9
Das Schicksal hatte mich gestoppt. Was weder Tina noch meine innere Stimme geschafft hatten, hatte eine höhere Macht übernehmen müssen. Ich war eine Getriebene gewesen, hatte mich in einem permanenten Ausnahmezustand befunden, zwischen Manie und Nervenzusammenbruch. Die einzige Möglichkeit, mich zum Stillstand zu bringen, war, mich lahm zu legen. Die Reise des Helden war zu Ende. Jetzt lag ich da im Krankenhaus Kufstein und konnte mich nicht bewegen. Querschnitt- hallte es mir noch im Ohr. Ich wusste, was damit gemeint war. Seltsamerweise überlegte ich mir aber nicht viel dazu, und schon gar nicht konnte ich die Tragweite begreifen. Hätte mir der Notarzt gesagt, ich habe Scharlach, wäre das nicht viel anders gewesen. Kann auch schlimm ausgehen, wenn man das als Erwachsener kriegt. Nur hatte ich nicht das Gefühl, dass etwas schlimm ausgehen könnte. Zumindest nicht, was meine Gesundheit betraf. Irgendwas hatte mich aufhalten müssen auf meiner Odyssee durch die Schattenwelt, so viel hatte ich instinktiv verstanden. Das Zimmer war hell, aber auch nicht sonderlich freundlich. Außer meinem Bett, einem unansehnlichen Tisch mit zwei Stühlen und einem antiseptischen Bild an der Wand gab es nichts, an dem der Blick hängen bleiben konnte. Kein Fernseher, kein Radio, kein Telefon. Typischer Spitals-Charme, damit man ja nicht vergisst, dass man krank ist. Die Tür ging auf, und ein weißer Kittel erschien. »Guten Morgen, Frau Sirny«, sagte der Primar, »wie geht’s Ihnen denn?« »War schon einmal besser«, antwortete ich. »Es wird auch wieder besser werden«, beruhigte er mich, »wir haben jetzt die Ergebnisse der Untersuchungen von gestern.« Er stellte sich ans Fußende des Bettes, setzte eine Nickelbrille und einen beschwichtigenden Blick auf. Umständlich fingerte er die Röntgenbilder aus dem riesigen Karton. »Schauen Sie«, sagte er und deutete auf eine Stelle milchigweißer Flecken, aus denen mein Rückgrat herauswuchs. »Hier, der zweite Lendenwirbel ist gebrochen.« »Bin ich jetzt...?« »Nein, nein, keine Sorge. Die Verletzung ist schwer, aber nicht von Dauer. Wir kriegen Sie schon wieder hin.« Er machte eine kleine Pause, die nichts Gutes bedeuten konnte. »Allerdings muss man das operieren. Und vorher brauchen wir noch weitere Untersuchungen.« Er nahm die Brille wieder ab und schob sie sich in die Brusttasche. »Haben Sie noch Fragen?« »Ja«, sagte ich, »was ist mit Markus?« »Ihr Enkel ist wohlauf. Wir haben ihn über Nacht zur Beobachtung hierbehalten, er hatte eine Platzwunde und musste genäht werden. Aber er darf heute schon nach Hause. Ihre Tochter ist unverletzt und Ihr Schwiegersohn hat nur ein Peitschenschlagsyndrom. Alles in allem haben Sie großes Glück gehabt. Normalerweise gehen solche Unfälle anders aus.« Er wartete auf meine Zustimmung, aber ich sagte nichts. Wie hätte ich ihm das alles auch erklären sollen? Er nahm mein Schweigen zur Kenntnis und wandte sich um. »Ich schick Ihnen jetzt die Schwester.« Er ließ die Tür offen. Hab ich schon gern, so was. Ich hätte mich gern gewaschen, wenigstens das Gesicht. Unter dem ausklappbaren Tischchen links neben mir stand meine Tasche, da war mein Schminkzeug drinnen und eine Bürste, alles nur eine Armlänge entfernt. Ich streckte vorsichtig die Hand aus. Ging doch. Ein Rollwagen schob sich ins Zimmer. Chromfarbene Schüsseln, dunkelgrüne Plastiksäcke, ein Besenstiel, dahinter eine Frau in blau-weißer Uniform, kaum größer als ihr Gefährt. Sie wünschte mir einen guten Morgen, an den sie offenbar selber nicht glaubte, und begann mit ihren Aufräumarbeiten. »Würden Sie mir bitte meine Handtasche geben?«, bat ich. Sie kam näher und hielt inne. »Sagen Sie, wieso haben Sie da Laub im Bett?