Mut und Proben IV – Oder die Probleme der Konservativen

Als ich in die CDU eintrat, war ich gerade sechzehn Jahre alt, und ich werde wohl bis zum Ende meines Lebens politisch Mitglied der Christdemokraten bleiben. Ich habe dieser Partei alles zu verdanken. Ich war Oppositionsführer der Hamburger CDU, Erster Bürgermeister und Ministerpräsident über beinahe zehn Jahre. Und ich konnte mir als Mitglied des Bundesvorstandes ein umfassendes Bild von einer großen Volkspartei machen. Ich habe mein gesamtes Leben lang nur diese eine Partei gewählt: die Christlich Demokratische Union.

Ich bin ein Kind der Sechziger- und Siebzigerjahre. Damals gab es Grabenkämpfe zwischen den Linken und den Rechten, zwischen Konservativen, Liberalen und Sozialdemokraten. Die Konturen waren klar gezeichnet, und als Mitglied einer Partei wusste man, wo man steht. Es war die Zeit von Rainer Barzel und Helmut Kohl, von Willy Brandt und Helmut Schmidt. Als ich mit meiner Parteiarbeit in der Hamburger CDU begann, ruhte sich die CDU gerade noch auf den Erfolgen von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard aus. Doch wir Jungen waren heiß und stürzten uns mit allem Enthusiasmus auf Programmarbeit.

Es war eine Zeit, in der man Meinungen und Haltungen auf die Probe stellen konnte. Auch in der CDU. Auf dem Parteitag in Hamburg damals wurde um Positionen gerungen wie etwa die paritätische Mitbestimmung, die Vermögensbildung für Arbeitnehmer, die Reform der Berufsbildung, es wurde gestritten und debattiert. Obwohl es schon damals nicht so recht zur CDU passte, hatten wir in Hamburg einen offen geführten Austausch von Meinungen. Das ist nicht selbstverständlich für eine Partei, die sich eigentlich durch eine starke Führungstreue auszeichnet, heute mehr denn je – solange man erfolgreich ist, sind die Mitglieder extrem loyal, sobald der Erfolg nachlässt, wird man schnell wieder fallengelassen. Das ist so, und daran ist nichts Verwerfliches. Die Sechziger jedoch waren für uns Jung-CDUler eine Zeit der Inhalte, in der gruppendynamische Prozesse liefen, in der man sich stritt, dann aber wieder zu Lösungen fand, indem man gemeinsame Positionen erarbeitete. Mehr noch als für die Wähler selbst waren diese Prozesse für uns als Partei wichtig. Etwas erarbeitet zu haben, das schweißte zusammen. Erst recht in den Jahren der Oppositionszeit nach 1969.


Doch die Zeiten haben sich geändert. Es wird wenig um gemeinsame Positionen gerungen. Generell gehen in unserer Gesellschaft nur noch wenige Impulse von Parteien aus. Parteien sind heute austauschbarer geworden, weil die Welt eine andere ist. Der Wirkungsgrad von Parteien hat sich verändert. Früher dachte man national. Es galt vielleicht, Europa, sofern möglich, mit einzubinden in die Politik. Im äußersten Fall bedachte man transatlantische Beziehungen. China gehörte aber gewiss nicht dazu. Asien war viel zu weit weg – wie heißt es so schön: Was interessiert es mich, ob und wann in China ein Sack Reis umfällt? Heute muss uns das interessieren.

Um heute Politik betreiben zu können, muss man mühsame Kompromisse schließen mit anderen Parteien, was man gerade erst wieder beobachten konnte an den Beschlüssen im Bundestag zum EU-Rettungspaket. Das reicht aber nicht mehr: Man muss als Regierung seine nationalen Beschlüsse mit den internationalen Partnern abstimmen. Allein kann heute weder regional noch national und schon gar nicht international entschieden werden. Dadurch wird es immer schwieriger, die geschlossenen Kompromisse emotional vertreten zu können. Entscheidungen und Kompromisse werden heute rational getroffen, es sind Vernunft- und Interessenentscheidungen, die der Schnelllebigkeit geschuldet sind und der geringen Halbwertzeit aktueller politischer Situationen.

