Das schwarze Buch
Beunruhigt sah Perkles hinab auf die große Oase und das seltsame Bauwerk in der Mitte des kleinen Sees. Er hatte Geschichten gehört über das Orakel, doch nun führte ihn sein Dienst für den Kristallturm zum ersten Mal persönlich zu dem bizarren Ort mitten in der heißen Wüste Alterras. Anders als andere Seher der Welt hatte das Orakel keinen direkten Herrscher, dem es unterstand und wurde stattdessen von einer Armee bewacht, die sich aus den Steuern und Gebühren für seine Weissagungen finanzierte. „Aber wovor sollte man es beschützen? Eine stählerne Pyramide ohne Eingang, wer sollte ihm gefährlich werden?“
Perkles hatte sich in der Vergangenheit schon öfter gefragt, warum Rakul das Orakel nicht in seinen Bund der Wächter integriert hatte. Doch sein Meister hatte sich entweder gar nicht oder überaus wortkarg über die sehende Pyramide des Südens geäußert. Perkles hatte nicht nachgehakt, er war Rakuls erster Jäger, seine rechte Hand, und er würde die Entscheidungen seines Meisters nicht in Frage stellen.
Trotzdem war er nun hier, auf Befehl seines Meisters, unter der brennenden Sonne Alterras. Er hatte sich während seiner Reise aufmerksam umgehört, andere Reisende unauffällig ausgefragt und Informationen gesammelt, ohne selbst aufzufallen. Das war seine Spezialität und es gab nur wenige, die darin so gut waren wie er. Nicht, dass er Angst vor einer direkten Konfrontation haben müsste, es gab nur eine Handvoll Kampfmeister auf der Welt, die es mit ihm würden aufnehmen können, doch es entsprach nicht seinem Auftrag, aufzufallen.
Offenbar verließen in den letzten Wochen viele der Männer und Frauen, die jahrelang in der Oase gelebt hatten, plötzlich ihre Behausungen und reisten ziellos in die Welt, um jedem der es hören wollte oder nicht den Anbruch der Zeit des Erwachens zu verkünden. Perkles war nicht überrascht, spätestens seit der schwarzen Nacht war klar, dass man es nicht mehr lange würde geheim halten können. Wenn es seinem Meister nicht bald gelang, die Barriere wieder zu verstärken, würde man schon bald den schwarzen Mond Karas am Nachthimmel sehen können.
„Aber noch ist es nicht soweit. Wenn wirklich wieder ein schwarzer Magier auf der Welt wandelt, werde ich ihn hier finden.“ Er war der Spur der Mörder bis hierher gefolgt, von Begos aus war er so schnell er konnte nach Meronis gereist, dort hatte er die Attentäter nur knapp verpasst. Seinen Recherchen zufolge hatten gedungene Mörder unter Führung eines grünen Magiers das Kloster der weißen Blume angegriffen und Meister Yi getötet. In Magystra hatten sie sich mit einem schwarzen Magier getroffen und Borresch, den Koordinator der Wächter ermordet. Dann führte sie ihr Weg offenbar nach Meronis, wo sie den Tempel der Sternensinger überfielen. Perkles Recherchen in Meronis hatten konfuse Ergebnisse geliefert, es war anscheinend zu einem Kampf zwischen den Attentätern gekommen. Zu seinem Bedauern hatte man ihm den Zugang zum Tempel und den Überlebenden des Anschlags verwehrt, so musste er sich sein Bild basierend auf Erzählungen von Dritten machen. Solche Erzählungen waren oft widersprüchlich und verwirrend, eines jedoch hatte sofort seinen inneren Alarm erklingen lassen. Es war nur eine Erzählung in einer Taverne gewesen, von einem Reisenden, der die Geschichte wiederum von einem anderen gehört hatte und damit extrem unglaubwürdig. Offenbar hatte ein reisender Händler einen Mann gesehen, der auf einem Horntiger geritten war und ließ sich nicht davon abbringen, dass ihn keine Täuschung genarrt hatte.
„Kann das wahr sein, hat der schwarze Magier die Fähigkeit des Seelenbundes wiederentdeckt, so schnell?“ Perkles wusste viel über die Fähigkeiten der Magier des Karas, vermutlich mehr wie der Magier des schwarzen Mondes selbst, den er jagte. Doch hätte er nicht vermutet, dass der Gejagte so schnell lernen würde.
Schließlich beendete er seine grüblerischen Gedanken und begann, den Pfad zur Oase hinab zu reiten. Er hatte an der Grenze zu Alterra ein Kamel erstanden, wohl wissend, dass es ihm in der Wüste weit nützlicher sein würde als jedes noch so gute Pferd und so sah er beinahe wie ein Einheimischer aus, als er sich den Wachen am Eingang zur Oase näherte. Die Wachleute standen zu Fünft auf dem breiten Weg und machten ihm beinahe gelangweilt ein Zeichen, anzuhalten. „Es kostet dich ein Silberstück, die Oase zu betreten, Freund, Und dabei ist keine Garantie, dass dich das Orakel empfängt. Diejenigen, denen es weissagen will, werden von ihm gerufen.“
Ohne lange zu zögern stieg Perkles von seinem Kamel und legte dem Wachmann, der gesprochen hatte, ein Silberstück in die Hand. Er achtete dabei genau darauf, dass sein Gegenüber die Fülle seines Beutels sehen konnte, der prall voll Gold und Silber war. An dem verbissenen Gesichtsausdruck des Wachmannes konnte er sofort sehen, dass er die erhoffte Wirkung erreicht hatte, der Mann ärgerte sich offensichtlich darüber, nicht mehr Zoll verlangt zu haben. Perkles war stets ein Meister der Manipulation gewesen und so sprach er den Mann direkt an. „Sagt mir, ich suche einen Mann, der einen Horntiger gebändigt hat, um reiche Geschäfte mit ihm zu machen. Ich hoffte, ihn hier zu finden, jede Information wäre mir bare Münze wert.“ Überrascht sah ihn die Wache an. „Hessimir ist mein Name, Hauptmann der Wache des Orakels, mein Herr. Und ja es stimmt, vor etwa drei Tagen ritt ein Mann auf einem Horntiger zum Orakel. Ich habe noch niemals etwas Derartiges gesehen, er wurde auch direkt vom Orakel empfangen und verschwand genau so schnell wieder wie er gekommen war. Ich dachte mir, dass war ein einmaliger Anblick, bis der zweite Mann auf dem Reißer kam. Es ist wohl wirklich die Zeit des Erwachens, wenn Männer lernen, auf Bestien zu reiten wie in den alten Legenden.“
Verdutzt sah Perkles den Mann an, der ihm mit einem wahren Redeschwall geantwortet hatte. „Zwei Männer auf Bestien? Ein Reißer, unmöglich.“ Er war nicht oft sprachlos, genau genommen war es viele Jahre her, seit Perkles das letzte Mal dermaßen überrascht aus seinem Konzept gebracht worden war. Wortlos gab er dem Mann ein Goldstück und ermutigte ihn, fortzufahren. Mit weit aufgerissenen Augen ob des Schatzes in seiner Hand sprudelten Hessimir erneut die Worte aus seinem Mund. „Der Mann auf dem Horntiger kam und ging allein. Er war noch jung, kein Einheimischer, angesichts seiner hellen Haut kam er sicher aus dem Norden. Der Mann auf dem Reißer war nicht allein. Zwei Frauen und ein Mann begleiteten ihn, eine der Frauen war eine rothaarige Schönheit wie ich sie noch nicht gesehen hatte. Der Mann wurde ebenfalls vom Orakel empfangen und kurz darauf verließen sie die Oase wieder. Hmm, ich bin nicht ganz sicher, ob wirklich beide Frauen bei ihm waren, als sie uns passierten, aber sie waren recht aufgeregt und wollten wissen, ob Reisende aus Begos hier gewesen waren.“
Stumm hörte Perkles die Geschichte des Wachmannes bis zum Ende und versuchte, sich einen Reim auf die Geschehnisse zu machen. „Die Attentäter kamen aus Begos, vielleicht hat die zweite Gruppe sie verpasst. Aber wieso hat der erste Mann nicht auf sie gewartet?“ Seine Stirn runzelnd legte er vier weitere Silberstücke in die Hand des Mannes, damit er auch seinen Männern einen Anteil abgeben konnte. „Sagt mir, Hessimir, wisst ihr die Richtung in die die Reisenden die Oase verließen?“ Der Wachmann überlegte kurz und antwortete dann mit einem Nicken. „Nach Osten, Herr. Sie sind alle nach Osten geritten.“
Wenig überrascht stieg Perkles wieder auf sein Kamel. „Nach Osten. Kein Zweifel, sie wollen zum schwarzen Turm. Ob ihnen das Orakel den Standort verraten hat?“ Fest entschlossen, selbst das Orakel aufzusuchen, ritt Perkles langsam in die Oase und steuerte den zentralen See an, in dessen Mitte sich das Orakel befand. „Du bist hier nicht willkommen, Diener des Kristallturms. Geh, ich werde dich nicht empfangen.“ Die plötzlich auftauchende Stimme in seinem Kopf warf Perkles beinahe von seinem Kamel, gerade als er den Weg zum Steg am See eingeschlagen hatte. Er war Telepathie gewohnt, rief ihn sein Meister doch stets Kraft seiner Gedanken, aber hier hätte er dermaßen starke Magie nicht erwartet. Am meisten aber irritierte ihn, dass seine Runen ihn nicht beschützt hatten. Sie waren von Rakul selbst ins Innere von seinem Umhang gesetzt worden, stark genug um der Macht selbst eines geübten Magiers zu trotzen. Und doch hatte das Orakel all seine Barrieren scheinbar mit Leichtigkeit durchbrochen, und es wusste offenbar auch genau wer er war.
Mit zusammengekniffenen Augen hielt Perkles an und sah auf die Pyramide, die nur noch wenige Hundert Meter entfernt war. Konnte sie den zahlreichen Wachen in der Oase Befehle geben? Er musste keine Angst davor haben, fünf bewaffneten Söldnerwachen gegenüber zu stehen. Standen aber einhundert Mann gegen ihn, sah die Sache anders aus. Mit voller Konzentration versuchte er, seine Gedanken auf die Pyramide zu kanalisieren. „Wenn du weißt, wer ich bin, solltest du mich empfangen, Orakel. Mein Meister hat Fragen, die einer Antwort bedürfen.“ Aufmerksam horchte er in sich hinein, diesmal überraschte ihn die telepathische Nachricht in seinem Kopf nicht mehr. „Ich diene keinem Meister und du bist nicht in der Position, mir zu drohen. Nicht hier, nicht in meinem Reich. Aber dennoch werde ich dir etwas prophezeien – wenn das Meer dir ein Geschenk macht, solltest du es annehmen. Nun hast du deine Antworten erhalten, geh jetzt, solange du noch kannst.“
Zähne knirschend vernahm Perkles die erneute Drohung des Orakels. Es hatte recht, hier in der Oase war sein Reich und Perkles ohne Macht. Schließlich warf er noch einen letzten Blick auf die schwarze Pyramide und drehte um, wieder auf den Weg aus der Oase. Er wusste nun, wo er die schwarzen Magier finden würde und das es zwei waren. „Aber ein Geschenk des Meeres? Was hat das zu bedeuten?“ Es spielte keine Rolle, sein Ziel war klar, mit dem Orakel würde er an einem anderen Tag abrechnen.
<==>
„Hier, nehmt etwas Kaffak, das weckt die Lebensgeister:“ Mit einer einladenden Geste reichte der Mann, den Herm und seine Begleiter als Fürst Fa-Sal kennen gelernt hatten, ihm einen kleinen Becher mit einem tiefschwarzen intensiv duftenden Gebräu. Vorsichtig roch Herm am Becher und nahm den unbekannten Duft in sich auf. „Wir machen es aus schwarzen Bohnen, es ist selten und nur für die Fürsten bestimmt. Heute seit ihr meine Gäste und dürft selbst wie Fürsten trinken.“ Herm war kein Diplomat, aber er verstand schnell, dass in dem riesigen prachtvoll geschmückten Zelt des Fürsten von Alterra viele Benimmregeln zu beachten waren. Zum ersten Mal in seinem Leben war er dankbar für die langweiligen Lektionen Marteks über höfisches Benehmen, mit denen sein alter Lehrer ihn stundenlang gefoltert hatte.
So nahm er den Becher behutsam und unter Andeutung einer leichten Verneigung gegenüber dem Fürsten entgegen, so wie er es bei den anderen Anwesenden beobachtet hatte. Lingard und Ise saßen etwas hinter Herm, sie hatten sich schnell darauf verständigt, weiter seine Diener zu spielen. Lingard war leicht als Fährtenleser zu erkennen und es war nicht ungewöhnlich für einen Ritter, in Begleitung eines Führers und einer Magierin zu reisen. Ungewöhnlich war allerdings Ketara, die vor dem Zelt einen schattigen Platz gefunden hatte und Wachsamkeit über ihren Bund ausstrahlte. Es gefiel ihr nicht, dass sie ihn nicht sehen konnte, aber es hatte keine Möglichkeit für Herm gegeben, den Fürsten dazu zu überreden, die riesige Bärin mit in sein Zelt zu lassen.
Wandler wiederum war das genaue Gegenteil, schläfrig und unauffällig saß die kleine Echse auf ihrem Lieblingsplatz, seiner linken Schulter. Herm gegenüber saß der Fürst samt vier furchterregend aussehender Leibwachen, die ihn und seine Begleiter mit ihren Blicken zu durchbohren schienen. Es war offensichtlich, dass ihnen Fremde in der Nähe ihres Fürsten nicht behagten. Zur Linken Fa-Sals saß der rote Magier, den sie zusammen mit ihm in der Wüste getroffen hatten. Wie zuvor auch schien er seine Augen prüfend auf Ise zu legen. Zur Rechten des Fürsten aber saß ein Mann, der noch außergewöhnlicher war wie die Anderen.
Mit einem großen schweren Krummschwert auf seinen Rücken geschnallt saß der Mann, den der Fürst als Haschekk vorgestellt hatte, stolz und aufrecht neben seinem Herrscher. Die Tatsache allein, dass es ihm erlaubt war, bewaffnet neben Fa-Sal zu sitzen, zeugte von dem uneingeschränkten Vertrauen des Herrschers in den Anführer seiner Reiterelite. Herm hatte selbst in seiner Heimat Kaldarra, eine halbe Welt entfernt von Alterra, Geschichten über den Wüstenwind, die sagenumwobene Kavallerie des Fürsten gehört. Es hieß, dass sich niemand im Geschick mit dem Pferd mit den Reitern des Wüstenwindes messen könne. Wo immer sie kämpften, waren sie siegreich und oft entschied ihr Auftauchen auf dem Schlachtfeld allein schon den Ausgang der Schlacht.
Der letzte Mann im Zelt war ein unglaublich alter Mann, dessen grauer Bart im Sitzen den Boden erreichte. Die Einfachheit seiner Kleidung zusammen mit den klobigen Sehgläsern auf seiner Nase verriet ihn schnell als Gelehrten, etwas schmunzelnd stellte Herm fest, dass er nicht unähnlich Martek wäre, hätte sein alter Lehrer noch zwanzig Jahre länger gelebt.