« Das war der Punkt, an dem ich meinen zweiten Lendenwirbel vergaß. »Wenn mir einmal einer durch die Haare fahren würde, dann hätte ich den Dreck nicht da drinnen«, herrschte ich sie an und zog mich an dem Trapez über mir hoch. »Ich bin durchs Unterholz geschleppt worden, und keiner findet es der Mühe wert, mir das Gestrüpp vom Kopf zu klauben.« Ich hob meine Beine aus dem Bett. »Und jetzt geh ich duschen.« Ich stand auf und brach zusammen. »Schwester! Doktor!«, rief die Pflegerin und rannte aus dem Zimmer. »Herrgott, Mama! Was ist denn passiert?« Claudia und Günter stürzten herein und halfen mir wieder ins Bett. »Bitte lassts mich nicht allein«, flehte ich sie an, »ich halt das nicht aus, ich will mich waschen, frisieren und dann nach Wien.« Günter klemmte sich ans Telefon. Mich einfach ins Auto zu packen und von Kufstein nach Hause zu führen, war unmöglich, das leuchtete sogar mir ein. Selbst wenn wir noch ein Auto gehabt hätten. Der erste Gedanke war das Rote Kreuz. »Wie viel?« Günters Stimme hatte etwas von einer Sirene. »Zweiundvierzigtausend Schilling?« Er sah uns an, als hätten wir die Summe verlangt. »Danke«, sagte er, so höflich er konnte und legte auf. Nächster Versuch. Samariterbund. Das Ticket nach Wien wurde nicht viel billiger. Neunundzwanzig Tausender. Er wählte die Nummer des ÖAMTC. »Ja, einen Krankentransport von Tirol... ein Wirbelbruch... aha... wir melden uns wieder.« »Was verlangen die?«, wollte Claudia wissen. »Immer noch neuntausend.« Neuntausend Schilling, dachte ich, wegen ein paar Holländern. Aber es war zu spät, mich über mich selbst zu ärgern. Für Natascha hätte ich alles Geld der Welt ausgegeben. Es läutete in Günters Hose, nur war es nicht sein Klingelton. »Dein Handy«, sagte er und wollte es mir geben, »ich hab es gestern eingesteckt.« Ich winkte ab. »Ich will mit niemandem reden.« Er hob ab. »Apparat Sirny.« Er hörte eine Minute zu, ein paar Jas, ein paar Neins, dann hielt er das Mikrofon zu. »Das ist ein Reporter«, erklärte er uns leise, »er hat was von dem Unfall spitzgekriegt und will ein Interview.« Ich verzog das Gesicht. »Wir könnten ja...« , sagte er. »Nein, blöde Idee.« »Was denn?«, fragte Claudia. »Ich hab nur überlegt«, sagte Günter. »Vielleicht würde uns die Zeitung helfen. Da hat doch eine damals auch diesen Detektiv angeheuert.« »Pöchhacker«, sagte ich. Manchmal merkte ich mir auch schon alles. »Wenn sie mich nach Wien holen, red ich mit ihm.« Während Günter mit dem Zeitungsmann verhandelte, kam der Oberarzt. »Ich möchte nach Hause«, sagte ich und griff schon wieder nach dem Trapez. Der Arzt sah mir teilnahmslos zu. Vermutlich war er gewöhnt, dass Patienten ihre Gebrechen nicht akzeptieren und mit ihrem Leben weitermachen wollen. Als könnte man einfach aufstehen, den Lendenwirbel zur Reparatur dalassen und in zwei Wochen heil wieder abholen. Irgendwann legt sich die Rebellion und die Obrigkeitshörigkeit dringt durch. Österreicher sind sehr obrigkeitshörig. Kaum hat einer eine Uniform an, werden schon seine Befehle entgegengenommen und ausgeführt. Wenn die Uniform weiß ist und einem Halbgott mit Skalpell gehört, muckt man schon überhaupt nicht mehr auf. Bei mir war das anders. »Wurden Sie mir die Entlassungspapiere ausstellen«, sagte ich. Es war keine Frage. Der Doktor begriff. Seine Augen wurden eine Spur schmäler, als würde er mich durch ein Visier anschauen. Als ihm klar war, dass ich mich nicht in seinem Haus aufschneiden lassen wollte, zog er sich beleidigt in sich zurück. Ahnungsloser Trampel, schien er sich hinter seiner Fassade zu denken, dann soll sie halt heimfahren, nach Wien, zu den Großkopferten, ins Böhler oder sonstwo. Dann stand er wortlos auf und verließ den Raum.