Man muss ehrlicherweise sagen, dass man heute als Politiker den Menschen eigentlich gar keine Wahlversprechen mehr machen kann. Abgesehen davon, dass die Wenigsten an solche vollmundigen Versprechungen glauben, muss man einkalkulieren, dass nur noch in den seltensten Fällen absolute Mehrheiten zu erlangen sind. Und selbst dann müssen Kompromisse entweder mit den anderen Parteien, Bundesländern oder mit Europa eingegangen werden. Gerade in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen muss die Politik heute sogar interkontinental agieren. In solchen Zentrifugalkräften aber werden die einzelnen Parteien zerrissen und verlieren ihr eigentliches Profil.


Hinzu kommt, dass Politik immer personenbezogener wird. Zum einen aus einer gewissen Notwendigkeit heraus, denn eine Partei ist ein schwerer Tanker mit Hunderttausenden von Mitgliedern. Bis man die Basis von seinem Kurs überzeugt hat, dauert es daher sehr lange. Es braucht also einzelne Köpfe, die mit einem gewissen Mut und einer entsprechenden Autorität vorpreschen, auch gegen die Meinung andersdenkender Teile einer Partei. Vor diesem Hintergrund finde ich beispielsweise Angela Merkels Kurs zum Ausstieg aus der Atomkraft richtig und mutig. Fukushima hat die Akzeptanz der Kernenergie infrage gestellt. Die Energiepolitik wäre zu einem Schwarz-Weiß-Thema aller folgenden Wahlkämpfe geworden, und vermutlich wären diese nicht zu gewinnen gewesen. Aber unabhängig vom Taktischen hat sich doch jeder die Frage gestellt: Wenn so etwas in einem so hochtechnisierten und gut organisierten Land wie Japan geschieht, kann man dann noch davon ausgehen, dass Deutschland dagegen gewappnet ist? Die Entscheidung war also notwendig.

Ebenso waren es mutige Entscheidungen einzelner Personen, in Sachen Integration die Weichen umzustellen, wie es etwa Ronald Pofalla getan hat. Oder Ursula von der Leyen beim Thema Kindererziehung. Das alles waren Dinge, die aus Sicht der Basis gern noch fünf bis zehn Jahre hätten warten können. Aber gesellschaftspolitisch waren es Entscheidungen, die längst überfällig waren – allesamt mutige Schritte einzelner Menschen.

Das Profil der Parteien

Politik lässt sich nicht mehr wie in den Siebziger-, Achtziger- und Neunzigerjahren betreiben. Politik ist schnelllebiger geworden. Und transparenter. Alles findet heute unter extremer Beobachtung der Öffentlichkeit statt. Die großen Parteien haben viele Stammwähler verloren. Das gilt für die CDU genauso wie für die SPD. Man spricht heute von einer mobilisierbaren Stammwählerschaft von gerade mal 20 Prozent bei den beiden großen Volksparteien, viele frühere Stammwähler sind heute Wechselwähler. Oder Nichtwähler. Vor einigen Monaten hat der ehemalige Ministerpräsident Baden-Württembergs, Erwin Teufel, diesen Umstand in einem Interview mit der FAS beklagt und mit seiner Kritik an der Parteiführung vielen Mitgliedern aus dem Herzen gesprochen. Die CDU, so Teufel, verliere ihre Stammwähler, weil es der Partei an Alleinvertretungsmerkmalen fehle und an klaren Kernkompetenzen. Die Wähler erkennen kein klares Profil.


So steckt die CDU in einem Dilemma. Zum einen muss sie sich den globalen Gegebenheiten unterordnen und droht dabei mehr und mehr ihre Linie zu verlassen. Zum anderen muss sie der Basis suggerieren, für ihre ureigenen Werte noch immer einzustehen und ihre eigenen Interessen zu vertreten. Für viele Mitglieder und Wähler war die CDU seit jeher eine konservative Partei. Für viele Anhänger ist dieser Begriff ein klares Identifikationsmerkmal der Partei und nicht wenige fordern heute eine Rückbesinnung auf so genannte konservative Werte. Aber was ist damit eigentlich gemeint, mit konservativen Werten? Was ist denn heute konservativ?

