Wie macht Angela Merkel Politik? Hat sie einen Standardtrick?

Das A und O, Anfang und Ende beim Politikmachen, das ist für Angela Merkel das Herbeiführen von Gewissheiten. Für sich selbst vor einer Entscheidung, für die Bürger mit einer Entscheidung. Daraus leitet sich alles ab: alle Taktik, alle Tricks und alles, was sonst noch dazu gehört. Auch alle Beschränkungen oder Fehler, die man der Kanzlerin vorwerfen kann, lassen sich aus diesem archimedischen Punkt ihres Vorgehens erklären. Und was ihr in fast acht Jahren Amtszeit geglückt ist ebenso.

Im Licht dieses einen Begriffs ergeben plötzlich alle Etiketten einen Sinn, die im Laufe der Zeit an ihrem Politikstil haften geblieben sind: Das »Zaudern und Zögern«, die »kleinen Schritte«, die »Physikerin der Macht«, die »asymmetrische Demobilisierung« in Wahlkämpfen, die »Präsidial-Kanzlerin« und natürlich ihr »Erwartungs-Management«, vulgo das notorische Tiefstapeln. Alles Instrumente zum serienmäßigen Verfertigen von Gewissheiten für Bürger, die sich in einer nervösen Welt nach solchen festen Plätzen sehnen. Angela Merkel ist eine sehr professionelle Feste-Plätze-Produzentin: Egal ob es um Personal- oder Sachfragen geht, um Partei oder Regierung – die Kanzlerin geht fast immer über dieselben Etappen bis zu einer politischen Entscheidung. Sie hat diese Art, Politik zu machen, im Laufe der Jahre stetig verfeinert, und zuletzt kam ihr massiv zu Hilfe, dass eine echte europäische Innenpolitik entstand, der sich zu widmen nicht mehr wie früher als »Flucht« vor der eigentlichen, der heimischen Innenpolitik gilt – sondern eine schlichte Notwendigkeit ist. Alternativlos wie jede sichere Gewissheit, würde Angela Merkel sagen.

Und das Ganze geht so: In der ersten Etappe saugt sie sich voll mit zahllosen Daten und Fakten, mit möglichst hochgradig objektiviertem Expertenwissen. Dann kommt eine Phase des Zauderns und Haderns. Dann legt sie sich fest. Und haben der Koalitionsausschuss oder das Kabinett endlich offiziell entschieden, bleibt Angela Merkel oft auch dann noch dabei, wenn sich der Beschluss als Schwachsinn herausstellt. »Nur wer die Entscheidungsfindung er- und durchlitten hat, steht hinterher auch zu dem Verabredeten«, hat sie einmal halb ironisch gesagt. Aber auch halb ernst.

Zuerst also das Sammeln. Sie liest, lässt sich vortragen, diskutiert – und speichert ab. »Sie lernt schneller als andere denken«, sagt einer ihrer langjährigen CDU-Rivalen. »Sie ist eine sehr intensive Zuhörerin«, ergänzt ein ehemaliger Minister aus dem Kabinett der großen Koalition. So gesehen ist Merkel ein emphatischer Mensch, denn der Begriff beschreibt ja auch die Fähigkeit, sich in die Rolle des Gegenübers versetzen zu können, durch dessen Brille auf das gemeinsame Problem zu blicken. Unisono wird also gelobt, wie rasant sie Zusammenhänge herstellen kann, wie weit ins Detail und in die Vergangenheit ihr Gedächtnis reicht – so weit, dass Mitarbeiter mit ihr keine Wetten mehr eingehen, wann und wo ein bestimmter Satz gefallen, ein bestimmtes Detail zum ersten Mal aufgetaucht ist. Bei der Gesundheitsreform der großen Koalition zum Beispiel schwärmte die gewiefte SPD-Ministerin Ulla Schmidt zunächst noch vom herrlich leichten Zugang zur Kanzlerin, »binnen zehn Minuten ruft sie meistens zurück«. Das war in Merkels Sammel-Phase, und vielleicht hatte Schmidt die Hoffnung, Merkel mit gezielt vermitteltem Fachwissen ein wenig steuern zu können. Einige Zeit später, auf dem Höhepunkt der Verhandlungen, räumte die langjährige SPD-Ministerin kleinlaut ein, die Kanzlerin sei bestechend gut vorbereitet für das politische Endspiel im Koalitionsausschuss, kein Vergleich zu ihrem früheren Chef Gerhard Schröder bei ähnlichen Gelegenheiten. Ein anderer Minister aus der Zeit sagt heute: »Wenn wir unter Gerhard Schröder nur halb so viel diskutiert hätten wie unter Merkel, dann säße die SPD immer noch im Kanzleramt.« Heißt: Offenbar hatte auch Merkel ihre Gespräche mit der »gegnerischen« Ministerin gut genutzt, hatte allem Anschein nach echte Forscher-Freude an den verschachtelten Zusammenhängen der deutschen Gesundheitspolitik entdeckt. Es wurde geradezu ihr Steckenpferd. Neben etlichen anderen Runden diskutierte sie damals einmal einen ganzen Abend lang im achten Stock des Kanzleramts mit Journalisten, die sich mehrfach beim Fachwissen geschlagen geben mussten.