*
Der Rettungswagen war neu. Die Sanitäter packten mich auf eine Spezialbahre. Ein Luftkissen, das mir gerade noch vierzig Zentimeter bis zur Wagendecke ließ. Ich leide unter Platzangst, wollte ich sagen, aber dadurch wäre das Auto auch nicht höher geworden. Es roch penetrant nach Neuwagen, spätestens nach dem deutschen Eck wird mir schlecht, dachte ich.
Einer der Pfleger blieb bei mir hinten im Wagen. Sehr gesprächig war er nicht. Mir war es recht. Bis auf das leichte Schaukeln der Ambulanz lag ich regungslos, das Luftkissen federte die Unebenheiten auf der Straße ab. Das Schmerzmittel in der Infusion lullte mich ein. Ich war auf dem Weg nach Wien, in ein paar Stunden...
Ich dämmerte leicht weg. Sah zu, was sie heute im Kino auf meinen geschlossenen Lidern zeigten. Zwischen Wachsein und Einschlafen gab es da manchmal beruhigende Bilder. Ein paar helle Kreise begannen zu tanzen, warmes Licht, wie von kleinen Flammen. Dutzende Kerzen flackerten wie in einem zarten Luftzug. Ich stellte die Optik etwas schärfer. Die Lichterlgrotte in Mariazell, dachte ich, und schraubte meine Erinnerung ein paar Windungen zurück. Als Natascha drei war, waren wir zum ersten Mal in der Basilika. Sie stand mit leuchtenden Augen vor den Kerzen. Jede brennt für einen Wunsch, hatte ich ihr erklärt. Dass jemand gesund werden möge, dass jemand wieder lachen lernen würde, dass keinem ein Unheil geschehe oder auch nur, dass eine Prüfung in der Schule gut ausgehen soll. Ich will auch eine anzünden, hat sie gesagt und mit ihren Kinderhänden nach einer Kerze gegriffen. Man muss zahlen, wenn man eine nimmt, sagte ich. Wünsche kosten etwas.
Die hellen Kreise zerfielen in ein Kaleidoskop. Wie früher in der Wochenschau. Ein neuer Film begann mit einem zarten Schrei. Es war das erste Mal, dass ich Nataschas Stimme hörte. Gleich darauf legten sie sie mir in den Arm. Ein Bündel, das kaum was wog. Nur das Gesicht schaute aus der weißen, flauschigen Decke. Ein perfektes Kunstwerk, leicht zerknautscht, rot vom Schreien und von der Anstrengung, auf die Welt zu kommen. Kaum spürte sie meine Wärme, wurde sie still. Sie schlief, wie ein Engel. Ich betrachtete die fein gezeichneten Züge, die Bewegung, die in ihrem Gesicht herrschte. Fast nicht wahrnehmbar und doch so ausdrucksvoll, so unendlich spannend. Stundenlang konnte ich zuschauen, wie ihr Mund zuckte, ihre Augenbraue sich hob, ihre Nasenflügel bebten. Ihre winzigen Finger, die nach mir griffen, die erstaunliche Kraft, mit der sie zupackten. Ich erinnerte mich, wie ich zum ersten Mal ihren Namen aussprach. Natascha, wollte ich sagen, weil ich den Klang hören wollte. Es war mir, als spuckte ich Watte.