Nachdem alle Männer im Zelt bis auf die Leibwachen mit Kaffak versorgt waren, stellte Fa-Sal die große Kanne zur Seite, aus der er eingeschenkt hatte und wollte gerade das Wort an ihn richten, als Herm ihn bewusst unhöflich unterbrach. „Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft, aber ist es bei Euch üblich, Eure Lebensretterin zu beleidigen, nur weil sie eine Frau ist?“ Herm wusste wohl, dass die Stämme Alterras streng patriarchalisch lebten, Frauen galten hier nur als Menschen zweiter Klasse. Doch wusste er auch, dass er sich den Respekt seines Gegenübers verdienen musste und so konnte er die offensichtliche Beleidigung des Fürsten, Ise keinen Kaffak anzubieten, nicht ignorieren.
Umgehend griff Haschekk mit hochrotem Kopf nach seinem Schwert und wollte wütend aufspringen, als Fa-Sal ihm beruhigend seine Hand auf die Schulter legte. „Nein Haschekk, er hat recht. Auch ihre Magie hat mich gerettet. Ich bin zu sehr gewohnt an unsere Bräuche und habe vergessen, dass unsere Gäste Fremde sind.“ Mit einem aufgesetzten Lächeln reichte er Ise einen Becher des schwarzen Trankes, das sie stoisch und wortlos mit einer leichten Verbeugung entgegen nahm. Herm hatte seinen ersten Zug gemacht und er hoffte sehr, dass er den Bogen nicht überspannt hatte. Sich an seine Lektionen bei Martek erinnernd waren die Männer im Süden leicht zu beleidigen, aber auch bedingungslos loyal, wenn man sich ihren Respekt und ihre Freundschaft erworben hatte. Und das war es, was er unbedingt brauchte, wenn er Kira wieder finden wollte, einen starken Freund in der Wüste.
Nachdem nun alle Gäste einschließlich Ise mit Kaffak versorgt waren, wandte sich der Fürst erneut Herm zu. „Ich habe versprochen, Euch meine Geschichte zu erzählen, wenn wir es bis in mein Lager schaffen. Also, genau genommen begann alles hier, hier in diesem Zelt. Vor einigen Monden drangen die ersten Geschichten an die Feuer meines Lagers, die von zerstörten Oasen berichteten, verschwundenen Karawanen und Monstern, die nur bei Nacht über den Sand wandeln. Die Geschichten häuften sich, es waren zu viele um nur erfundene Märchen zu sein.“
Für einen Moment hielt Fa-Sal inne, um einen tiefen Schluck aus seinem Becher zu nehmen, während Haschekk die Geschichte wieder aufnahm. „Also schickten wir Späher aus in die entlegeneren Oasen, um auch mit den Stämmen zu sprechen, die tief im Süden der Wüste leben.“ Der Blick des grimmigen Kriegers verdunkelte sich, während er weiter erzählte. „Es stellte sich heraus, dass es schlimmer war, als wir je gedacht hätten. Unsere Späher fanden unzählige zerstörte Oasen, so wie es die Reisenden an unseren Feuern erzählt hatten.“
Mit einem Handzeichen gab der Fürst zu verstehen, dass er nun wieder weiter erzählen wollte. „Glücklicherweise habe ich den Großteil meines Lebens einer Sache gewidmet, die mich seit meiner Jugend nicht mehr losgelassen hat – dem Studium alter Legenden. Vor einigen Jahren habe ich eine Festung erobert, in der sich eine alte Bibliothek befand, die die Jahrtausende überdauert hat, in ihr befinden sich auch Legenden aus vergessenen Zeiten. Also studierte ich die alten Schriften mit Hilfe meines alten Lehrers.“ Ein respektvolles Nicken zu dem alten Gelehrten ließ den Mann sich erst verbeugen und dann eine Sammlung von alten Pergamenten und Schriftrollen vor sich ausbreiten.
Interessiert sah Herm auf die gelblichen Pergamente, die vorsichtig von dem alten Gelehrten ausgerollt wurden und auch Lingard und Ise streckten merkbar ihre Köpfe, fasziniert von der Geschichte des Fürsten. Schließlich übernahm der Gelehrte das Wort und sprach mit ruhiger, langsamer Stimme, die eine Idee über das ungeheure Alter des Mannes gab. „Vor Urzeiten, in einem Zeitalter, das wir nur aus Legenden kennen, kämpfte der alte Kaiser gegen die dunkle Garde. Die Garde, von fauler Magie erschaffen, gehorchte nur einem Mann, dem Träger des schwarzen Buches. Von ihm gesteuert vernichtete sie alle Armeen, die ihr entgegen geschickt wurden.“
Umgehend horchte Herm auf. „Das schwarze Buch?“ Er hatte schon viele Legenden über die dunkle Garde gehört, aber ein schwarzes Buch war in noch keiner Geschichte vorgekommen. Das Grinsen in Fa-Sals Gesicht zeigte ihm, dass der Fürst seine Reaktion erwartet hatte, mit einer Handbewegung bedeutete er dem alten Mann, fortzufahren. „Das schwarze Buch ist der Schlüssel zur Kontrolle der dunklen Garde. Also stahl der Kaiser das Buch und versteckte es. Ohne Führung verschwand die Garde in der südlichsten Wüste und geriet in Vergessenheit. Es folgte die Zeit des Vergessens, aus Geschichten wurden Legenden und schließlich wurden auch diese vergessen.“
Mit einem Faustschlag auf den Boden sorgte Fa-Sal umgehend für Aufmerksamkeit und unterbrach die Geschichte des alten Gelehrten. „Und nun ist die Zeit des Erwachens. Als ich von den Propheten des Orakels hörte, die das Ende der Zeit des Vergessens ausriefen, wusste ich was zu tun war. Umgehend suchte ich das Orakel auf und ließ es zu mir sprechen. Es offenbarte mir, dass es mein Schicksal sei, die dunkle Garde zu bekämpfen, so wie es der alte Kaiser früher getan hatte.“
Stolz hatte der Fürst der sieben großen Stämme sich aufgerichtet, als er von der Prophezeiung erzählte, in der er mit dem alten Kaiser auf eine Stufe gestellt worden war. Die sieben größten und einflussreichsten Stämme Alterras kamen alle zehn Jahre zusammen, um einen Fürsten zu wählen, der ihre gemeinsamen Interessen in Krieg und Handel vertrat. Fa-Sal war vor neun Jahren gewählt worden und nun im letzten Jahr seiner Amtszeit. Kein Wunder also, dass ihn die Aussicht, in die Fußstapfen einer uralten Legende treten zu können, mit Stolz erfüllte.
Schließlich nahm Haschekk die Erzählung wieder auf. „Wir stellten eine große Armee auf, mit den besten Kriegern aus ganz Alterra. Die Erzmagierin des roten Mondes entsendete uns drei Magier zur Unterstützung und so stellten wir den Feind tief im Süden zum Kampf.“ Das Gesicht des Mannes verdunkelte sich, während er offenbar unter schmerzhaften Erinnerungen weiter sprach. „Wir töteten Tausende, doch es war umsonst. Immer mehr der Monster kamen aus dem Sand. Sie durchschlugen unsere Reihen, wir verloren in jeder Minute hundert Männer. Freunde, Blutsbrüder, tapfere Krieger.“
Wie gebannt lauschten Herm und seine Begleiter der Geschichte, die nun langsam ihren Höhepunkt fand, als Fa-Sal wieder das Wort übernahm. „Als ich sah, dass die Schlacht verloren war, gab ich das Signal zum Rückzug. Wir hatten einen Treffpunkt ausgemacht an einer nahe gelegenen Oase, doch aus irgendeinem Grund jagte mich die Garde und ließ nicht von mir ab. Eine große Gruppe verfolgte mich gezielt, nach und nach fielen erst meine Leibwache und dann auch einer der Magier. Jede Nacht erschienen sie erneut und jagten uns tief in die Wüste, versuchten uns vom Rest der Armee und meinen Lagern fernzuhalten, und das erfolgreich. Bis wir euch trafen und damit endet meine Geschichte.“
Unruhig nahm Herm einen weiteren Schluck von dem inzwischen kalten Kaffak, er wusste, dass es nun an ihm war, sich zu erklären. Seine nächsten Worte mussten durchdacht und gut gewählt sein. „Meine Gefährtin Kira wurde entführt. Wir verfolgen die Entführer und versuchen, sie zu retten. Ihre Spur führte uns zu der Oase, an der wir euch trafen, ein glücklicher Zufall.“ Das war soweit nicht gelogen und so konnte Herm direkt anbringen, dass er in Eile war. Schließlich schüttelte Fa-Sal den Kopf. „Kein Zufall, Schicksal. Ich kämpfe im Auftrag des Orakels gegen Legenden und werde dann von einem Magier gerettet, der auf einer Bestie reitet, so wie die Helden in den alten Geschichten? Das ist niemals ein Zufall.“ Verdutzt horchte Herm auf. „Es gibt Geschichten über Männer, die den Bund mit einer Bestie eingegangen sind?“ Er selbst kannte viele Kindergeschichten über die schwarze Garde und auch den alten Kaiser, aber von seiner Fähigkeit, einen Bund einzugehen, hatte er zuvor ebenso wenig gehört wie von dem schwarzen Buch. Er musste unbedingt wiederkommen und die Schriften in Fa-Sals Bibliothek erforschen, wenn er mehr Zeit hatte.
Nach einem kurzen Blick zum Fürsten ergriff nun der Magier das Wort. „Es ist eine vergessene Kunst, die vor Urzeiten verboten wurde. Ihr spielt mit Mächten, die Ihr nicht versteht. Davon abgesehen kann ich nicht erlauben, dass Ihr ohne das Training der drei Türme auf der Welt wandelt. Ihr und eure Begleiterin müsst mit mir zum roten Turm kommen, wo ich der Erzmagierin berichten werde.“ Herm hatte befürchtet, dass der rote Magier das Thema zur Sprache bringen würde, das Problem war, dass er keine gute Antwort für den Magier hatte. Und davon abgesehen hatten weder er noch Ise vor, dem roten Turm zu nahe zu kommen.
„Nein, jetzt ist nicht die Zeit dafür. Wie ich bereits sagte, jagen wir Entführer, jede Stunde zählt. Und Ihr habt recht, es ist die Zeit des Erwachens. Vergessenes Wissen wird wieder entdeckt, vermutlich werdet Ihr schnell andere Magier finden, die ebenfalls meine Fähigkeit beherrschen.“ Der rote Magier schien wenig überzeugt und wollte gerade erneut sprechen, als er von Fa-Sal gestoppt wurde.
„Das reicht, Kamul. Herm Pendrak und seine Begleiter sind nicht nur meine Gäste, sondern auch meine Retter. Und ebenfalls eure, wenn ich Euch erinnern darf. Obwohl sie die Entführer einer der Ihren jagen, haben sie sich die Zeit genommen, uns zu helfen. Ich glaube, es war das Schicksal. Irgendwie ist ihr Weg mit meinem Weg verbunden und Ihr werdet sie nicht aufhalten, der rote Turm wird warten müssen.“ Das Gesicht des Magiers zeigte deutlich, dass das Thema für ihn noch nicht beendet war, doch hier in Fa-Sals Zelt unterlag er dessen Herrschaft.
„Sagt mir, wisst ihr in welche Richtung die Entführer flohen? Habt Ihr eine Chance, sie noch einzuholen?“ Die Frage des Fürsten kam offen und besorgt, für sein Verständnis stand er offensichtlich in der Schuld Herms, da er ihn auf seiner Reise aufhielt. „Wir vermuten, dass sie nach Keldur reisen und ein Schiff nehmen wollen, wahrscheinlich in Phrygia.“ Der Fürst nickte ernst, als er Herms Antwort hörte. Ihm war klar, dass es kaum eine Chance geben würde, die Entführer zu finden, wenn sie einmal auf dem offenen Meer waren.
Schließlich wandte sich der Fürst seinem General zu. „Haschekk, nimm zwanzig deiner besten Männer und drei der besten Pferde aus meinem Stall für meine Retter. Führe sie nach Phrygia, so schnell du kannst. Sie erhalten freies Geleit durch mein ganzes Reich und frische Pferde an jeder Oase. Wir werden jetzt etwas essen, dann brecht ihr bei Mitternacht auf. Mögen die Monde geben, dass ihr nicht noch einmal der Dunklen Garde begegnet.“
<==>
Fluchend schüttelte sich Jorn den Sand aus seinem langen roten Haar. „Was für ein von allen Drachen verfluchtes Land. Sand so weit das Auge reicht, aber kein Wasser.“ Erst seit einer Woche reiste er mit seiner Kampfgruppe durch die heiße Wüste Alterras und hatte bereits zwei Männer verloren. Keup war von einem lächerlich kleinen Insekt gestochen worden, dass man Skorpion nannte, er starb nur Minuten später qualvoll an dessen Gift. Seinen Tod konnte Jorn leicht verschmerzen, er hatte noch neununddreißig weitere Krieger bei sich. Der zweite Mann allerdings war ein schmerzlicher Verlust gewesen. Jeklek war einer von vier Runenlesern, die Jorn auf Geheiß seines Vaters Kermo begleiteten. Er hatte plötzlich Dinge gesehen im heißen Sand, die nicht da waren, wirr zu plappern begonnen und war dann einfach tot vom Pferd gefallen, ein Opfer der Hitze.
„Schwächling. Ich hätte einen anderen wählen sollen.“ Ein Blick in die von der Sonne verbrannten Gesichter seiner Männer zeigte ihm deutlich, dass keiner von ihnen hier sein wollte. Sie alle waren grimmige Krieger, die den Tod im Kampf nicht fürchteten, doch die Reise durch den brennend heißen ewigen Wüstensand verlangte ihnen alles ab. „Sie alle wären jetzt lieber in der Heimat, im Krieg, auf dem Schlachtfeld.“ Der Krieg im Norden lief gut, zumindest den letzten Berichten nach, die sie erhalten hatte, auch wenn das schon Tage her war. Die Krieger seines Vaters hatten die Eisenminen schnell erobert, so wie von ihm erwartet. Nun rüsteten sie sich gegen den Gegenangriff von Teschokk und seinen Verbündeten. „Verfluchte Ygmaren, ihr werdet mir den Sand von den Stiefeln lecken, wenn wir euch erst auf dem Schlachtfeld vernichtet haben. Aber zuerst stirbt der kaldarrische Hund.“
Jorn hatte nicht vergessen, wie ihn der Jüngling aus Kaldarra beleidigt hatte, seit diesem Zeitpunkt stand sein Tod außer Frage. Doch dann hatten sich die Ereignisse überschlagen. Marla die alte Hexe hatte versucht, den Kaldarrer zum Auserwählten zu machen und so den Krieg zu verhindern, doch sein Vater war gut vorbereitet gewesen und konnte den Rat der Neun zerschlagen. Jetzt musste Jorn nur noch Herm Pendrak töten und so beweisen, dass Marlas Auslegung der alten Schriften falsch war.
„Und Ise zurück bringen.“ Umgehend stieg Wut in ihm auf, als er an seine halsstarrige Schwester dachte. Sie wusste nicht, wo der Platz einer Frau war. Nicht nur, dass sie sich seinen Weisungen widersetzte, obwohl er älter und ein Mann war, jetzt hatte sie sich auch offen auf Marlas Seite gegen ihren Vater gestellt. Sie würde die Peitsche spüren für ihren Verrat und lernen, wie sich eine Frau zu verhalten hatte, wenn er sie erst nach Hause gebracht hatte.