In der historischen Bedeutung wurde das Konservative aus einer Abwehr heraus geboren gegen gesellschaftliche Veränderungen aufgrund der sich wandelnden wirtschaftlichen Strukturen. Das lässt sich vermutlich zurückverfolgen bis in die Feudalzeit, als die Mechanisierung und die Industrialisierung um sich griffen und die Herrschenden ihre Felle davonschwimmen sahen. »Konservativ« ist letztlich ein Kampfbegriff gegen Veränderung. Ein wertebezogener Antibegriff gegen Veränderung, gegen gesellschaftlichen Wandel. Ein Wandel, der überwiegend durch den technologischen Fortschritt und politisch von links kam. Diese Entwicklung mündete in den Zwanziger- und Dreißigerjahren in einer beinahe panischen, angesichts der Herrschaft Stalins durchaus aber auch nachvollziehbaren Angst vor dem Kommunismus, die letztlich jedoch zum Versagen der Konservativen führte. Nicht alle, aber doch das Gros ließ sich durch die Ideologie der Nazis korrumpieren. Sie machten gemeinsame Sache mit den Nationalsozialisten, was schon mit der Harzburger Front begann, weil sie glaubten, die Nazis schon in den Griff zu bekommen. Die Konservativen schlossen also den Pakt mit dem Teufel, bezogen aus der gemeinsamen Abneigung gegen Kommunisten und Weimar und verloren darüber ihre Haltung. Das politische Konservative hatte somit versagt. Mit Ausnahme weniger, die am 20. Juli beteiligt waren. Zwar versuchten die Konservativen nach dem Krieg, sich eine neue Wertebezogenheit aufzuerlegen, sowohl gegen Links als auch gegen Rechts und explizit gegen die Nazis. Aber sie waren seit der Anpassung des organisierten Konservatismus diskreditiert.

Das politische Konservative, vor allem in seinen Ambitionen gegen den Kommunismus, verlor an Kraft und Glaubwürdigkeit. Zwar hat der Kalte Krieg manches Defizit verdeckt, spätestens nach dem Fall des Eisernen Vorhangs war das Dilemma aber da. Übrig blieb ein philosophischer Konservatismus. Der Gedanke des Bewahrens also, das Festhalten an dem, was ist, bevor man sich auf etwas Neues einlässt. Dies paart sich mit gewissen Werten, die die Konservativen gerne für sich beanspruchen. Werte und Tugenden wie Fleiß, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Sparsamkeit. Doch all dies sind Werte, die von einer politischen Weltanschauung eigentlich unabhängig sind. Es sind Haltungen, die man mit praktisch jeder Ideologie für sich beanspruchen kann. Vermutlich gab es genauso sparsame Nazis, wie es pünktliche Kommunisten gab. Heute gibt es ebenso fleißige Linke wie zuverlässige Grüne. Was also originär konservativ bleibt, ist der Anspruch des Bewahrens. Dieser aber ist in Zeiten globaler Veränderung kaum mehr durchzuhalten.

Von allen Seiten hört man jedoch heute den Ruf nach einer Renaissance des Konservativen. Die Angst vor einer ungewissen Zukunft und einer immer undurchsichtiger werdenden Welt scheint die Sehnsucht nach konservativen Gedankenspielen zu beflügeln. Diesem Anspruch gerecht zu werden, das ist das große Problem der Konservativen. Sie wollen etwas bewahren, das es real schon lange nicht mehr gibt, und ihnen fehlen die nötigen Werkzeuge, um die bereits mit voller Wucht eingesetzten Entwicklungen aufzuhalten. Der Gestaltungsbegriff ist heute erheblich schwieriger geworden. Zu viele verschiedene nationale und globale Interessen laufen nun zusammen, zu große Kompromisse müssen geschlossen werden. Das Kernthema also der Konservativen, das Gestaltenwollen gegen eine Veränderung, ist unlösbar geworden.