Ich brachte die Lippen nicht auf, die Zunge klebte am Gaumen und wurde immer dicker. Der Sanitäter neben mir war eingenickt. Nach ein paar Minuten brachte ich wenigstens einen Ton heraus, der ihn aufweckte. Ich hatte das Gefühl, es schnalzte bei jeder Silbe, als ich endlich herausbrachte, dass ich Durst hatte.
»Wir haben keinen Strohhalm«, sagte er, und damit hatte sich die Sache fürs Erste. »Tankstelle, hm?« »Ah«, sagte er, »das ist eine Idee.« Anstalten machte er keine. Aus den Augenwinkeln sah ich seine Uhr. Wir waren eine Stunde unterwegs. Während ich mir überlegte, wann die nächste Raststätte auftauchen würde, oder wie der Kollege am Steuer jetzt erfahren sollte, dass er dort auch halten sollte, döste ich wieder ein. Das Kino in meinem Kopf hatte noch offen, aber die Filme waren nicht mehr sehenswert. Wirre Momentaufnahmen, die ich nicht zu einer Geschichte reihen konnte. Hin und wieder machte ich die Augen auf, spürte diese immer größer werdende Zunge in meinem Mund und träumte von Kübeln voll mit Wasser. Endlich wurde der Wagen langsamer, legte sich leicht nach links, als er rechts abbog, und blieb stehen. Wahrscheinlich musste der Fahrer einmal austreten. Ich bekam meinen Strohhalm und trank die Flasche auf einen Zug aus. »Wie lange werden wir noch brauchen?«, fragte ich. »Halbe Stunde«, sagte der Pfleger, »wir sind zwanzig Minuten vor Wien.« Das waren zweihundertachtzig Kilometer Durst.
*
Nicht, dass das Lorenz-Böhler-Krankenhaus so viel sympathischer gewesen wäre als das Spital in Kufstein. Krankenhäuser sind Krankenhäuser, und mir wird schon anders, wenn ich dort nur einen Besuch machen muss. Aber es steht in Wien, WienBrigittenau, einem Nachbarbezirk von mir daheim. Luftlinie waren es nicht mehr als ein paar Kilometer zu meiner Wohnung, wenigstens was.
Eine Operation war nicht notwendig. Ich bekam ein Gipskorsett. Ich hatte wieder ein Rückgrat. Und das Gefühl, bald auf den Beinen zu sein. Ich trieb die Schwestern an, die ersten Schritte mit mir zu machen.
Tina bremste mich ein bisschen. Du sollst Ruhe geben, erinnerte sie mich. Mehr brauchte sie nicht zu sagen. So viel hatte ich schon in Kufstein verstanden. Ich wollte bloß aus dem Spital raus. Der stupide Rhythmus, halb acht Frühstück, halb zwölf Mittagessen, halb sieben Nachtmahl, dazwischen Visiten, Untersuchungen, Verwandtenbesuche, machte mich nervös. Ganz abgesehen davon, dass man hier nicht rauchen durfte und der Kaffee eine Katastrophe war.
Nach zwölf Tagen war der Spuk vorbei. Ein Rettungswagen führte mich nach Hause. Ich bewegte mich mit der Grazie eines Roboters und der Schnelligkeit einer Dampfwalze, aber ich war wieder mein eigener Herr. Ich drückte mir einen doppelten Espresso aus der Maschine und bezog mein Lager auf der Couch.
Sehr viel abwechslungsreicher war das Leben daheim nicht. Ich befand mich im Krankenstand, mir fehlte die Arbeit. Sie hatte mich ein paar Stunden am Tag abgelenkt. Sabina schwieg höflich, wenn ich so etwas sagte. Sie dachte an meine manische Phase mit den Hellsichtigen, die Kinderstimmen, die ich gehört hatte, die Wohnungstüren, an denen ich klopfen wollte. Abgelenkt konnte man das nicht nennen.
Claudia war froh, dass wir Kufstein überlebt hatten. Markus’ Narbe wurde langsam blasser, er erzählte mit zunehmend weniger Begeisterung von seinem Unfall. Der Alltag hatte uns wieder in seinen Fängen. Ich verbrachte die Tage mit Gedanken an Natascha und die Nächte mit meiner Schlaflosigkeit. Zur Zeit hatte ich so gut wie kein Verhältnis, sie verging neben mir, blieb manchmal stehen, lief mitunter zurück. Ich kümmerte mich nicht mehr darum.