„Belk, prüfe die Richtung. Jetzt!“ Der Befehl kam lauter und zorniger aus seinem Mund als er es beabsichtigt hatte, aber das spielte keine Rolle. Belk und die anderen Runenleser unterstanden genauso seinem Befehl wie die anderen Männer, keiner von ihnen würde es wagen, sich dem Sohn des Kermo zu widersetzen. Umgehend kam der untersetzte Runenleser an die Spitze der Kampfgruppe neben Jorn und begann, seine Magie zu wirken. Er nutzte die Macht des blauen Mondes, um Ise zu folgen, doch dafür brauchte er Jorns Hälfte seines Amuletts.
Kermo hatte sowohl ihm wie auch seiner Schwester je eine Hälfte eines magischen Amuletts gegeben, als sie noch Babys waren. Trotz all seiner Versuche, die Macht der kleinen halbrunden Scheibe herauszufinden, war es ihm nie gelungen. Sein Vater hatte stets darauf bestanden, dass sowohl Ise als auch er die halben Amulettstücke bei sich trugen, auch wenn er den Grund dafür nie begriffen hatte. „Hauptsache, wir können Ise auf diesem Weg finden. Und den von allen Monden verfluchten Kaldarrer, der uns in diesen Glutofen geführt hat.“ Ohne ihn zu beachten, reichte Jorn dem Runenleser seine Amuletthälfte und ließ ihn seinen Zauber wirken. Schon nach wenigen Minuten hatte der Mann sein Ergebnis. „Osten, mein Lord, unverändert. Aber ich spüre, dass wir näher kommen.“ Mit einem stummen Nicken quittierte Jorn die Richtungsangabe. Wortlos hob er die Hand und gab das Signal zum Aufbruch, sie hatten keine Zeit zu verlieren.
Langsam setzte sich die Gruppe in Bewegung und verließ die Oase in die von Belk angezeigte Richtung. Sie würden weiter der alten Handelsstrasse folgen und so die nächste Oase erreichen, noch bevor die Morgensonne aufstieg. Ein Blick zum Himmel zeigte Jorn den beinahe vollen blauen Mond, während sein eigener Mond Zonah genau wie der grüne Mond weniger als halbvoll am Himmel standen. Plötzlich stutzte er und sah erneut zum Himmel. Für einen Augenblick war ihm gewesen, als ob er noch etwas anderes am Himmel gesehen hätte, wie ein vierter Mond. „Nur eine Täuschung. Verfluchte Hitze.“ Sein erneuter Blick bestätigte ihm, dass alles unverändert war, nur drei Monde am Nachthimmel Alterras. Schließlich nahmen die Späher ihr Positionen an den Flanken und vor dem Haupttrupp ein, insgesamt zehn der vierzig Krieger stammten aus einem von Kermos Jagdklans und verstanden sich ausgezeichnet aufs Spurenlesen, auch wenn die ungewohnte Umgebung ihre Arbeit erschwerte. Nach nur wenigen Kilometern war die anfangs steinerne Strasse nur noch ein Weg im Sand, der man entlang größerer Grenzsteinmarkierungen folgen konnte, gedankenversunken folgten Jorn und seine Männer den Spähern, ohne ihrer Umgebung zu viel Aufmerksamkeit zu schenken.
Dann ging alles ganz schnell und binnen Sekunden wurde die Nacht von Schreien zerschnitten. Blitzartig griff Jorn seinen Dreizack und sah auf seine linke Seite, die Richtung aus der die Schreie kamen. Atemlos sah er auf das Schauspiel des Schreckens, das sich ihm bot. Riesige Tentakelarme waren aus dem Boden gebrochen und hatten mehrere seiner Männer erfasst, die nun von ihnen hilflos in der Luft herumgewirbelt wurden. In der Mitte der Tentakeln war ein wenigstens fünf Meter durchmessendes Loch im Sand aufgegangen und hatte bereits drei seiner Männer samt Pferde verschluckt, während der Rest seines Trupps in wilder Flucht von dem Loch im Boden weg ritten.
„Kämpft, ihr Feiglinge. Oder ich werde euch eigenhändig pfählen und rösten lassen. Mit den Äxten auf die Tentakel, alle Runenleser zu mir.“ Jorn wusste umgehend, was für ein Jäger sie angegriffen hatte. „Ein Tempok. So einen Großen habe ich noch nie gesehen.“ Die Späher seines Jagdklans hatten ihm gesagt, dass Wüstentempoks zu den größten ihrer Art gehörten, tödlich und äußerst selten. Doch hätte er es nie für möglich gehalten, dass sie wirklich einem begegnen würden. Und ihm dann noch in die Falle gingen, dafür würden die Späher bezahlen. Aber jetzt war nicht die Zeit für Bestrafungen, jetzt mussten sie kämpfen.
Nach der kurzen Phase der Verwirrung durch den Überraschungsangriff des riesigen Jägers hatten sich die valkallischen Krieger wieder formiert. Die Späher der Jagdklans hatten ihre langen Speere gegriffen und ein Dreieck gebildet, das sich langsam auf die Bestie zubewegte und versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Die meisten seiner Krieger hatten inzwischen ihre langen Äxte bereit und nahmen die Tentakel des Tempok ins Visier. Eine kleine Gruppe bildete eine Mauer vor Jorn und den beiden Runenlesern, die sich inzwischen bei ihm eingefunden hatten. „Wo ist Zuman?“ Trotz seines guten Blicks auf das Schlachtfeld konnte Jorn nirgends den dritten seiner verbliebenen Runenleser erkennen. „Er wurde als erster von dem Jäger verschluckt, mein Lord. Er kann nicht überlebt haben.“ Wütend biss sich Jorn mit einem Aufstöhnen auf seine Lippen. Belks Antwort hätte nicht schlimmer sein können, nun hatte er schon zwei seiner vier Runenleser verloren. „Verfluchter Wüstensand!“
Während Jorn noch weiter vor sich hin fluchte, hatten seine Männer ihren Angriff begonnen. Drei der acht Tentakel des Monsters waren bereits den schweren zweihändigen Äxten der Klankrieger zum Opfer gefallen, doch auch der Tempok hatte Blut vergossen und zwei weitere Männer in sein riesiges Maul gezogen, dass sich noch immer unterhalb des Wüstensandes befand.
„Belk, ein Riesenadler. Bring mich direkt über ihn.“ Jorn gab sein Kommando instinktiv. Er wusste, dass ein solcher Angriff gefährlich war, doch er konnte es sich nicht leisten, noch mehr Männer zu verlieren. Fasziniert sah er, wie der Runenleser des blauen Mondes die Transformation begann, in Zeitlupe verwandelte sich Belks Köper in den eines riesigen Adlers. Zum Abschluss der Transformation entfaltete der Runenleser seine gewaltigen Flügel und erhob sich majestätisch in die Lüfte. Belk war ein überaus begabter Runenleser und meisterte die Kunst der Verwandlung, die blauen Magiern zu Eigen war, wie kaum jemand anderes. Sich selbst konzentrierend sammelte er die Energie seines eigenen roten Mondes Zonah, hielt seinen Dreizack fest umschlossen und spannte seine Muskeln an. Nur Sekunden später stürzte Belk in Form des Riesenadlers auf ihn herab, umgriff ihn fest mit seinen Klauen und nahm ihn mit sich in die Luft, um über den Tempok hinweg zu gleiten.
Für einen Moment gab er sich dem Rausch des Fliegens hin, schwerelos raste er durch die heiße Luft und genoss den Augenblick, dann konzentrierte er sich. Als Belk direkt über das Zentrum des Tempok flog, entlud er seine Energie und rote Lava regnete auf das Maul des Wüstenjägers nieder. Unmenschliche Schreie brüllend bäumte das Monster sich auf und sprang aus seinem selbst gegrabenen Loch, um der Lava zu entfliehen. Darauf hatte Jorn gewartet, mit einem Kampfschrei warf er seinen Dreizack hinab in die Mitte des Ungetüms und konzentrierte dabei seine gesamte verbleibende magische Energie in die Waffe. Mit einem dumpfen Krachen durchschlug sie das inzwischen geschlossene Maul des Riesen, um dann in seinem Inneren einen gewaltigen Feuerball zu entladen. Noch niemals zuvor hatte Jorn einen Tempok außerhalb seines Loches gesehen, das gesamte Monster schien nur aus Tentakeln und einem gewaltigen ovalen Maul zu bestehen, dass nun von innen heraus explodierte und in einem Regen von Fleisch, Blut, Sand und Feuer auf seine Umgebung herabregnete.
Grimmig sah Jorn auf die Überreste seiner Männer und des erlegten Riesen, nachdem Belk wieder gelandet war. Er hatte nun sieben weitere Männer verloren. Dazu kam noch der Anführer der Späher, er würde ihn persönlich hinrichten für sein Versagen. Und nur noch zwei Runenleser. Es wurde Zeit, dass sie seine Schwester und den Kaldarrer fanden, bevor die Wüste sie noch weiter dezimierte.
<==>
„Auf gar keinem Fall werde ich diesem Vorschlag zustimmen.“ Mit säuerlichem Gesicht nahm Triumvirin Schmee aus dem Hause Kadeen die Weigerung von Triumvirin Tara hin. Schmee hatte lange und mit Engelszungen auf Tara aus dem Haus Gilnos eingeredet und versucht, sie zum Einlenken zu überreden, vergeblich. Schmeicheleien, Bestechungen und sogar versteckte Drohungen waren von der jüngsten der drei Triumvire Keldurs abgeprallt, als sei die junge Frau schon immer eine souveräne Herrscherin gewesen. Innerlich fluchend setzte sich Schmee wieder auf ihren edlen hölzernen Thron in der Kapelle des Triumvirats, ihr Vorschlag war abgelehnt worden, nun schon zum zweiten Mal.
Als sie zum ersten Mal ihren Antrag vorbrachte, der es der kaldarrischen Kriegsflotte der Tzarina Katharina IV erlauben würde, im Hafen Phrygias anzulegen, hatten beide Triumvire, Kaldwell wie auch Tara, sofort abgelehnt. Es war schon seit Jahrhunderten verboten für die Kriegsschiffe anderer Reiche, in der Hauptstadt Keldurs anzulegen, lediglich Handelsschiffen war dieses Privileg gestattet. Mit Kaldwell hatte sich Schmee inzwischen einigen können, er würde gegen ein unverschämt hohes Bestechungsgeld sowie ihre Zusage zu seinem Ausgrabungsprojekt in den alten Tempelruinen sein Ja-Wort zu ihrem Antrag geben. Tara aber zeigte sich wenig einsichtig, keiner der Manipulationsversuche Schmees in den letzten Monaten war erfolgreich gewesen.
Wichtige Entscheidungen konnten in Keldur nur mit dem Einverständnis alle drei Triumvire getroffen werden, das war schon seit Jahrhunderten so. Ebenso wie die Tatsache, dass die drei Triumvire stets aus den drei einflussreichsten Familien kamen, den Trionen, den Gilnos und den Kadeen. Und schon immer hatten Intrigen um die Macht den Regierungsalltag in Keldur bestimmt, schon immer war es einer einzelnen Person unmöglich gewesen, die Macht in dem Triumvirat zu übernehmen. „Aber ich werde die Erste sein, die es schafft.“
Schmee Kadeen war die Älteste der drei amtierenden Triumvire und seit beinahe fünfzehn Jahren Mitglied des Triumvirates für das Haus Kadeen. Die Tatsache, dass sie sich in all den Jahren gegen ihre Konkurrenten innerhalb und außerhalb ihres eigenen Hauses sowie gegen alle Anschläge auf ihr Leben hatte durchsetzen können, war ein klarer Zeichen ihres wachen Verstandes und ihrer Fähigkeit, die Intrigen des Hofes stets in die richtigen Richtungen zu lenken. Kaldwell, Triumvir des Hauses der Trionen, war ebenfalls kein Dummkopf, aber ihm fehlte der rechte Ehrgeiz zur Macht. „Stattdessen verplempert er seine Zeit mit diesen unsinnigen Ausgrabungen und der Suche nach alten Schätzen. Deswegen hat man mich erwählt und nicht ihn. Ich werde Keldur in ein neues Zeitalter führen.“ Nachdenklich sah sie aus der großen Kapelle des Triumvirats zum Hafen. Die Kapelle stammte noch aus der Zeit der Legenden und stand zwischen den drei Familienhügeln der herrschenden Familien Phrygias. Von hier aus lenkten sie die alte Stadt und den Rest des Reiches Keldur seit Jahrhunderten. Und von hier aus wurde auch in alten Zeiten Alarm gegeben, wenn sich Feinde der Stadt näherten. Der große Glockenturm des alten Bauwerkes trug eine riesige Glocke, deren Klang so laut war, dass man ihn in der ganzen Stadt hören konnte. Doch sie war schon seit hundert Jahren nicht mehr geschlagen worden. Die große Stadt Tangara, der ewige Rivale Phrygias um die Herrschaft der Meere, existierte nur noch in Legenden und Geschichten, die man sich am Lagerfeuer erzählte. Keldur war die einzige Seemacht der Welt und Phrygia ihr Zentrum. „Es wird Zeit, dass wir wieder den uns zustehenden Platz als Führer der Welt einnehmen.“
Die stampfenden Schritte Taras, die noch immer wütend durch den Raum stapfte, rissen Schmee aus ihren Gedanken. „Ich kann nicht glauben, dass du ihrem Antrag tatsächlich zustimmst. Wie viel hat sie dir dafür gezahlt, dass du unser Volk an Fremde auslieferst?“ Taras wütende Beschuldigung schien an Kaldwell abzuprallen wie Wasser an einer Hafenmauer. „Die Flotte Kaldarras ist keine Gefahr für uns. Wir haben zehnmal so viele Schiffe wie die Tzarina und selbst wenn dem nicht so wäre, würden wir sie jederzeit auf dem Wasser vernichten, woher also kommt deine Angst, Tara?“ Kaldwells lässig gesprochene Antwort schien die junge Triumvirin der Gilnos nur noch wütender zu machen. „Wir spüren es doch alle, die Zeiten ändern sich. In Valkall ist Krieg ausgebrochen, Gesandte des Orakels von Alterra strömen in unser Reich und verkünden die Zeit des Erwachens. Denkst du wirklich, dies ist ein guter Zeitpunkt, um seine Häfen für fremde Armeen zu öffnen?“
Schmee hatte offensichtlich nicht nur die Sturheit ihrer jungen Gegenspielerin unterschätzt. Offenbar wusste die junge Frau auch erstaunlich gut Bescheid über den Wandel, der sich in der Welt vollzog, sie war intelligenter als Schmee gedacht hatte.
„Dann wird sie sterben müssen.“ Ein kleiner Unfall, geschickt inszeniert, würde ihr die Plage vom Hals schaffen. Es müsste jemand von außen sein, ohne jede Verbindung zu ihr, der den Job erledigen würde. Sobald Haus Gilnos dann einen Nachfolger gestellt hatte, würde sie neu verhandeln können. Sie brauchte nur Geduld haben, früher oder später würden ihre Pläne zusammenlaufen, so wie sie es wollte. Und dann würde sie herrschen.