Vorbereitet zu sein, ist alles für Merkel. Oder, wie sie selbst einmal während komplizierter EU-Verhandlungen sagte: »Ich akzeptiere alles, nur nicht, dass es nicht gut vorbereitet ist. Wir haben über alles mindestens fünf Mal geredet.« Dazu gehört übrigens auch minutiöse Nachbereitung wichtiger Treffen, das sogenannte »debriefing« der wichtigsten Punkte und Probleme. Das minimiert die Fehler-Anfälligkeit des Systems Merkel.

Schließlich das Entscheiden. Am Ende einigten sich Ulla Schmidt und Angela Merkel auf einen Kompromiss, der freilich bei nahezu allen Experten als »nicht Fisch und nicht Fleisch«, als »Gemurkse« oder »allerkleinster gemeinsamer Nenner« durchfiel. Merkel hielt dagegen, in typischer Logik: Mehr als eine Y-förmige Lösung, die SPD oder CDU später, bei anderen Regierungsmehrheiten, in jeweils ihrem (sehr unterschiedlichen) Sinne weiterentwickeln könnten, sei unmöglich gewesen. Von keiner Volkspartei könne verlangt werden, dass sie ihre Grundüberzeugungen bei einem Massen-Thema wie Gesundheitspolitik aufgebe. So sehr Angela Merkel objektivierbares Faktenwissen liebt: Die Grenzen der CDU, auf ein SPD-Modell einzusteigen (und umgekehrt), waren für sie mindestens so unumstößlich wie die demographische Entwicklung oder der Risikostrukturausgleich unter den gesetzlichen Krankenkassen. Und darum verteidigte sie ihren Kompromiss mit Ulla Schmidt nicht resigniert, sondern mit einem gewissen Stolz, dass immerhin dieses Optimum erreicht wurde, eben jener Punkt, an dem die beiden Äste des Y auseinandergehen. Allein: Als Union und FDP im Herbst 2009 die Mehrheit in Bundestag und Bundesrat hatten, auf »ihrem« Ast voranzugehen, unterblieb es trotzdem. An einer neuen großen Gesundheitsreform nach den ursprünglichen, fertig vorliegenden CDU-Plänen versuchte sie sich nicht. Warum nicht, hat sie nie erklärt.

Zurück zur Merkel’schen Politik-Methode: Erst will sie also möglichst große Gewissheit für sich selbst und ihre politische Festlegung produzieren, dann für das Publikum, die Betroffenen. Vor deren Augen ein gerade erst angekündigtes oder beschlossenes Gesetz wieder zurückzunehmen, beschädigt nach der festen Überzeugung Merkels das Bürger-Vertrauen in Politik mehr, als ein Gesetz mit fragwürdigen Folgen bestehen zu lassen. Die Senkung der Mehrwertsteuer für Hotels zum Beispiel kam im Herbst 2009 nicht auf Merkels Betreiben in den schwarz-gelben Koalitionsvertrag; ebenso wenig das Betreuungsgeld für Mütter, die ihre Kleinkinder zu Hause erziehen und nicht in die Kita schicken. Beides hätte die Koalition besser bleiben lassen sollen, die Hotelsteuer am Anfang, das Betreuungsgeld gegen Ende der Legislaturperiode. Merkel sagt das selbst. Doch sie handelt nicht danach, weil sie die »Verlässlichkeit« der Regierungs-Arbeit für noch wichtiger hält. Aber wer Gewissheiten zu sehr liebt, den fesseln sie. Das ist ihr Problem.

Zwischen Sammeln und Entscheiden liegt das Zaudern und Zögern, die »Hader-Phase«, wie Merkel es selber nennt. Weder die Opposition noch ihre unionsinternen Gegner lassen eine Gelegenheit aus, sie deswegen als wahlweise führungsschwach, orientierungslos oder feige zu kritisieren. Sie gehe niemals ein Risiko ein, gebe keine Richtung vor, schwimme nur im Schwarm und lege sich erst fest, wenn sich alle festgelegt hätten. Fast acht Jahre geht das nun, und Angela Merkel hat begriffen, wie angreifbar sie dieses Zögern macht. Deshalb ist sie in die Offensive gegangen: »Ich entscheide die Dinge, wenn ich denke, dass sie reif sind«, hat sie so oder so ähnlich schon etliche Male öffentlich gesagt. Das Zaudern soll nämlich eine Tugend sein und ihr Markenzeichen: ›Seht her, Bürger, ich tue mich schwer, weil ich es mir nicht leicht machen will.‹

Das Problem ist: Beide haben recht. Angela Merkel und ihre Gegner. Denn wozu dient das Zaudern in Wahrheit? Es dient der negativen Auswahl unter verschiedenen Varianten, ein Problem zu lösen. Angela Merkel sortiert unter den zunächst denkbaren Lösungen immer weiter aus oder wartet einfach, bis sich bestimmte Lösungs-Varianten von selbst erledigen. Im Idealfall bleibt dann eine letzte übrig, und die ist folglich »alternativlos«. So denkt nicht mehr »Mutti« Merkel, sondern »Tina«, there is no alternative, Merkel. Und sagt kokett: »Das ist kein Diktat, sondern die Annäherung an die Wirklichkeit.« In Wahrheit ist es der Versuch, aus der Gesellschafts-Wissenschaft namens Politik eine Ingenieurs-Wissenschaft zu machen.

