es waren dieselben Attentäter, die den Tempel der Sternensinger angegriffen und seinen besten Freund schwer verletzt hatten.

Am Ungewöhnlichsten aber war die Reaktion der Triumvirin selbst. Am Anfang dachte Lingard noch, dass sie möglicherweise vor Angst erstarrt wäre, aber ein Blick in ihr unbewegtes Gesicht lehrte ihn das Gegenteil. Tertia Gilnos war nicht überrascht von dem Angriff, sie hatte mit ihm gerechnet. „Bei allen Monden. Sie hat den Köder gespielt.“ Ruhig und in der Pose einer Herrscherin betrachtete sie unbeteiligt das Kampfgeschehen um sie herum, ohne ihre Sitzposition auf dem Thron auch nur im Geringsten zu ändern. Der laute Klang eines Alarmhornes bestätigte Lingards Vermutung, nur einen Sekundenbruchteil später öffneten sich breite Flügeltüren in den Seiten der Halle und machten Platz für Dutzende schwer bewaffnete Männer in den Rüstungen der Familienwache, die sich sogleich in den Kampf stürzten.

Das Eingreifen zusätzlicher Wachen auf ihrer Seite veränderte das zahlenmäßige Gleichgewicht wieder zu ihren Gunsten, doch Lingard wusste aus ihrer Begegnung in Paitai, dass die vermummten Attentäter sich auch von einer Übermacht nicht einfach überwältigen lassen würden. Die kleingewachsenen Männer wirbelten mit ihren kurzen einschneidigen Schwertern durch die Reihen der Gilnos Familienwachen und gewannen schnell Boden in Richtung des Throns, auf dem die Triumvirin saß.

Unzählige Geschosse in Form metallischer Sterne und Messer schlugen auf Herms schwarzem Schild ein und dem kaldarrischen Magier war anzusehen, wie viel Kraft es ihn kostete, seinen Schutz aufrecht zu erhalten. Ise hatte inzwischen selbst einen roten Schutzwall errichtet, der Herm, ihn und sie selbst schützte, lediglich Secan befand sich außerhalb jeglichen magischen Schutzes und tanzte den Tanz seiner Klingen. Doch anders als im Kampf gegen die Straßenräuber im Hafenviertel der Stadt waren die Attentäter gleichwertige Gegner und hatten den einsamen Krieger schon bald mit mehreren ihrer Kämpfer umringt.

„Ise, wir müssen ihm helfen!“ Ohne zu zögern gab die Magierin auf seinen Zuruf ihren Schild auf und fasste ihm auf die Schulter. Es war ihm, als könnte er die magische Kraft spüren, die von Ises Hand über seine Schulter in seine Arme floss und dort in hellen Flammen um seine Fäuste explodierte. „Beim großen Feuer, was würde ich jetzt für meinen Bogen geben.“ Obwohl er nur rudimentäre Erfahrung im waffenlosen Kampf hatte, ließ er umgehend seinen Zierdolch fallen und rannte mit erhobenen Fäusten auf Secan und seine direkten Gegner zu. Inzwischen hatte sich die Kampflinie bedrohlich in Richtung des Throns verschoben. Eine Gruppe der Attentäter hielt die Verstärkungen an den Seitentoren auf, während die restlichen Männer in schwarz den Druck in Richtung der Triumvirin erhöhten, und das erfolgreich. Secan war das letzte Hindernis zwischen ihnen und ihrem Ziel, Lingard musste ihm helfen und mehr Zeit gewinnen.

Mit einem Kampfschrei sprang er einen der Attentäter von hinten an, doch seine Fäuste schlugen nur ins Leere. Mit einer unfassbar schnellen Reaktion war der Mann unter seinem Schlag weggetaucht, den er eigentlich gar nicht hätte sehen können. Beinahe im selben Moment schlug ein Bein in Lingards Magengrube ein und schickte ihn hart zu Boden, wo er bewegungslos nach Luft rang. Doch sein Angriff war nicht umsonst gewesen, Secan hatte die Ablenkung genutzt, einen weiteren Gegner mit seinen Krallen aufgeschlitzt und sein Blut in der Halle verspritzt. Es waren noch drei von ihnen, die sich in unmittelbarer Nähe der Triumvirin befanden, die Anderen wurden inzwischen in den Kampf gegen die Wachleute gezogen, die langsam Oberhand gewannen.

Dann sah er es. Einer der Männer bewegte sich um Secans Flanke, während die anderen beiden den Krieger in die entgegengesetzte Richtung drückten. Der Mann in schwarz griff die Triumvirin in demselben Moment an, als auch Lingard wieder aufsprang. Das Schwert des Attentäters schlug mit voller Wucht gegen Herms Schild, der umgehend aufflackerte und einen Aufschrei des jungen Magiers verursachte. Wie in Zeitlupe sah Lingard Herm zusammenbrechen und den Schild um die Triumvirin verschwinden, die noch immer bewegungslos auf ihrem Thron saß und keine Anstalten machte, zu fliehen. Mit einem weiteren Sprung brachte sich der Mörder direkt vor ihr in Position und hob sein Schwert zum tödlichen Schlag. Lingard wusste im Moment seines Absprungs, dass er nur eine Chance hatte. Mit seinem Oberkörper voraus sprang er dem Mörder in seine Flanke und landete eine harte Linke direkt gegen seinen Kopf. Unter normalen Umständen schon wäre es ein harter Schlag gewesen, doch mit der Feuermagie Ises verstärkt tötete der Treffer seinen Gegner augenblicklich und ließ seinen Leichnam in Flammen aufgehen.

Erleichtert stand er vor dem Thron und sah, wie sowohl Secan als auch die Wachen Oberhand im Kampf gewannen, die akute Gefahr für die Triumvirin war vorüber. Bis ihm sein Bauchgefühl vor einer nicht sichtbaren Gefahr warnte. Ohne zu zögern drehte er sich blitzartig um und sah, wie das Schwert des verbliebenen älteren Leibwächters, der als einziger den Geschosshagel der Angreifer überlebt hatte, auf die Triumvirin herabsauste. Ohne jede Zeit zum Nachdenken handelte Lingard instinktiv und warf sich schützend auf die junge Frau. Das Schwert schnitt mit einem Zischen durch die Luft und traf ihn direkt in seine rechte Schulter. Er konnte fühlen, wie der Stahl erst sein Fleisch zerschnitt, dann auf einen Knochen traf und ihn zertrümmerte. Mit seinem Körper über der Triumvirin liegend sah er ihr direkt in das ausdruckslose Gesicht und für einen Moment konnte er aufgewühlte Emotionen und Dankbarkeit in ihren Augen sehen. Dann traf ihn der Schmerz und Dunkelheit legte sich über den Waldwächter.