<==>
Fasziniert starrte Hassem hinab auf den riesigen Hafen Phrygias. „Gewaltig. So unglaublich viele Schiffe.“ Er hatte viele Jahre in Magystra gelebt, bekannt für seine uneinnehmbare Seefestung und seinen großen Handelshafen, doch mit der Hauptstadt Keldurs konnte sich der Stadtstaat nicht messen. Phrygia, die Hauptstadt des Seefahrer-Volkes, war ein Ort voller Legenden. Regiert von einem Triumvirat der drei mächtigsten Familien des Reiches war die Hafenstadt ebenso berühmt für seine höfischen Intrigen wie für den größten Hafen der Welt, in dem sich zurzeit über eintausend Schiffe tummelten.
Hassem war kein Seefahrer, er war in der kalten Steppe Kaldarras aufgewachsen, in der er höchstens mal eine Flußfahrt unternommen hatte, aber beim Anblick der Vielzahl von verschiedenen Schiffen aus den unzähligen Reichen der Welt überkam auch ihn das Fernweh und der Wunsch, weit hinaus in die See zu segeln. „Und genau das werde ich auch tun. Ich werde nach Kahilis segeln, auf die verfluchte Insel, zum schwarzen Turm. Und ich werde zuerst da sein.“ Er hatte seinen mysteriösen Verfolger nicht vergessen, den er in seinem Traum gesehen hatte. Hassem war nicht der Einzige, der unterwegs war, um seinen Traum zu finden, aber er würde der schnellste sein.
Langsam schweifte sein Blick über die unterschiedlichen Schiffe im Hafen und blieb auf einer der großen Galeonen mit der Flagge Keldurs hängen. Es war ein majestätisches Schiff, größer wie die Galeeren der anderen Reiche und anders gebaut. Die langen hochgezogenen Schiffswände waren so konstruiert, dass sie höherem Seegang standhalten konnten, das Schiff war dafür gebaut, in die hohe See zu fahren. „So ein Schiff brauche ich. Keines der kleinen Küstenschiffe oder Galeeren, es muss eine Galeone sein.“
Mit einem Ruck wandte sich Hassem ab von dem beeindruckenden Anblick des größten Hafens der Welt und sah wieder auf die Stadt. Phrygia war eine der ältesten Städte, die existierten, ihre Wurzeln gingen zurück bis ins Reich der Legenden. Umgeben von den Ruinen verlassener alter Tempel erhob sich die Stadt wie ein gigantischer steinerner Moloch auf der weiten Ebene Keldurs. Besonders auffällig war die Architektur der größeren Gebäude auf den Hügeln der Stadt. Die drei größten Hügel waren schon seit Jahrhunderten Sitz der drei großen Familien und beherbergten die prächtigsten Bauwerke. Je weiter man sich von den Hügeln entfernte, umso ärmlicher und baufälliger wurden die Häuser. „Genau wie seine Bewohner.“ Hassem hatte etwas mit den Bewohnern der tiefer liegenden Gebäude gemeinsam, er brauchte Geld. Aber anders als die nutzlosen Slumbewohner, die ihr erbärmliches Leben an sich vorbeiziehen ließen, hatte er die nötigen Talente, um sich das Geld auch zu verdienen.
Doch zuerst musste er sich um ein anderes Problem kümmern. Ein Problem, dass ihm schon seit einer Weile wie ein Schatten folgte und sich dabei äußerst geschickt anstellte. Hassem war nicht überrascht, früher oder später musste seine Vergangenheit ihn einholen. Phrygia war eine riesige Stadt, in der mehrere Unterweltorganisationen tätig waren, einige davon kannte er dem Namen nach aus seiner Zeit bei den Sieben Spinnen Magystras. Er hatte keinen Zweifel daran, dass sich auch hier das Wort über ein Kopfgeld auf ihn verbreitet hatte und offenbar hatte sich jemand gefunden, der es sich verdienen wollte.
Scheinbar ohne klares Ziel begann Hassem, in die ungepflegteren Stadtteile Phrygias weit weg von den drei großen Hügeln zu gehen. Schon bald stand die Sonne am Horizont und die Gassen verdunkelten sich, durch die er weiter in die äußeren Slums der Stadt ging. Hassem hatte seinen Weg nicht zufällig gewählt, sondern war den erwarteten Zeichen gefolgt. Eine tote Ratte, zum Ausbluten an einem blauen Faden aufgehängt, gab den ersten Hinweis auf einen nahen Schwarzmarkt. Kurz darauf hatte er die ersten Kreidezeichen gefunden, nicht unähnlich denen, die er selbst in Magystra genutzt hatte. Einige Stunden später kannte er die Position des Schwarzmarktes sowie das Hoheitsgebiet einer Diebesgilde, deren Zeichen eine dicke Schlange war.
Sein Verfolger war gut, daran gab es keinen Zweifel. Hassem hatte seinen Schatten ab und zu bemerkt, aber er war sich auch seiner außergewöhnlich guten Wahrnehmung bewusst. Einem anderen wäre der Kopfgeldjäger vermutlich nicht aufgefallen. Schließlich bog Hassem um eine weitere Ecke, gerade als die letzten Sonnenstrahlen über den Dächern der Häuser verschwanden, und duckte sich blitzschnell in eine Türöffnung. Nur Sekunden später hörte er die erwarteten leisen Schritte auf dem Dach über ihm. Er hatte den Ort gut gewählt, er war dunkel und verlassen. „Und nun komm noch einen Schritt näher, mein kleiner Schatten.“ Nur einen Moment später war es soweit. Obwohl es kein Geräusch gab, konnte Hassem an dem leichten Durchbiegen des Dachbrettes über ihm erkennen, dass er jetzt genau über ihm stehen musste.
Mit einem langen Atemzug griff Hassem nach der Macht seines Mondes und ließ die Energien seinen Körper durchfließen. Dann sprang er in einer schnellen Bewegung auf, griff nach dem Dachbrett über ihm und nutzte sein Momentum, um sich auf das niedrige Dach zu schwingen. Katzenartig landete er neben der Figur, die ihn seit einem halben Tag äußerst geschickt verfolgt hatte, seine beiden Krummschwerter kampfbereit in den Händen.
„Zwei?“ Verwirrt sah Hassem auf den Mann, dessen Anwesenheit er erwartet hatte, sowie einen zweiten, der einige Meter entfernt am hinteren Rand des Daches stand und ihn amüsiert zu betrachten schien. Hassem war sich sicher gewesen, dass er nur einen Verfolger gehabt hatte und nun stand er zwei Männern gegenüber. Es war nicht, dass er einen Kampf gegen zwei Gegner fürchten musste, es war seine Fehleinschätzung der Lage, die ihn ärgerte.
„Du bist der Mann, den sie Hassem nennen?“ Nachdem der erste Mann ihn direkt angesprochen hatte, betrachtete ihn Hassem nun erstmalig genauer. Er trug braune unauffällige Kleidung und zwei lange Dolche an seinem Gürtel. Sein Umhang aber war außergewöhnlich. Er schien das wenige Licht um ihn herum geradezu zu verschlucken und hüllte seinen Träger in einen dunklen Schatten. Hassem musste keinen zweiten Blick auf den Mann werfen, um ihn als gedungenen Mörder zu erkennen. Der magische Umhang, seine Körperhaltung und der eiskalte abschätzende Blick seines Gegenübers waren eindeutig. Der zweite Mann jedoch, den Hassem zuvor nicht bemerkt hatte, passte nicht ins Bild. Er sah weder aus wie ein Kämpfer, noch wie ein Magier und schien nicht im Geringsten Anstalten zu machen, dem ersten Mann zur Seite zu stehen.
„Mein Name ist Hassem. Und wer ist es, der sich mein Kopfgeld verdienen will?“ Der Mörder zeigte kurz zu dem zweiten Mann, der abwartend einige Meter entfernt auf den Dach stand. „Siehst du den? Er gibt mir zehn Goldstücke, wenn ich dich töte. Und mein Name ist Melor.“ Für einen Moment stutzte Hassem. Er hatte den Namen des Mörders schon einmal gehört, in Magystra. Melor war bekannt, arbeitete nur für große Geldbeutel und hatte noch nie versagt, tödlich und zuverlässig. „Das macht keinen Sinn. Die Sieben Spinnen haben niemals zehn Goldstücke auf meinem Kopf ausgesetzt. Wer sonst will meinen Tod?“
Ein weiterer Blick auf den Mann, der passiv in einigen Metern Entfernung stand, ließ keine Erinnerungen aufkommen. Der Mann trug funktionale dunkelrote Kleidung, die ihn unauffällig wirken ließ. Verarbeitung und Material verrieten jedoch, dass er offenbar an Geld nicht sparen musste. Hassem war sich sicher, dass er ihn noch nie gesehen hatte. Dann zog Melor seine Dolche und der Kampf begann. Zuerst langsam, abwartend studierten sich die beiden Kontrahenten, dann wurden die Angriffe zunehmend schneller und die Pausen kürzer. Hassem erkannte schnell, dass er einen Meister des Dolchkampfes vor sich hatte. Er selbst war schon immer ein guter Nahkämpfer gewesen, besonders mit zwei Klingen. Seit Jahren schon trainierte er jeden Tag für wenigstens eine Stunde und auch in seiner Zeit bei den Sieben Spinnen hatte er so manchen Trick gelernt. Sein Gegenüber aber war ein Meister, der seine Dolche mit einer kaltblütigen Präzision führte, wie Hassem es noch nie gesehen hatte. Bereits nach dem dritten Schlagabtausch wusste er, dass er den Kampf nicht mit seinen Klingen würde gewinnen können.
Instinktiv griff er nach der Macht des schwarzen Mondes und fühlte, wie ihn starke Energien durchflossen. Umgehend wich sein Gegner einen Schritt zurück. „Ein Magier. Das ist Verrat, Galbius.“ Einen kurzen Blick zu dem Mann werfend, den Melor Galbius genannt hatte, zeigte Hassem, dass der kleine braunhaarige Mann offenbar wenig überrascht war. „Was für ein Spiel spielst du, Galbius? Du wirst mir schon bald Rede und Antwort stehen.“ Dann wandte er sich wieder Melor zu. „Nun werden wir auf Augenhöhe kämpfen.“ Sich auf seinen Körper konzentrierend kanalisierte Hassem seine magische Macht in seine Arme. Er hatte diesen Zauber schon einmal getestet, aber nun würde er ihn zum ersten Mal unter Kampfbedingungen einsetzen. Er könnte seinen Gegenüber mit einem Blitzschlag töten oder ihn in schwarzem Feuer verbrennen, aber er würde nichts dergleichen tun. Sein Gegenüber war ein Krieger und Hassem würde ihm den Tod eines Kriegers geben. Mit der Kraft seiner Magie in den Armen griff er erneut an, schneller und härter als je zuvor. Von der Magie in seinem Körper berauscht führte er seine Klingen in schnellen präzisen Angriffen und stellte mit Genugtuung fest, dass er seinem Gegner nun mehr als ebenbürtig war. Doch Melor gab nicht auf, eine komplizierte Verteidigungsform durchlaufend gelang es ihm, Hassems Angriffen auszuweichen, während er langsam vor ihm zurück wich.
Minutenlang tobte der stille Kampf in der Dunkelheit der Nacht auf den Dächern der Slums Phrygias, immer verfolgt von dem seltsamen rot gekleideten Beobachter. Dann sah Hassem endlich die Lücke. Er hatte seinen Gegner während des gesamten Kampfes studiert, war fasziniert seinen schnellen Bewegungen durch die Formen des Kampfes gefolgt, auch einigen, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Und doch machte der Mann wiederholt einen Fehler, direkt nach einem Angriff hob er seine linke Klinge zu langsam und ließ so seinen Hals ungedeckt. Umgehend wechselte Hassem in eine offensive Kampfform und begann einen Klingenwirbel. Immer schneller schlugen seine Krummsäbel auf seinen Gegner ein und drängten ihn an den Rand des Daches, dann ließ Hassem nach und wurde wieder langsamer. Melor zögerte nicht und griff in einem schnellen Vorstoß an, um sich wieder Platz zu verschaffen, so wie Hassem es erwartet hatte. Noch bevor der linke Dolch des gedungenen Mörders die Höhe seiner Hüfte erreicht hatte, traf Hassems Scimitar seine Halsschlagader. Mit einem letzten kalten Blick musterte der Mann Hassem anerkennend, dann brach er Blut spritzend zusammen, er war tot, noch bevor sein Körper auf dem Dach aufschlug.
„Wie ich sehe, waren meine Informationen korrekt. Entschuldigt diesen kleinen Test, aber ich musste sicher sein, dass Ihr der Richtige seid.“ Langsam drehte sich Hassem um, ohne seine magische Energie zu entlassen. „Erklärt Euch, Galbius. Ihr habt zehn Sekunden, danach werde ich Euer Blut neben dem von Melor auf diesem Dach verspritzen.“ Hassems Gegenüber schien wenig beeindruckt von der Drohung und hielt seinem Blick stand. „Verzeiht, wenn ich Euch verärgert habe. Aber ich habe ein äußerst lukratives Angebot für Euch.“ Ohne Angst in den Augen sah Galbius ihn weiterhin an, er schien sich sicher zu sein, dass Hassem ihn nicht schnell genug würde erreichen können und das wiederum beunruhigte Hassem außerordentlich. Es wurde Zeit, dass er seinen Trumpf ausspielte. „Seht auf eure Brust, Galbius. Sie gehorcht jedem meiner Kommandos, könnt ihr ihr auch entkommen?“ Verdutzt sah der Mann an sich herunter und erstarrte zu Hassems Genugtuung umgehend mit Todesangst in seinen Augen, als er den Gelbrückenkriecher auf seiner Brust sitzen sah.
Hassem hatte seinen Tigerbegleiter vor der Stadt lassen müssen, seine kleine Spinne jedoch hatte ihn stets begleitet. Noch während des Kampfes mit Melor war sie auf seinen Wunsch hin unbemerkt zu Galbius gekrochen und saß nun auf dessen Brust, bereit zum tödlichen Biss. Welche Fluchtmöglichkeit der Mann auch immer hatte, sie würde ihm offenbar nicht gegen eine tödliche Spinne helfen. „Es ist ein Auftrag. Meine Herrin braucht jemand von außerhalb, dessen Spur nicht zurück verfolgt werden kann. Wir zahlen dir einhundert Goldstücke, wenn du eine Frau tötest. Eine äußerst gut bewachte Frau.“ Galbius sprach offensichtlich in Furcht, als die Worte aus ihm heraus sprudelten, doch war keine Lüge in ihnen zu erkennen. „Einhundert Goldstücke. Ich habe noch niemals von einem dermaßen hohen Kopfgeld gehört. Genau, was ich jetzt brauche.“
Seine Augen noch immer auf Galbius gerichtet, steckte Hassem seine Säbel zurück in seinen Waffengurt. „Wer ist das Ziel?“ Der Mann warf einen weiteren Blick auf die Spinne auf seiner Brust und antwortete mit zittriger Stimme. „Triumvirin Tara Gilnos.“
<==>
Sprachlos starrte Herm auf den schwarzen Turm, dessen Anziehung für ihn beinahe unwiderstehlich war. Drei Eingänge wiesen den Weg in das gewaltige Bauwerk, dessen Rumpf sich aus drei schlangenartigen Säulen bildete, die sich umeinander schlangen. Hoch oben unter dem Nachthimmel, der von vier vollen Monden erhellt wurde, mündete der Rumpf des Turms in einer ovalen Platte, die ein einzelnes großes Bauwerk beherbergte. „Vier volle Monde. Eine große Konjunktion, ist das möglich?“ Herm hatte Geschichten gehört über Konjunktionen der drei sichtbaren Monde, sie waren selten, die letzte musste schon über einhundert Jahre her sein, doch waren diese Nächte stets eine Geburtsstunde von Legenden. „Wie muss erst eine Konjunktion sein, in der nicht drei sondern alle vier Monde gleichzeitig voll am Himmel stehen, könnte die Welt das überleben?“
Ein weiterer Blick zum Turm zeigte Herm noch einmal die drei Eingangstore, die alle von zahlreichen Runen umgeben waren. Für einen Moment zögerte er und versuchte herauszufinden, welches der drei Tore ihn am meisten anzog, doch dann spürte er einen Blick in seinem Nacken. Er war nicht mehr allein, noch jemand war am Turm. Krampfend zog sich sein Magen zusammen. Er wollte sich umdrehen und nach dem zweiten Mann Ausschau halten, doch sein Körper war erstarrt. Unfähig, seinen Kopf zu wenden, spürte er das Näherkommen des Fremden. Er wusste, dass es derselbe Mann war, den er schon einmal in seinen Träumen gesehen hatte, sein Konkurrent im Rennen zum schwarzen Turm. Eiskalter Schauer lief Herm den Rücken herunter, während er spürte, wie der Fremde sich ihm näherte. Dann, schlagartig und unerwartet, konnte er sich schließlich umdrehen und sah etwas vollkommen unerwartetes. Herms Atem stockte bei dem schrecklichen Anblick, der sich ihm bot. Es war nicht der Mann, den er schon einmal gesehen hatte, es war der blutleere tote Körper von Kira.