Fehlendes Charisma

Es gibt einen weiteren Punkt, der das Dilemma der Konservativen aufzeigt. Es ist das Fehlen von Lichtgestalten, die das Konservative symbolisieren. Früher waren es die Fürsten oder der Kaiser, die solche symbolische Wirkung hatten, später dann Politiker wie Alfred Dregger oder Franz Josef Strauß. Doch in Zeiten medialer Transparenz werden diese Lichtgestalten unmöglich. Eine Lichtgestalt unterliegt dem Anspruch des Unfehlbaren. Kein Mensch aber ist unfehlbar. Gut zu beobachten war dies bei Karl-Theodor zu Guttenberg. Er wurde als der »neue« Konservative hochgelobt, er war Aristokrat, hatte ein tadelloses Auftreten gepaart mit den entsprechenden Umgangsformen. Er war das, was sich die konservative Gemeinde unter einem musterhaften Konservativen vorstellt, und so wurde er zur neuen charismatischen Ikone. Ganz unschuldig war er selbst daran natürlich nicht. Er pflegte sein Image und ließ sich entsprechend für die Presse inszenieren. Aber heutige Medien durchleuchten wie nie zuvor jede öffentliche Person, und so fand man auch bei Guttenberg entsprechende Makel, die ich nicht rechtfertigen will. Doch vor dreißig Jahren wäre man vermutlich noch nonchalant darüber hinweggegangen. So wie man über die verschiedenen Affären Willy Brandts hinweggegangen ist, oder wie bei Franz Josef Strauß, dessen unzählige Eskapaden meist nur als Gerücht kursierten und denen man eben nicht spitzfindig nachging. Brandt und Strauß hätte es in der heutigen Zeit wohl so nicht gegeben. Ebenso wie Karl-Theodor zu Guttenberg zu jener Zeit das Plagiat seiner Doktorarbeit, wäre sie denn überhaupt öffentlich geworden, aller Wahrscheinlichkeit nach unbeschadet überlebt hätte. Der Soziologe Max Weber fasste zusammen, was das Charisma eines politischen Führers ausmacht. Seiner Meinung nach ist es eine »als außeralltäglich (…) geltende Qualität einer Persönlichkeit, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ›Führer‹ gewertet wird.« Heute hingegen ist Charisma kein Garant für Anerkennung; jede öffentliche Person wird genauestens auf Herz und Nieren geprüft. Ich will das gar nicht verurteilen, denn ein öffentliches Korrektiv ist für eine Demokratie unabdingbar. Aber Politiker mit makellosem Vorbildcharakter werden nur noch schwer zu finden sein. Jeder Mensch ist nur ein Mensch, mit all seinen Fehlern und mit all seinen Schwächen. Wenn also das Bewahren-Können entfällt und auch die Lichtgestalten entfallen, bleibt die Frage, was noch übrig bleibt von der konservativen Idee.

Erhard Eppler machte vor vielen Jahren einmal die Unterscheidung in Wertkonservative und Strukturkonservative. Wertkonservative sind jene, die bestimmte Werte intellektuell hinterfragen und sich dazu bekennen. Strukturkonservative halten sich hingegen an den Symbolen fest, an Mechanismen, aber eben nicht an Inhalten. Aber diese intellektuell durchaus interessante Unterscheidung hat nie den Kern getroffen, weil der wahre Konservative Symbol und Wert nicht unterscheidet. Nehmen wir ein unverfängliches Beispiel: Der Konservative plädiert für eine starke Armee, weil er der Meinung ist, dass diese nützlich sei, um sich zu wehren und die nationale Souveränität zu schützen. Für eine starke Armee braucht es eine gewisse Truppenstärke und eine funktionale Struktur. Eine starke Armee braucht aber keinen Zapfenstreich oder das öffentliche Gelöbnis. Nichts gegen militärische Traditionspflege, aber das ist nun einmal reine Symbolik und nicht prägend für den Inhalt. Für einen Konservativen aber ist diese Symbolik untrennbar vom Inhalt, er wird an ihr festhalten, auch wenn die Aufgaben, die Inhalte und Werte sich geändert haben. In Zeiten sich rasant wandelnder Umstände, die sich etwa auch auf den Auftrag und die Struktur einer Armee auswirken, läuft unveränderte und eng verbundene Symbolik Gefahr, überholt zu werden und künstlich zu wirken.

