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Nikolaus Tsekas kam mit dem Fahrrad. Es war nicht immer ein Wetter dafür und der Weg vom fünften Bezirk zu mir heraus kein Katzensprung. Es mache ihm nichts aus, sagte er, es sei ein gutes Training, und zu mehr komme er nicht derzeit. War auch nicht nötig, er war schlank, man sah ihm an, dass er viel in Bewegung war. Er sei der Typ fürs Praktische, hatte er mir beim ersten Treffen erklärt. Die Organisation namens Neustart, für die er arbeitete, war eine Opferhilfe, die sich um Leute kümmerte, die überfallen, vergewaltigt, verletzt, missbraucht, betrogen oder sonst wie körperlich und seelisch misshandelt worden waren. Und man betreute auch ihre Angehörigen. Tsekas war Sozialarbeiter. Im Gegensatz zu Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiatern hörte er nicht nur zu und stellte Fragen. Von ihm bekam man auch Antworten und Ratschläge. Ich gehe mit Ihnen zu den Ämtern, sagte er, ich helfe Ihnen, alle möglichen Formalitäten zu erledigen, und auch sonst bin ich immer für Sie da. Den Mann hatte der Himmel geschickt. Ich hatte schon lange aufgehört, alles mit meiner Familie zu besprechen. Zuerst, weil ich sie nicht über Gebühr aufregen wollte. Inzwischen kam ich mir auch noch lästig vor. Es gab ja so wenig Neues zu sagen. Wo wird sie sein? Wie wird’s ihr gehen? Was macht sie mit? Lauter hässliche Fragezeichen, nirgends eine Erklärung. Und die Zeitungen hatten zuletzt auch nicht gerade den Stoff für freundliche Tischgespräche geliefert. Habt ihr gelesen?, heute war ich wieder die Prügelmutter, als Beilage zu Lasagne, kann ich bitte den Parmesan haben? Männerbekanntschaften zum Drüberstreuen über den Kaiserschmarren für die Enkel. Wir redeten ständig über Natascha, aber anders. Am liebsten begannen die Sätze mit: Kannst du dich noch erinnern... ? Meine Ängste und meine Albträume brachte ich ebenso wenig zur Sprache wie meine Rastlosigkeit und meine Beklemmungen. Man soll nicht das Kind seiner Kinder werden, dachte ich oft. Mit Freunden war es noch schwieriger. Sie hatten alle angerufen, in der ersten Zeit. Sie hatten sich weiterhin erkundigt, ob ich irgendwas brauchte. Sie hatten immer ein Nein, danke, gehört. Die Monate waren vergangen, ihre Kinder größer geworden. So groß wie Natascha jetzt sein musste. Nur hatten die Eltern im Gegensatz zu mir etwas darüber zu erzählen. Teenagerprobleme, Schulanekdoten, sie kannten die Witze, über die ihre Kinder lachten, die Sprüche, die sie klopften, die Modewörter, die sie benutzten. Unter normalen Umständen hätten wir uns über die Launen der Pubertät unterhalten. Aber meine Umstände waren nicht normal. Und es war ausgesprochen anstrengend, sämtliche heiklen Themen zu umgehen, ich sah es an ihren Gesichtern. Wenn sie von verhauten Schularbeiten, einem Streit mit der besten Freundin oder der Sauerei bei den Geburtstagsfeiern anfangen wollten, und ihnen die Geschichte schon auf der Zunge lag, bevor sie sie im letzten Moment hinunterwürgten. Wir trafen uns zusehends seltener. Bei Nikolaus Tsekas hatte ich keine Scheu. Ihm erzählte ich alles. Von den Bügelbergen, die schon wieder vierzehn Tage im Korb liegen geblieben waren, bis zu den dunkelsten Stunden meiner Verzweiflung. Er wusch nicht meine Wäsche, aber er trocknete meine Tränen. »Wie lauft denn Ihr Alltag jetzt so ab, wollte er als Erstes wissen. Es war einer der Tage, an denen ich nicht aufhören konnte zu reden, und ich ließ nichts aus. Ich stehe in der Früh auf und weiß eigentlich nicht, warum. Dann gehe ich ins Bad, dusche