Wie ist Angela Merkel so aus der Nähe?

Wer wissen will, wie Angela Merkel »so aus der Nähe ist«, der muss zuschauen, wie sie lacht. Dazu kann man zum Beispiel mit ihr auf Reisen gehen. Das tun Journalisten oft, die Leiter der Berliner Hauptkorrespondentenbüros der großen Zeitungen und TV-Sender sogar regelmäßig. Die Reisetruppe variiert, aber sie hat einen festen Kern. Das entspannt Angela Merkel, weil sie ihre Umgebung gern berechenbar hat. Eine entspannte Kanzlerin wiederum entspannt ihre engsten Mitarbeiter, die deshalb mehr Nähe zulassen. Ganz praktisch ist Angela Merkel auf Reisen weniger abgeschirmt als im Berliner Alltag. Man kann ihr beim Frühstück im Hotel begegnen, wenn sie am Buffet entlangschlendert und sich etwas aussucht, oft ein Müsli mit Orangensaft. Beim Streunen durch das Gewühl abendlicher Empfänge bleibt man plötzlich an einer Traube mit Merkel in der Mitte hängen und hört einfach zu oder beobachtet. Manchmal steht man auch urplötzlich für ein paar Minuten direkt neben ihr, im Hotel-Aufzug oder wenn sie durch eine Ausstellung oder eine Werkhalle geführt wird und man im engsten Tross einfach mitschwimmt, durch die sie umgebende Reuse der Sicherheitsleute hindurch. Und wenn sich zwei Dutzend Journalisten im Sitzen, Stehen, Hocken in das »Konferenzabteil« des Regierungsfliegers quetschen (der Rekord steht bei knapp unter 30), dann kommt man gelegentlich sogar Hosennaht an Hosennaht mit der Kanzlerin zu sitzen.

Zugegeben, deshalb durchschaut man noch lange nicht, warum sie über den strauchelnden Bundespräsidenten Christian Wulff politisch nie den Stab gebrochen, aber einen glücklosen Umweltminister nach einer Wahlniederlage brutal gefeuert hat, oder warum sie auch in einer schwarz-gelben Regierungskoalition mit Bundesrats-Mehrheit keine richtige Steuerreform machen wollte. Man kann in dem Konferenz-Abteil noch nicht einmal in ihre Unterlagen spinxen, die sie meistens in einer blauen Mappe oder als in Plastik eingeschweißte DINA5-Sprechzettel auf den Oberschenkeln liegen hat. Aber irgendwie darf man sich trotzdem einbilden, Angela Merkel auf solchen Reisen besser in den Fokus zu kriegen, besser ein Gefühl für ihre Person und ihr politisches Wesen zu entwickeln – also für Angela Merkel als Mensch und als Maschine.

Unter dem Strich kann man sagen: Die Maschine Merkel, das ist die mit den runterhängenden Mundwinkeln. Der Mensch Angela Merkel lacht gern. Müsste man es in einem einzigen Wort zusammenfassen, es hieße: angenehm, sie ist wirklich angenehm. Man fährt gern mit und nicht nur, weil man ja muss. Es ist wie Klassenfahrt, wobei offenbleiben kann, ob Angela Merkel nun die Klassenlehrerin ist oder die Klassensprecherin.

Nett wäre dagegen nicht das richtige Wort für Angela Merkel, weil es wie ein anderes Wort für naiv klingt, und das ist sie bestimmt nicht. Auch lustig oder amüsant trifft nicht den Punkt. Man kann mit Angela Merkel zwar gut lachen, und sie lacht selber gern. Gelegentlich auch über sich selbst, weil sie im achten Amtsjahr unverändert zum Blick von außen auf sich selbst und den vielschichtigen Kokon des Amtes fähig ist. Auf ihrer allerersten Dienstreise nach Paris und Brüssel im Herbst 2005 wurde sie gefragt, was sie am meisten an der neuen Situation beeindrucke. Antwort, nach kurzem Zögern: »Die Infrastruktur«. Als Beispiel nannte sie aber nicht die dicke Dienstlimousine, das Krypto-Handy oder ihre BKA-Entourage, sondern ihren ersten Anruf von außerhalb im eigenen Büro. Weil sie ihre Büro-Durchwahl noch nicht im Kopf hatte, rief sie damals also in der Zentrale des Bundeskanzleramtes an – und musste einer verdutzten Telefonistin erklären, dass sie »wirklich Angela Merkel sei, ja, ja, die neue Chefin, ja richtig, seit vorgestern …« Großes Gelächter im Flieger, gute Show, feines Maß an Selbstironie.