Zum Beispiel, als es im Frühjahr 2010 darum ging, ob das faktisch bankrotte Griechenland allein von den übrigen Euro-Staaten zu retten sei oder ob auch der Internationale Währungsfonds (IWF) mit Know-how und Milliarden teilhaben solle. Merkel saugte auf, lernte schnell, fügte ihre eigenen Erfahrungen mit der Brüsseler EU-Kommission hinzu. Das reichte, um bald ihren eigenen Finanzminister Wolfgang Schäuble zu stoppen. Der hatte zunächst erklärt, es sei eine Frage der Ehre, dass die Europäer ohne den IWF mit der Sache klarkämen. Merkel dagegen wollte den IWF als unparteiischen, unverdächtigen Teilhaber einbinden, doch eine Mehrheit war dagegen. Also wartete Merkel ab, ließ sich von der SPD dafür kritisieren, europaweit als »Madame No« verspotten. Und behielt recht. Die Zeit, die ihr Zögern schaffte, hatte bei den Regierungen der Euro-Zone für eine Beteiligung des IWF gearbeitet – die heute weitgehend unbestritten als kluger Schachzug gilt.

Die Kanzlerin hatte die Sache vom Ende her gedacht: Wenn das griechische Staatsschulden-Desaster auch ein Aufsichtsversagen der Brüsseler EU-Kommission gewesen war, dann dürfe sich das nicht wiederholen. Die Kommission sollte demnach keinesfalls allein die praktische Umsetzung der nötigen Reformen in Griechenland überwachen. O-Ton aus einer internen Lagebesprechung: »Die in Brüssel nehmen sowieso immer nur die positivsten Szenarien, die am wenigsten weh tun.« Hieß: Der IWF musste als selbstbewusste, erfahrene Kontrollinstanz mit ins Boot. Mit ihrem Zögern, das in die gewünschte Richtung wirkte, hat sie das politisch möglich gemacht. Geht doch, sagt sich die Kanzlerin in solchen Momenten.

Wenn ihr Zaudern solche Zwangsläufigkeit tatsächlich stets ergäbe, dann wäre der Trick wohl unschlagbar. Tut es aber nicht. Oder nicht schnell genug. Die Lösung, die am längsten in der Debatte überlebt, ist nicht automatisch die beste.

Denn ebenfalls während der Griechenland-/Euro-Krise machte manch’ anderes Zuwarten die Sache nicht unbedingt besser, sondern eher schlimmer. Nicht wenige Experten sagen, dass es der immer wieder umstrittene, etappenweise Ausbau von zunächst netto 250 Milliarden auf heute gut 700 Milliarden Euro war, der dem Euro-Rettungsschirm einen Teil der erhofften Wirkung auf den Finanzmärkten anfangs genommen hat. Diese Verzögerung geht auf das Konto der Kanzlerin, die den Deutschen die Wahrheit über die Euro-Rettung offenbar nur in kleinen Dosen verabreichen wollte. »Nicht wer am schnellsten handelt (bzw. gibt), ist der beste Europäer, sondern wer es richtig macht«, so sagte sie im Bundestag zu ihrer Verteidigung.

In dieser Logik nannte sie es 18 Monate lang »alternativlos«, Griechenland einen Schuldenschnitt zu ersparen. Ende 2011 kam es trotzdem dazu. Den ganzen Sommer 2012 hieß es wiederum, alle weitere Hilfe werde sich ausschließlich aus dem Bericht der Troika aus Europäischer Union, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds ableiten. Im Herbst galt das nicht mehr. Da bekam Griechenland plötzlich eine Quasi-Garantie für den Verbleib im Euro – von dem Troika-Bericht redete Merkel nur noch am Rande. Aber als Ende 2012 endlich das massiv zu Gunsten Athens veränderte Paket erneut durch den Bundestag geht, steht der nächste Schuldenschnitt für Griechenland schon am Horizont, gut sichtbar. Öffentlich wird er selbstverständlich »ausgeschlossen«, aber hinter den Kulissen gilt er im Frühjahr 2013 bei allen Parteien als »unausweichlich«. Offen nur, ob 2015 oder 2016 vollzogen wird. Und es zählt zu den stärksten Szenen des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück, wenn er bei Wahlkampf-Auftritten der Kanzlerin zuruft: »Machen Sie sich ehrlich bei Griechenland! Sagen Sie es endlich: Es wird Milliarden kosten, das Land zu retten.«

Merkels Problem: Wer Beschlüsse oder Fristen erst alternativlos nennt, um große Gewissheit zu suggerieren, der macht sich besonders angreifbar, wenn er nachsteuern muss. Weil die Opposition diese Flanke besonders hartnäckig attackiert, reagiert die Kanzlerin entsprechend dünnhäutig: »Ich weiß ja, dass ich ›alternativlos‹ nicht mehr sagen darf.« Sie weiß, sie hat es sich zu einfach gemacht. »Alternativlos« ist eben auch ein anderes Wort für: ›Ich will nicht mehr diskutieren; ihr haltet jetzt alle mal die Klappe.‹ Und so denkt Angela Merkel in Wahrheit weiterhin ziemlich oft. Statt »alternativlos« sagt die Kanzlerin jetzt: »Scheitert der Euro, scheitert Europa.« Das ist natürlich dasselbe, es klingt nur deutlich besser.