mich, putze mir die Zähne, frisiere mich. Ich schaue dabei in den Spiegel, aber ich sehe mich nicht. Alles ganz mechanisch. Rituale haben eine segensreiche Macht über die Menschen. Man simuliert damit die Normalität. »Ja«, nickte Herr Tsekas, »das verstehe ich, und es ist gut, dass Sie sie nicht durchbrechen Ich hörte sein Lob gern. Nicht, dass ich sonst keine Anerkennung bekam. Die eigenen und auch wildfremde Leute, die mich ab und zu auf der Straße oder in einem Geschäft ansprachen, sagten mir immer wieder, wie bewundernswert meine Haltung wäre. Meine Kraft, meine positive Einstellung. Auch das tat gut, aber niemand begriff, wie unendlich aufreibend es war, die vielen kleinen Dinge des Lebens zu erledigen. Dass die Folter im Detail lag. Andere gehen in den Supermarkt und kaufen die Zutaten für ein Familienessen am Wochenende. Bei dem alle um einen großen Tisch sitzen, sich Belanglosigkeiten erzählen und über Nichtigkeiten lachen. Ich muss mich schon aufraffen, um ein Netz Erdäpfel zu kaufen, die ich mir abends manchmal koche und mit Butter esse. Oder Nachschub an Nudeln zu besorgen, die ich mir zustelle und dann mit Zwiebeln oder Knoblauch anbrate, das ist meine Lieblingsspeise geworden. Sofern jemand, der nie Appetit hat, von Lieblingsspeise reden kann. Es gibt auch Tage, an denen ich nur ein Sackerl Maiskörner ins Backrohr stelle und warte, bis es zu Popcorn zerplatzt. »Ich esse das auch gern«, sagte Herr Tsekas, »es geht schnell und gibt aus Wenn ich aus dem Haus gehe und zur Ausgabestelle von Essen auf Rädern fahre, wird es ein bisschen besser, erzählte ich ihm. Da kann ich mich auf den Verkehr konzentrieren, und meine Gedanken rennen irgendwie mit, ohne dass ich sie großartig beachten muss. Wenn ich mir was wünschen dürfte, dann, dass einer mir den Schalter zeigt, mit dem man das Denken abstellt. Was für ein Geschenk! »Ich weiß genau, was Sie meinen«, sagte Herr Tsekas, »ich werde mich in der Richtung schlau machen Ja, und dann bin ich den ganzen Tag unterwegs, fuhr ich fort. Am Vormittag Essen auf Rädern. Ein Haus nach dem anderen, Kundschaft auf Kundschaft, aussteigen, Essen rauftragen, ein paar nette Worte sagen, zum Auto gehen, einsteigen, starten, fahren, parken, aussteigen, Essen rauftragen... Danach alles, was sonst erledigt werden muss. Lauter kleine Schritte bis es dunkel wird, lauter kleine Handgriffe bis Mitternacht. Die Endlostage habe ich am liebsten, sie machen müde. Ich falle auf die Couch und freue mich, dass mir die Füße wehtun. »Das kann ich mir vorstellen«, sagte Herr Tsekas, »Erschöpfung ist eine wunderbare Erfindung, körperliche Erschöpfung Das Einzige, was ich wirklich gut auf der Reihe habe, sagte ich ihm, ist mein Zigarettenbestand. Zwei Packerl am Tag, irgendwo aus einer Trafik, an der ich gerade vorbeikomme. Das funktioniert. Apropos funktionieren, das ist ein viel treffenderer Ausdruck als leben. Ich weiß nicht, ob wir das Jahr 1999 oder 2001 haben, ich bewege mich durch die Zeit, als hätte ich Rauschgift genommen. Herr Tsekas lächelte mich an, fuhr sich mit den Fingern durch seine Haare, die er für sein Alter, ich schätzte ihn auf Mitte vierzig, etwas länger trug, und zog sich seinen Pullover an. »Bis zum nächsten Mal, Frau Sirny«, sagte er und kramte in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel fürs Fahrradschloss, »wir sehen uns in vierzehn Tagen, außer Sie brauchen früher was, dann... « Er zog sein Handy aus seiner Jacke und wedelte damit vor mir herum. »Sie rufen, ich komme«, sagte er. Den Mann hatte der Himmel geschickt.

