Mut proben!

Als Politiker sah ich mich immer wieder vor die Frage gestellt, welche Hoffnungen die Menschen in die Politik und in uns Politiker heute setzen. Und ich bemerkte eine große Diskrepanz zwischen dem, was man von uns erwartet, und dem, was man uns tatsächlich zutraut. Immer wieder stellte ich in Gesprächen fest, dass die Menschen sich von einem Politiker vor allem Ehrlichkeit wünschen und Gradlinigkeit. Und dass sie genau diese Tugenden derzeit am meisten auch vermissen. Ich kann das nachvollziehen. Vor allem, denke ich, fehlt es der Politik heute an einer guten Portion Mut.


Mut heißt immer, bewusst ein überschaubares Risiko einzugehen. Alles andere ist leichtfertig – oder es ist Heldenmut. Mutig ist also der, der in Kenntnis der Gefahren der eigenen Überzeugung und Intuition folgt. Die erste Mutprobe meistert jeder von uns unbewusst schon im Babyalter. Mit neun oder zehn oder elf Monaten richten wir uns auf für die ersten Schritte, sehr wackelig, noch gestützt durch unsere Eltern, aber dann, plötzlich, können wir uns lösen und marschieren freudestrahlend los. Ganz von allein. Ab diesem Moment ist unser Leben von solch großen und kleineren Momenten des Mutes bestimmt: der erste Sprung ins tiefe Wasser, das erste Mal ungestützt Fahrradfahren, der erste Kuss, die Entscheidung für oder gegen diesen oder jenen Beruf, Hochzeit ja oder nein, eigene Kinder und so weiter und so fort. All diese Entscheidungen verbindet die Bereitschaft, auch das entsprechende Risiko in Kauf zu nehmen. Das Risiko, nicht gleich laufen zu können und hinzufallen, im Wasser doch nicht auf Anhieb zu schwimmen, mit dem Fahrrad auf die Nase zu knallen, den Kuss verwehrt zu bekommen, den falschen Beruf gewählt, die falsche Person geheiratet zu haben. All das sind Risiken, die wir instinktiv oder intellektuell einkalkulieren, wenn wir uns für einen neuen Schritt entscheiden. Wir entscheiden uns für das Risiko und gegen unsere Bedenken, weil wir überzeugt sind davon, dass dieser Schritt auch der richtige ist. Mut, so wie ich ihn also verstehe, ist nur ein anderes Wort für die Bereitschaft zum Risiko. Mut ist eine Frage der Haltung.


Ich selbst bezeichne mich nicht als mutig. Ich bin ein intuitiver Mensch. Intuitiv habe ich häufig Entscheidungen gefällt, bei denen hinterher die Leute sagten, da warst du aber mutig, da bist du aber ein hohes Risiko eingegangen. Zwar habe ich die Risiken meist gesehen – oder absichtlich übersehen –, aber in meiner Entscheidungsfreiheit wollte ich mich dadurch nicht blockieren lassen. Weil ich immer überzeugt war von meiner Sache, dieses oder jenes in diesem Moment nun mal tun zu müssen. Und wo ich es nicht tat, da bereue ich es heute.


Zu jenen Entscheidungen mit Risiken und Nebenwirkungen gehörten sicherlich das Bündnis mit dem Rechtspopulisten Ronald Schill, sein späterer Rausschmiss und die darauf folgende Entscheidung zu Neuwahlen. Es hätte verdammt schief gehen können. Aber es lief gut. Weit besser sogar als erhofft. Ich galt als »Drachentöter«, und wir erhielten anschließend die absolute Mehrheit.

Auch die erste Schwarz-Grüne Koalition auf Landesebene war mit hohen Risiken verbunden. Eine große Koalition wäre zwar bequemer gewesen, in dieser Konstellation hätte man vermutlich vier Jahre ohne großen Ärger überlebt. Aber das wollte ich nicht. Ich war überzeugt vom schwarz-grünen Bündnis, und ich schätze die Grünen in Hamburg auch persönlich sehr.

Bei meiner Entscheidung für die Schulreform ging ich ebenfalls ein Risiko ein, und im Nachhinein betrachtet war es wohl das größte Risiko meiner gesamten politischen Laufbahn. Das eigene Lager konnte ich nicht ausreichend von der Notwendigkeit überzeugen, die Grundschule zu einer sechsjährigen Primarschule umzubauen. Ich hatte auch nicht erwartet, dass dieses Thema die Menschen so polarisiert. Natürlich bestand das Risiko zu scheitern, dessen war ich mir sehr bewusst. Und am Ende hat es sich ja auch bewahrheitet. Doch für mich persönlich war es nie ein Drama, für eine Überzeugung zu scheitern. Ich war überzeugt von unseren Argumenten, der festen Meinung, dass sie auch das bürgerliche Lager und die Konservativen überzeugen könnten. Ich glaubte schlicht, dass die gesellschaftliche Diskussion hier weiter wäre. Es ist nun eine sehr unglückliche Situation für die Partei, die die Hauptleittragende ist. Die Schwarz-Grüne Koalition platzte und wir verloren die darauf folgende Wahl mit lautem Krach. Doch so wie wir als Partei die absolute Mehrheit nach dem Rauswurf Schills und den Neuwahlen holen konnten, weil wir das Risiko gewagt hatten, so sind wir leider mit der Schulreform gescheitert. Nur so aber kann man gute Politik betreiben. Nur so lassen sich Akzente setzen, daran glaube ich fest. Mal liegt man mit seiner Einschätzung goldrichtig, und manchmal daneben. Niederlagen gehören dazu.