Angela Merkel ist nicht blind für den Preis, den sie für ihre Art von Politik zu zahlen hat. Bei einem EU-Treffen in Cannes Ende 2011 legt der griechische Premier Giorgos Papandreou völlig überraschend den Plan vor, das Volk über die beschlossenen Reform-Auflagen abstimmen zu lassen, derweil die anderen Euro-Staaten aber schon neue Hilfs-Milliarden gewähren sollten. Da machen Merkel und der französische Staatspräsident dem Griechen erregt klar, dass er dann über das Eigentliche, den Austritt seines Landes aus der Euro-Zone, abstimmen lassen müsse. Zum ersten Mal ist der griechische Euro-Austritt in diesem Moment eine echte politische Option – nach fast zwei Jahren Merkel-typischen Zögerns. »Es war der Moment für ein paar bittere Wahrheiten«, sagt die Kanzlerin hinterher. »Die Zeit des Wegguckens ist vorbei.« Auf die Nachfrage, ob sie selbst auch zu diesem Weggucken 18 Monate lang massiv beigetragen habe, kommt Merkel für einen Moment aus dem Tritt. Dann offenbart sie noch einmal ihr Politik-Muster: Sie habe doch erst einmal wenigsten ein paar Institutionen haben müssen, die es so gesehen hätten wie sie. Vielleicht hätten deshalb die griechischen Programme erst zwei oder drei Mal scheitern müssen. Führung fühlt sich anders an, wohl wahr.

Wie sehr eingefahren ihr Politikstil inzwischen ist, für sie selbst wie fürs Publikum, das merkt man immer dann, wenn es plötzlich ganz anders kommt.

Ein solcher Moment ist der späte Nachmittag des 19. Februar 2012, die machtpolitisch hoch heikle Kür des Nachfolgers für den wenige Tage zuvor zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff. Wieder hat Angela Merkel die Sache vom Ende her gedacht, wieder soll Zögern ihre schärfste Waffe sein. Nach zwei vorzeitigen Rücktritten und wegen äußerst knapper Mehrheiten in der Bundesversammlung weiß sie, dass ein überparteilicher Kandidat herauskommen muss. Das ist das Ende, von dem aus sie denkt. Ihr Zögern soll bei SPD und Grünen jene Kräfte stark machen, die einen zweiten Anlauf mit deren ursprünglichem Kandidaten Joachim Gauck nicht wollen. Und diese Kräfte gibt es bis in den Nachmittag des Sonntags hinein; Merkel hat die richtigen Informationen, vor allem aus der SPD-Parteispitze. Was sie nicht sieht, ist das Kalkül der taumelnden FDP, die Kante zeigen und endlich einmal wieder auf der Seite der Mehrheit stehen will. FDP-Chef Philipp Rösler legt sich früh am Nachmittag auf Gauck fest, und er denkt so simpel, wie es eigentlich Merkels Art ist. Er denkt: Wer Gauck verhindern will, der wird es den Menschen draußen nicht erklären können, die warum auch immer allesamt diesen Gauck wollen. Er behält recht: Die SPD dreht bei, die Grünen auch. Die Sache ist nicht mehr zu ändern. Merkel wird in ihrer Königsdisziplin geschlagen, im Vom-Ende-her-Denken.

Auch der andere Moment in acht Jahren Kanzlerschaft, der die so oft »Physikerin« genannte Kanzlerin nach ganz anderen als physikalischen Regeln verfahren lässt, hat ein präzises Datum: 12. März 2011, 15.36 Uhr, der japanische Atomunfall, bei dem mehrere Kraftwerksblöcke in Fukushima heiß laufen, schmelzen, schließlich explodieren. »Das Ende des Atomzeitalters«, schreibt der Spiegel auf seinen eilends geänderten Titel. Nicht in Japan, aber in Deutschland.

So sieht es die Kanzlerin auch. Von diesem Ende aus denkt sie alles, was sie in den nächsten Tagen entscheiden wird: die (vermeintlich) zeitweilige Abschaltung von acht älteren Atomkraftwerken in Deutschland; die Einberufung einer Kommission für einen neuen Atomkonsens im Land; die Rückabwicklung der gerade erst sechs Monate alten Laufzeit-Verlängerung, dem einzigen Stück Politik, das die Union/FDP-Koalition von der großen Koalition erkennbar unterschieden hatte. »Das Ende des Atomzeitalters«, von diesem Ende her ist alles gedacht. Aber ganz anders als sonst ist es aus dem Bauch gedacht.