„Kira, nein!“ Mit einem lauten Aufschrei erwachte Herm aus seinem Tagtraum und sah in die besorgten Augen Haschekks. Der Hauptmann des Wüstensturms und Anführer ihrer kleinen Karawane hatte ihn nun schon zum zweiten Mal aus einem Tagtraum auf seinem Pferd geweckt. Es war gefährlich, während des Reitens zu schlafen, daher achteten Haschekk und seine erfahrenen Männer genauestens auf Herm und seine Begleiter, während sie durch die heiße Wüste ritten.
Anders als sie es zuvor getan hatten, ritten sie bei Tage und rasteten bei Nacht. Offenbar konnten sich die Pferde so besser ausruhen und abkühlen, was bedeutete, dass sie mehr Weg zurücklegen konnten. Für Herm und Ise jedoch war es die Hölle, und auch Lingard zeigte zunehmend Zeichen der Erschöpfung. „Du vermisst sie wohl sehr. Ist sie deine Frau?“ Überrascht sah Herm den schwarzhaarigen Krieger an, der für ihn unbegreiflich trotz der brutalen Hitze einen metallischen Helm auf seinem Kopf trug. Er hatte seit Beginn ihrer Reise kaum gesprochen, geschweige denn eine persönliche Frage gestellt. „Nein. Aber ich wollte sie fragen, ob sie es werden will.“ Mit einem verstehenden Nicken akzeptierte Haschekk seine Antwort und deutete auf den Horizont, an dem die Sonne langsam tiefer sank. „Eine kleine Oase, nur noch eine Stunde entfernt. Dort können wir rasten und ihr könnt euch abkühlen.“ Der Blick des Wüstenkriegers gab keine Zweifel, dass er Herm und die anderen Nordländer für Schwächlinge hielt, wenn er es auch aus Höflichkeit nicht aussprach. „Wie würde er wohl über uns Nordländer denken, wenn er einmal axtschwingenden Berserkern Valkalls in der Tundra des Nordens gegenüber stehen würde?“
Mit einem Schmunzeln stellte sich Herm einen Kampf zwischen Haschekk und valkallischen Axtmännern vor, doch er wusste, dass es wohl niemals zu einer solchen Begegnung kommen würde. Nach einer guten halben Stunde konnte er dann zum ersten Mal die Umrisse der Oase am Horizont erkennen, sie würden sie in den nächsten zwanzig Minuten erreichen, noch bevor die Sonne unterging. Erleichterung machte sich bei der Aussicht auf die Kühle der Nacht und frisches Wasser bei ihm breit. „Wir kommen gut voran, wir werden vor den Entführern in Phrygia sein.“ Herm hatte in seine Gedanken versunken nicht bemerkt, dass Lingard neben ihn geritten war. Er hatte den schweigsamen Waldwächter in den letzten Wochen ihrer Reise als Freund kennen gelernt und war dankbar für die aufmunternden Worte. Ein schneller Blick zurück zeigte ihm, dass Ise weit hinter ihnen außerhalb der Hörreichweite war und so wandte er sich mit leiser Stimme an seinen Begleiter aus Meronis. „Du und Ise, ihr seid euch näher gekommen?“
Für einen Moment verzog Lingard sein Gesicht, doch dann sah er Herm direkt an. „Ise und ich sind Freunde. Aber sie wird mich nicht als Gefährten wählen.“ Seine Worte waren klar gesprochen, doch konnte Herm den Anflug von Schmerz in seinem Blick sehen und so fragte er nicht weiter. Die Oase war inzwischen näher gekommen und somit war auch das so sehnlich erwartete Wasser schon fast in greifbarer Nähe.
Langsam ritt Herm mit dem Rest der kleinen Karawane auf die ersten Palmen am Rand der Oase zu, als sich plötzlich sein Magen verkrampfte. Bekannte Energie floss in seinen Körper und weckte ihn umgehend aus seinem Dämmerzustand. Es war das erste Mal, dass die Energie des schwarzen Mondes ihn durchfloss, ohne das er sie gerufen hatte und diese Tatsache allein ließ sofort all seine inneren Alarmglocken klingen. Instinktiv baute er sofort einen schwarzen Schutzschild um sich herum auf und wollte gerade eine Warnung rufen, als ein roter Feuerstrahl mit voller Wucht auf seinen Schutzschild prallte und ihn von Ketara warf, die von der Wucht des Aufschlags auf die Seite geworfen wurde. Herm hatte sich selbst und seine Begleiterin geschützt, doch die dafür benötigte Größe seines Schutzschildes hatte es geschwächt und so fand er sich genau wie Ketara im heißen Wüstensand wieder.
Für einen Sekundenbruchteil legte sich Stille über die geschockte Karawane, dann wurde der Sand zu einem Schlachtfeld. Wie in einem unwirklichen Traum sah Herm valkallische Klankrieger mit schweren Zweihandäxten aus den Palmen der Oase auf ihn und seine Begleiter zu rennen. Ihm stockte der Atem bei dem Anblick, der sich auf einem kleinen Felsen offenbarte, der nur wenige dutzend Meter entfernt von ihm am Oasenrand stand. Jorn, Ises Bruder und Sohn des Klanlords der Tomaren hatte ihn von dem Moment an gehasst, wo sie sich zum ersten Mal getroffen hatten. Nun stand er umgeben von einem halben Dutzend Speerträger geschützt zusammen mit zwei weiteren Runenlesern auf einem Felsen, alle Drei umgeben von der Aura magischer Energie.
Herm hatte keinen Zweifel, dass es Jorn selbst gewesen war, der ihn aus dem Hinterhalt angegriffen hatte. „Und zwei weitere Magier, feiger Bastard.“ In nur wenigen Sekunden hatte sich der vermeintlich stille Wüstensand in ein blutiges Kampffeld verwandelt, auf dem Haschekks überraschte Kavallerie versuchte, sich neu zu formieren, während die tomarischen Klankrieger die ersten von ihnen mit ihren Äxten vom Pferd schlugen. „Ise, wir müssen ihnen Zeit verschaffen. Sorge du für Schutz, ich werde angreifen.“
Einen Fluch ausstoßend sprang Ise von ihrem Pferd und rannte zu ihm, Ketara und Lingard, während sie einen rot leuchtenden Schutzwall vor sich erschuf. Wütend schoss Herm drei Kugeln schwarzen Feuers auf die Runenleser auf dem Felsen, doch noch bevor sie Jorn und seine Begleiter erreichten, schlugen sie auf eine blaue Wand und zerplatzten in einer wirkungslosen Explosion. Er war nicht überrascht, es war offensichtlich, dass Jorns Begleiter einen Schutzwall errichtet hatten. Und jetzt würde er testen, wie stark der Wall war. Tief einatmend sog Herm alle Energie auf, die sein Mond bereit war, ihm zu geben. Mit zitternden Händen konzentrierte er sich auf den gewaltigen Energiefluss, der ihn durchströmte. Der schwarze Mond war nicht voll in diesen Tagen und auch noch nicht am Himmel sichtbar, aber für Herm war er wie ein endloser Energiequell. Dann schlug ein Feuerball aus Jorns Händen bei ihnen ein, Ises Barriere knisterte und zitterte, doch unter ihrem schmerzerfüllten Aufschrei hielt sie stand, Ise behielt die Kontrolle. Nur Sekunden später flog ein Pfeilhagel auf den Felsen zu, Lingard löste Pfeil um Pfeil aus seinem Langbogen, gezielt auf die Speerkämpfer, die schützend vor den Runenlesern standen.
Eine Handbewegung der jungen Frau neben Jorn schien den Wind selbst befehlen. Wie von einem Orkan getroffen flogen die Pfeile weit am Ziel vorbei. „Und jetzt ich!“ Sein Blick schweifte kurz auf Ketara, die riesige Bärin war von Jorns erster Attacke härter getroffen worden, als er zuerst gedacht hatte. Das Gefühl von Schmerz und Wut wurde über ihren Bund an ihn gesandt, erleichtert sah er, dass Ketara auch von Ises Schutzwall eingeschlossen war. Dann ließ Herm sich von seiner Wut leiten, einmal mehr dachte er an Kira und schrie seine Wut hinaus, als er seine gesammelte magische Kraft in einem schwarzen Blitz gegen den Schild seiner Gegner schoss. Es war der größte Blitz, den er je geformt hatte, unkontrolliert und mit voller Wucht krachte er gegen die blaue Barriere der Runenleser. Die Barriere zitterte und flackerte, als der Mann neben Jorn vor Schmerz aufschrie und in die Knie ging, mit weit aufgerissenen Augen sah der Mann ihn ungläubig an, während ihm Blut aus der Nase und den Mundwinkeln lief.
Währenddessen tobte um die Zauberer herum die Schlacht. Jorn hatte offensichtlich keine Neulinge nach Alterra geführt, die valkallischen Klankrieger waren allesamt kampferprobte Veteranen, muskelbepackte Axtmänner, die einem Pferd mit einem einzigen Hieb den Kopf vom Rumpf schlagen konnten. Doch Haschekks Männer verstanden sich besser auf den Kampf in der Wüste. Nachdem sie den Schock des Überraschungsangriffs und der ersten Verluste überwunden hatten, waren sie ausgeschwärmt und hatten Distanz zwischen sich und die Klankrieger gebracht. Jetzt, mit gesenkten Speeren und erhobenen Schilden, griffen sie wieder an und nutzten ihre Beweglichkeit auf dem heißen Sand als Vorteil. So fielen viele der valkallischen Krieger den Speerspitzen des Wüstenwindes zum Opfer, während inmitten des Kampfes die magische Schlacht zwischen den Zauberern wütete.
„Lingard, die Frau.“ Herms Kommando war knapp und leise gesprochen, doch der Waldwächter verstand. Umgehend entließ er eine Salve von Pfeilen in Richtung der Runenleserin, während Herm seine nächste Attacke begann. Diesmal aber behielt er die Kontrolle über die Energien und schoss einen zielgerichteten Strahl exakt auf die Stelle am Schutzschirm, an der sich der Kopf der Runenleserin befand, die zuvor Lingards Pfeile abgewehrt hatte. Sein Plan ging auf. Der bereits geschwächte Schutzzauber brach genau an der Stelle zusammen, an der Herm seinen Strahl konzentrierte. In wilder Panik erzeugte die Runenleserin einen eigenen Schild, um ihren Kopf zu schützen und achtete dabei nicht mehr auf die Pfeile. In demselben Moment, in dem ihr blauer Schild seinen Strahl aufhielt, schlugen drei Geschosse aus Lingards Bogen in ihren Körper ein und töteten sie auf der Stelle. Inzwischen war Jorn nicht untätig, der rote Magier schleuderte wütend einen Feuerball nach dem anderen auf ihn und Ise, die inzwischen mit zusammengebissenen Zähnen am Boden kniend kaum noch ihren Schild aufrecht erhalten konnte.
„Das reicht! Jorn, Sohn des Kermo. Stell dich mir zum Zweikampf, wenn du dich traust.“ Herms Stimme durchschnitt die Luft und überlagerte jedes andere Geräusch der Schlacht. Auf einen Schlag schien die Schlacht selbst den Atem anzuhalten und sowohl Jorns Krieger wie auch Haschekks Männer sahen in ihren Bewegungen erstarrt auf ihn. „Herausforderung angenommen!“ Mit einem grausamen Grinsen im Gesicht sprang Jorn von seinem Felsen und ging direkt auf ihn zu, Dreizack in seiner Hand.
„Kämpft weiter, ihr Narren. Wenn ich den kaldarrischen Hund erschlagen habe, will ich, dass kein Wüstenbastard mehr lebt. Wir machen keine Gefangenen!“ Ohne weiter zu zögern, packte er seine Waffe fest in beide Hände und stürmte auf Herm zu, einen roten Schutzschild vor sich flimmernd. Ise war inzwischen neben Lingard zusammengebrochen, genau wie ihr Gegenüber auf Jorns Seite. Beide Zauberer hatten ihre Energien zur Aufrechterhaltung der Schutzwälle aufgebraucht. Ohne weitere Worte griff Herm seine Waffe und trat Jorn entgegen. Der Angriff seines verhassten Gegners war kraftvoll und wohl überlegt. Zuerst schleuderte Jorn drei Feuerkugeln aus seinem Dreizack auf Herm, dann stieß er mit einem gekonnten Stoß aus vollem Lauf zu. Herm wehrte die Feuerkugeln mit einem eigenen schwarzen Schild ab und tauchte unter Jorn Angriff weg, so wie er es von Kira gelernt hatte. Noch vor wenigen Monaten hätte er keine Chance gegen die kraftvoll und präzise ausgeführten Stöße und Schläge seines Widersachers gehabt, doch das Training der letzten Wochen hatte seinen Kampfstil entscheidend verbessert. Er wusste, dass es noch lange dauern würde, bis er annähernd an Kiras Waffenfertigkeit heran kommen würde, aber immerhin reichte es momentan aus, ihn gegen Jorn am Leben zu halten.
Überall um sie herum war inzwischen der Nahkampf in vollem Gang. Haschekks Krieger lieferten den tomarischen Axtmännern einen gnadenlosen Kampf, keine der beiden Seiten war darauf aus, Gefangene zu machen. Lingard stand bei Ise und bewachte die inzwischen bewusstlose Schönheit, während er einen Pfeilhagel auf jeden entließ, der sich auch nur in seine Nähe bewegte. Ketara lag noch immer am Boden und erhob wütend ihr geöffnetes Maul, sobald es jemand wagte, auch nur in ihre Richtung zu sehen und bewirkte so einen zusätzlichen Schutz für Ise und den meronischen Waldwächter. Die Überzahl von Jorns Kriegern glich sich dabei langsam aber sicher aus, während Herm und Jorn in der Mitte des Schlachtfeldes ihr Duell weiterführten.
