Die hat doch bestimmt ein Problem mit Männern?

Wird Angela Merkel auf den Unterschied zwischen Männern und Frauen in der Politik angesprochen, und das wird sie häufig, dann antwortet sie gern mit einer kleinen Geschichte über Mädchen und Jungs. Die geht so: Wenn ihre Klasse zur Physikstunde ins Schullabor durfte, seien meistens die Jungen zuerst hineingestürmt und hätten ohne großes Überlegen angefangen, mit den aufgebauten Apparaturen zu hantieren. »Und nach fünf Minuten war oft die ganze Anordnung kaputt.« Die Mädchen dagegen hätten still danebengestanden und skeptisch zugeguckt, auch das Mädchen Angela.

Wer nach bald acht Jahren ihrer Kanzlerschaft über Angela Merkels Verhältnis zu den Männern in der Politik nachdenkt, der kommt an dieser Anekdote nicht vorbei. Sie liefert eine These, die kaum zu schlagen ist: Angela Merkel hat keine »Mädchen-Tricks« (oder -Tugenden) eingesetzt, um nach oben zu kommen und sich dort zu halten. Aber ihre Konkurrenten haben ganz viele »Jungens-Fehler« gemacht, jeder auf seine Art. Der Christian, der Edmund, der Friedrich, der Günther, der Jürgen, der Karl-Theodor, der Norbert, der Ole, der Peter, der Roland, der Stefan und sogar der Wolfgang. Wie in dem Physiklabor. In einem Glückwunsch zu Merkels 50. Geburtstag (2004) hat es der gewiefte CSU-Strippenzieher und später so glücklose Wirtschaftsminister Michael Glos auf den Punkt (und zugleich knapp daneben) gebracht: »Eines der Geheimnisse des Erfolges von Angela Merkel ist ihr geschickter Umgang mit eitlen Männern. Sie weiß: Auerhähne schießt man am besten beim Balzen. Angela Merkel ist eine geduldige Jägerin der balzenden Auerhähne.«

Ein typischer Glos. Richtig daran ist: Uneitel zu sein, kann eine Waffe sein; Eitelkeit dagegen eine Gefahr für den, der sie nicht im Griff hat. In die Irre führt an Glos’ Worten: Beide Sätze gelten für beide Geschlechter. Angela Merkel ist in der Tat denkbar uneitel; der derzeitige Favorit auf ihre Nachfolge aber auch: Thomas de Maizière. Ex-Umweltminister Norbert Röttgen ist eitel und gescheitert; Arbeitsministerin Ursula von der Leyen ist eitel, aber noch gut im Rennen um die Führung nach Merkel.

Aber zum Kern: Hat Angela Merkel »ein Problem« mit Männern? Umgibt sie sich überwiegend nur mit Frauen, weil sie nur Frauen vertraut, dem sogenannten »girls camp«? Hat sie wirklich ein Dutzend Männer abgeknallt wie die liebestollen Auerhähne? »Ach, Angela«, soll Michael Glos einmal in einer Besprechung geseufzt haben. »Ach, Angela, wer ist dein nächstes Opfer?« Das war im Jahr 2000. Heute, 2013, ist die Liste derer lang, die sich als Opfer »der Merkel« sehen. Aber wurden sie in Wahrheit nicht vor allem Opfer ihrer eigenen Fehler? Ein Gründungsmitglied des geheimnisumwitterten »Andenpakts« junger (ausnahmslos männlicher) CDU-Politiker legt diesen Gedanken nahe. Er sagt heute: »Wir wussten doch gar nicht, wie man eine Frau als politische Konkurrentin attackiert. Die gab es in unserer Generation in der Jungen Union ja gar nicht.«

Unter dem Strich spricht eine Menge dafür, dass jene Herren, die Angela Merkel am Wegesrand zurückließ, in Wahrheit vorwiegend über die eigenen Füße stolperten. Merkels Beitrag bestand maximal darin, den einen oder anderen in eine Situation manövriert zu haben, in der ihm nur noch Fehler zur Auswahl blieben. Und ausgenutzt hat sie die Schwäche der Männer, ihrer Rivalen, natürlich nach Kräften und mit großem Behagen. Was die Fehler eines anderen für sie bedeuten, das scannt und wertet sie in atemberaubender Geschwindigkeit.