*

Es gab auch Tage, an denen ich nicht redete. An denen mir jedes Wort zu viel war. Es muss gedacht werden, an den Stimmbändern vorbei in den Mund geschoben, dort mit der Zunge geformt und zwischen den Lippen auf die Welt gebracht werden. Die Mühe konnte ich mir nicht immer machen. Ich spürte das schon vor dem Aufstehen. Heute verhalte ich mich still, beschloss ich dann und beschränkte mich auf das Murmeltierdasein.

Es war nicht genau wie in dem Film, in dem ein Mann ständig denselben Tag erlebt, ihn aber von Mal zu Mal, weil er schon weiß, was passieren wird, besser meistert. Meine Tage unterschieden sich zwar auch kaum voneinander, nur besser wurde nichts. Außer, dass ich mich daran gewöhnte, die Leere in meinem Leben mit mehr oder weniger sinnvollen Tätigkeiten zu füllen.

Die Gewöhnung. Auch so eine wohltuende Einrichtung im menschlichen Dasein. Selbst wenn es unmenschlich wird, auf sie kann man sich verlassen. Unglaublich, was man alles aushält, dachte ich oft. Ich war ja nicht die Erste, die etwas zu ertragen hatte, und wenn es mir einmal nicht ganz so schlecht ging, sagte ich mir, dass es schon grausamere Schicksale gab als meins. Was die Leute im Krieg erleben mussten. Ab und zu brauchten meine Essen-auf-Rädern-Kunden etwas mehr Ansprache als Grüß Gott und Mahlzeit, dann lief ihnen die Erinnerung über, und sie wollten die Geschichten von damals loswerden. Wie das war mit dem Bombenalarm, wenn die Sirenen heulten, sie in den nächsten Luftschutzkeller rannten, mit den Kindern am Rockzipfel und dem Köfferchen, in das die wenige Habe gepackt war, die vielleicht das Einzige sein würde, was sie in ein paar Minuten noch besitzen würden. Ein alter Mann erzählte mir, wie er das Konzentrationslager überlebt hatte, er, als Einziger seiner gesamten Familie, und dass er heute noch keine Nacht durchschlafen kann. Das sind Prüfungen, dachte ich. Und ein paar Stunden nützte mir der Vergleich. Ich hatte ja die Hoffnung.

Mit Herrn Tsekas unterhielt ich mich bei einem Treffen ausführlich darüber. »Hoffnung«, sagte er, »was für ein Wort Ich zündete mir eine Zigarette an, und bevor ich noch den Rauch ausblasen konnte, redete er schon weiter. »Ich hab das letzthin im Lexikon und im Internet nachgeschaut«, sagte er. »Da steht: Hoffnung ist ein Wunsch oder eine Erwartung. Eine umfassende, emotionale, zuversichtliche, innere Ausrichtung auf die Zukunft.« »Ja«, sagte ich, »ich hätt’s nicht so ausdrücken können, aber genauso spür ich es »Jean Paul Sartre«, sagte er und sah mich kurz an. »Das ist der französische Philosoph, der bedeutendste und repräsentativste Intellektuelle des zwanzigsten Jahrhunderts. Erzähler, Dramatiker, Essayist. Seine Beziehung zu Simone de Beauvoir war übrigens... « Er sah meinen Blick. Nicht, dass ich noch nie von dem gehört hätte, ich wunderte mich nur darüber, wie Herr Tsekas sich plötzlich für einen toten Franzosen erwärmte. »Na, egal«, sagte er. »Jedenfalls hält Sartre die Hoffnung für das belebend Umgekehrte der Furcht und das Stärkste und Beste, was es gibt. Und wenn wir schon bei den Philosophen sind: Immanuel Kant hat geglaubt, dass der Himmel den Menschen als Gegengewicht zu den vielen Mühseligkeiten des Lebens drei Dinge gegeben hat: die Hoffnung, das Lachen und den Schlaf Er grinste mich