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Der Teufel steht für Illusionen.
Der Satz lenkte mich erstmals von den Essensresten ab, die keine zwei Meter von mir entfernt neben der Abwasch standen. Es musste Tage her sein, dass jemand von den Tellern gegessen hatte, die dort übereinander standen und altes Gemüse und ein paar Stücke Fleisch zwischen sich einklemmten. Der Stapel drohte jeden Moment zu kippen, vermutlich hielt ihn nur die eingetrocknete Sauce zusammen. Ich wunderte mich, dass man nicht roch, wie es in der Wohnung aussah.
Ich betrachtete die Frau, die da mit mir redete. Wer isst mit so einer Person, dachte ich, aber vielleicht waren das alles ja auch nur ihre Teller. Hin und wieder nickte ich. Sie merkte nicht, dass ich ihr nicht folgen konnte. Nur der Satz mit dem Teufel hatte mich erreicht. Welche Illusionen machte ich mir hier?
»... Abhängigkeit, feste Grenzen, das Negative überwiegt. Verstehen Sie?« Ihre dünnen, langen Finger strichen über die Teufelskarte. Es hatte etwas Zärtliches. Ich antwortete nicht, ich wollte nicht stören.
Ich sah sie mir an, während sie mit dem Teufel spielte. Ihre Haare waren lang und rot. Ein Rot, das ich noch nie irgendwo gesehen hatte. Sie fielen ihr offen über den Rücken, bis runter auf die Sitzfläche eines seltsamen Throns. In dicken Strähnen wuchsen sie aus ihrer Schädeldecke heraus und hingen kopfüber an ihr herunter. Bei jeder ihrer Bewegungen kam Leben in sie, sie schlängelten sich, als wären sie auf der Suche. Ich rückte ein Stück zurück mit meinem Sessel, damit sie mich nicht berühren konnten.
Das unerwartete Geräusch riss sie aus ihrem Geplänkel mit dem Teufel. »Verstehen Sie?«, fragte sie noch einmal. Das Gesicht der Frau passte nicht zu dem Schlangennest, aus dem es hervorsah. Es musste einmal sehr schön gewesen sein, schmal und fein geschnitten, der Mund saß etwas schief, aber die Augen dürften so einiges angerichtet haben bei den Männern. Die Jahre hatten die filigranen Züge überzeichnet. Die Backenknochen waren wie von dünnem, brüchigem Pergament überzogen, das jeden Moment an den Falten reißen konnte. »Es ist der Narr, der die Reise antritt«, sagte sie. Auch das leuchtete mir ein. Diese Art Tarot stellte die Reise des Helden dar, hatte sie mir erklärt. Mit dem Helden hatte ich nichts anfangen können, der Narr lag mir näher. Irgendwas in mir erkannte da eine Ähnlichkeit. Verrenn dich nicht, sagte es. Ich kann nicht mehr einfach nur herumsitzen, erwiderte ich mir. »Die Hohepriesterin stellt das Kontemplative, das ins Innere Gehende dar«, sagte die Rothaarige und schob mir eine andere Karte über den Tisch. »Und das«, eine weitere Karte wanderte zu mir, »ist der Magier, er verkörpert das Handelnde, das nach außen Gerichtete.« Siehst du, sagte ich. »Sehen Sie«, sagte die Schlangenfrau und Ihre langen, knochigen Finger deuteten auf den Stoß Karten. »Hier liegen die Antworten auf Ihre Fragen. Ihre Frage liegt auf der Hand. Konzentrieren Sie sich auf sie. Ich mische.« »Muss das nicht ich machen?«, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf: »Manche arbeiten so, manche so.« Man könne den Kunden mischen lassen, der dabei sein Anliegen visualisiert. Aber da wisse man nie so genau, ob er an die Frage oder schon an die erhoffte Antwort denkt. Deshalb erledige sie das lieber selber. »Ich kann meine Gedanken besser aufs Wesentliche ausrichten, dann decke ich die Karten auf... « Sie mischte. »Mit der Linken«, sagte sie, »das ist die Gefühlshand.« Sie mischte ewig. »Manche brauchen drei Durchgänge, mir reicht einer.« Endlich war sie fertig. »Wir legen das Keltische Kreuz«, ließ sie mich wissen, als ob ich etwas mitzureden hätte. Sie legte langsam, mit Bedacht. Nach und nach entstand tatsächlich ein Kreuz vor mir. Es waren schöne Karten, die Symbole hatten etwas Erhabenes. Die Prozedur war beruhigend, ich entspannte mich ein bisschen. Als das Kartenpaket ausgebreitet auf dem Tisch lag, verzog sie keine Miene. Nur das Pergament in ihrem Gesicht spannte sich ein bisschen. Dann sah sie mich an und sagte: »Nicht erschrecken.« Ich hätte auch gar nicht gewusst, warum. »Der Tod«, sagte sie, »ist nur eine Karte.«
*
Was hatte ich da nur losgetreten? Narren. Hohepriesterinnen. Magier. Eine grindige Wohnung. Eine rothaarige Hexe. Der Tod.