Dagegen hat die Theorie von »MM«, der »männermordenden Merkel«, zwar eindeutig mehr sex appeal als alle anderen, aber sie hält eben nicht stand: Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg und Bundespräsident Christian Wulff sind an ihren Eigenarten, Verfehlungen und nicht zuletzt den Medien gescheitert, nicht an Merkel. Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus wäre noch im Amt, hätte es den Reaktor-GAU von Fukushima nicht gegeben. NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat seine Wahl selbst verloren, die Bundespolitik hat es ihm nicht leicht gemacht, aber eine Intrige der Kanzlerin war die Niederlage nun wirklich nicht. Ähnlich erging es David McAllister in Niedersachsen drei Jahre später. Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust hatte genug von der Politik, ein Konkurrent von Merkel war er nie, also kann er auch kein Opfer sein. Dasselbe gilt für Saarlands Ministerpräsident Peter Müller. Und Edmund Stoiber schließlich fehlten 2002 einige Tausend Stimmen, und er wäre Kanzler gewesen. Nach der Niederlage aber war seine Zeit als Kanzler in spe um, weil ein CSU-Chef so eine Chance, wenn überhaupt, nur einmal im Leben bekommt.

Bleiben Friedrich Merz, Günther Oettinger, Roland Koch und Wolfgang Schäuble. Ersterer hat seinen Posten als Unions-Fraktionschef an Angela Merkel verloren, weil das der Preis war, den Edmund Stoiber für seine Kanzlerkandidatur an die CDU-Chefin bezahlen musste. Sie sagte die CDU-Unterstützung seiner Kanzlerkandidatur zu (und hielt Wort); er sagte zu, dass die CSU-Abgeordneten nach der Wahl in jedem Fall sie zur Fraktionsvorsitzenden wählen würden. Das hatte Merz so nicht erwartet, und er fühlt sich von beiden bis heute hintergangen. Andererseits: So nüchtern Stoiber seine damalige Abwägung pro Merkel, contra Merz in seinen Memoiren beschreibt, so klar hätte Merz der Gang der Dinge sein können, als die Bundestagswahl 2002 verloren war. Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger wurde – auch von Merkel – nach Brüssel in die EU-Kommission weggelobt, aber wirklich aus männermordender Machtgier? Oder weil die Baden-Württembergische CDU dessen Stuhl ohnehin fast durchgesägt hatte? Hessens Ministerpräsident Roland Koch schließlich würde sich, wenn überhaupt, nicht als Opfer von Angela Merkel sehen, sondern als eines von Manfred Kanther. Die schwarzen Spendenkassen der Hessen-CDU unter Kanther, das unsägliche Wort von den »jüdischen Erblassern«, sie hatten Kochs Weg bis an die oberste Spitze der Bundesrepublik früh verbaut – ganz ohne Zutun Merkels.

Und Wolfgang Schäuble? Er stolperte über die CDU-Spendenaffäre, und als er Bundespräsident werden wollte, hat ihn Merkel kalt blockiert. Wohl wahr. Aber auf den »badischen Preußen« Schäuble passt das Bild von den Auerhähnen, die beim eitlen Balzen abgeknallt werden, ganz und gar nicht. Bei seiner Eitelkeit ist Schäuble nicht zu packen. Angela Merkel hat ihn nicht geknackt, wenn das je ihre Absicht gewesen sein sollte. Er ist weder Vasall noch Rivale. Er ist ihr mit Abstand wichtigster Minister. Mitte 2012 waren sie beide einmal gemeinsam im Kino, im Film Ziemlich beste Freunde. »Sieht das seltsam aus, wenn wir beide dahin gehen?«. soll Merkel gefragt haben. »Nee«, soll er geantwortet haben. Und dann gingen sie also ins Kino, lachten aus vollem Halse, aber siezen sich weiterhin. Das hängt, so mutmaßt einer, der sie beide ganz gut kennt, damit zusammen, dass keiner von beiden weiß, ob er das Du anbieten könne. Er, obwohl sie die Chefin ist? Sie, obwohl er der Ältere ist?