an. »Sie haben wenigstens zwei davon bekommen. Aber das wird schon mit dem Schlaf, Sie werden sehen »Und wie sehen Sie die Hoffnung Sein Ausflug ins Vergeistigte hatte mich beeindruckt. Und ich war sicher, er hatte das alles nicht extra nachschauen müssen. Herr Tsekas war bescheiden und er protzte nicht gern. »Ich sehe das schon ähnlich«, erwiderte er. »Die Psychologie bringt es ganz gut auf den Punkt. Sie sieht die Hoffnung als eine Art Motivationssystem, das uns, wenn nötig, übermenschliche Kraft verleiht, um jedes Ziel zu erreichen, solange es nicht utopisch ist Vor dem letzten Halbsatz hatte er eine Sekunde gezögert und gehofft, dass ich es nicht bemerkte. Es war mir nicht entgangen, aber das behielt ich für mich. Für mich war Nataschas Rückkehr kein utopisches Ziel. Es hatte nur kein Datum, das man sich im Kalender eintragen und die Tage abstreichen konnte. Diese Zeitlosigkeit war das Quälendste. Und es wurde schwieriger und schwieriger, sich damit abzufinden. Je länger wir in unserem Ausnahmezustand lebten, desto deutlicher sahen wir auch die Auswirkungen auf die Kinder. Claudia, Sabina und ich hatten uns zwar bemüht, meine Enkel von dem allen möglichst abzuschirmen. Aber der Instinkt kleiner Kinder ist unfehlbar, sie müssen dazu gar nichts hören, sie fühlen es. Und sie hatten ihre Probleme damit. Markus hatte die erste Klasse Volksschule wiederholen müssen. Er hatte sich nicht genug konzentrieren können, seine Leistungen in der Schule waren abgefallen, seine Noten eine Katastrophe gewesen. Bei René war es vielleicht noch komplizierter. Wir sind zum Direktor zitiert worden, weil er ein anderes Kind geschlagen hatte, grundlos. »Irgendwo müssen sie ihre Aggressionen abreagieren«, sagte Herr Tsekas. »Man kann sich gar nicht vorstellen, was da in so einem kleinen Hirn los ist, und Kinder haben noch nicht die Möglichkeit, die Dinge analytisch anzugehen Er hatte mir was angetan mit dem Stichwort. Analytisch überlegte ich mir, warum ich mir im Fernsehen, das durchgehend bei mir lief, wenn ich daheim war, bloß noch stupide Talkshows anschaute oder einen Musiksender einstellte. Keine Gefahr, war die Erklärung. Da plapperten Leute über ihre Lifestyle-Kümmernisse, schlugen sich mit der Frage Piercing oder nicht herum oder wollten ihre Diät-Methoden mit der Welt teilen. Alles nicht meine Sorgen. Analytisch überdachte ich, was mich an Filmen von Rosamunde Pilcher so abstieß, abgesehen vom phänomenalen Kitsch. Die Idylle machte mich fertig. Diese absehbaren Happy Ends. Bulle von Tölz, immer geht alles gut aus, immer hat alles eine Auflösung. Bei mir gab es keine Auflösung. Die Sehnsucht nach einem Leben, wie es jeder andere hat, war stark. Ich versuchte, so zu tun, als unterscheide mich nichts von der übrigen Menschheit. Ich scheiterte täglich. Manchmal, wenn ich zufällig an einer Boutique vorbeikam, sah ich in die Auslage und zwang mich, mir einen Fetzen auszusuchen. Was würde ich mir kaufen, wenn ich noch Interesse an Mode hätte? Ich war gelernte Schneiderin, seit der Schule war ich gut angezogen, nicht nach den jüngsten Trends, dafür bin ich zu eigensinnig, aber doch so, dass ich nicht daherkomme, als sei ich von vorgestern. Ich schaute durchs Glas auf die Kleider, die sie den Schaufensterpuppen umgehängt hatten, dann