Die Atom-Entscheidung passt nicht ins Muster Merkels, in keinerlei Hinsicht. Ob das zu ihrem Vorteil ausschlägt oder zu ihrem Nachteil, ist nicht ausgemacht. Einen vormals strategisch wichtigen Umweltminister und CDU-Hoffnungsträger hat sie darüber schon verschlissen. Seinem weitaus geschickteren Nachfolger droht dasselbe Schicksal. Der Ausbau gerade der Solarenergie ist außer Kontrolle, die Preise für Strom steigen auch im Jahr 2013 weiter, was die Energiewende stetig mehr in Misskredit bringt. Immerhin: Anfang 2013 versucht der neue Minister Peter Altmaier die Notbremse zu ziehen, doch wie gut es ihm gelingt, steht in den Sternen. Denn das System der föderalen Bundesrepublik ist denkbar ungeeignet, das hochkomplexe Vorhaben zentral zu managen. Gift für die Kanzlerin.

Nur zu einem strategischen Strang passte die Fukushima-Wende bestens: zur Präsidial-Kanzlerin Angela Merkel, die ihre politischen Gegner nicht niederkämpft, sondern deren Puls bis zum Stillstand senkt. In Wahlkampf-Zeiten wie jetzt nennen die Merkel-Vertrauten in der CDU-Zentrale es »asymmetrische Demobilisierung« und sind fürchterlich stolz auf diesen Kniff. Ihnen steckt auch acht Jahre danach noch der Schock der Bundestagswahl 2005 in den Knochen: Mit klirrender Reform-Rhetorik machte Merkel nicht das eigene Lager stark, sondern Gerhard Schröder, den Kanzler einer eigentlich abgewirtschafteten rot-grünen Koalition. Er nutzte jede Angriffsfläche, die Merkel bot, vertauschte ebenso skrupellos wie geschickt die Rollen von Regierung und Opposition – und brachte die CDU an den Rand einer katastrophalen Niederlage. Seitdem bietet die Merkel-CDU in fast allen Wahlkämpfen möglichst wenig Angriffsfläche, trocknet zugleich jene Themen aus, mit denen die politischen Gegner ihre Gefolgsleute traditionell an die Urne bringen. Wie gut das gegen den SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück funktionieren wird, muss sich zeigen. Klar ist nur: Die SPD ist gewarnt. Parteichef Sigmar Gabriel, so wird berichtet, habe sich früh für Steinbrück entschieden und gegen Fraktionschef Frank Walter Steinmeier, und zwar mit dem Satz: »Noch so einen Schlafwagen-Wahlkampf wie 2009 mache ich nicht mit.«

Aber bei allen Problemen der Energiewende könnte die asymmetrische Demobilisierung noch einmal funktionieren: Während sie im Herbst 2013 mit ihren eigenen Trümpfen weiter stechen kann, ist eine große Anti-Atom-Kampagne für die Grünen unmöglich geworden. Ähnlich geht es der SPD mit dem bundesweiten Mindestlohn. Merkels Zugeständnisse und die Beschlüsse der CDU rechtzeitig vor der Wahl waren so etwas wie der (Todes-)Kuss der Dementoren in den Harry-Potter-Romanen. Wenn also am Wahltag 2013 die Unions-Anhänger ihrem Ruf gerecht werden, alles in allem die pflichtbewussteren Wahlgänger zu sein, geht die Rechnung tatsächlich auf. Das ist deshalb so wahrscheinlich, weil Merkels Wahlkampf-Trümpfe auf der präsidialen Höhe einer Euro-Gipfel-Kanzlerschaft wachsen. Wohl gemerkt, diese Entwicklung ist nicht Merkels Verdienst. Aber ihr Vorteil.

Wenn es über Monate, vielleicht Jahre immer neu um das Schicksal des Euro geht, wirkt nämlich aller anderer (heimischer) Streit wie geschrumpft, und wer sich trotzdem darin ergeht, wie ein Zwerg. Solange Angela Merkel die letzte rote Linie nicht überschreitet, solange sie Euro-Bonds und damit eine deutsche Total-Haftung für alle Staatsschulden im Euro-Raum verhindert und der Euro weitgehend heile bleibt, zahlt die Krise auf das Wahl-Konto Merkels ein. Tatsächlich ist in den letzten zwei Jahren eine europäische Innenpolitik entstanden, in der sich nationale Regierungen jetzt so raufen wie sonst nur die Parteien im nationalen Parlament. Die Probleme der griechischen oder spanischen, ja sogar der zypriotischen Banken müssen Bundestags-Abgeordnete inzwischen fast so sehr interessieren wie die Probleme der deutschen Rentenversicherung. Wenn ein weibstoller Party-Clown wie Silvio Berlusconi erst das wichtige Euro-Land Italien in den Reformstau dilettiert und später noch einmal einen Wahlkampf fast gewinnt, dann ist das nichts mehr für die bunten Seiten der Blätter allein. Dann ist das zentral für die deutsche Finanzpolitik und ein Fall für den Bundestag. Und wenn auch noch Frankreich, der wichtigste Europa-Partner überhaupt, sich seit dem Wahlsieg der Sozialisten nötigen Reformen verweigert – dann gehört das europaweit auf die Tagesordnung. Und genau das geschieht: Ein einziger BILD-Artikel (»Wird Frankreich das neue Griechenland?«) löste Ende 2012 eine Flut von ähnlichen Berichten aus, gipfelnd auf dem Cover des Economist »Die Bombe in der Mitte Europas«, ein halbes Dutzend französische Baguette-Stangen mit brennender Zündschnur.