Sie bedeutet Verlust, hatte die Kartenlegerin mir erklärt. Loslösung von alten Bindungen. Das treffe ja auf mich zu, meinte sie. Ich steckte in einem transformatorischen Prozess, mehr sei da nicht herauszulesen.
Die Sache mit dem Magier ließ mich nicht los. Das Symbol deckte sich mit meinem Gefühl. Ein paar Wochen hatte ich mich nicht vom Telefon wegbewegt, um keinen Anruf zu verpassen, keine Information zu versäumen. Jetzt drängte es mich nach außen. Die Polizei trat auf dem Fleck, ich musste selber was tun. Ich ging in die Bibliothek und besorgte mir ein paar Tarot-Bücher, in denen die Reise des Helden vorkam.
Die Reise tritt der Narr an, las ich. Der wie ein kleines Kind offen für alle und alles ist, sich aber auch um Gefahren noch keine Gedanken macht.
Stimmt, dachte ich. Man denkt nicht an Gefahren für einen selbst, wenn man sein verschwundenes Kind sucht. Mutter und Vater werden verkörpert von Herrscherin und Herrscher, wobei die Herrscherin das Prinzip der uneingeschränkten Fülle und des Lebens vertritt, und der Herrscher das ordnende und schützende Prinzip. Der Koch, ein schützendes Prinzip?, dachte ich. Dann verstand ich, dass da nicht wir gemeint waren, sondern meine Eltern. Der Papst oder Hierophant verkörpert das tradierte Wissen oder Buchwissen, auch, aber nicht nur, in spirituellen Dingen. Diese Karten stellen die Kindheit des Helden dar. Das Ende der Kindheit bedeutet auch den Wunsch nach Partnerschaft und Liebe, in Form der Karte der Liebenden. Dieses Thema ging völlig an mir vorbei. Der Wagen symbolisiert den Wunsch, die Heimat zu verlassen und Neues zu erfahren. Genau. Die Erfahrungen, die dabei gemacht werden, bringen ein Empfinden für Gerechtigkeit und deren Notwendigkeit hervor oder, folgt man Waites Reihenfolge, die Kraft für weitere Taten. Ja, dachte ich, jetzt sind wir dort, wer immer dieser Waite ist. Der Einsiedler steht dem Reisenden mit Rat zur Verfügung und ist gleichzeitig Hinweis auf die Möglichkeit, Erkenntnis nicht nur durch Handeln, sondern auch durch Kontemplation zu gewinnen. Der Nutzen dieser Möglichkeit erschließt sich dem Reisenden, wenn er durch die Drehung des Schicksalsrads die Möglichkeit zum aktiven Handeln verliert und/oder ihm ein bestimmtes Ziel gesetzt wird. Durch die Wendung des Schicksals erhält der Reisende die Kraft oder, auch nach Waite, die Einsicht in die Notwendigkeit der Gerechtigkeit, um als der kopfüber Gehängte die Reise in die Dunkelheit der Unterwelt oder in sein eigenes Inneres anzutreten... Ich musste das Buch kurz beiseitelegen und nahm es gleich wieder auf. Der Tod steht für den Übergang von der äußeren Welt in die Innen- oder Unterwelt. Erste Erkenntnis ist dann die Notwendigkeit der Mäßigung, des Ausgleichs und Austausches zwischen widerstrebenden Kräften. Ich begriff längst nicht alles, aber die Parallelen begannen mich zu bedrängen. Es war, als erzählte mir da wer meine eigene Geschichte. Die Stadien, die ich zu durchlaufen haben würde. Und wie ich sie durchstehen könnte. Ich zündete mir eine Zigarette an und versuchte einmal durchzuatmen. Der Tod steht für Illusionen. Da war es wieder. Der Tod steht für Illusionen, die den Reisenden blenden und gefangen halten, oft die scheinbare Erfüllung einer Sehnsucht. Ich spürte, wie sich die Haare auf meinen Armen aufstellten. Alles umsonst? Alles nur Schimäre? Diese Illusionen werden durch den Fall des Turmes zerstört, und in der Karte des Sterns findet der Reisende das Ziel seiner Suche und/oder seine innere Ruhe und sein inneres Gleichgewicht. Das Ziel meiner Suche! Diese Reise unter dem Zeichen des Mondes ist eine gefahrenvolle. Erreicht der Reisende das Sonnenlicht wohlbehalten wieder, ist das Ziel jedoch noch nicht erreicht. Erst die Karte der Welt stellt das endgültige Ziel der Reise dar, die letztlich die Reise zur eigenen Vervollkommnung ist. Die Entwicklung zu einem Menschen, der sich sowohl seiner äußeren als auch seiner inneren Kräfte bewusst wird und diese auch einsetzen kann. Zunächst stellt die Karte des Gerichts noch ein letztes Hindernis dar, so wie beispielsweise Odysseus noch die Werber um Penelope loswerden musste. Das Telefon läutete. »Hallo, Redaktion Vera, Sprech ich mit Frau Sirny?« Meine Odyssee begann.