ging ich weiter. Zwanzig Meter später hätte ich nicht mehr sagen können, ob die Hose, die ich gerade gesehen hatte, gelb oder grün gewesen war. Genäht hatte ich mir auch nichts mehr. Von Zeit zu Zeit brachten meine Töchter eine Hose oder einen Rock mit, die man ändern musste. Klar mach ich das, sagte ich dann, legte die Sachen ins andere Zimmer und vergaß sie. Aber Hosen kürzen sich nicht von allein. Wenn die Mädchen drei Wochen später einmal vorsichtig anfragten, ob sie die Sachen wieder mitnehmen könnten, setzte ich mich dann doch hin. »Niemand wird Ihnen das vorwerfen«, beruhigte mich Herr Tsekas und griff nach einer Zeitung, die auf einem Stoß neben dem Esstisch lag. »Auch schon vier Wochen alt«, sagte er, nachdem er aufs Datum geschaut hatte, »sogar schon zu spät für den Fisch von gestern Ich verstand nicht. »Zeitung von gestern, nur noch dazu gut, alten Fisch einzuwickeln. So ein alter Journalistenspruch.« Er legte das Blatt wieder zurück. »Lesen Sie, was drin steht »Ja, schon, manchmal«, sagte ich. »Mein Schwiegersohn bringt sie nach wie vor mit. Aber ich kann mir nichts davon merken »Schreiben eh nichts Gescheites«, sagte er. »Ach ja, Herr Tsekas«, sagte ich, es war mir grade eingefallen, was ich noch mit ihm besprechen wollte. »Ich brauche ein neues Auto »Ich fahre mit dem Rad«, sagte er. »Ihres hätte ich Ihnen eh nicht weggenommen. Aber meines wird demnächst hin, und ich studiere seit ein paar Tagen, was ich mir für eins kaufen soll. Es muss rot sein, das weiß ich »Ist das Ihre Lieblingsfarbe »Ja, auch. Aber darum geht’s mir nicht. Das jetzige ist rot, und ich hab mir gedacht, wenn die Natascha schaut, dann auf ein rotes Auto »Guter Gedanke«, sagte er. »Gehen wir ein rotes Auto kaufen. Wie haben Sie sich wegen des Schlosses entschieden Ich hatte erwähnt, dass die Polizei mir geraten hatte, mein Schloss an der Wohnungstür auszuwechseln. Damit mir nichts passiert. »Ich tausche es nicht aus«, sagte ich. »Erstens hat die Natascha den Schlüssel. Wenn sie kommt, und ich bin nicht zu Hause, kann sie herein. Zweitens, wer soll kommen? Wenn es der ist, der sie entführt hat, der soll mich ruhig umbringen »Dann sind wir fertig für heute«, sagte Herr Tsekas. »Oder?« »Noch nicht ganz«, sagte ich. »Ich habe noch eine Neuigkeit

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Suchen Sie einen neuen Job? Flexible Arbeitszeiten, interessante Tätigkeit im Versicherungswesen, überdurchschnittliches Einkommen. Chiffre: 84646.

Ich hatte auf die Annonce geantwortet. Essen auf Rädern war gut, aber langsam brauchte ich Abwechslung. Die Buchhaltung für die Firma eines alten Freundes, die ich seit Kurzem nebenbei noch machte, beschäftigte wenigstens wieder einmal ein paar andere Gehirnwindungen. Ich war froh gewesen, dass er da an mich gedacht hatte, er war einer der Freunde, auf die ich mich seit zwanzig Jahren verlassen konnte. Der Job war in zwei, drei Stunden pro Woche erledigt und daher auch nicht abendfüllend, aber es half. Nur mit Essen durch Wien zu fahren, war etwas trist geworden. Und aus dem Haus musste ich, mir fiel sonst die Decke auf den Kopf. Herr Tsekas hatte die Neuigkeit mit der Annonce großartig gefunden. Umgehend habe ich eine Broschüre zugeschickt bekommen. Finanzanalysen, Einschulung jederzeit möglich.