Ich lebte um ein paar Fixtermine in der Woche herum. Physiotherapie und Krankengymnastik im Böhler, das Kommen und Gehen der Kinder, Tinas Besuche. Die spärlichen Anrufe der Polizei, die mir nichts Neues zu sagen hatte.
Bis Martin Wabl einen Brief ans Innenministerium schrieb. Martin Wabl, dachte ich, der Mann mit der Sonnenblume. Der zwangspensionierte Familienrichter, der so gern hilft. Plötzlich vor fremden Türen steht und unangemeldet Freunde mitbringt, die dann mit ihm verhaftet werden, weil er sonntags herumschleicht und sich als Polizist ausgibt. Ich konnte mich gut erinnern an den Herrn Wabl. Er sich offenbar noch besser an mich. Brigitta Sirny, teilte er dem Innenministerium in seinem Schreiben mit, habe ein Verhältnis gehabt. Mit einem gewissen Herrn Schor. Wer das ist, erfuhr ich aus dem Sicherheitsbüro. Es war der Mann, der sein Auto repariert und seine Frau gebeten hatte, die Polizei zu rufen, weil ihm der ältere Herr verdächtig vorgekommen war, der sich am Rennbahnweg nach der Schule erkundigt hatte. Ich hatte ihn nie gesehen. Jetzt hatte ich ein Verhältnis mit ihm. Weiters habe Brigitta Sirny, so stand es in dem Brief, nicht nur sexuelle Kontakte zu erwähntem Herrn Sochor unterhalten, die beiden hätten auch Frau Sirnys Tochter sexuell missbraucht. An dieser Stelle wurde mir schlecht. Aber Wabls Mitteilungsdrang war noch nicht erschöpft. Denn Brigitta Sirnys Ex-Schwager, Herr Heinrich Sirny, habe dem Liebespaar Beistand geleistet und ihm geholfen, das zehnjährige Kind sicherheitshalber zu verstecken. »Frau Sirny«, fragte mich der Beamte vom Sicherheitsbüro, »was sagen Sie zu der Geschichte?« Es gibt so etwas wie die Gnade des Unfassbaren. Ich sagte zuerst gar nichts. Wozu auch? Was gab es zu kommentieren an einer Geschichte, die eine Frau, die monatelang nach ihrem verschwundenen Kind sucht, beschuldigt, sie selber irgendwo eingesperrt zu haben? Was gab es zu Protokoll zu geben über ein Szenario, in dem auf einmal Menschen, die bloß auf der Straße ihr Auto reparieren, zu Komplizen einer angeblichen Verbrecherin werden, die gerade noch eines der Opfer war? Was gab es auszusagen über eine Verschwörung mit einem Ex-Schwager, den man im Leben einmal gesehen hatte, 1968, bei der eigenen Hochzeit? Was sagt man dazu? Nein, so war’s nicht. Bitte, ich hab kein Verhältnis. Also, ich hab meine Tochter weder sexuell missbraucht, noch halte ich sie versteckt. »Es stimmt nicht«, sagte ich schließlich. Wie armselig doch die Wahrheit klang gegen derart bombastische Lügen. Ich kam mir vor, als hätte man mich ausgezogen und an den Pranger gestellt. Ein Gipskorsett als einzigen Schutz gegen die Demütigung. Ein Gipskorsett, in dem ich mich seit ein paar Monaten von einem Unfall erholte, bei dem ich fast draufgegangen wäre. Der passieren musste, weil ich hinter den unsichtbaren Entführern meiner Tochter herjagte. So besessen, dass man mir fast das Kreuz brechen musste, um mich aufzuhalten. Dann kehrt endlich Ruhe ein. Nur, um Kraft zu sammeln gegen einen, der mich ohne einen einzigen Beweis zur perversen Nymphomanin und eiskalten Kinderschänderin machte. Wie schnell man doch hingerichtet wird. Rufmord geht so leicht. Jemand ist beleidigt, weil man einen Sonntagvormittag lang zu verheult ist, um einen Schulweg abzugehen, spinnt sich was zusammen und hat nichts Besseres zu tun, als das auch noch niederzuschreiben. An das Bundesministerium für Inneres, erster Bezirk, Herrengasse. Sehr