Oder betrachten wir das wohl noch beliebtere Beispiel der Konservativen: den Stand der Ehe. Der konservative Wert ist es, dass Menschen Bindungen eingehen, füreinander Verantwortung übernehmen über den Tag hinaus. Das ist ein Wert, der privilegiert wird. Aber der Konservative will dies nur für die Bindung zwischen Mann und Frau, das ist die angestrebte Konstellation. Der Konservative ist gegen die Ehe für Schwule. Mann und Frau sind aber kein Inhalt, sondern eine biologische Klassifizierung. Der Wert ist das Füreinander, die Symbolik ist der herkömmliche Trauschein. Der Wert ist es doch, seinem Partner ein Versprechen auf Lebenszeit zu geben, für ihn da zu sein und den Staat in seiner Fürsorglichkeit am Ende zu entlasten. Für die Sache ist es da doch völlig egal, ob es zwei Männer, zwei Frauen oder ein Mann und eine Frau sind, die sich darauf einigen. Der Wert bleibt also der gleiche, aber für den Konservativen fehlt bei der gleichgeschlechtlichen Ehe schlicht das Tradierte, der Trauschein von Mann und Frau. Darum habe ich den Eindruck, dass diejenigen, die sich selbst als konservativ definieren, inhaltsleer geworden sind. Die Konservativen stecken in einem schweren Dilemma. Ihnen fehlt der programmatische Kern. Verlässlichkeit, Maß, Mitte, Demut – das alles sind vielleicht Dinge, die ein Konservativer für sich in Anspruch nimmt. Aber es sind Haltungen, keine Inhalte. Kurzum: Wenn ich Konservative reden höre, dann erschöpfen sie sich häufig im Postulieren von Haltungen und im Artikulieren von Gefühlen. Ihre Aussagen reduzieren sich letztlich auf: »Das tut man und das tut man nicht.« Aber wer kann so etwas schon als Partei programmatisch formulieren?


Die CDU hat heute das Problem mit dem Konservativen, wie es die SPD vor zehn Jahren hatte mit dem Begriff des demokratischen Sozialismus. Zum Kern der SPD gehörte es, auf nationaler oder regionaler Ebene staatliche und gesellschaftliche Maßnahmen zu fordern und zu verwirklichen, die die aus ihrer Sicht bestehenden Ungerechtigkeiten zwischen Oben und Unten, zwischen Arm und Reich mildern oder ausgleichen sollten. Die SPD verstand sich als die »Partei der kleinen Leute«. Die Globalisierung, der internationale Wettbewerb, das hat dazu geführt, dass nationalstaatliche Maßnahmen kaum noch wirken können, weil die Ökonomie, und damit ein Großteil des Arbeitsmarktes, internationalen Bedingungen folgt.

Das Sozialsystem wurde reformiert (Hartz IV), um diesem internationalen Wettbewerb Rechnung zu tragen. Die Verlagerung von Arbeitsplätzen sollte dadurch gestoppt werden, die deutsche Wirtschaft sollte wettbewerbsfähiger werden. Das hat funktioniert. Aber zu welchem Preis für die SPD? Diese hat ihren Anspruch, die »Partei der kleinen Leute« zu sein, größtenteils verwirkt, weil sie Ideen durchsetzen musste, die ihrer eigenen Geschichte und Philosophie widersprachen.