Überhaupt: Das Lachen der Kanzlerin ist ansteckend. Sie kann sich wegschütten vor freundlich-schadenfrohem Kichern. Zum Beispiel, wenn sie erzählt, wie vor Jahren der litauische Ministerpräsident mit dem Rad unterwegs ist und an der Grenze zur Ukraine nach der Baustelle des neuen ukrainischen Atomkraftwerks sucht, durchs Unterholz stapft, das Fernglas zückt, aber die Großbaustelle partout nicht finden kann. Oder wenn sie ohne großen Zusammenhang erzählt, was es mit dem krummen U-Boot für Griechenland auf sich hat. Das haben die Deutschen nämlich vor Jahren geliefert, aber die Griechen bezahlen nicht, weil es eben »krumm« sei, erzählt die Kanzlerin und muss das erste Mal kichern. Unzählige U-Boot-Vermesser seien inzwischen auf dem Gefährt herumgekrabbelt, ohne Ergebnis. Aber die Griechen beharrten darauf: Es sei krumm, und die ganze Welt außer den Deutschen wüsste, dass … Den letzten Satz kriegt sie nicht mehr zu Ende, weil sich ihr Kichern in einen Lachkrampf gesteigert hat. »Krumm …, ein krummes U-Boot!«

Da lief ganz offensichtlich ein sehr skurriler Film in ihrem Kopf ab. Dagegen fanden die Zuhörer um Merkel herum die Geschichten selbst eigentlich gar nicht soooo komisch. Ihnen fehlte der Film im Kopf. Angela Merkel aber konnte sich kaum halten – und deshalb mussten alle, angesteckt, mitlachen. Trotzdem: »Lustig« nennt man wohl eher Leute, die es regelmäßig auf einen Lacher anlegen. Aber die Kanzlerin kann herrlich überzeugend so tun, als würde sie von einem Lacher im Publikum völlig überrascht, weil sie gar nicht gewusst haben will, dass sie gerade etwas zum Lachen oder Kichern von sich gegeben hat.

Wenn sie dann, etwas verzögert, auch mitmacht, also ihrem eigenen Witz hinterherlacht, dann nennen das viele »mädchenhaft«. Thomas Gottschalk erzählte nach der Verleihung der »medal of freedom« an Angela Merkel (2011), dass er Merkel nun schon seit längerem immer wieder einmal treffe und von einer stets »fast mädchenhaften Reaktion, wenn sie sich über etwas freut. Das steht ihr gut«. Tatsächlich ist »mädchenhaftes Lachen« seit langem ein Standard in jeder Merkel-aus-der-Nähe-Beschreibung. Aber mädchenhaft ist ein seltsam verquastes Wort für jemanden, der Ende 50 ist und seit jeher einfach frei lachen kann, wenn er etwas zum Lachen findet, womöglich auch sich selbst. Das Einzige, was Angela Merkel von vielen anderen notgedrungen unterscheidet, wenn sie lacht, hängt mit ihrem Amt zusammen. Nicht selten merkt man, dass sie noch ein, zwei Momente länger darüber nachdenkt als andere, ob sie jetzt auch lachen darf. Als Kanzlerin. Meistens sagt sie sich: ja, darf ich.

Zum Beispiel darüber, wie es Anfang Oktober 2008 an jenem Sonntagnachmittag war, als sie mit ihrem damaligen SPD-Finanzminister Peer Steinbrück im Kanzleramt vor eilig herantelefonierten TV-Kameras die Garantie-Erklärung für alle deutsche Sparguthaben abgibt, je nach Definition um die 1600 Milliarden Euro. Kurz zuvor hat die Bundesbank das Kanzleramt wissen lassen, dass die Nachfrage nach 500 Euro-Scheinen an den Bankschaltern spürbar zugenommen habe vor dem Wochenende, ein Hinweis auf beginnende Panik. Ein echter »defining moment« der großen Koalition ist das also und womöglich die zwei Minuten, die Deutschland einen katastrophalen Banken-run ersparten. Eine ernste Sache, aber Merkel fasst ein paar Jahre später in einem kleinen Kreis das Ganze so zusammen: »Wir haben mit dem unschuldigsten Gesicht das größte Ding gemacht.« Stimmt ja auch: Weil der Bund niemals einfach so hätte zahlen können. Weil es keinen Parlamentsbeschluss gab. Weil es kein Kleingedrucktes gab mit Abgrenzungen im Detail. Weil, weil, weil. Das erzählt sie trocken und verschmitzt, einmal in Fahrt gekommen berlinert sie dabei »so’ne, nüscht, ditte« – schlicht schelmisch. Und schelmisch steht zu »mädchenhaft« wie Humor zu Witzigkeit.