Die Gänge nahmen kein Ende. Kaum betritt man als Unbekannter das ORF-Zentrum am Küniglberg in Wien-Hietzing, ist man in seinem Bauch gefangen. Hässliche Korridore ziehen sich wie Schläuche durch das riesige Gebäude. Ohne den Redakteur, der uns vom Parkplatz abgeholt hatte, wären wir längst verloren gegangen.
Maske stand über der Tür. Der Redakteur klopfte höflich und setzte mich in einen Friseursessel vor einem von Lämpchen eingefassten Spiegel. Die Visagistin lächelte mir von hinten zu. Die Menschen waren recht wortkarg in meiner Umgebung, man wusste nicht, was man mit mir reden sollte, außer Fachliches.
»Wir werden nicht viel tun«, sagte sie, »ein bisschen frisieren, leichtes Make-up, so, dass Sie halt nicht glänzen, das kommt schlecht bei den grellen Scheinwerfern.« Sie sah Margot an und deutete auf den Nachbarsessel. »Sie müssen nicht stehen.«
Margot setzte sich, ließ aber ihre Hand auf meiner Armlehne. Ich nahm sie und drückte sie kurz. Ich war froh, dass sie mitgekommen war. Für mich war diese Welt vollkommen neu. Mitten aus der Rennbahnwegsiedlung in die Talkshow mit den meisten Zuschauern, das war schon ein Kontrastprogramm. Die Kameras vor der Wohnung waren was anderes, dort war ich Opfer, verdächtig. Hier behandelte man mich als Star. Margot war die einzige, die normal mit mir umging.
Sie war auch eine Kartenlegerin. Wie die, bei der ich gleich nach der Rothaarigen war. Ich hatte sie von früher gekannt, meine Schwägerin hatte sich damals scheiden lassen und mich gebeten zum Termin mitzugehen. Ich wollte zuerst nur als Begleitung mit, aber dann hat’s mich interessiert. Sie werden noch ein Kind kriegen, prophezeite sie mir, mit dem Koch. Den Namen hat sie nicht gesagt, nur dass ich einen Brünetten kenne, der von seiner Mutter nicht loskommt. Und gestimmt hat’s. Dann hat sie ein bissel übers Ziel hinausgeschossen und mich drauf aufmerksam gemacht, dass ich aufpassen soll, weil meine Schwägerin Selbstmord begehen will, aber irgendwie war sie mir sympathisch. Margot war ihr ein bisschen ähnlich.