Schlag um Schlag griff der wütende Valkaller an, während Herm seinen Attacken in einer defensiven Kampfform auswich. Die Verbissenheit in Jorns Gesicht zeigte Herm, dass er mit einem schnelleren Sieg gerechnet hatte. „Er hat mich unterschätzt. Ich werde nicht denselben Fehler machen.“ Direkt nach einer weiteren Parade eines Stoßes seines Gegners nutzte nun Herm erstmals die Energie seines Mondes zum Angriff. Ein direkter Blitzschlag schwarzer Magie entlud sich gegen Jorns Schild, dessen verächtliches Lachen keinen Zweifel daran ließ, dass es mehr benötigen würde, um seinen magischen Schutz zu durchstoßen. Ohne Pause griff der Valkaller wieder an und wie in einem Tanz folgten Paraden auf Attacken, durchsetzt mit magischen Angriffen auf beiden Seiten. Schließlich spürte Herm, dass er langsam müde wurde, er würde das hohe Tempo seines Gegners nicht mehr lange halten können.
„Er wurde trainiert, damit ist er mir gegenüber im Vorteil.“ Einmal mehr verfluchte Herm die Tatsache, dass er der einzige Magier des schwarzen Mondes auf der Welt war. Wer sollte ihn trainieren, wie konnte er jemals mehr lernen? „Vielleicht im schwarzen Turm? Oder sollte ich das schwarze Buch suchen, vielleicht ist es noch in Keldur, wie die Legenden sagen?“ Mit einem Kopfschütteln warf er die Gedanken an das Buch aus Fa-Sals Legenden von sich. Die Entführer würden Kira zum schwarzen Turm bringen und dort würde auch sein Weg ihn hinführen. Ein weiteres Mal wich er einer Serie kraftvoll geführter Attacken aus, sein Gegenüber schien keine Erschöpfung zu kennen.
Inzwischen war nach minutenlangem Duell mit Jorn auch der Kampfeslärm um ihn herum erloschen. Ein schneller Blick zur Orientierung zeigte ihm die letzten Überlebenden beider Lager. Lingard stand mit Haschekk und zwei Männern des Wüstenwindes, die schwer verletzt aussahen, bei Ise und Ketara. Auf Seite der Valkaller stand nur noch ein einzelner Mann, es war der Magier, dessen Schutzschild den ersten schwarzen Blitz Herms abgewehrt hatte. Das Blut und der Ausdruck von Schmerz in seinem Gesicht sowie seine kniende Position verrieten, dass er nicht mehr viel magische Energie hatte, aber er war noch nicht ausgeschaltet. Offenbar hatten er und Herms Gefährten sich zu einem einvernehmlichen Patt zurückgezogen und beobachteten nun den Ausgang seines Duells mit Jorn.
Wieder wich er einer Schlagserie aus und kanalisierte umgehend neue Energie in seinen Schutzschild, gerade noch rechtzeitig um einem weiteren Feuerstrahl zu widerstehen. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und es fiel ihm zunehmend schwerer, neue magische Energie bereitzustellen. Noch niemals zuvor hatte er dermaßen lange kämpfen und zaubern müssen, die ungewohnte Anstrengung verlangte ihren Tribut. Blut lief ihm aus der Nase und Schmerz begann in seinen Armen zu brennen, er würde seine magische Hellebarde nicht mehr lange halten können. „Dann muss ich den Kampf mit Magie entscheiden.“ Mehr als je zuvor wünschte er sich Kira an seine Seite, sie würde Rat wissen. Aber sie war nicht da, stattdessen befand sie sich auf dem Weg auf die verfluchte Insel Kahilis und er verlor nur unnötig Zeit.
Der Gedanke an Kira war alles, was er brauchte. Einmal mehr ließ er sich von seiner Wut leiten und sog neue magische Energie in sich auf. Die Sonne ging langsam am Horizont unter und gab den Blick auf die Monde am vom Zwielicht beleuchteten Himmel frei. Der freie Blick zu seinem mehr als halbvollen Mond war alles, was Herm brauchte.
Immer mehr Energie floss in ihn, pulsierte durch seinen Körper und steigerte seine Wahrnehmung ins Unermessliche. Dann sah er es zum ersten Mal, Jorns Körper war von roter Energie durchflossen, aber Teile der Energie schienen fest um seine Arme und Beine zu liegen. „Clever. Er nutzt seine magische Kraft, um seinen Körper zu stärken, Deshalb also wird er nicht müde.“ Ohne weiter abzuwarten begann Herm den Plan, der sich in seinem Kopf gebildet hatte, in die Tat umzusetzen. Mit letzter Kraft wechselte er in eine der defensiven Kampfformen, die er von Kira gelernt hatte und führte einen Klingenwirbel vor seinem Körper aus, der etwas Distanz zwischen ihn und Jorn brachte.
Die kleine Pause war alles, was er brauchte, umgehend entlud er alle Energie, die er gespeichert hatte, in einen einzelnen Angriff. Doch es war kein Blitz und auch kein Feuerstrahl, wie es sein Gegenüber wohl erwartet hatte. Stattdessen formte er eine schwarze Kugel um Jorn und versuchte, ihn von seinem roten Mond abzuschneiden, so wie Marla es vor einigen Wochen noch mit ihm selbst getan hatte. Jorn erkannte die Art seines Angriffs erst, als es zu spät war. Mit einem wütenden Aufschrei versuchte er noch, mit der Waffe in der Hand auf Herm zu zuspringen, doch noch mitten im Sprung erschlafften seine Muskeln, als ihn die Kraft seines Mondes verließ. Erschöpft brach der große valkallische Krieger im Wüstensand zusammen, abgeschottet von seiner magischen Macht, kraftlos und unbeholfen, seine Augen voller Hass auf Herm gerichtet. „Soll ich ihn töten? Lasse ich ihn leben, wird er immer wieder versuchen, mich zu vernichten.“
Während Herm noch überlegte, ob er einen wehrlosen Mann einfach würde töten können, bewegte sich plötzlich der einzige überlebende Valkaller mit ruhigen Schritten auf ihn zu. „Tut es nicht. Ihr wisst, wer er ist. Tötet ihn und ihr habt eine Blutfehde mit dem gesamten Klan der Tomaren.“ Herm wusste, dass der blaue Magier recht hatte. Aber was sollte er tun, er konnte ihn nicht einfach hier lassen, wo er sofort wieder seine Verfolgung aufnehmen würde. Der ältere Magier schien Herms Gedanken zu erraten. „Ich werde ihn zurück zu seinem Vater bringen, ich gebe Euch mein Wort.“ Obwohl er den Mann nicht kannte und er noch vor Minuten sein Gegner auf dem Schlachtfeld war, fand Herm Ehre und Anstand in den Augen des blauen Magiers. Mit einem Nicken trat er zu Jorn und schlug ihm kräftig mit dem Schaft seiner Hellebarde gegen die Schläfe. Der Valkaller wurde umgehend bewusstlos, er würde erst in Stunden mit einer großen Beule und starken Kopfschmerzen aufwachen.
Abwartend sah er den blauen Magier an, dessen Körper nun langsam wieder von der Energie seines Mondes durchflossen wurde. Sprachlos sahen Herm und seine überlebenden Begleiter, wie der Magier sich vor ihren Augen in einen Riesenadler verwandelte, Jorns Körper mit seinen Krallen griff, und Richtung Norden davonflog. „Ein Meister der Transformation, unglaublich.“ Er hatte von blauen Magiern gehört, die diese Kunst beherrschten, sie waren äußerst selten und mächtig.
Das Gefühl von Schmerz, dass ihn durch seinen Bund von Ketara erreichte, riss ihn abrupt weg von dem Anblick des am Horizont verschwindenden Riesenadlers. Er wusste, was zu tun war. Ohne zu zögern spürte er seinen eigenen Lebensfunken in seinem Körper auf und nutzte seine verbleibende Energie, um Lebenskraft von ihm auf die große Bärin zu transferieren. Vor seinen Augen schlossen sich die großen Wunden Ketaras, während ihn seine Kräfte verließen. Erst als er spürte, dass sie wieder gesund werden würde, entließ er den Rest der Energie und fiel erschöpft in den heißen Sand der Wüste.
<==>
„Holt die Rahsegel ein und kontrolliert mir den Fockmast, sonst lass ich euch das Deck schrubben bis es zur nächsten großen Konjunktion kommt, Saubande.“ Mit grimmigem Gesichtsausdruck bellte Kapitän Gaross seine Befehle über das Deck der Melissa. Er hatte die auffällige, gelbfarbige Steinformation an der Küste schon von weitem erkannt und seine Logger langsam an eine gute Ankerposition gesegelt. Er war zufrieden, sie hatten den Treffpunkt noch vor der verabredeten Zeit erreicht.
„Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache, Käptn. Vielleicht sollten wir die Sache noch einmal überdenken, Käptn“ Blakman, Navigator der Melissa, hatte ihn schon mehrfach in den letzten Tagen versucht umzustimmen. Der bullige Glatzkopf war ein guter Navigator, ein seltener Schatz für einen Freibeuter wie Gaross es war. Daher tolerierte der erfahrene Kapitän auch den seltsamen Aberglauben des Mannes, aber eine Gelegenheit gute Münze zu verdienen, wie sie sich jetzt bot, würde sich der erfahrene Kapitän nicht durch die Lappen gehen lassen. Er fragte Blakman nicht, welches Zeichen er diesmal am Himmel gesehen hatte und es war ihm auch egal. In den letzten Wochen war ihm keine fette Beute ins Netz gegangen, diese hier würde er sich nicht entgehen lassen.
Einige Wochen war es schon her, da hatte ihn ein seltsamer Mann angesprochen, in einer der Hafenkneipen von Phrygia. Es war nicht außergewöhnlich, dass seine Dienste von zwielichtigen Gestalten der verschiedenen Diebesgilden Phrygias in Anspruch genommen wurden, doch dieses Mal war ihm sein Auftraggeber in unauffälliger dunkelroter Kleidung vollkommen unbekannt gewesen. Ebenso ungewöhnlich war die Bezahlung für den Auftrag. Fünfzig Goldstücke im Voraus für einen einfachen Passagiertransport schien eine sehr hohe Bezahlung und leicht verdientes Geld, wäre da nicht das Ziel der Reise gewesen. „Kahilis, die verfluchte Insel.“ Zweimal schon hatte er die Insel der alten Legenden angesteuert und war beide Male lebend zurück gekommen, doch er hatte nicht vor, die Drachen der Meere ein weiteres Mal herauszufordern.
Die fünfzig Goldstücke hatte er bereits und wenn die Passagiere kamen würde er sie gefangen nehmen und in Sarradazin verkaufen, egal was für ein schlechtes Gefühl sein Navigator bei der Sache hatte. Ein Blick zum Fockmast zeigte ihm den einzigen Gefangenen an Bord, der apathisch in seinen Ketten an den Mast gelehnt saß. Der dicke Dummkopf war eine leichte Beute für Gaross gewesen. Er hatte eine wirre Geschichte über eine Schatzkarte aus der Zeit des alten Kaisers und etwas Vergessenem, das verschlossen worden war erzählt und einen Transport zu einer kleinen Insel vor Phrygia gesucht. Gaross hatte dankbar sein Geld akzeptiert und ihn dann auf See hochgenommen, zu seiner Enttäuschung hatte der Mann jedoch außer einem albernen bunten Hut und einem alten Pergament mit Navigationsdaten, dass er Schatzkarte nannte, nur wenig Gold bei sich gehabt.
„Kruzen, nimm deine behaarten Riesen und rudert an Land, ich will wissen wie es hinter den Felsen aussieht.“ Mit einem Grunzen vernahm der große valkallische Krieger den Befehl seines Kapitäns und signalisierte seinen beiden Landsmännern, ihm zu dem kleinen Beiboot zu folgen. Kruzen zeichnete sich nicht durch gutes Benehmen oder Wortgewandtheit aus, aber in einem Kampf würde Gaross um nichts auf seine drei Valkaller verzichten wollen. Welche Schande es auch war, die sie dazu getrieben hatte, ihre Klans zu verlassen und sich schließlich seiner Crew anzuschliessen, sie waren ein Glücksgriff für ihn gewesen.
„Akim, Kemir, macht das Katapult bereit. Nur für alle Fälle.“ Ohne zu zögern sprangen die beiden alterrischen Seeleute auf und befolgten seinen Befehl. Beide waren verurteilte Mörder, deren Körper von ihren Stämmen der Wüste zum Sterben überlassen wurden. Doch sie überlebten und jetzt waren sie Mitglieder seiner Crew. Sie waren keine großen Kämpfer wie Kruzen und seine beiden valkallischen Brüder, dafür geschickt an den Segeln und intelligent genug, die einzige Waffe seines kleinen Schiffes zu bedienen. Das Katapult befand sich am Bug des Schiffes auf einer gut geschmierten Drehstafette und konnte kleine Feuerkugeln über eine Distanz von beinahe achthundert Fuß schleudern. Das Feuer konnte die Segel eines gegnerischen Schiffes innerhalb von Sekunden in eine Feuersbrunst verwandeln und so lästige Verfolger abschütteln oder fliehende Opfer aufhalten. Gaross glaubte nicht, dass er die Waffe heute brauchen würde, dafür war die Sicht zu klar, aber er hatte nicht so lange überlebt, weil er unvorsichtig war. Wen auch immer er nach Kahilis bringen sollte, möglicherweise gab es noch andere, die gerne Hand an sie legen würden.
Nur Minuten später signalisierte Kruzen ihm, dass ihre Passagiere bereits da waren. Ebenso wie die Melissa waren sie offenbar schon vor der verabredeten Zeit am Treffpunkt angekommen und hatten bei den Felsen ihr Lager aufgeschlagen. Gespannt sah Gaross zum Ufer und hoffte dabei, dass es nicht zu viele Passagiere waren. Es würde schwierig werden, sie zu überwältigen, wenn es mehr wie fünf wären. Mit Erleichterung sah er, wie sich wenig später eine Gruppe von drei Personen dem Beiboot näherte. „Eine Familie?“ Es handelte sich um einen Mann und eine langhaarige Frau, die eine weitere, kleinere Person vor sich her schoben. Gaross konnte sein Glück kaum fassen, nur drei Passagiere, die offenbar noch nicht einmal Waffen bei sich führten. Aufmerksam musterte er sie, während sie auf dem Beiboot von seinen valkallischen Männern zu seiner Logger gerudert wurden. Alle drei kamen offensichtlich aus Begos, der Mann war schlank, muskulös und trug eine Glatze. Obwohl er keine sichtbare Waffe bei sich trug, erkannte der erfahrene Kapitän sofort, dass der Mann ein Problem war. Die kleinere Frau an seiner Seite war eine Schönheit. Nicht, dass er eine Schwäche für Frauen aus Begos hatte, aber die Begleiterin des glatzköpfigen Mannes würde mit ihren seidenglänzenden schwarzen Haaren aus jeder Menge von Frauen herausstechen. „Vielleicht behalte ich sie auch für mich und wir verkaufen nur die Anderen.“ Die zweite Frau, die er von weitem für ein Kind gehalten hatte, war gefesselt und offenbar eine Gefangene der anderen Beiden. Auch sie war hübsch anzusehen, vielleicht nicht so wie die Größere, aber sie war auch nicht hässlich. „Etwas zu wenig Busen, aber für ein paar Münzen wird es auf dem Sklavenmarkt schon reichen.“
Geduldig wartete er, bis Kruzen das Beiboot an die Melissa ruderte und den Passagieren an Bord geholfen hatte. „Kapitän Gaross mein Name, willkommen auf der Melissa. Ihr seid früher angekommen wie gedacht.“ Der Mann nahm eine kleine silberne Münze aus seiner Tasche und zeigte sie dem Kapitän. Es war eine antike Münze, aus den Zeiten des alten Kaisers, und das verabredete Zeichen. „Die Reise verlief gut. Wir haben eine Gefangene, könnt ihr euch darum kümmern?“ Sein Blick auf den dicken an den Mast geketteten Gefangenen zeigte klar, was er meinte.