Diese grenzüberschreitende Maßstabs-Verschiebung der Probleme und Debatten macht es jeder nationalen Opposition naturgemäß schwerer – und verändert die Rolle einer deutschen Regierungschefin, die immer häufiger mit ausländischen Staats- als mit Berliner Fraktionschefs umgeht. Wenn diese nationale Opposition dann auch noch in allen wichtigen Euro-Fragen an der Seite der Regierung steht, dann lähmt das eine mögliche Wechselstimmung unter den Wählern ganz von selbst.

Und noch ein Problem bringt das Europäische für die deutsche Opposition: Das Präsidiale, Moderierende, das Merkel in den internationalen Runden wie selbstverständlich an den Tag legen kann, passt perfekt zu ihr, viel besser jedenfalls als der »Parteien-Hickhack« der sonst üblichen Innenpolitik. Je mehr Europa zählt, umso mehr ist die Kanzlerin bei sich. Inzwischen referiert sie im montags tagenden CDU-Präsidium oft ausführlich die neuesten Entwicklungen in der Euro-Krise, dann erst kommen die Partei-Interna. »Sie setzt irrsinnig viel voraus, den meisten schwirrt der Kopf bei all den ausländischen Namen und Euro-Sprech-Abkürzungen«, erzählt einer, der regelmäßig teilnimmt. Auf CDU-Parteitagen wiederum gibt sie seit Jahren reine Regierungs-Erklärungen ab. Es sind de facto Aufgüsse ihrer Bundestags-Reden, die eher pflichtschuldig beklatscht werden, obwohl Parteitags-Delegierte am liebsten deftige Attacken auf den Gegner, die »Sozen«, hören wollen. Aber Merkel weiß: Das Wähler-Publikum will es anders. »Die Leute mögen es nicht, wenn ich auf Veranstaltungen schreie.« Präsidial ist, wer nicht schreit.

Paradoxerweise wurde Angela Merkel nicht in der großen Koalition zur überparteilichen Präsidial-Kanzlerin sondern gegen Mitte ihrer zweiten Amtszeit, in der Koalition mit der FDP. Vielleicht ist es dabei nur ein Zufall, aber ein bezeichnender, dass der Bundespräsident sich zur gleichen Zeit in einem Gestrüpp kleiner und großer Affären festläuft und über Wochen bis zu seinem Rücktritt als politische Größe ausfällt. In einer Forsa-Umfrage sagen damals 55 Prozent der Befragten, Merkel wirke »nicht wie eine Parteipolitikerin, sondern eher wie jemand, der über den Parteien« stehe. Auch SPD-Chef Sigmar Gabriel hat ihr das mehrfach auf seine Weise attestiert: Er warnt seine Sozialdemokraten öffentlich davor, beim Bundestagswahlkampf Merkel frontal anzugehen. Das hätte a) sowieso keinen Sinn und b) würden es die Wähler nicht gern sehen.

Dieser wenig polarisierende, präsidiale Grundton übersetzt sich praktisch in die »Politik der kleinen Schritte«, in einen Zuschnitt von politischen Aktionen und Risiken, die auch dann noch beherrschbar bleiben sollen, wenn es mal schiefgeht. Das schließt zugleich vollmundige Ankündigungen aus, die bei Nicht-Gelingen später zum Bumerang werden könnten. Denn wer sich nicht (oder erst denkbar spät) auf ein strategisches Ziel festlegt, der ist für eine ganze Weile nur an der handwerklichen Qualität dieser einzelnen kleinen Schritte zu messen, die noch nicht einmal einer geraden Linie folgen müssen. Der muss auch nicht das Große und Ganze diskutieren und zerpflücken lassen, sondern kann bildlich gesprochen da bleiben, wo man im Schwimmbad schon schwimmen kann – aber auch noch stehen. So hat es Merkel gern, es passt zu ihr.

Als ihr Vorgänger es zeitweilig mit dieser »Politik der ruhigen Hand« versuchte, wirkte das wie aufgesetzt, wie eine falsch geschriebene Rolle für den bekennenden »Straßenfußballer« Gerhard »Acker« Schröder. Bei Angela Merkel dagegen passt die »Politik der kleinen Schritte« sogar zur Art, wie sie sich selber fortbewegt: in kleinen, manchmal trippelnden Schritten. Stochernd, nicht federnd, wenn es leicht bergab geht, etwa einen Hang hinunter. Und wenn das ansonsten deutlich zu oft bemühte Bild von der »Physikerin« einmal stimmt, dann hier. In den kleinen Schritten steckt nämlich unverkennbar der Geist von »trial and error«, von Versuch und Irrtum jener Wissenschaftswelt, in der Angela Merkel von Berufs wegen sozialisiert wurde, bis sie 35 Jahre alt war und die Mauer fiel. Einen »souveränen Umgang mit dem Nicht-Wissen« attestierte ihr der Politikwissenschafter Rudolf Korte jüngst. Und der mache sie beim Publikum überaus glaubwürdig.