Doch genau hier liegt das Problem. Generell habe ich das Gefühl, dass die Risikobereitschaft stark nachgelassen hat. Die Menschen vermissen von Politikern klare Bekenntnisse. Und sie haben jedes Recht dazu, diese einzufordern. Zu selten treten wir klar für unsere Positionen ein, aus Angst, uns gegen den Mainstream zu lehnen.

Ich will Beispiele nennen, wo ich eine klare Haltung vermisst habe. Zum einen: Thilo Sarrazin. Ich meine, dass man seinen Thesen deutlich härter hätte gegenübertreten sollen. Das hätte ich mir von meiner eigenen Partei gewünscht, genauso deutlich aber auch von der SPD erwartet. Viele Kollegen hatten das Gefühl, aus Sarrazins Buch spricht Volkes Stimme, und mit Volkes Stimme legt man sich nicht an. Das Buch aber war unseriös, in seinen Thesen unredlich, doch kaum einer hat dagegengehalten. Die Grünen taten es noch am lautesten. Im Grunde aber haben alle durch die Bank weg versucht, dieses unangenehme Thema leerpuffern zu lassen. Öffentlich klang das dann so: Er spricht etwas an, das viele beschäftigt, und wir nehmen das sehr ernst. Eine leere politische Phrase.


Zum anderen vermisse ich seit langem ein klares Bekenntnis zu Europa. Keiner äußert eine Vision, keiner hat den Mut zu sagen: Verflucht noch mal, Europa hat uns 50 Jahre Frieden gebracht, es hat uns Wohlstand gebracht, nun muss Deutschland auch Opfer bringen. Im Wettbewerb mit China, aber auch in der Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten brauchen wir Europa. Nicht nur aus ökonomischer Sicht. Wir benötigen auch ein ideelles Rückgrat. Wir sollten stolz sein auf unsere europäischen Werte. Und deshalb muss man jetzt sehr klar und deutlich sagen: »Mein Ziel, das sind die Vereinigten Staaten von Europa.« Ein solcher Schwur ist nötig. Im Zuge der Globalisierung muss man neue Positionen beziehen, die vor 20 Jahren vielleicht noch nicht erforderlich waren. Ein emotionales, ein historisches Ziel in dieser Größenordnung muss hier formuliert werden, auch mit dem Risiko, dass 70 Prozent der Menschen das so noch nicht sehen. Mir fehlt die Bereitschaft in der Politik, die Menschen davon tatsächlich überzeugen zu wollen. Mit Rücksicht auf die vermutete öffentliche Meinung wird hier wieder alles sehr verquast ausgedrückt. Bloß kein Risiko eingehen, sich bloß nicht bekennen, es könnte ja die nächste Wahl verloren gehen.


Wir brauchen also wieder mehr Mut und Klarheit in den Debatten. Dabei dürfen wir jedoch nicht die Verantwortung für die eigenen Leute aus dem Blick verlieren. Politik darf kein Jahrmarkt der eigenen Eitelkeit werden, kein Spiel nach dem Motto: Hier stehe ich und kann nicht anders. Das ist inakzeptabel, denn kein Politiker steht für sich allein. Er ist immer zugleich Repräsentant seiner eigenen Leute. Die Wähler aber goutieren Mut und Ehrlichkeit, davon bin ich überzeugt.

Ich will hier keine klassische Autobiografie schreiben. Und doch werde ich im ersten Kapitel erläutern, wie ich zu dem wurde, der ich heute bin. Und ich möchte der Frage nachgehen, woher mein Drang nach Individualität und Unabhängigkeit stammt.

Im zweiten Teil des Buches stelle ich die wichtigsten Stationen und Entscheidungen dar, die ich in meinem Leben als Politiker vollzogen habe. Dazu gehören die erfolgsgekrönten gleichermaßen wie die weniger ruhmreichen Momente.

Im dritten Teil denke ich an die Zukunft. Denn wir sind mit gewaltigen Umbrüchen konfrontiert, die heute weit über das Politische hinausreichen und direkt ins Mark der Gesellschaft treffen: Wie steht es mit der Integration, was muss eine moderne Bildungspolitik erfüllen und was wird aus Europa? Diese Themen verdienen eine angemessene Seriosität und eine Portion Mut.


Seit meinem sechzehnten Lebensjahr war ich in der Politik tätig und blieb ihr bis zu meinem Rücktritt vom Amt des Ersten Bürgermeisters der Hansestadt Hamburg im Herbst 2010 treu. Ich war vor meinem Eintritt in die CDU schon ein politischer Mensch und bleibe dies auch nach meinem Ausscheiden aus der aktiven Politik. Dieses Buch ist also keine Bewerbung um ein politisches Amt, dieses Buch ist kein Parteiprogramm. Dieses Buch ist der Versuch, meine Sicht auf die Dinge darzulegen, auf die Motive meines Handelns.