»So, fertig«, sagte die Visagistin. Sie nahm mir den Schutzumhang ab und half mir aus dem Sessel. »Gefallen Sie sich?« »Ja, danke.« Mein Aussehen war meine geringste Sorge. Wie aufs Stichwort stand der Redakteur wieder in der Tür. »Wir sind viel zu früh, Frau Sirny, wenn Sie wollen, können wir noch bei der Probe vorbeischauen.« Wir liefen die endlosen Gänge wieder zurück bis zum Studio eins. Der Redakteur hielt uns die Tür auf und zeigte auf etliche freie Plätze in der letzten der aufsteigenden Reihen im Zuschauerraum, wie im Kino: »Setzen Sie sich da hin, da sieht Sie keiner, ich hole Sie dann wieder hier ab.« Der Saal unter uns war schon ziemlich voll. Auf der Bühne war alles schon aufgebaut. Die Kulisse sollte Wohnzimmer-Atmosphäre vermitteln. Die rote Couch, die bunten Fauteuils, ein kleiner Tisch, ein Stehpult für die Moderatorin, dahinter eine gelbe Wand mit einer Tür in der Mitte und dem überdimensionalen Logo der Sendung. Mitten drin in dem Ambiente stand ein junger Mann mit langen Haaren, zusammengebunden zu einem Pferdeschwanz, und dirigierte die Menge. »Wir werden das noch einmal üben«, sagte er in sein Mikro. »Wenn der Kollege da drüben das Applausschild hochhält, was machen Sie dann?« Die Menge klatschte. »Das geht aber schon noch ein bisschen lauter«, rief er. Die Menge klatsche lauter. Wie eine Herde Duracell-Hasen. »Das war alles?«, schrie er. Die Menge klatschte und trommelte mit den Füßen auf dem Boden. Der Mann auf der Bühne verbeugte sich. Und dort sollte ich dann stehen. Beklatscht, weil meine Tochter entführt worden war. »Und jetzt die Lacher«, befahl der Pferdeschwänzige. »Wenn der Kollege da drüben das Lachenschild hochhält, was machen Sie dann?« Die Menge lachte. »Das geht aber schon noch ein bisschen lauter«, rief er. Die Menge lachte lauter. Wie nach einem Sketch beim Villacher Fasching. »Das war alles?«, schrie er. Die Menge lachte und trommelte mit den Füßen auf dem Boden. Der Mann auf der Bühne formte Zeigefinger und Daumen zu einem Kreis. Und dort sollte ich dann sitzen. Wenn der Kollege da drüben das Applaus- mit dem Lachenschild verwechselte, jubelten sie dann auch? Margot stupste mich und schob mich aus der Sitzreihe in Richtung Tür. »Das hält ja keiner aus«, sagte ich. »Deswegen sind wir auch nicht da. Vergiss das Theater. Jeder Hinweis kann eine Spur zu Natascha sein. Je mehr Leute dich sehen, desto größer ist die Chance.« Sie nahm mich am Arm. »Du machst das schon.« »Wollen die Damen noch einen Prosecco zur Beruhigung?« Der Redakteur hatte sich unbemerkt angeschlichen, wir hatten ihn gar nicht gehört. »Ja«, sagte Margot, »Beruhigung ist jetzt genau das Richtige.« Im Sondergastraum waren auch schon die anderen Gäste der Show versammelt. Ich stellte mich ins letzte Eck. Margot holte ein Glas Sekt für sich und Mineralwasser für mich. Ein Kellner machte die Runde mit einem Tablett voll lachsfarbener Kanapees. Margot griff zu. Ich hätte beim besten Willen nichts runtergebracht. Die Menschen standen in Grüppchen zusammen. Ab und zu schaute wer herüber, aber wir dürften nicht sehr einladend gewirkt haben. Ein Mann löste sich aus der Meute und steuerte trotzdem auf uns zu. »Entschuldigung, Sie sind doch Frau Sirny.« Er war fast schüchtern. »Ich komme vom ZDF, von der Sendung Aktenzeichen XY ungelöst.« Er hielt meine Hand länger fest als schicklich. Vermutlich hat er Erfahrung damit, wie man auf diese drei Worte reagiert. »Wir würden Ihnen gern helfen und Ihren Fall bei uns bringen. Können wir mit Ihnen rechnen?« »Ich mache alles, was der Natascha nützt.« Er drückte mir seine Visitenkarte in die Hand. »Hier, falls Sie Fragen haben. Wir dürfen Sie dann kontaktieren.« Im Weggehen drehte er sich einmal um. »Alles Gute«, sagte er. »Der war okay«, sagte Margot mit viel Lachs im Mund. Zu mehr kam sie nicht, es war schon der Nächste auf dem Weg zu uns. »Bei Ihnen alles in Ordnung? Ich bin der Regisseur, wenn ich irgendwas für Sie tun kann, sagen Sie es ruhig.