Zu ihrem 50. Geburtstag hat sie das demonstrativ nach außen gekehrt und den Hirnforscher Wolf Singer den Fest-Vortrag halten lassen. Wie bestellt lieferte der Professor das neuro-wissenschaftliche Unterfutter einer Politik frei von Visionen, voller Selbstzweifel und »Hader-Phasen«. Singer empfahl der Politik, auf vollmundige Versprechen zu verzichten, nannte »Demut als Utopie«. Wörtlich: »Weil sich evolutionäre Systeme nur nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum entfalten, müssen die Versuche aus kleinen Schritten bestehen, damit sich Irrtümer nicht zu fatal auswirken können.« Das war 2004, ein gutes halbes Jahrzehnt, bevor die Euro-Krise eben diese Herangehensweise, das »Fahren auf Sicht«, regierungsamtlich werden ließ.

Von Gerhard Schröder, ihrem Anti-Bild, hat Angela Merkel auch das dazu passende Erwartungs-Management gelernt: lieber tief stapeln, als hoch verlieren. Während bei Schröder der Etat stets »auf Kante genäht« war, sehen die Haushalts- und Verschuldungs-Zahlen unter den Regierungen Merkel in aller Regel im IST besser aus als im SOLL. Ihre Mitarbeiter sind immer wieder virtuos im halb-öffentlichen Herunterreden von Erwartungen, perfekt darin waren sie beim deutschen G-8-Gipfel in Heiligendamm, aus dem immerhin ein medialer Triumph der »Klima-Kanzlerin« wurde. Über etliche Tage hinweg, hatte das Kanzleramt gestreut, noch nicht einmal mit einem ganz kleinen Zugeständnis des bockbeinigen US-Präsidenten George Bush dürfe gerechnet werden. Dann aber, als der erste Gipfeltag lief, wurden plötzlich die Korrespondenten einer Handvoll großer Blätter und TV-Kanäle vom Regierungssprecher beiseitegenommen, auf ein kleines Polizeiboot geführt und über die Ostsee mitten hinein ins streng abgeschirmte Luxushotel Heiligendamm gebracht, den Tagungsort des Gipfeltreffens. Wenig später rang Merkel dem US-Präsidenten vor den Augen der Journalisten einen öffentlichen Halb-Satz ab, der doch wie ein politischer Durchbruch wirkte – zumindest für diesen Moment. Entsprechend (auch in BILD) fielen am nächsten Tag die Schlagzeilen aus, euphorisch. Wochen später kam heraus, wie weit diese Inszenierung im voraus geplant war, perfekt eingepasst ins Merkel’sche Erwartungsmanagement.

Nach demselben Muster stellte die Kanzlerin den Deutschen auch nicht ein schnelles Ende der Wirtschafts-, Finanz- und Euro-Krise in Aussicht, sondern ein sehr mühsames. Und konnte sich darin sonnen, dass es dann viel besser kam als angekündigt. Und genauso warnte sie in der Neujahrsansprache, dass 2013 »nicht einfacher, sondern schwieriger« werde – und wird sich gern zur heißen Phase des Wahlkampfes hin eines Besseren belehren lassen. »In der Ruhe liegt die Kraft« steht auf einem kleinen silberfarbenen Würfel auf ihrem Arbeitstisch im Kanzleramt.

Doch die Sache mit der kunstvoll-künstlich zaudernden, präsidial moderierenden, über-nationalen Kanzlerin der kleinen Schritte hat inzwischen ein paar Haken, die in Wahrheit niemandem gefallen können.

Unbestreitbar ist nämlich, dass der beständige Verweis auf so genannt alternativlose Entscheidungszwänge das politische Klima in Deutschland jener »Post-Demokratie« näher bringt, die Colin Crouch in seinem gleichnamigen Buch schildert. Tatsächlich legt sich von der europäischen Ebene kommend ein »Diktat komplexer Konsense« (Ex-Verfassungsrichter Udo di Fabio) über Deutschland. Das Brüsseler Krisenmanagement vornehmlich der Eurozonen-Staaten ist einhergegangen mit mindestens der Gefahr von Ent-Parlamentarisierung: Da bewegen gut ein Dutzend Staats- und Regierungschefs regelmäßig dreistellige Milliardenbeträge, doch ihre nationalen Parlamente haben im Nachhinein nur mehr die Wahl, mit einem Nein-Votum in einer so gravierenden Frage die (eigene) Regierung zu stürzen – oder zuzustimmen. Das stärkt nicht die gewohnte Gewaltenteilung, sondern verändert die Verhältnisse in den nationalen Hauptstädten in Richtung der Brüsseler Zustände. Der Bundestag in Berlin hat sich seine Mitwirkung erstritten; die Nationalversammlung in Paris kann nach wie vor nur zuschauen, wenn der Staatspräsident in Brüssel zweistellige Milliarden-Risiken eingeht.

