Kratzt sie überhaupt noch, was die Journalisten über sie schreiben?

»Sie gehen genau dann, wenn ich es sage.« Der Satz der Bundeskanzlerin kam ganz ohne Ausrufezeichen aus, war aber scharf, schneidend, schnippisch. Ich hab’ hier das Sagen, ich bin hier Chef. Punkt.

Der Beginn eines Interviews für BILD hatte sich verzögert, das Band lief noch nicht, und irgendwie entstand ein kleines Geplänkel, ob die verlorene Viertelstunde nicht hinten drangehängt werden könnte, weil ja, so argumentierten wir, eine volle Stunde zugesagt worden war. Die Kanzlerin sagte einmal Nein und bat um Entschuldigung. Wir hakten nach, drängelten wohl ein wenig, ein Wort gab das andere. Dann kam, aus ziemlich heiterem Himmel dieser Satz, und unwillkürlich schaute man zum Fenster, ob da von innen jetzt die Eisblumen wachsen … Die Kanzlerin hatte die Faxen dicke. Am Ende des Interviews, das gar nicht mal so schlecht ging, erklärte sie, dann wieder versöhnlich: US-Präsident George Bush würde gleich anrufen, und deshalb könne sie partout keine Minute zugeben. Schön, das kann man ja leicht einsehen, selbst als doofer Journalist. Wenn man es denn gesagt kriegt.

Keine Frage, Angela Merkel kann mit Journalisten ganz schön schnippisch sein. Deshalb muss niemand mit uns Schreiberlingen Mitleid haben, wir kriegen ja Gehalt dafür. Aber der Rede wert ist es schon, denn spätestens in den acht Jahren Kanzlerschaft hat sich Angela Merkel einen Panzer zugelegt, eine Art Selbstschutz-Logik. Die geht so: An- und wieder abschwellende Kritik, prasselndes oder verweigertes Lob sind so zyklisch und unveränderbar wie die langjährige mittlere Temperaturkurve durch die Jahreszeiten. Und: Der deutschen Presse kann man es in der Regel eh’ nicht recht machen, egal wie man es macht. Mit solcherlei Ansichten steht Angela Merkel bei weitem nicht allein; die allermeisten deutschen Spitzenpolitiker denken so – und der noch dazu so dünnhäutige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück ganz besonders. Der prägende Nachteil einer solchen Panzerung ist freilich, dass auch objektiv berechtigte Kritik nicht mehr durchschlägt. Und das macht nicht eben klüger.

Weil es ihrem Naturell entspricht, versieht die Kanzlerin ihre Kritik an den Medien fast immer mit dem spürbar pflichtschuldig formulierten Vorschub-Satz »Ich mache den Medien ja keinen Vorwurf« – und dann macht sie genau das, nämlich den Medien einen Vorwurf: Dass diese sich so lange die Maßstäbe ihrer Kritik zurechtbögen, bis es für einen Politiker keinerlei Weg mehr gäbe, sich keine Kritik einzufangen. Beispiel: Wenn Minister ihres Kabinetts oder Spitzenkräfte ihrer CDU in die Kritik gerieten, blieben ihr nach einer ersten Phase der Nicht-Beachtung »denklogisch« (Merkel) drei Möglichkeiten. Dem Kritisierten öffentlich das Vertrauen aussprechen bzw. hilfsweise vom Sprecher aussprechen lassen. Oder schweigen. Oder den Betroffenen kritisieren. Letzteres einmal beiseitegelassen, würde ihr im Fall a) vorgeworfen, zu sehr an der Person zu hängen, das Problem auszusitzen, typisch à la Merkel viel zu lange zuzusehen, anstatt das Problem gleich und mutig anzugehen – so geschehen zuletzt in der Doktortitel-Affäre um die schließlich zurückgetretene Bildungsministerin Anette Schavan, eine ihrer engsten Vertrauten und ganz wenigen echten politischen Duz-Freunde. Im Fall b) wiederum (Schweigen) würde ihr unweigerlich vorgeworfen werden, dass sie, typisch Merkel, mit der eigenen Partei unsolidarisch ist; aus Furcht, sich selber zu beschädigen, verdiente Weggefährten hängen lässt; und überhaupt wieder einmal viel zu lange zuwartet … So ebenfalls geschehen im Wahlkampf des hessischen CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch, der 2007/2008 sich anhand eines brutalen Schläger-Überfalls in der Münchner U-Bahn als law&order-Mann profilieren wollte und damit Schiffbruch erlitt.