Zehn Leute waren wir in dem Kurs. Hoffentlich erkennt mich keiner, dachte ich, als ich mich ganz ans Ende des großen Tisches in dem Konferenzraum setzte. Die Sorge war unbegründet. Die anderen waren großteils wesentlich jünger als ich, und jeder mit sich selbst beschäftigt. Keiner wusste so recht, was da auf uns zukommen würde. Das Thema klang kompliziert. Wenn du es nicht kapierst, gehst du halt wieder, hatte ich mich beruhigt.

Ein mittelgroßer Dunkelblonder in einem hellgrauen Anzug kam herein. Der wird Versicherungsvertreter, hatte irgendwer da oben vor seiner Geburt festgelegt. Bürstenhaarschnitt, Krawatte, vermutlich am Hals angewachsen, eine Uhr, halb Stahl, halb Gold, Schuhe mit Eisen an den Sohlen, damit man die Wichtigkeit schon am Schritt hört. Er war mir auf den ersten Blick unsympathisch. Mein Widerwille besserte sich, als er den Mund aufmachte. Er sprach mit kräftiger Stimme und platzierte die Worte, als käme es auf jedes »Und« an. Er drückte sich gewählt aus, er hätte Fernsehpriester werden können, wenn ihm nicht ab und zu ein kleines Missgeschick beim L entkommen wäre. Meidlinger L nennen die Wiener das, und meinen damit einen gewissen proletenhaften Einschlag. Ein Kompliment war das nie, ich kannte mich da aus, ich komme aus Meidling.

»Sind Sie an Geldverdienen interessiert, fragte er uns an Stelle einer Begrüßung. Und dann erklärte er uns, wie das geht. »Dass wir uns richtig verstehen: Ich meine viel Geld verdie nen. Es ist gar nicht schwer. Schauen Sie, meine Damen und Herren, ich rede hier vom schönsten Job, den Sie sich vorstellen können. Man macht Geld im Handumdrehen. Man verdient Geld, indem man sich mit Leuten unterhält, was man ja sonst auch macht Ich nicht, dachte ich. »Man verdient Geld, indem man den Leuten hilft. Wir sind Samariter mit sechsstelligem Jahreseinkommen Er wartete auf den Lacher, den er offenbar gewöhnt war. Es kam keiner. Er steckte die Schmähung lässig weg. »Wie tun wir das eigentlich? Nicht, dass Sie glauben, wir sind Versicherungskeiler. Nein«, er hob den Arm, als wäre er mitten in der Bergpredigt, »wir wissen, was wir tun, und die Menschen in unserer Umgebung schenken uns Vertrauen. Und zu Recht. Weil wir mit unserem umfangreichen Potpourri«, an dem Wort übernahm er sich etwas, »an Angeboten ermöglichen es unseren Geschäftspartnern, sich im Monat ein-, zwei-, dreihundert Euro zu sparen, und uns auf die Schnelle das Dreißigfache zu verdienen Ein paar der Kollegen zogen die Luft ein. Der Bürstenkopf verzog den Mund zu etwas, das ein Lächeln sein sollte, zuckte mit den Armen, um an seine Manschettenknöpfe zu gelangen und nestelte daran herum. Der Trick funktionierte, jeder von uns hatte das Gold an seinem Ärmel gesehen. »Ich werde Ihnen jetzt etwas zeigen«, fuhr er fort, ging mit einem so betont forschen Schritt zu einem Beistelltisch an der Wand, dass seine genagelten Schuhe kleine Einkerbungen in dem mausgrauen Spannteppich hinterließen, zog die Masche auf, die einen Stoß Papier zusammenhielt, und nahm einen Folder heraus, zweimal vier Seiten, ineinandergeschoben. »Das ist der Schlüssel zu Ihrem Reichtum, das Geheimnis Ihres Erfolgs Er reichte die Unterlagen dem Mann, der ihm am nächsten saß. »Geben Sie das weiter Kann auch nicht bitte sagen, dachte ich. Er wartete, bis die Blätter