»Die Starken gehen, die Schwachen bleiben«, so lautet der abgewandelte Vorwurf, wenn also widerlegt ist, dass Merkel die Männer allesamt weggebissen habe. Dann heißt es also: Sie habe sie nicht gehalten, sie habe kein Klima geschaffen, in dem die Männer hätten bleiben wollen. Wahr ist: Merkel hat nicht viel unternommen, um die abgängigen CDU-Ministerpräsidenten zu halten. Aber in welchen Ämtern auch? Es scheint wesentlich plausibler, auf den üblichen Pendelschlag zu verweisen, der zwischen Bund und Ländern hin- und hergeht. Regiert eine Partei im Bund, scheint sie unweigerlich in den Ländern zu verlieren, also Ministerpräsidenten freizusetzen. Tatsächlich sind die meisten der »Merkel-Opfer« eben solche CDU-Ministerpräsidenten. Und man darf wetten, dass sie nicht so akribisch gezählt würden, wenn seit fast acht Jahren ein CDU-Mann im Kanzleramt säße. Wahr ist auch: Viele Tränen hat sie wohl keinem der Herren nachgeweint. Das heißt: keinem außer einem – Karl-Theodor zu Guttenberg. Hegte sie für den gefallenen Engel der deutschen Pop-Politik so etwas wie mütterliche Gefühle? Nicht wenige in Berlin glauben das, erst recht, nachdem man sehen konnte, wie intensiv sich Merkel beim Zapfenstreich für den Verteidigungsminister mit dessen Mutter unterhielt. Und wenn es keine mütterlichen Gefühle waren, hat doch das Faszinosum Guttenberg auch auf Angela Merkel seine Wirkung nicht verfehlt. Für keinen ihrer Minister oder Mitstreiter ging sie so früh so weit ins Risiko wie für »Karl-Theodor«, wie sie ihn nannte. Für ihn prägte sie einen Satz, der noch an ihr kleben wird, wenn von Guttenberg womöglich schon niemand mehr spricht, den von dem »Minister und nicht wissenschaftlichen Mitarbeiter«, den sie eingestellt habe. Es kommt nicht oft vor, dass die Kanzlerin und BILD-Kolumnist Franz-Josef Wagner auf einer Linie liegen. Hier taten sie es. »Scheiß auf den Doktor und lasst einen guten Mann einen guten Mann sein«, hatte der geschrieben.

Ganz nüchtern wiederum, ganz Merkel eben, hatte sie gesehen, was Guttenberg hatte, das sie nie haben wird. Die leichtfüßige Gabe, die Menschen zu erreichen, etwas bei ihnen auszulösen, und zwar ohne die billige Tour, sich als »Anti-Politiker« in Pose zu werfen. Einen CDU-Landesverband nach dem anderen habe Guttenberg gedreht, als es um die Abschaffung der Wehrpflicht gegangen sei, sagte Merkel zu seiner Verteidigung. Hut ab. Darum hielt sie so lange an ihm fest, weit über jenen Punkt hinaus, an dem klar war, dass Guttenbergs Doktorarbeit null und nichtig war. Ganz am Ende erst schaltete sie auf ihren üblichen Kanzler-Ton zurück: Es werde Zeit, dass Guttenberg »jetzt zu Potte komme«, sagte sie wenige Tage vor seinem Rücktritt. Wütend und traurig war sie, als es anders geschah als erhofft.