„Kruzen, kette die Kleine neben den dummen Fettsack. Und nimm die kleinsten Ketten, nicht das sie sich raus winden kann.“ Genau genommen würde es keine Rolle spielen, was sollte die kleine Frau schon tun an Bord seines Schiffes, aber offenbar stellte sein Befehl die beiden Fremden zufrieden. „Akim, begleite unsere Gäste in die Passagierkabine und bring ihnen frisches Wasser und etwas Fleisch. Danach zurück an die Segel, ich will heute Nacht wenigstens zehn Meilen vor der Küste ankern.“ Ein Blick zum Horizont zeigte ihm, dass die Sonne noch in der nächsten Stunde untergehen würde. „Kurs auf Kahilis, Mister Blakman. Setzt die Rahsegel, ich will noch vor der Ebbe von diesen Felsen weg. Los los.“
Ohne weiteren Kommentar ließen sich die beiden Passagiere aus Begos zu ihrer Kabine bringen. Die Melissa war eine kleine Logger, gerade fünfzehn Meter lang und hatte nur drei Kabinen. Eine für den Kapitän, eine für den Navigator und eine für Passagiere, der Rest der Mannschaft schlief an Deck. Ein einziger Blick reichte Gaross, um zu sehen, dass das Paar ihre Geisel nicht sonderlich gut behandelt hatte. Sie war schmutzig, wirkte schwach und ausgehungert, ohne Gegenwehr ließ sie sich an den Mast anketten. Doch dann traf sie seinen Blick und für einen kurzen Moment sah Gaross etwas, was er nicht erwartet hatte – eisernen Willen. Was die beiden Fremden ihrer Gefangenen auch immer angetan hatten, sie hatten es nicht geschafft, sie zu brechen.
Mit geschickten Schritten glich er den Seegang aus, während Blakman die Melissa in den Wind drehte. Wenn er Glück hatte, würden seine Passagiere seekrank werden, das würde die Sache noch vereinfachen. Aber zuerst musste er noch etwas Geduld haben, sie würden erst bei Mitternacht zuschlagen, so wie sonst auch. Während die Melissa zu einem guten Ankerplatz, etwa zehn Meilen vor der Küste segelte, begannen seine Männer, ihre Waffen zu schärfen.
Akim und Kemir glitten vorsichtig mit Schleifsteinen über ihre Krummdolche, die beiden verurteilten Mörder verstanden sich gut darauf, lautlos zu zuschlagen. Sollte es jedoch zum Kampf mit dem glatzköpfigen Fremden kommen, würden Kruzen und seine Brüder aktiv werden. Die Barbaren waren Experten im Kampf mit Axt und Entermesser, dabei bedienten sie ihre tödlichen Instrumente nicht so filigran wie Akim und Kemir, dafür aber umso durchschlagender. Im Notfall würde auch Gaross eingreifen können, obwohl das bisher noch nie notwendig gewesen war. Lediglich Blakman würde am Ruder bleiben und auf die Melissa und ihre Umgebung achten. „Immer eine Hand für das Schiff.“ Mit einem Schmunzeln musste er an seine ersten Lehrstunden an Bord einer Galeone aus Keldur denken, es war eine gute Schule für ihn gewesen, auch wenn er damals noch nicht gewusst hatte, dass er einmal als Pirat enden würde.
In seine Gedanken versunken spielte Kapitän Gaross mit der Schatzkarte, die in einem Lederholster in seinem Gürtel steckte, als ihn der Mitternachtsschlag der Deckglocke aufschreckte. Blakman hatte sie nur leise und gedämpft geschlagen und sah ihn nun vielsagend an. „Nein Blakman, wir ziehen es durch, egal was für ein Gefühl du hast.“ Wortlos blickte Gaross zu seinen Männern. Es bedurfte keiner Befehle, sie alle wussten was zu tun war.
<==>
„Seht nun, Phrygia. Die Stadt der Legenden und Seefahrer.“ Beinahe stolz zeigte Haschekk von der kleinen Anhöhe, auf die er sie geführt hatte, auf die riesige Stadt, die um und auf drei große Hügel gebaut worden war. „Das ist sie also, die älteste Stadt der Welt. Und hier ist vielleicht auch das schwarze Buch versteckt.“ Beeindruckt sah Herm auf die pulsierende Stadt und ihren großen Hafen, der als der größte der Welt galt. Haschekk hatte ihnen viel erzählt über die Geschichte der Stadt, während sie gereist waren und Herm war dankbar gewesen für die Ablenkung.
Es tat gut, sich mit etwas anderem beschäftigen zu können wie Kiras Entführung. Der Angriff von Jorn und seinen Kriegern hatte sie schwer getroffen und er hatte keine Hoffnung, dass sie die Stadt vor den Entführern erreicht hatten. Ketara hatte keine schweren Verletzungen davongetragen, doch sie brauchte mehr Ruhe und Erholung wie vor dem Kampf. Herm selbst hatte zwei volle Tage gebraucht, bis er wieder reiten konnte, ebenso wie Ise. Von Haschekks Männern hatten nur zwei überlebt, die ebenfalls noch mit ihren Wunden kämpften, auch wenn die stolzen Reiter des Wüstenwindes ihre Schmerzen zu überspielen versuchten. Lediglich Lingard und Haschekk selbst waren ohne Blessuren aus dem Kampf gekommen und hatten sich in den letzten Tagen der Reise die Nachtwachen geteilt, was zur Folge hatte, dass nun auch sie erschöpft und übermüdet auf der Anhöhe standen.
„Wie soll ich sie hier nur finden?“ Der Blick auf die gewaltige Stadt nahm Herm beinahe jede Hoffnung, die Entführer abzufangen, bevor sie sich einschifften. Er war bereits beeindruckt gewesen von dem großen Hafen Magystras, doch Phrygia stellte alles in den Schatten, was er bisher gesehen hatte.
„Seht ihr den ersten großen Hügel auf der linken Seite? Es ist der Stammsitz der Familie Gilnos, Fürst Fa-Sal hat dort Freunde. Wir müssen vorsichtig sein in Phrygia, denn es ist auch die Stadt der Intrigen.“ Herm folgte Haschekks ausgestrecktem Arm und sah auf den Hügel, der mit prachtvollen Bauwerken bedeckt war. Er hatte von dem Wüstenkrieger gelernt, dass Keldur von drei mächtigen Familien in einem Triumvirat regiert wurde, eine Konstellation die viel Raum für politische Intrigen und höfische Machtspiele ließ.
Das plötzliche Auftauchen einer größeren Menschengruppe, die die Stadt durch das Südtor verließ, riss Herm aus seinen Gedanken. Mehrere große Wagen, die teilweise mit Maschinen beladen waren, wurden von starken Ochsengespannen gezogen. Bewaffnete Reiter eskortierten die Wagen, denen wenigstens zweihundert Männer zu Fuß folgten, die Spitzhacken und anderes Werkzeug trugen. „Gibt es Minen in der Nähe, Haschekk?“ Der Wüstenkrieger schien einen Moment zu überlegen, bevor er antwortete und dabei nervös zu dem Tross sah, der sich in ihre Richtung bewegte. „Nein, hier gibt es keine Minen. Gefällt mir nicht, die haben uns bestimmt schon hier oben gesehen. Wir müssen vorsichtig sein.“
Als hätten sie die Worte Haschekks gehört, verließen sechs Reiter den Rest der Gruppe und ritten direkt auf sie zu. Angespannt warteten Herm und seine Begleiter, während die Reiter näher kamen. Bewaffnet mit Speeren und von dicken Lederrüstungen geschützt machten die fünf Männer einen nervösen Eindruck, während ihre Anführerin mit wachsamen Augen Herms Reisegruppe und die Umgebung musterte. Die Art und Weise, wie sie arrogant im Sattel saß, gab sie schnell als Adlige zu erkennen, ihr kunstvoll verzierter Helm mit Federbusch tat den Rest dazu.
„Ausgrabungsleiterin Camille von den Trionen. Ihr seht nicht aus wie Händler, was führt euch hierher?“ Der Blick der Adligen hatte Ketara lange gemustert und war schließlich auf Herm stehen geblieben. Offensichtlich gab er neben dem riesigen Bären stehend einen beeindruckenden Anblick ab. „Herm Pendrak aus Kaldarra. Wir besuchen die Familie Gilnos, unser Anliegen ist nicht Eure Angelegenheit.“ Herm wusste genau, wie er mit Adligen von der Sorte Camilles umgehen musste. Die Tatsache, dass sie eine Ausgrabung leitete zeigte, dass sie von niedrigem Stand war, hochrangige Familienmitglieder der Trionen würden sich nicht selbst schmutzig machen. Also behandelte er sie von oben herab, sie konnte seinen Stand nicht einordnen und würde vorsichtig sein.
„Triumvirin Tara Gilnos wurde vorgestern ermordet, das Triumvirat hat die Wachen der Stadtgarde verstärkt. Ihr werdet es nicht einfach haben, eine Audienz zu erhalten.“ Geschockt vernahm Herm Camilles Neuigkeiten. Nach Haschekks Worten hatte er gehofft, bei den Gilnos Hilfe zu erhalten, aber die Ermordung ihres Oberhauptes war ein herber Rückschlag. Man würde nun sehr vorsichtig gegenüber Fremden sein und Herm war sich bewusst, dass seine zusammengewürfelte Rettungstruppe für Kira keinen sonderlich vertrauenserweckenden Eindruck machte.
„Ihr befehligt eine große Kolonne, Camille. Darf ich Euch fragen, wo Ihr graben werdet?“ Seine Schmeichelei zeigte den erwünschten Erfolg bei der arroganten jungen Frau, die ihre Nase nun noch etwas anhob. „Das Triumvirat hat Triumvir Kaldwell von den Trionen noch vor dem Tod von Triumvirin Tara erlaubt, seine Ausgrabungen bei den alten Tempeln auszuweiten. Ich bin die Leiterin der Hauptkolonne, wir werden versuchen, die Tempel trocken zu legen.“ Es spielte keine Rolle für Herm, was Camille vorhatte, am allerwenigsten interessierten ihn jetzt irgendwelche Ausgrabungen. Kira war alles was zählte, aber wenn sein geheucheltes Interesse dazu beitrug, dass sie ihr Misstrauen verlor, war es ihm das wert. „Dann wünsche ich Euch Erfolg bei Eurer Mission, vielleicht sehen wir uns noch bei späterer Gelegenheit.“ Mit einem Kopfnicken akzeptierte Camille die Verabschiedung und ritt mit ihren Männern zurück zu dem Rest des Trosses, der wie ein langer Lindwurm gen Südwesten an ihnen vorbei zog.
„Das sind böse Nachrichten. Die Familie Gilnos wird Fürst Fa-Sal nicht beleidigen, indem man uns nicht einlässt, aber die Sache ist nun mit Sicherheit komplizierter.“ Haschekk sprach aus, was auch Herm dachte. Doch ein Blick in die Augen von Lingard und Ise genügte, um zu wissen, dass sie nicht aufgeben würden. Sie mussten Kiras Entführer in Phrygia finden, oder eine Passage nach Kahilis, es gab keinen anderen Weg.
<==>
Vorsichtig öffnete Kira ihre Augen, während sie ihren Körper perfekt still hielt. Sie konnte die Anspannung der Männer an Deck des kleinen Schiffes förmlich spüren, während sie sich still vielsagende Blicke zuwarfen. Kira hatte keine Zweifel daran, was die Besatzung vorhatte, offenbar hielten sie Nakang und Bera für leichte Opfer. „Dummer Fehler. Aber vielleicht mein Glück.“ Sie hatte die letzten Stunden damit verbracht, ihre Handgelenke in den Ketten wund zu scheuern, mit denen sie an einen der Masten des Schiffes gefesselt worden war. Der Prozess war äußerst schmerzhaft gewesen und es hatte ihre ganze Disziplin erfordert, dabei nicht zu schreien.
Waren ihre Bemühungen auch schmerzhaft gewesen, so waren sie aber auch erfolgreich, es würde nur noch eines letzten Ruckes benötigen, dann wäre sie frei. Doch noch musste sie sich in Geduld üben und auf den richtigen Moment warten. Der dicke Mann neben ihr, der schon an den Mast gekettet war, als sie an Bord gebracht wurde, schien fest zu schlafen, was er durch gelegentliche Schnarchgeräusche bestätigte. Umgehend musste sie an Herm denken, beinahe ähnlich hatte auch er jede Nacht geschnarcht, die sie zusammen gereist waren. Zuerst hatte es sie gestört, doch dann hatte sie sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt. „Und jetzt vermisse ich es. Bei allen Drachen, ich wünschte du wärst hier, starrköpfiger Kaldarrer.“ Einmal mehr fühlte sie sich allein. Sie war schmutzig, schwach und ausgehungert, aber all das würde sie hinnehmen, wäre sie nur mit ihm zusammen.
Die plötzlichen Bewegungen an Deck rissen Kira aus ihren Gedanken und sie musste all ihren Willen aufbieten, weiter regungslos die Schlafende zu spielen. Mit geschickten Schritten schlichen die beiden alterrischen Seemänner zu der Passagierkabine und drückten vorsichtig gegen die Tür. Umgehend spannte Kira ihren Körper an, sie war sich ziemlich sicher, was als nächstes passieren würde. Und sie behielt recht, mit einem Krachen schlug die Tür plötzlich nach außen und schleuderte dabei den ersten der Seeleute, den der Kapitän Akim genannt hatte, brutal gegen die Reling. Noch während der Mann mit einem Schmerzensschrei zusammenbrach, trat Nakang mit einem Grinsen in die Tür. „Aber Kapitän Gaross, behandelt man so seine Gäste? Wir müssen da wohl etwas klarstellen.“
Noch bevor er weiter reden konnte, stürzten sich ihm die drei valkallischen Krieger mit erhobenen Entermessern entgegen, doch ihr Angriff war zu langsam, als das sie ihn überraschen konnten. Binnen Sekunden verwandelte sich das Deck des kleinen Schiffes in ein Kampfgelände, als auch Bera kampfbereit aus der Kabine sprang. Kira hatte keinen Zweifel daran, wer den Kampf gewinnen würde, sie wusste dass sie nur diese eine Chance bekommen würde und riss ihre Handgelenke aus den Ketten.
So schnell sie konnte sprang sie auf und zertrat mit einem gekonnten Tritt die Backbord-Decklampe, umgehend verteilte sich das brennende Öl über das Deck und loderte in hellen Flammen auf. Während seine Männer noch im Kampf waren und der glatzköpfige Navigator mit angsterfüllten Augen das Ruder fest umklammert hielt, sprang der Kapitän mit gezogenem Säbel und einem Aufschrei auf sie zu. Unter normalen Umständen wäre der Angriff des Kapitäns kein Problem für sie gewesen, doch ihr Körper hatte der Zeit der Gefangenschaft seinen Tribut gezollt. So konnte sie ihm nur mühsam ausweichen, während sie das große Wasserfaß griff, das auf dem Deck stand und umstürzte. Der erste Teil ihres Plans war damit erfüllt, doch sie konnte deutlich spüren, dass ihr Körper nicht kräftig genug war, um den Kampf gegen seinen Widersacher ausreichend schnell zu beenden. Nakang und Bera hatten bereits den ersten der großen Barbaren zu Boden geschickt, während der zweite alterrische Seemann verzweifelt versuchte, das Übergreifen des Feuers auf das Segel zu verhindern. Eine weitere Attacke des Kapitäns drängte sie zurück zum Mast, der Mann stellte sich als überraschend geschickter Fechter heraus.