Erst recht als geborene DDR-Bürgerin ist Angela Merkel eine tief überzeugte Demokratin. Aber sie ist auch ins Machen verliebt, ins Machen im Kreis von Profis. Das passt mit einer naturgemäß trägen deutschen Innenpolitik nicht gut zusammen, und das Bundesverfassungsgericht legt den Finger in diese Wunde. Dass nahezu jedes größere Euro-Gesetz vor den Karlsruher Richtern landet, ist nicht neu. Neu ist jedoch Ton und Schärfe, in dem das Oberste Gericht inzwischen die roten Linien zieht, beispielhaft nachzulesen im Urteil zu den Informationspflichten der Regierung gegenüber dem Deutschen Bundestag: Auch Zwischenstufen und noch gar nicht fertig verhandelte Regelungsentwürfe seien prompt vorzulegen, damit das »Informationsungleichgewicht« zwischen Exekutive und Legislative ausgeglichen werde, das den Bundestag zusehends von einer »inhaltlichen Einflussnahme abschneidet«. Klartext: Auch enormer Zeitdruck oder Nervosität der Märkte sind keine Rechtfertigung, das frei gewählte Parlament vor vollendete Tatsachen zu stellen. Für die Richter gilt Merkels Mantra nicht, dass Europa scheitert, wenn der Euro scheitert. Sie wollen, dass die deutsche Demokratie nicht scheitert. Bis die Methode Merkel an die Grenzen des Grundgesetzes stößt, ist es in Wahrheit also nur eine Frage der Zeit.

Ein anderer Haken heißt Joachim Gauck. Mit ihm stellt sich zum ersten Mal in Merkels Amtszeit ein echter Präsident neben bzw. über die Präsidial-Kanzlerin und noch dazu einer, der das Präsidiale perfekt beherrscht, von spielerisch bis professionell. Es ist, als drücke der nun nicht mehr so freie Himmel über ihr sie ein Stück weit zurück ins Getümmel, ins Kleinklein. Gauck greift einiges von jenem Raum, den seine Vorgänger Wulff und Köhler der Kanzlerin gelassen hatten – und den sie nun wieder hergeben muss. Aber, typisch Merkel: Die Kanzlerin tut einfach so, als hätte sich nichts geändert.

Und der letzte Haken schließlich ist die Piratenpartei. Sie scheint inzwischen an ihren inneren Unzulänglichkeiten und den üblichen Kinderkrankheiten neu gegründeter Parteien zu Grunde zu gehen. Aber eine grelle Warnung bleiben die Piraten dennoch: Ihr zwischenzeitlich rasanter Aufstieg in vier Landesparlamente und in den zweistelligen Prozentbereich von Umfragen hat die Netz- und Spaßguerilla vielen Umständen zu verdanken, aber einem ganz bestimmt: Wenn die Betriebstemperatur im Polit-Labor der Kanzlerin stetig nach unten moderiert wird, wächst nicht nur an den Rändern des Parteienspektrums die Sehnsucht nach neuer Lebendigkeit, Wärme und Frische. Wo vieles in vermeintlicher Alternativlosigkeit endet, wird Spontaneität zum legitimen Selbstzweck – und ignorante Naivität zum Ticket in die Parlamente unserer repräsentativen Demokratie. Auch wenn sie auf den ersten Blick vor allem Grünen, SPD und der Linken Wähler abspenstig machen – die Piraten sind (oder waren) die Antwort eines Teils der Jungen auf das System Merkel, auf das Sedative ihrer Art, Politik zu machen. Denn auch das ist ein roter Faden der Merkel’schen Jahre: Sie hält sich an der Macht, obwohl sie jedesmal von nominal weniger Menschen als zuvor gewählt wird.

Kurzum: Diese Kanzlerin, die stets Gewissheiten produzieren will, erinnert beim Politikmachen an die europäische »Methode Monnet«. Die beschreibt unter dem Namen des wichtigsten Gründervaters der Europäischen Einigung deren gleichermaßen strategisches wie operatives Prinzip: sich immer dort weiterzuentwickeln, wo es gerade möglich ist oder wo eine neue unabweisbare Herausforderung auftaucht. Das ist Merkel pur. Blendend hat sie die europäische Krise nach den gescheiterten Referenden über die EU-Verfassung gemanagt. Sie hat die Euro-Krise auf ihre Art zumindest in den Griff bekommen und nebenbei Deutschland das Kommando in der Euro-Zone übernehmen lassen. Ihr eigenes, selbst erdachtes Projekt einer transatlantischen Wirtschaftspartnerschaft (Tafta) ist dagegen sang- und klanglos eingegangen und hat auch im zweiten Anlauf nicht viel Chancen. Ebenso versandet ist der Anlauf zu einer neuen Sozialpartnerschaft mit Arbeitnehmerbeteiligung an deren Unternehmen, vergessen die Schlagworte der »Wir-Gesellschaft« oder der »Neuen Sozialen Marktwirtschaft«.

Es bleibt dabei: Der Kampf um den Euro kommt der Kanzlerin in jeder Hinsicht zupass. Sie kann Zaudern besser als Zampano und Krise besser als kreativ. Wer sich anderes von ihr wünscht, kann ebenso gut den Mond anbellen.