geehrte Herren. Ich darf Sie davon in Kenntnis setzen, dass Frau Sirny an allem schuld ist. Und schon war die Kriminalpolizei gezwungen zu ermitteln. Sie riefen bei meinem Ex-Schwager an und versetzten dessen Sohn in einen Schockzustand. Er war allein zu Haus, sein Vater gerade auf Urlaub. Die Polizisten durchsuchten die Wohnung und das Wochenendhaus. Gefunden haben sie nichts. In der Zeitung las ich, dass Heinrich den feinen Herrn Wabl wegen Verleumdung geklagt hatte. Tagelang überlegte ich, ob ich meinen Ex-Schwager anrufen sollte. Ich meine, wie kommt der dazu? Wie komme ich dazu? Ich griff zum Telefon. Es tut mir so leid, sagte ich ungefähr fünfzig Mal. Sie können nichts dafür, sagte Heinrich, er verstand nur nicht, wie er in diese Sache hineingeraten war. Da musste ein Gehirn schon einen schweren Schaden haben. So was kostete ja Zeit, den ganzen Familienstammbaum auf und ab recherchieren, Querverbindungen suchen, Verflechtungen ausforschen, wer mit wem was ausgeheckt haben könnte, und dann nimmt er ausgerechnet einen Verwandten, der seit dreißig Jahren nicht mehr mein Leben gekreuzt hat. Noch dazu, sagte Heinrich, stehe ich jetzt nicht nur da wie ein Mittäter, sondern auch noch wie ein Trottel. Weil so was darf man in dem Land. Man braucht keine Beweise, und Unschuldsvermutung ist nur ein Wort. Man darf der Polizei einen Hinweis geben, das ist rechtlich gesehen kein Rufmord und schon gar nicht strafbar. So steht’s im Zivilrecht. Und jetzt, sagt Heinrich, habe ich den Prozess verloren und zahl auch noch die Anwaltskosten. Bitte passen S’ mir auf mit dem Wabl. Ich passte nicht genug auf. Immer wieder rief er mich an. Ich hätte sofort auflegen sollen, aber er überrumpelte mich mit seiner Sonnenblumenstimme und redete über mich drüber. Und dann erzählte er mir von dem Paket. Da war ein Paket oder was, das hat mir wer zugeschickt oder wie, da sind Schlüssel drin oder so, das hat mit der Natascha zu tun. Und warum? Weil’s wahr ist. Ich traf mich mit ihm, bei meinem Anwalt. Wabl saß vor uns, als hätte er den Schlüssel zu Nataschas Versteck. Er deutete auf sein Sakko und sagte, da sind sie drin. Er griff mit der rechten Hand in die Tasche, ließ sie klimpern, nahm sie heraus, legte sie auf den Tisch und lächelte uns an. Er griff mit der linken Hand zu den Schlüsseln, ließ sie klimpern, nahm sie an sich und steckte sie wieder ein. Das Spiel spielten wir noch ein paar Mal. Ich weiß, ich weiß, was du nicht weißt. Schön, sagte der Anwalt und sah ihn völlig unbeeindruckt an. Und in welches Schloss sollen die jetzt passen? Wabl spielte weiter, Schlüssel aus der Tasche, Schlüssel auf den Tisch, Schlüssel wieder in die Tasche. Der Anwalt reagierte schneller als ich und nahm ihm die Schlüssel ab. Er notierte sich die Zahlenkombination und beendete den Termin. Er ging der Sache nach. Ein paar Tage später rief er mich an. Der Schlüssel gehörte einem von Wabls Bekannten. Einem Fraktionsmitglied. Es war der Schlüssel zu dessen Gartenhaus. Ab da habe ich mich vor Martin Wabl gefürchtet.
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Die anderen mussten sich vor mir fürchten. Alle, die Zeitungen lasen. Die Vorwürfe waren haarsträubend. Prügelmutter, Kinderschänderin, die Frau, die vielleicht ihre Tochter entführt hat. Man verwendete eine Menge Konjunktive, aber wer wollte, konnte alles glauben. Monster Sirny, Zeitungen lügen nicht. Und es war kein Ende abzusehen.