Hat die Kanzlerin und CDU-Chefin also niemanden »auf dem Gewissen«? Doch, hat sie. Zum Beispiel Norbert Röttgen und Erika Steinbach, die langjährige Chefin des Vertriebenen-Bundes. Den einen schickt Merkel mit aller Brutalität in die Wüste, weil er sich weigert, das fadenscheinige Ritual von freiwilligem Rücktritt mitzuspielen. Und weil sie ihm (vermutlich zu Recht) unterstellt, dass er in kleinen Kreisen über sie herziehe, obwohl er höchst eigenhändig gerade eine wichtige Landtagswahl vermasselt hat. Röttgens Abgang ist der Moment, in dem Merkels Revolution der CDU erstmals ihre Kinder frisst. Es hat sie nicht abgehalten. Der Wille zur Abrechnung muss groß gewesen sein. Die andere, Erika Steinbach, hat die Kanzlerin dagegen politisch »geopfert«, weil ihr das deutsch-polnische Zentrum gegen Vertreibung in Europa wichtiger war, an dem Steinbach aus Sicht der polnischen Regierung nicht teilhaben sollte. Eine besondere Bindung zu den Vertriebenen hat Merkel nicht, ebenso wenig zu Erika Steinbach – und sie war im Weg.

Frau gegen Frau also: Auch darin zeigt sich, dass Angela Merkel durch eine Geschlechterbrille nicht in den Blick zu kriegen ist.

Natürlich weiß sie, dass es manchmal von Vorteil ist, im Kreis von Männern die einzige Frau zu sein. Das gilt für Verhandlungen mit jenen europäischen Staats- und Regierungschefs, die sich wie die französischen quasi notorisch für begnadete Charmeure halten. Über den damaligen französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy (der sich definitiv für unwiderstehlich hielt) sagte sie einmal augenzwinkernd: »Es ist der Herzenswunsch von Nicolas Sarkozy, dass ihm keiner widerspricht. Aber den Gefallen kann ich ihm nicht tun.« Weiblich/männlich als Schema mag auch im Umgang mit dem einen oder anderen innerparteilichen Rivalen eine Rolle gespielt haben. Aber weniger auf ihrer Seite als auf der ihrer Konkurrenten, weil sie manche ihrer typisch männlichen Attribute im Rennen mit einer Frau nicht wie gewohnt einzusetzen wussten. Umgekehrt hat Merkel übrigens eingeräumt, eben diesen Andenpakt der ehrgeizigen Kerle in der CDU lange nicht richtig verstanden zu haben, vor allem das Männer-bündlerische daran. Damit ist das »Weibliche« rund um Angela Merkels Politik- und Machtstil aber schon auserzählt. Denn auch ihre engste Umgebung besteht aus Männern wie Frauen gleichermaßen.

Viel relevanter ist: Merkels ent-emotionalisierter Polit-Pragmatismus ist ganz einfach geschlechtslos.

Als Angela Merkel mit Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann nächtens um Milliarden für die erste Bankenrettung pokert, ist das nicht Frau gegen Mann (oder umgekehrt), es ist Profi gegen Profi. »Herr Ackermann, in zwei Stunden öffnet die Börse in Tokio, wenn wir bis dahin keine Lösung haben, gibt es auch in Frankfurt ein Erdbeben«, sagt sie ihm am Telefon, so wird später in Berlin berichtet. Da rückt Ackermann noch eine Milliarde im Namen der Privatbanken heraus, aber Merkel weiß, dass er längst nicht an die Grenze des Möglichen gebracht wurde. Am Ende ziehen beide den Hut, nicht galant, sondern aus Respekt. Als sie beim NATO-Gipfel in Kehl mit dem türkischen Premier Tayip Erdogan um den neuen Generalsekretär des Bündnisses ringt, dann ist das nicht Frau gegen Mann, sondern Regierungschef gegen Regierungschef. Und es gewinnt, wer länger sitzen bleibt, die besseren Nerven hat. Als Angela Merkel Ende 2011 bei einem G-8-Treffen dem griechischen Premier Papandreou erstmals offen mit dem Euro-Rauswurf droht, ist das nicht weiblich oder männlich sondern eine wütend-verzweifelte Machtdemonstration. Gewiss, die Gegenüber sind immer Männer. Aber würde sie es mit Frauen anders machen?

Und mit einem darf man auch noch rechnen: Wenn es am Schlusspunkt der Amtszeit einen Zapfenstreich für die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel gibt, dann wird sie sich weit weniger »weiblich« zeigen als ihre beiden männlichen Vorgänger. Anders als Helmut Kohl und Gerhard Schröder werden ihr nicht die Tränen kommen.