Dann geschah etwas Unerwartetes. Wie aus dem Nichts heraus griff der dicke Mann, der noch an den Mast gekettet war, die Beine des Kapitäns und brachte ihn zu Fall. Kira überlegte nicht lang und sprang sofort auf ihn, ein harter Schlag mit ihren Knöcheln gegen den Hals des Kapitäns beendete den Kampf. Ohne zu zögern griff der angekettete Mann in die Tasche des toten Kapitäns und entnahm einen Schlüssel, mit dem er seine Ketten löste.
„Kannst du schwimmen?“ Ihre Frage war knapp und schnell gestellt, sie hatten keine Zeit zu verlieren. Mit einem Nicken nahm der Mann noch eine Lederrolle aus dem Gürtel des toten Kapitäns, während sie mit ihrem Blick auf das umgestürzte Wasserfass deutete. Der Mann verstand umgehend, doch zuerst griff sie noch nach ihrer eigenen Lederrolle, die zusammen mit dem Rest ihrer Sachen neben dem Mast abgelegt worden waren. Sie wusste, dass sie nicht mehr mitnehmen sollte, doch dann legten sich ihre Hände um die beiden Holztafeln, zwischen denen noch immer die weiße Blume gepresst war, die Herm ihr in Valkall geschenkt hatte. Mit festem Griff nahm sie die Platten und fasste dann gemeinsam mit dem dicken Mann das Fass, um es über Bord des inzwischen an mehreren Stellen brennenden Schiffes zu werfen und hinterher zu springen. Dann tauchte sie in das kalte, dunkle Wasser und griff verzweifelt nach dem Holzfaß, das vor ihr im Ozean schwamm.
<==>
Nachdenklich sah Rakul auf den Spiegel, in dem noch vor wenigen Momenten das Abbild von Krimhall, der Erzmagierin des roten Turms zu sehen gewesen war. „Die schwarze Garde. Die Barriere ist noch schwächer als ich befürchtet hatte, wenn sich die Garde bereits erhoben hat.“ Krimhall hatte ihm von erschreckenden Geschehnissen in der Wüste Alterras berichtet, von zerstörten Oasen, der Wiederauferstehung der dunklen Garde und einem Magier, der schwarze Blitze verschoss und die Kunst der Seelenbindung beherrschte.
„Wenigstens sind wir jetzt sicher, dass es ihn gibt. Und ich weiß auch, wohin es ihn zieht.“ Kahilis war schon seit Jahrhunderten Niemandsland, eine verbotene Insel voller Schrecken und Gefahren. Genau so, wie Rakul es wollte. Er hatte keinen Zweifel daran, dass es den Boten des Erwachens zum alten Turm der Magier des Karas ziehen würde. Sein Ziel war kein Mysterium, doch wie konnte er seine Magie trotz der Barriere wirken?
Die Barriere war schwach, aber noch nicht verschwunden. Wie also konnte der Mann die Kraft des schwarzen Mondes anzapfen? Wütend schlug Rakul gegen den Spiegel, er kannte die Antwort. „Also ist es wahr, er kehrt zurück. Und wenn er einem Auserwählten Zugang zu der Kraft des Karas verschaffen kann, ist er bereits stärker wie befürchtet. Wenn wir nur seinen Anker finden könnten.“
Rakul hatte von seinem Vorgänger genaue Informationen zu der Suche nach dem Anker bekommen. Als der schwarze Erzmagier in den Nexus verbannt wurde, spürten einige Beteiligte des Rituals, dass die Verbannung nicht komplett gelungen war. Man vermutete schon damals, dass es einen Ort auf der Welt gab, an dem er sich festklammern und einen Teil seiner Präsenz aufrechterhalten konnte, einen Anker aus dem Nexus. Viele Vorgänger von Rakul hatten den Anker gesucht, über die Jahrhunderte, doch keinem war es gelungen, ihn zu finden. Rakul selbst erschuf das Netzwerk der Wächter und ließ Seher nach ihm suchen, doch ohne Erfolg. „Und jetzt ist er wieder aktiv, direkt vor unserer Nase. Und wir können ihn immer noch nicht finden.“
Fluchend ging Rakul wieder in sein Labor. Alles, wofür er gearbeitet und woran er geglaubt hatte, wofür er sein Leben aufgegeben hatte, war in Gefahr. Die Barriere wurde schwächer, der Verbannte war wieder aktiv und der Erzmagier des grünen Turms folgte dem Pakt des Windoshei nicht, es war eine Katastrophe.
Es wurde Zeit für bessere Nachrichten, Rakul konnte nur hoffen, dass Perkles ihm Positives zu berichten hatte. Mit gekonnten Bewegungen setzte er die drei farbigen Steine des Rufens in einem Dreieck um sich und sprach die Worte. Nur Sekunden später erhielt er die erwartete Antwort. „Mein Lord, ich höre den Ruf des Kristallturms.“
Erschöpft setzte sich Rakul in seinen Lesesessel, ein exquisites Stück aus Meronis. „Perkles, was hast du zu berichten, hast du den Magier des Karas lokalisiert?“ Mit langsamen Handbewegungen rieb Rakul sich die Füße, während er sprach. Er konnte nun sein Alter mit jedem Tag deutlicher spüren, die Macht des Kristallturms würde ihn nicht ewig am Leben halten können. „Es sind zwei, mein Lord. Und sie haben die Fähigkeit des Seelenbundes wiederentdeckt. Momentan reisen sie getrennt nach Osten, ich habe Grund zu der Annahme, dass sie über Phrygia nach Kahilis einschiffen wollen. Möglicherweise kann ich sie in der Stadt einholen.“
Wie betäubt hörte Rakul Perkles Worte. Die Wiederentdeckung des Seelenbundes war nicht neu für ihn, Krimhall hatte ihn diesbezüglich bereits gewarnt. Vielmehr war es Perkles Behauptung, dass es zwei schwarze Magier gab, die Rakuls Herz zum Rasen brachte. „Unglaublich, die Vision von Meister Yi war korrekt. Er hatte damals schon von zwei Boten des Erwachens gesprochen, ich hätte besser auf ihn hören müssen.“ Für einen Moment atmete er tief ein, bevor er seinen Diener erneut ansprach. „Wir brauchen sie lebend, wenigstens einen von ihnen. Noch bevor sie den Turm erreichen. Sie sind unsere beste Chance, den Anker zu finden.“
Für einen Moment war Stille, bevor Perkles Antwort durch die Steine kam. „Mein Lord, alles deutet darauf hin, dass sie bereits jetzt schon über große Macht verfügen. Einen von ihnen zu töten ist eine Sache, aber sie gefangen zu nehmen übersteigt meine momentanen Möglichkeiten.“ Rakul wusste, dass Perkles recht hatte. Er war ein ausgezeichneter Spürhund und ein Waffenmeister, der seinesgleichen suchte. Aber allein gegen zwei schwarze Magier, eine Horde Attentäter und gebundene Bestien, das war zuviel. „Ich schicke dir Turmwachen nach Phrygia. Finde die Magier und melde dich bei unserem Kontakt in der Stadt. Gib mir Nachricht, wenn du Neuigkeiten hast.“
Genervt unterbrach Rakul die Verbindung, noch während Perkles die formalen Worte eines Dieners des Turms sprach. Er hatte sich noch nie so dringend gewünscht, den Turm verlassen zu können wie in diesem Moment. Es war nicht, dass er die Welt außerhalb des Turms vermisste, es war die Unfähigkeit, selbst eingreifen zu können, die an ihm nagte. „Ragfan, aktiviere die Turmwache. Es entscheidet sich in Phrygia.“
<==>
Gleichzeitig hustend und nach Luft schnappend spuckte Kira die letzten Reste des Salzwassers aus ihren Lungen auf den felsigen Boden. Von Krämpfen gepeinigt brach sie schließlich erschöpft am Boden zusammen, sie hatte sich noch nie so elend gefühlt. Langsam erst nahm sie ihre Umgebung wahr, während sich ihr Körper von den Strapazen der letzten Stunden erholte. Sie waren die ganze Nacht gepaddelt, sie und der andere Gefangene, mit dem sie zusammen über Bord gesprungen war. In der Dunkelheit hatten sie sich nur schwer in den großen Wellen orientieren können und so hatten sie sich an dem Fass festgehalten, in der Hoffnung, dass sie mit ihren Beinen in die richtige Richtung schwammen.
Dann war der Wellengang stärker geworden. Sie hörte noch das Rufen des Mannes, der wie sie um sein Leben schwamm, als sie die Wellen gegen etwas Hartes warf und das Fass mit einem hässlichen Krachen zerbrach.
„Ruhig, du hast viel Wasser geschluckt. Geh es langsam an.“ Die männliche Stimme versetzte Kira augenblicklich in Alarmbereitschaft. Sie gehörte nicht dem Mann, mit dem sie durch die Nacht um ihr Leben geschwommen war und sie konnte sie niemandem zuordnen, den sie kannte. Instinktiv nahm sie einen tiefen Atemzug, dann rollte sie sich rückwärts in einer geschmeidigen Bewegung auf ihre Beine und verharrte in einer tausendfach einstudierten Kampfposition, während sie nun erstmals ihre Umgebung genauer studierte. Sie stand auf einem Felsen, hinter ihr schlug die Brandung in Wellen gegen die Küste. Der dicke Mann lag wenige Meter neben ihr und atmete ruhig, offenbar hatte er es genau wie sie lebend überstanden. Vor ihr aber sah sie zwei Silhouetten gegen die aufgehende Morgensonne, von denen sie eine schnell als Kamel identifizierte. Die zweite Gestalt jedoch war ein Mann, der sie ruhig und abwartend ansah. Er trug graue Kleidung, die ihn unauffällig wirken ließ, wäre da nicht seine Haltung und Körpersprache, die Kira augenblicklich sagte, dass sie es mit einem erfahrenen Kämpfer zu tun hatte. Neben einer kunstvoll verzierten Panflöte an seinem Gürtel trug er als einzige Waffe ein großes Zweihandschwert auf den Rücken geschnallt, machte jedoch keine Anstalten, die Waffe zu ziehen.
„Deinem Begleiter geht es gut, er schlief ein, nachdem er das Wasser aus seinen Lungen gelassen hatte. Du solltest dich auch etwas ausruhen, du bist heute knapp am Tod vorbei geritten.“ Unsicher sah Kira an sich herab. Sie gab einen fürchterlichen Anblick, ausgehungert und blutüberströmt, gekleidet in schmutzige, zerrissene Leinenkleider, die ihr lose vom Körper hingen. Ihr langes schwarzes Haar hing teils abgerissen in Strähnen in ihr Gesicht, während ihre zitternden Knie sie kaum auf den Beinen halten konnten.
„Wie lange liegen wir hier schon?“ Kira hatte von der Sklavenstadt Sarradazin gehört, die etwas südlich an der Küste Alterras lag und hatte nicht vor, dort als Minenarbeiterin oder Hure verkauft zu werden. „Ich sah, wie ihr mit eurem Fass an den Felsen zerschellt seid und habe euch aus dem Wasser gezogen. Es ist nicht meine Absicht, euch zu schaden, ihr müsst euch nicht fürchten.“ Seine Stimme war ruhig, beinahe emotionslos, es war nicht die Stimme eines Mannes, der selbstlos Ertrinkende aus dem Wasser zog. Konzentriert darauf, ihre Kampfposition zu halten, stellte sie sich dem großgewachsenen Krieger entgegen. „Ich fürchte mich nicht. Aber ich werde mich auch nicht kampflos ergeben.“
Mit ernstem Gesicht kam der Mann einen Schritt näher. „Aus irgendeinem Grund hat das Schicksal unsere Wege gekreuzt, Geschenk des Meeres. Wir müssen nicht kämpfen, aber du solltest dich wirklich ausruhen.“ Verdutzt sah Kira ihrem Gegenüber ins Gesicht, seine Augen waren klar und wachsam ohne Anzeichen von Wahnsinn. „Geschenk des Meeres? Was soll das heißen?“ Kira spürte, dass ihr die Zeit davonlief, ihr Stand wurde zunehmend schwächer und ihr Blick vernebelter, sie war der Ohnmacht nahe.
Ohne weiteres Nachdenken griff Kira instinktiv an, sie hatte nicht vor, vor den Füßen eines Fremden ohnmächtig zu werden, der sie als Geschenk betrachtete. Trotz ihres geschwächten Zustandes führte sie ihren Angriff schnell und präzise aus, darauf angelegt ihren Gegenüber durch einen Tritt zum Kinn zu Boden zu schicken. Doch ihr Fuß trat ins Leere, mit einer geschickten Bewegung hatte der Mann in Grau sich zur Seite bewegt und war so ihrem Angriff ausgewichen. „Er ist schnell, sehr schnell.“ Kiras Instinkt hatte sie nicht betrogen, sie hatte beim ersten Anblick des Fremden gespürt, dass sie einen Kämpfer vor sich hatte. Seine Bewegungen waren anders wie die, die sie in der weißen Blume gelernt hatte, und doch geschmeidig und effektiv. Adrenalin durchströmte nun ihren Körper und gab ihr neue Kraft, ohne zu zögern startete sie weitere Angriffe.
Scheinbar mühelos wich der Fremde ihren Angriffen aus, ohne dabei einen Laut von sich zu geben. Fasziniert sah sie ihn Kampfformen durchlaufen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, weder bei Nakang noch bei ihrem alten Meister Yi. „Wer ist er nur? Und wo hat er so kämpfen gelernt?“ Kira war immer davon ausgegangen, dass die weiße Blume die besten Kampfmeister der Welt hervorbrachte. Selbst die Attentäter, gegen die sie nun schon an verschiedenen Orten gekämpft hatte, nutzten ähnliche Formen des Kampfes wie sie selbst.
Nicht aber der in grau gekleidete Fremde. Seine Kampftechnik unterschied sich von allen Formen, die sie selbst in den sechs Shitsu gelernt hatte. Schließlich griff Kira zu ihrem letzten Mittel und wechselte in die Form der Schlange. Blitzschnelle von Adrenalin durchflossene Hände schlugen nach dem Fremden, in dessen Augen ein Zeichen von Anerkennung aufblitzte. Dann plötzlich, ohne Vorwarnung, schlug er zurück. Sein Angriff kam so schnell und unerwartet, dass er Kira völlig überrumpelte. Mit einer ihr unbekannten Schlagkombination unterwanderten seine Arme ihre Verteidigung und trafen ins Ziel. Vier harte Fäuste schlugen in Kiras Unterkörper ein und nahmen ihr die Luft zum Atmen. Noch während sie langsam zu Boden sank und ihr schwarz vor Augen wurde, hörte sie den Fremden sprechen. „Diese Technik kannst du nur von einem Meister gelernt haben. Mein Name ist Perkles und wenn du dich ausgeruht hast, werden wir uns unterhalten.“