Sie veröffentlichten die »Kinderpornobilder«. Fotos von Natascha, als sie noch ganz klein war. Ohne was an war sie durch die Wohnung gelaufen, hatte meine Reitstiefel entdeckt und sich einen davon angezogen. Das ist herzig, hatte Claudia gesagt, und den Fotoapparat geholt. Natascha hat in die Kamera gestrahlt und weiter posiert. Eine nackte Dreijährige auf einem Schaukelpferd im Wohnzimmer. Bilder fürs Familienalbum. Plötzlich in einem Wochenmagazin, sichtbar für alle. So geht’s zu im Hause Kampusch. Kinderporno, schon Jahre vor der Entführung.
Ich wusste nicht einmal, wie das Magazin zu den Fotos gekommen war. Vielleicht über die Polizei, vielleicht hat sie ein Reporter aus der Wohnung mitgehen lassen, vielleicht hab ich sie selber wem gegeben. Egal, jetzt hatten ein paar harmlose Schnappschüsse eine andere Schleife bekommen, und fertig war das Geschenk für die Medien.
Es passte ja alles so wunderbar zusammen. Irgendeiner behauptet was, immerhin Familienrichter früher, kein Rauch ohne Feuer, jetzt die Fotos. Irgendwas musste da gewaltig schieflaufen in dieser Familie. Je mehr man darüber nachdenkt, desto wahrer wird’s. Das ist das Prinzip von Verschwörungstheorien. Such dir ein paar neue Puzzleteile, drück sie etwas brutaler zwischen die anderen Teilchen und schau dir das Bild an. Ergibt auch einen Sinn. Es zeigte mich, als Zerrbild meiner selbst. Die Ohnmacht der ersten Tage stieg wieder auf.
Im Gegensatz zu damals versuchte ich wenigstens, mich zu wehren. Mein Anwalt reichte eine Unterlassungsklage gegen Martin Wabl ein. Das Gericht entschied für mich. Ein Problem weniger, dachte ich, etwas voreilig. Das nächste übersteigerte Ego meldete sich zu Wort. Walter Pöchhacker. Jener Privatdetektiv, der zuerst für eine Tageszeitung ermittelte und dann auf eigene Faust. Je mehr Spürhunde, desto besser, hatte ich mir gedacht, und nicht damit gerechnet, dass auch er sich auf mich einschießen würde. Männerbekanntschaften war das Stichwort, das er in die Treibjagd gegen mich einbrachte.
Männerbekanntschaften. Fügte sich blendend ins Bild der alleinerziehenden Mutter, frustriert von ihren Beziehungen mit unfähigen Trunkenbolden, flügge geworden, als das Nesthäkchen aus dem Schlimmsten heraußen war. Konnte man ja verstehen, irgendeinen Spaß braucht eine Frau im Leben. Er habe mein Umfeld durchleuchtet, rühmte er sich mit einem Unterton, der sagte, dass er da allein auf weiter Flur der Einzige gewesen sei, der an so etwas gedacht habe. Cleverer als die Polizei. Und wieder musste ich mich rechtfertigen.
Und es genügte nicht, zu sagen, ich habe keine Männerbekanntschaften, und wenn, ginge mein Sexualleben niemanden was an. Mein Sexualleben war auf einmal von höchstem Interesse. Durch eine andere aus der Luft gegriffene Behauptung. Eine Frau, die ihre Tochter missbraucht, muss man in ihre Geschlechtsteile zerlegen.
Seltsam war nur, dass keiner Namen nennen konnte. Einen Liebhaber hatte ich geerbt, weil er Martin Wabl im Weg gestanden war. Und wer waren die anderen? Wo hatte ich meine OneNight-Stands, meine Liebschaften, meine Verhältnisse? Wen hatte ich aus der Imbissstube ums Eck in mein Bett gezerrt? Wen habe ich nach dem Elternsprechtag in einem stillen Winkel am Schulhof vernascht? Wem habe ich das Essen auf Rädern hingestellt und mich als Nachspeise serviert? Und wie sexy ist man in einem Gipskorsett? Walter Pöchhacker hat mehr gewusst. Sollten die Leute es doch glauben.