»Jaaaaa, wir fliegen heute nach …« So fangen die Unterhaltungen, »briefings«, im Regierungsflieger fast immer an. »Jaaa, heute schauen wir uns mal den Satz des Pythagoras an …« So klingt das in der überfüllten Konferenzkabine, ein bisschen wie eine Lehrerin im (fliegenden) Klassenzimmer. Dann spult sie ihr Wissen über das Zielland ab, über den amtierenden Regierungschef, die Rolle, die Deutschland für dieses Land spielt und umgekehrt, und was sie anstreben will bei diesem Besuch. Als Gedankenstütze machen sich die Journalisten Notizen, obwohl sie kein Wort davon wörtlich schreiben dürfen, weil es die ungeschriebenen Regeln der Hauptstadtpresse verbieten. Und dabei tritt die zweite Eigenschaft zu Tage, die Angela Merkels Persönlichkeit prägt: Neugier. Diese Frau hat immer mehr Fragen als Zeit, sie zu stellen. Egal bei wem, egal wo. Vielleicht ist das Routine einer chronisch zeitknappen Politikerin, aber dann müsste es ja auch für Journalisten Routine sein, die auf ihre Art ebenso chronisch zeitknapp sind. Die allermeisten Journalisten jedoch hören bei einem gegebenen Thema irgendwann auf zu fragen. Nicht weil sie denkfaul oder desinteressiert sind oder meinen, schon alles zu wissen. Sondern weil sie irgendwann das Gefühl haben, nun ist es genug, um einen anständigen Artikel in der vorgegebenen Zeit zu schreiben. Journalisten kennen grundsätzlich eine Grenze, jenseits derer vermutlich nur noch »nutzloses« Wissen, überflüssige Details kommen. Angela Merkel kennt die Grenze sicherlich auch, weil sie mit ihrer Zeit und dem Fassungsvermögen ihrer »Festplatte« ebenfalls strikt haushalten muss. Aber sie fragt trotzdem. Oder würde es, wenn nicht der nächste Termin sie daran hinderte. Am Beginn ihrer bis heute längsten Auslandsreise, sechs Tage durch Südamerika Mitte 2008, sagt sie es so: »Das Entscheidende ist, wie viele Abendessen habe ich und wie oft kann ich etwas fragen.«

Und noch eine dritte Eigenschaft sagt etwas Wichtiges über Angela Merkel, die seit über zwanzig Jahren politisch in der ersten oder allerersten Reihe steht und dort akribisch beobachtet wird: Sie ist immer für eine Überraschung gut. Das meint jetzt nicht politische Volten, Meinungswechsel, Strategiebrüche, dazu an anderer Stelle mehr. Es meint, dass sie plötzlich auf ein Thema kommen kann und dabei Gedanken preisgibt, die man nicht kannte oder von denen man partout nicht gemeint hätte, dass sie ihr gerade durch den Kopf gehen. Ein Beispiel, zugetragen hat es sich auf dem Rückflug von einer Malta-/Zypern-Reise 2011, auf die ganz viele Journalisten mitwollten, um zu hören, was Merkel am Anfang eines »Super-Wahljahres« so denkt und wie das mit dem damals schon heftig rudernden Karl-Theodor zu Guttenberg weitergehen würde. Auf dem Rückflug also kommt kurz auch zur Sprache, dass sich die damalige Linkspartei-Chefin Gesine Lötsch in einem Aufsatz dazu bekannt hat, ihre Partei suche weiterhin nach »Wegen zum Kommunismus«. Und dann legt Merkel los, man staunt: Sie liefert einen ebenso schlüssigen wie weit ausholenden Exkurs über Marx und Engels, über sozialistische Dialektik, den kleinen Kommunismus-Katechismus der FDJ und der SED. Wohl keiner der Mitreisenden hatte davon je so ausführlich, so lebendig gehört. Auch Merkels Motivforschung: Es gehe für Frau Lötsch nicht um Stalin-Verehrung, nein bewahre. Der Grund sei, dass sie in der DDR in die Schule gegangen ist. Folgte ein weiterer Exkurs über DDR-Schulausbildung und wie der Kommunismus und seine Dialektik dort gelehrt wurden, in drei verschiedenen Fächern oder Gruppen: »Die mit den schlechtesten Mathe-Noten nahmen wissenschaftlichen Kommunismus.« Heißt für Merkel: die Deppen, die man allein wegen ihrer schlechten Mathe-Noten getrost verachten durfte, sogar in der DDR. Bei Angela Merkel sind nur wenige Witze ohne doppelten Boden.