Nebenbei: Jetzt versucht die SPD gegenzusteuern – zumindest durch die verbale Distanz zu Hartz IV und die Forderung nach einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes. Ökonomisch ist das eher falsch und bringt unter dem Strich wenig, soll aber beruhigen und emotional die »kleinen Leute« zurückholen. Ob das glaubwürdig ist, wird sich zeigen. Nachvollziehbar ist ein solcher Reflex durchaus.

Das Gleiche trifft die CDU heute in ihrer konservativen Tradition. Die Globalisierung drängt auf neue Wege einer internationalen Wirklichkeit und gesellschaftlicher Veränderungen mit folgenden Entscheidungen: Modernisierung des Bildungswesens, Aufnahme neuer Schulden zur Hilfe anderer Länder, Umbau der Bundeswehr, Stärkung der Frauenrechte, Öffnung des Arbeitsmarktes für Ausländer usw. Das alles sind zwar notwendige Maßnahmen, diese stehen aber konträr zum traditionellen Kern der Union.

In der Opposition lassen sich solche Entscheidungen noch hinauszögern. In der Regierung allerdings muss man sie treffen, sonst verliert das Land wertvolle Zeit. Viele Menschen werfen den Parteien hier Opportunismus vor. Das Gegenteil aber ist der Fall. Es gehört Mut dazu, die eigene Klientel zu verärgern. Die Frage wird sein: Gelingt es, die Menschen zu überzeugen, oder nicht. Gelingt dies nicht, wird man abgewählt. Das ist zwar für jede Regierungspartei unschön, gehört zu einer gesunden Demokratie aber in jedem Fall dazu.

Parteien der Zukunft

Die Frage sollte erlaubt sein, ob man denn überhaupt als Bürger sein Leben lang immer das Gleiche wählen muss, so wie ich es getan habe. Für eine Demokratie ist das eigentlich unsinnig. Klüger ist es doch, von Mal zu Mal zu schauen, welche Partei die eigene Überzeugung gerade am besten vertritt. Die eigene Meinung ist doch nicht starr, sondern ändert sich im Laufe eines Lebens. Genauso verändern sich die Probleme von Jahr zu Jahr, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Und auch die führenden Köpfe wechseln oder sind für bestimmte Themen prädestiniert und für andere nicht. Das Personal ist somit jeweils neu zu bewerten. Dass eine einzige Partei ein Leben lang stets die eigenen Ansprüche und Bedürfnisse erfüllen kann, ist doch höchst unwahrscheinlich und wäre auch einfach zu viel verlangt.

Insofern werden auch wir verstärkt eine Entwicklung vornehmen, die in vielen anderen Ländern bereits deutlich fortgeschrittener ist: dass sich die Parteien nämlich personenorientierter aufstellen müssen. Inhaltlich gleichen sich ihre Programme immer mehr, und es wird zunehmend schwieriger, in einer globalisierten Welt einzelne Positionen herauszuarbeiten. Es wird nicht mehr die Partei X geben, die für jene zehn Punkte steht, und/oder die Partei Y, die für die anderen zehn Punkte steht oder eine gegensätzliche Auffassung vertritt.


Und doch bin ich, unabhängig vom Pragmatischen, aus ganzem Herzen Christdemokrat. Kein Konservativer. Das »C« in der Union ist es, was diese Partei ausmacht, und damit meine ich nicht das Klerikale, nicht die Nähe zur Kirche. Es sind die Werte, die dahinter stehen.

Nach dem Jahrhundert der Ideologien haben wir die Erkenntnis erlangt, dass es keinen Himmel auf Erden gibt. Dass kein Zweck jemals unmenschliche Mittel heiligt, auch kein religiöser. Dass niemand die Überlegenheit über andere gepachtet hat: keine Rasse über einer anderen, keine Klasse über einer anderen. Es ist die Erkenntnis, dass das, was jeden ausmacht, nicht nur Produkt seiner Umwelt ist, seiner Erziehung oder Umgebung, sondern auch Ergebnis seiner eigenen Entscheidungen (und Gottes Gnade). Dazu gehört auch die Entscheidung zwischen Gut und Böse. Die linke Hoffnung, der Mensch sei in seinen Anlagen gut und das Böse lediglich das Resultat von äußeren negativen Bedingungen, verträgt sich nicht mit der christlichen Überzeugung, dass es das Böse gibt. Man muss sich der Präsenz des Bösen bewusst sein und sich täglich auffordern, der Versuchung zu widerstehen. Verfehlungen und Versuchungen gehören zu diesem Prozess nämlich dazu.