« Ich hätte das alles schon gern hinter mir gehabt. Aber dabei konnte mir auch ein Regisseur nicht helfen. Ich nahm einen Schluck Wasser. Die Tür ging auf und eine Frau erschien. Hinter ihr ein Tross junger Leute mit Notizblöcken, Unterlagen und einem Stoß kleiner weißer Karten. »Da stehen die Fragen drauf«, flüsterte Margot. Keine Ahnung, wieso sie sich da so auskannte. Die Frau durchquerte den Raum und kam als Erstes auf uns zu. Schon auf halbem Weg streckte sie den Arm aus. Sie schnappte sich meine Hand und schüttelte sie, während ein Schwall an Dankesworten aus ihrem Mund kam. »Sie sollten das Interview durchgehen«, raunte ihr eine Assistentin ins Ohr und steckte ihr die weißen Karten zu. Margot hatte recht gehabt, es standen überall Fragen drauf. Die Moderatorin hielt sich bei keiner lang auf, wir waren schnell durch. »Und Sie sind die Hellseherin«, sagte sie. Margot konnte nicht gleich antworten, sie kaute immer noch auf den Brötchen herum. »M-m«, sagte sie und schluckte den letzten Bissen hinunter, »ich arbeite mit Karten.« Die Moderatorin nahm es zur Kenntnis. »Sie werden auf jeden Fall versuchen, Natascha zu finden. Was glauben Sie denn, was Sie sehen werden?« »Das kann man vorher nie wissen, vielleicht kommt auch gar nichts dabei heraus.« Diese Möglichkeit schien die Moderatorin nicht in Betracht zu ziehen. »Zehn Minuten noch bis zur Aufzeichnung«, rief ein Techniker. Damit war die Vorbesprechung zu Ende. Die Gäste, die am Anfang der Show an der Reihe waren, wurden hinausgebeten. Margot und ich steuerten auf eine Sitzgruppe zu, wir kommen erst als Letzte dran, sagten sie, die beste Geschichte spielen sie immer am Schluss. Nach und nach leerte sich der Sondergastraum. Ich war froh über die Pause. Ich war Menschen nicht gewöhnt. Es war noch nicht lange her, dass ich mich aus meinem Schneckenhaus gewagt hatte, um mich in Richtung Natascha zu bewegen. Die Reise strengte mich an, noch war ich mehr Narr als Magier. Und beides hatte ich hinter der Fassade der Brigitta Sirny zu verbergen. Die Leute müssen nicht alles sehen, was in dir vorgeht, hatte meine Mutter mir immer eingetrichtert. So was legt man nicht so leicht ab. »Bist auch nervös?«, fragte Margot. Ich zuckte die Schultern. »Da sitzen ein Haufen Leute im Publikum und daheim noch hundert Mal so viel«, rechnete sie. »Also ich bin nervös.« Wenn ich irgendwas war, dann hoffnungsvoll. Meine Gefühle beschränkten sich mittlerweile auf das Nötigste. »Es ist so weit«, sagte der Redakteur, der wieder aus dem Nichts aufgetaucht war. »Nach der Popgruppe haben Sie Ihren Auftritt. Ich bringe Sie hinter die Bühne.« Hinter der Bühne, das war ein riesiges, schwarzes Loch. Eine Halle in der Größe eines Hangars. Gestänge, Verstrebungen, Gerüste. Techniker schoben enorme Geräte herum, andere fuhren mit Gabelstaplern auf und ab. Endlos lange Holztische waren die einzige Sitzgelegenheit. ORF-Leute standen dort und rauchten. Ich stellte mich in die Nähe und zündete mir auch eine Zigarette an. Ein kleiner Monitor neben der einzigen Tür im Raum zeigte, was die Zuschauer daheim am Donnerstag sehen würden. Ich brauchte den Bildschirm nicht. Die Band spielte so laut, dass noch hier heraußen alles dröhnte. Aber vielleicht lag das auch nur an mir. Ich zucke schon bei der Kennmelodie der Abendnachrichten zusammen. Wenn man über längere Zeit nicht aus dem Haus geht und nur auf das Klingeln des Telefons wartet, hat man einen anderen Geräuschpegel. Die letzten Takte der Band klangen aus, Applaus setzte ein, was vermutlich nur dem betreffenden Schild zu danken war. Jemand winkte mich zu sich, schob mich hinter die Bühne, ein paar Stufen hinauf, durch die Tür, und dann stand ich im Rampenlicht. Applaus. Händeschütteln. Wie-geht’s-Ihnen-liebe-Frau-Sirny. Polizei. Keine Spur. Kann-man-sich-ja-alles-nicht-vorstellen-gell. Verzweiflung. Natascha. Hoffnung. Muss-man-doch-den-Verstand-verlieren-nicht-wahr. Suche. Albtraum. Hinweise. Lässtman-nichts-unversucht-oder. Das Übersinnliche. Hilfe aus dem Jenseits. Wollen-wir-hier-in-der-Sendung-ausprobieren. Medium. Margot. Schönen-guten-Abend. Karten. Mischen. Auflegen. Und-was-bedeutet-jetzt-der-König-eigentlich. Deutung. Enttäuschung. Wünschen-wir-Ihnen-alles-alles-alles-Gute-Siesind-nicht-allein-und-danke-fürs-Kommen.