durch waren, sich mit schnödem Papier die Aufmerksamkeit zu teilen, war unter seiner Würde. »Mit dieser Finanzanalyse erheben wir den kapitalen Ist-Zustand unserer Geschäftspartner Interessant, dachte ich. Ich war die Letzte, die die Zettel bekommen hatte, sie lagen noch vor mir. Es war nichts anderes als ein Fragebogen. »Bevor wir den Menschen eine optimale Finanzberatung angedeihen lassen, müssen wir erst einmal wissen, was sie haben. An Geld. An Krediten. An Versicherungen. Sie sehen«, er fingerte nach dem Papierzeug vor mir, »hier wird der Name ausgefüllt, hier die Adresse... « Er erklärte uns die Volksschule. »Sie als Finanzdienstleister gehen mit Ihrem Geschäftspartner diese Punkte durch und erfahren damit alles von ihm. Vorausgesetzt, Sie können ihn dazu bewegen. Ich jedenfalls zweifle nicht an Ihnen. An keinem von Ihnen.« Er sah einem nach dem anderen in die Augen. Er schritt zu einem Diaprojektor und schaltete ihn ein. Auf der weißen Wand gegenüber erschien ein heller Fleck mit drei bunten Rechtecken drauf. »Das«, sagte er, während er den Raum durchquerte, »ist das Drei-Säulen-Prinzip der Finanzabsicherung Er griff nach einem Zeigestock und tippte auf die linke Säule. »Das ist Einkommen durch Job Zweite Säule. »Pension, sofern es überhaupt eine gibt Dritte Säule. »Aber das hier«, kleine Pause, »ist die Eigenvorsorge Große Pause. »Sehen Sie, meine Damen und Herren, das Wichtigste im Leben kommt zu kurz. Weil die Leute nicht an das Morgen denken. Weil die Leute nur im Jetzt leben

Er holte die nächste Folie aus seinen vorbereiteten Unterlagen und legte sie auf den Projektor. Die Statistik von morgen stand ganz oben, darunter die Jahreszahlen 2002, 2012, 2022 und kleine schwarz Strichmännchen, die letzten in manchen Reihen nur zur Hälfte ausgemalt. »Das Pensionssystem ist krank. Es ist noch gar nicht lange her«, sein Arm dirigierte ein unsichtbares Orchester, »da erhielten drei arbeitende Menschen einen Pensionisten. Das war gut. Aber die Leute werden immer älter. Heute sind wir mit der Situation konfrontiert, dass ein Arbeiter einen Rentner erhalten muss. Wie schaut das in zehn Jahren aus, meine Damen und Herren Zeigestock. »Ein Arbeiter muss zwei Pensionisten ernähren. Das kann sich nicht ausgehen. Und in zwanzig Jahren...« , er schaute uns erwartungsvoll an, »na?... « Die Frau zwei Sessel neben mir war schon vom Übereifer überfallen. »Drei Pensionisten«, sagte sie, »ein Arbeiter muss drei Pensionisten erhalten »Genau«, sagte der Hellgraue wie zu einem altklugen Kind. »Was wiederum bedeutet, dass das System kaputt ist. Die Lösung heißt... « Er machte es richtig spannend. »Eigenvorsorge. Wir verhelfen Menschen zu Lebensversicherungen, damit sie später finanziell überleben Es hörte sich an, als hätte er gerade ein Mittel gegen Krebs gefunden, nämlich Geld. »Jeder von uns kennt mindestens hundert Leute. Und das ist Ihr Startkapital. Mit denen fangen Sie an. Mit jedem machen Sie die Finanzanalyse Der Folder schnellte in die Höhe. »Angenommen, Sie machen nur drei Analysen pro Tag, was schon sehr kümmerlich ist, sind Sie in vier Wochen durch. Sieben von zehn Menschen nehmen unsere Hilfe in Anspruch. Provision: mindestens hundert Euro. Mal siebzig sind siebentausend. Siebentausend Euro. Schlecht für den Anfang?« Mir würde es reichen.