Ich schwebte zwischen Resignation und Aufbegehren. In der Öffentlichkeit war ich die Unfrau, zu Hause die Mutter, die da draußen keiner mehr in mir sah. Die ihre Familie abschotten und ihre Kinder beschützen wollte. Ich spielte die Starke. Aber ich hatte längst keine Kraft mehr. Und niemandem zum Reden.
*
Das Zimmer der Psychologin in der Magistratsabteilung elf wirkte wie ein Wohnzimmer. Ein gemütliches Büro, ein hübscher Schreibtisch, ein paar Pflanzen, im Nebenraum eine Couch. Die Frau war nicht weniger gemütlich. Um die vierzig, etwas mollig, ein Gemüt wie ein Golden Retriever.
»Haben Sie Ihre Atemübungen gemacht, wie ich es Ihnen gezeigt habe?«, fragte sie mich.
Bei meinem vorigen Besuch hatte sie mich in die Grundzüge des Yoga eingeweiht, damit ich besser schlafen konnte. »Schon«, sagte ich, »genutzt hat’s nicht so viel, aber ein bisschen entspannt.« Seit ich regelmäßig einmal die Woche hier meine Sorgen ablud, war ich tatsächlich etwas ruhiger. Der Brief, in dem man mir Hilfe anbot, war zur rechten Zeit gekommen. Ich hatte mir anfangs nicht so viel versprochen von einer staatlichen Stelle, aber das Wiener Amt für Jugend und Familie war genau das, was ich gebraucht hatte. Ich hatte meine Zweifel schnell zurückgenommen. »Wie geht’s denn mit der Physiotherapie?«, erkundigte sich die Dame. »Das läuft gut, ich bin schon fast wieder die Alte.« Sie lächelte. »Und die Träume?« »Wie immer eigentlich. Ich schlafe meine eineinhalb Stunden, träume meistens von Natascha. Neu ist, dass ich in Fortsetzungen träume. Manchmal rede ich mit ihr. Ein paar Mal habe ich sogar ihre Hand erwischt und sie zu mir ziehen wollen, aber sie ist mir entglitten. Früher hat mich das erschreckt, aber jetzt kenn ich’s schon. Es hat nichts zu bedeuten.« Sie schien zufrieden mit mir. »Haben Sie heute etwas Bestimmtes auf dem Herzen?« Ich zögerte kurz und sah auf meine Tasche, die neben mir auf dem Boden stand. »Haben Sie was mitgebracht?« »Ja, wenn Sie es schon erwähnen. Ich habe einen Brief gekriegt.« Sie wartete auf nähere Erklärungen. »Eine Frau schreibt mir. Sie hat ihren Sohn verloren. Er war bei einem Freund, die hatten eine Waffe zu Hause, die Buben haben damit gespielt, und ihr Sohn ist erschossen worden.« »Was beschäftigt Sie daran?« »Die Mutter hat das jetzt, nach zwei Jahren, verarbeitet. Sie hat mir ein Gespräch angeboten. Wir sollten uns zusammensetzen, schreibt sie, wegen der Natascha, sie würde mir gern erzählen, wie sie diesen furchtbaren Verlust gemeistert hat. Aber ich will mich eigentlich nicht mit ihr treffen, bei ihr geht’s um ganz was anderes. Ihr Sohn ist tot. Das ist ja nicht vergleichbar.« »Ich finde das nicht so schlecht«, sagte mein Gegenüber. Es könnte mir helfen, abzuschließen. Mit der ganzen Geschichte. Mit Natascha. »Ich sag Ihnen was, Frau Sirny, am besten, Sie kaufen ein Grab.« Auf einmal war der Raum um mich nicht mehr gemütlich. Ich schob meinen Sessel zurück, stand auf, nahm meine Handtasche, drehte mich um und ging zur Tür hinaus. Irgendwie kam ich hinunter auf die Straße. Es regnete. Ich fand mein Auto, sperrte auf und setzte mich hinein. Ich sackte über dem Lenkrad zusammen und brach in Tränen aus. Kaufen Sie ein Grab. Natascha ist ohnedies schon tot. Kaufen Sie ein Grab. Der Himmel weint um mein Kind. Kaufen Sie ein Grab.