Wenn sie sich so in die Ecke gedrängt sieht, unfair behandelt fühlt, kann Angela Merkel außerordentlich schmallippig werden. Als Retourkutsche reibt sie den Journalisten dann die eigenen kleinen und großen Ungereimtheiten, Widersprüche oder Bigotterien unter die Nase. Sie geht zum Angriff über. Als die schwarz-gelbe Bundesregierung nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima im März 2011 die nur Monate zuvor beschlossene Verlängerung der Atomkraftwerks-Laufzeiten wieder zurücknahm und die »Energiewende« einleitete, da häuften sich bald die kritischen Fragen, ob bei all’ den ehrgeizigen Fristen und Zielen die Regierung die Sache noch im Griff habe: vom plötzlich unkontrollierten Zuwachs der erneuerbaren Energien über den Netzausbau bis zu den drakonischen Energiespar-Auflagen für Hausbesitzer und natürlich den happigen Preissteigerungen. Merkel konterte verärgert: »Bei Rot-Grün hat niemand gefragt, wie das gehen soll mit dem Ausstieg. Dabei war die Jahreszahl 2022 ganz ähnlich. Bei Schwarz-Gelb werden alle Fragen gestellt.« Oder beim Kampf um den Bundestagsbeschluss zum Euro-Rettungsschirm EFSF, der »dollsten Nummer, die ich in meinem politischen Leben erlebt habe«, wie sie selber sagt. Fünfzig Tage habe es geheißen: Kriegt sie die eigene Mehrheit oder nicht? »Dann hatte ich sie am Ende, und tags darauf war der EFSF nichts mehr wert, weil er angeblich zu klein war.« Wie gemein, möchte sie wohl noch nachschieben, aber diesen Fehler macht Angela Merkel nicht. Sie will kein Mitleid, weil öffentliches Mitleid eine große Stufe auf der Treppe nach politisch ganz unten ist. Aber manchmal will sie sich Luft machen – und dabei doch immer so aussehen, als stünde sie weit, weit über den Dingen.

Zur Wahrheit gehört: Ganz und gar daneben liegt Angela Merkel nicht mit dieser Beschreibung einer sich immer wieder neu aufbauenden Zwickmühle öffentlicher – oder veröffentlichter – Erwartung. Und wenn sie ihren jeweils aktuellen Fall durcherzählt hat, zuckt sie mit den Schultern und fragt: »Sehen Se?« Und zwar in einem Ton, der zu verstehen gibt: ›Ich hab’ euch durchschaut. Längst durchschaut. Aber ich hab’ eigentlich aufgehört, mich zu ärgern.‹

Tatsächlich erheben Publikum und Medien häufig Vorwürfe gegen die Politik, denen ein Politiker nur entgehen könnte, wenn er aufhört, Politik zu machen. Wer notwendige Merkmale des Politbetriebes grundsätzlich in Frage stellt, den kann die Politik nur zufriedenstellen, wenn sie den Betrieb, wie wir ihn kennen, ganz einstellt. Ein paar Beispiele, über die sich auch die Kanzlerin königlich aufregen kann: Diskrete Absprachen sind nicht nur für sie ein notwendiges Element von Politik, aber sie werden verschrien als »Hinterzimmer-Kungelei«. Anhaltendes Verhandeln zwischen naturgemäß unterschiedlichen Interessen gehört auch zur Politik, allzu oft verbuchen es die Medien (auch die BILD) negativ als »Parteien-Gezänk«. Durchsetzungskraft und Führung sind zwar als politische Eigenschaften gewünscht, in der Praxis aber sehr schnell als »Machtgier« in Verruf. Und dass Politiker allesamt eitel sind, halten viele im Publikum allein deshalb schon für bewiesen, weil Politiker ja unablässig in der Öffentlichkeit stehen.