Oder auf einer der vielen Reisen nach Washington, Ende Juni 2009: Da zog sie ohne rechte Vorwarnung, aber mit dem konkreten Hintergrund der Debatte um Hartz IV und Guido Westerwelles Satz von der »spätrömischen Dekadenz« einen Aufsatz von Ralf Dahrendorf aus der schwarzen Handtasche. Über die Ethik des Verzichts, über den Wandel vom Spar- zum Pumpkapitalismus, einen Text, über den sie offenkundig lange nachgedacht und mit Vertrauten geredet hat. Merkel lieferte ein bündiges Zehn-Minuten-Referat über den Dahrendorf-Text, folgte dessen Gedanken in mehrere tiefe Verästelungen. Und alle, man muss das sagen, alle mitreisenden Journalisten waren beeindruckt, besonders der Kollege der ZEIT, der schon von Amts wegen alle Dahrendorf-Aufsätze kennen muss.

Angela Merkel lässt sich aber auch selbst überraschen. Sie kann herrlich baff sein – und dann auch so reden. Im April 2010 gerät die Kanzler-Maschine in die Turbulenzen des isländischen Vulkans, dessen Ausbruch den internationalen Flugverkehr kollabieren lässt und zu dem wirklich außergewöhnlichen Umstand führt, dass eine Bundeskanzlerin ihren Regierungs-Airbus besteigt, ohne zu wissen, wo er landen wird. Ein Land nach dem anderen in Europa schließt gerade seinen Luftraum wegen der Aschewolke. Und Merkel sagt im Flieger wie ein staunendes Kind: »Das hat die Welt noch nicht gesehen.« Dann allerdings legt sie sich früh schlafen. Auch typisch Merkel.

Auf dieser Reise war sie sogar richtig fürsorglich, fast wie die oben erwähnte Klassenlehrerin. Der Irrflug der Kanzlermaschine landete nämlich zunächst in Lissabon, dann ging es tags drauf weiter nach Rom, weiter auf der Suche nach einem aschefreien Luftweg bis Berlin. Als das hoffnungslos bleibt, geht es auf der Straße bis ins norditalienische Bozen (auf der Strecke platzt beim Journalisten-Bus auch noch ein Reifen). Schon in Lissabon hätte die Kanzlerin allein weiterreisen können, da wäre sie vermutlich schneller gewesen, und alle Zurückbleibenden hätten es wohl verstehen müssen. Angela Merkel sagte aber: »Wir machen keine dramatischen Sachen, und wir bleiben alle zusammen.« Das hieß konkret: Niemand musste sich um Ausweichflüge bemühen, um ein Hotelbett oder sonst etwas. Man blieb im Tross, und alles war unendlich viel leichter. Deshalb muss man als Journalist Merkels Integrations-Politik nicht gut finden, manches Gezaudere bei der Griechenland-Hilfe oder den schwarz-gelben Dauerknatsch bis ins Wahljahr 2013. Aber angenehm und fast fürsorglich war es doch, und diese Charakterzüge erkennt man an den Menschen ja meistens dann, wenn sie etwas tun, was sie nicht unbedingt tun müssten. Zum Schluss, als man sich wirklich trennte und die Kanzlerin in Süddeutschland einen Helikopter bestieg, sagte sie zum Abschied: »Tschüs. War schön. Muss ich aber nicht gleich wieder haben.« Merkels Spitzname in CDU/CSU war früher »Oberschwester«. Heute heißt sie bei den meisten »Mutti«.

Das alles erzählt etwas, wie Angela Merkel so aus der Nähe ist – wenn man sie als Journalist immer wieder auf Auslandsreisen begleitet. Wie sie mit ihren engsten Mitarbeitern menschlich umgeht, erfährt man, wenn überhaupt, dagegen nur aus dritter Hand: Weil Merkel und die besagten engsten Mitarbeiter darüber so gut wie nicht reden. Nicht umsonst ist die Eintrittskarte in diesen Kreis größte Verschwiegenheit. Als sicher kann allerdings gelten, dass sie anders als andere Politiker nicht mit harten Gegenständen wirft. Selbst wenn sie sich so richtig ärgert.

Lange Rede, kurzer Sinn: Angela Merkel, so wie ich sie kenne, ist eine sehr umgängliche Person, sympathisch und normal. Gleichwohl ist ein sympathischer Mensch nicht automatisch zugleich ein politischer Sympathieträger. Ausweichlich aller Umfragen ist Angela Merkel aber gerade auch das. Es dürfte ihr größter politischer Trumpf sein – und sie weiß es genau.