*
»Du warst gut, Mama«, sagte Sabina in den Schlussapplaus hinein. »Ich hätte das... « Das Telefon läutete. »Hallo... ja... am Apparat... ich bin an allem interessiert... Wünschelrute... ja... wo?... wenn Sie glauben... rufen Sie mich an... gut... wiederhören.« »Wer war denn das?«, fragte Claudia. »Ein Wünschelrutengänger, der will... « Das Telefon läutete wieder. »Hallo... bitte?... nein, hab ich noch nicht... ja, natürlich... muss alles probieren... okay... bis dann.« »Was war das für einer?« »Ein Pendler, der kann... « Das Telefon läutete den ganzen Abend. Hellseher. Kartenleger. Astrologen. Tischerlrücker. Kaffeesudleser. Ein paar der Berufsbezeichnungen hatte ich noch nie gehört. Alle wollten helfen. Geld verlangte keiner. Ich machte Termine aus. »Willst du die wirklich alle treffen?«, fragte Claudia. »Ja«, sagte ich, »vielleicht ist ja einer drunter, der wirklich was sieht.« Schaden kann’s nicht, dachte ich. Außer dir, echote es aus mir, der Narr ist verletzlich. Ich wollte nicht auf mich hören. Und das Telefon läutete schon wieder. Sabina nahm ab. »Eine Frau Puchinger für dich.«
*
Tina Puchinger wohnte in der Reindlgasse. Wien-Penzing. Ich fand das Haus auf Anhieb. Eine große Blonde öffnete mir die Tür. Sie hatte nichts von der rothaarigen Hexe, sie sah ganz bodenständig aus.
Sie führte mich in eine Art Wohnpraxis. Keine angebrannten Pfannen, kein vergammeltes Essen, kein übersinnlicher Zauber. Es sah fast aus wie bei mir. Ich setzte mich ohne vorher zu schauen, ob irgendwas auf dem Sessel klebte.
»Sagt Ihnen der Begriff Numerologie etwas?«, fragte Tina.
»Nein«, sagte ich, »ich denk mir, es wird was mit Zahlen zu tun haben«. Sie lächelte. »Zahlen haben eine enorme Bedeutung für jeden Menschen«, sagte sie. »Sie sagen sehr viel über unser Leben aus, über die Leben davor. Sie sagen uns, wer wir sind. Schon allein das Datum der Geburt definiert einen Menschen.« »Ich will aber nicht wissen, wer ich bin«, wandte ich ein, »Sie wissen doch, worum’s mir geht, am Telefon haben Sie gesagt, Sie könnten mir helfen, Natascha zu finden.« Sie nickte geduldig. »Man kann das eine nicht getrennt vom anderen sehen. Alles hängt zusammen, spielt ineinander. Die Zahlen sagen uns, worauf es ankommt im Leben und was wir lernen sollen. Und deshalb müssen wir zuerst wissen, was für ein Mensch Sie sind.« Menschen unter dem Aspekt der Fünf, erklärte sie mir, müssten zum Beispiel lernen den Wert des Geldes zu begreifen. Oder man sei ein Achter und müsse lernen, einen Ausgleich zu schaffen. »Also. Schauen wir einfach einmal, welche Zahl bei Ihnen herauskommt. Wann sind Sie geboren?« Ich nannte ihr mein Geburtsdatum. Sie vertiefte sich in ihre Arbeit. Eine Zeit lang schien sie mich völlig zu vergessen, addierte, berechnete Quersummen, überlegte ein bisschen, addierte wieder. Nichts davon wirkte sehr abgehoben, sie hätte genauso gut meine Buchhalterin sein können. »Sie sind eine Sieben«, sagte sie schließlich. Ich wartete auf mehr. »In der biblischen Zahlensymbolik schreibt man ihr Geburt, Tod, Magie zu.« Magie? »Sieben ist eine heilige Zahl.« Sie machte eine Pause. »Und sie steht für Sieg.«