Derart kurz gedachte »Parteien-Kritik« bringt die Kanzlerin in Rage. Selbsterklärte »Parteien-Kritiker«, die gern als Publikumsjoker den gängigen Talkshows beigemengt werden, hat sie regelrecht gefressen – was die wiederum natürlich bestärkt, weil sie sich umso mehr als aufrechte Helden fühlen dürfen. Und weil diese Art von Kritik sie so ärgert, hat Angela Merkel ein sehr gutes Gedächtnis dafür. Das umfasst nicht nur eine beeindruckende Menge von Sach-Details, sei es zu Energie-Effizienz, griechischer Strukturkrise oder Seltene Erden. Gespeichert sind auch die Namen der zwei Dutzend wichtigsten deutschen Journalisten und zwei weitere Dutzend Namen von jenen Kollegen, die sie regelmäßiger auf Reisen begleiten (Überschneidungen nicht ausgeschlossen). Die Kanzlerin scheut sich nicht zu loben. Das tut sie nicht platt oder gar anbiedernd, sondern auf Details des jeweiligen Textes zielend. Unterm Strich gibt es aber deutlich mehr Kritik, vor allem an jenen Artikeln und stets auch beim Namen genannten Autoren, die in ihren Augen billige Merkel-Stereotypen verwenden. Dazu zählt etwa der vielfach erhobene Vorwurf, in der Griechenland-/Eurokrise zu lange taktiert und an vielen, vielen Stellen erst Nein, später aber Ja gesagt zu haben. Wieder einmal damit konfrontiert, rutschte Merkel bei einer großen Sommerpausen-Presskonferenz dieser kleine Satz heraus: »Ich hab das nur zur Sicherheit mal mitgebracht …« Nämlich einen Stapel von alten Zitaten bis zurück ins Frühjahr 2010, mit denen sie nachweisen wollte, dass sie schon immer für einen dauerhaften Europäischen Rettungsfonds für Schulden-Staaten gewesen sei (was nachweislich so nicht stimmt; Finanzminister Schäuble hatte der FAZ-Redaktion sogar eine Wette angeboten, dass die Schirme auslaufen würden). Aber da sich keiner der fragenden Journalisten in diesem Moment entsprechend munitioniert hatte, ging die Runde an Merkel. Ätsch, sie lächelte zufrieden.

Zu den billigen Medien-Stereotypen zählt nach Merkels Meinung auch der Vorwurf, sie riskiere politisch nie etwas, weil sie in ihrem Muster des »Vom-Ende-her-Denkens« gefesselt sei. Merkel habe nie »gegen das Volk« regiert und somit ein Führungs-Manko, lautet ein anderes Urteil. Das Faktische an dem Vorwurf wischt Merkel schnell beiseite, verweist auf die Rente mit 67, den Afghanistan-Einsatz, die Milliarden für südländische Euro-Pleite-Staaten und diverse Beschlüsse mehr, die gegen Volkes Mehrheitsmeinung in ihre Amtszeit gefallen seien. Was sie dennoch schwer wurmt, ist der Subtext, der heißt: Da wohnt eine mutlose, chronisch risikoscheue Frau im Kanzleramt. Diese Lesart nimmt sie den Journalisten, die ihr anhängen, ernsthaft übel – und liest trotzdem weiter fast jeden größeren Artikel der Kollegen, ob nun auf dem iPad, auf Zeitungspapier oder Online. Zu den Favoriten zählen dabei die Süddeutsche Zeitung, weil sie sich von dem eher links-liberalen Blatt am häufigsten überrascht fühlt, positiv wie negativ. BILD liest die Kanzlerin im Print wie online, weil sie es wegen der enormen Leser-Reichweite muss (oder glaubt zu müssen). Dasselbe gilt für den Spiegel. Das meiste liest sie nicht zu reservierten Zeiten am Tag, sondern wie ein Junkie zwischendurch: in den letzten Minuten, bevor ein Flieger abhebt etwa oder im Auto.

Insgesamt, denke ich, findet Angela Merkel Journalisten gar nicht so übel. Mit manchen mag sie ernsthaft diskutieren, viele betrachtet sie mit leicht hochgezogenen Augenbrauen, weil sie sich überlegen fühlt. Im Großen und Ganzen schließlich hält sie es wohl mit Willy Brandt: Der nannte den Journalismus seinerzeit einen »Randbereich der Holz verarbeitenden Industrie«.