Es ist die Erkenntnis, dass bei allem menschlichen Bemühen neben allen kausalen Einflüssen auch so etwas wie Gnade und Bestimmung unser Leben begleiten. Darum ist Erfolg nicht das gerechte Ergebnis von Leistung und Misserfolg die Quittung für eine schlechte Leistung. Es ist jeweils auch das Ergebnis von Gnade, Prüfung, Glück und Pech. Erfolg sollte daher demütig und dankbar machen, Misserfolg hingegen nicht mutlos, auch wenn das wohl leichter gesagt ist als getan.

Das Christliche ist die Überzeugung, dass jeder Mensch nicht nur abstrakt, etwa durch das Zahlen von Steuern, sondern auch ganz konkret für seine Mitmenschen da sein muss. Der Staat ist die Ultima Ratio bei der Lösung von Problemen. Und wenn es nicht der Einzelne ist, der helfen muss, sondern das Kollektiv, dann ist es immer besser, dass diese Hilfe selbstbestimmt und selbstgestaltet ist, als dass sie durch den Staat vorgeschrieben wird.


Das alles mag manchem zu theoretisch klingen. Doch es hat Einfluss auf konkrete Positionen bei politischen Themen: Welche Rolle hat der Staat in der Sozialpolitik? Welche Verantwortung haben Eliten und wie leite ich die Eliten dazu an, Verantwortung wahrzunehmen? Wie geht die Gesellschaft mit Straftätern um? Wo ist die Grenze der Toleranz gegenüber Anmaßung und Intoleranz? Welchen Stellenwert hat das menschliche Leben? Wie verhält sich die Gesellschaft gegenüber Minderheiten?

Ich behaupte nicht, dass die CDU diesen Ansprüchen immer gerecht geworden ist und die richtigen Antworten hierauf liefert. Zumal es aus christlicher Sicht durchaus verschiedene Möglichkeiten gibt. Aber dies ist ein Kompass, der nicht von Tagesaktualität bestimmt ist und der Bestand hat. Und es ist mehr als das rein konservative Bewahren-Wollen von Strukturen und Symbolen in einer sich verändernden Welt. Umso mehr, als diese Werte sich trotz Globalisierung, trotz schneller Kommunikation, internationalem Wettbewerb und Gedankenaustausch nicht ändern.


Die christlichen Werte bilden eine Grundlage. Die tagespolitischen Herausforderungen sind der Alltag. Politiker sind nicht frei von Fehlern, auch sie haben nicht immer nur das Gute im Sinn und folgen stets den höchsten Werten. Daher kann und darf Politik nicht dauernd moralisieren. Diese Aufgabe liegt für mich bei den Kirchen, die sich jedoch heute allzu sehr an tagesaktuellen Dingen abarbeiten. Die Kirchen und ihre Vertreter sind es doch, die eine Orientierung geben können in Zeiten von Umbrüchen und Krisen. Sie müssen sich als moralische Instanz behaupten, Trost spenden und Hoffnung geben, statt Verbote und Belehrungen auszusprechen.

Politik kann nur den Rahmen schaffen, letztlich sind es die Menschen, die Verantwortung übernehmen müssen für sich und für ihre Mitmenschen: einzelne Leute in den Parteien, kluge und kantige Köpfe, und einzelne Bürger, die mutig nach vorne treten. Letztlich kann jeder mutig sein, wenn er sich seiner Verantwortung bewusst wird. Wir Politiker sollten dabei mit gutem Beispiel vorangehen.