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Es war frustrierend. Und vor allem machte es sie wütend. Die Mauer des Schweigens, die Alexander um sich herum aufbaute, sobald sie ihn nach den Absichten ihres Onkels fragte, war undurchdringlich. Am liebsten hätte sie ihm die Augen ausgekratzt. Nur um eine Reaktion zu provozieren. Sie hatte alles versucht. Sie hatte gebeten, gebettelt, gedroht, einen Wutausbruch inszeniert. Alles ohne Erfolg. Alexanders einzige Antwort war immer die gleiche: Er wisse nicht, was ihr Onkel von ihr wolle. Nur so viel, dass ihr von Torsten Halder Gefahr drohe.

Lächerlich.

Sie kannte ihren Onkel seit ihrer Kindheit. Er war der Bruder ihres Vaters. Die beiden Männer waren grundsätzlich verschieden. Ihr Vater war ein liebevoller, fürsorglicher Mensch gewesen. Torsten Halder war … anders. Machtbesessen. Kalt. Aber er war ihr Onkel. Und er hatte sich immer um ihr Wohlergehen gekümmert.

Sie durchmaß den Raum mit ihren Schritten. Anscheinend tat sie in letzter Zeit kaum etwas anderes, als in einem Zimmer auf und ab zu gehen. Aber die Selbstherrlichkeit der Männer in ihrem Leben, die nur darauf abzielte, ihr den eigenen Willen aufzudrängen, machte sie rasend.

Sie wollte weg von diesem Ort. Dummerweise war es zu spät dafür. Die Nacht hatte sich vor Stunden auf den Adlerhorst herabgesenkt. „Adlerhorst“ war der Name, den Alexander seiner Behausung gegeben hatte. Wesen, die sich nicht wie ein Ifrit in Rauch auflösen konnten, waren gezwungen, mit einem Helikopter an-oder abzureisen. Nachts aber war diese Möglichkeit nicht gegeben, dafür sorgten die Berge.

Ein Ifrit zu sein, hatte eindeutige Vorteile.

Der Gedanke daran brachte sie zum Stehen. Wie konnte sie nur so dumm sein?

Sie würde sich einfach in Rauch auflösen. Immerhin war sie halb Ifrit. Sie musste das doch auch können. Nicht umsonst hatte sie eine Dämonin als Mutter, hatte vieles von ihr geerbt, vielleicht auch diese Fähigkeit. Wenn sie nur wüsste, wie sie es anstellen sollte.

Einige Stunden später musste sie frustriert feststellen, dass sie offensichtlich nicht in der Lage war, sich zu verwandeln. Dabei hatte sie nichts unversucht gelassen. Sie meditierte, stellte sich Rauch vor, machte sich in Gedanken schwerelos, löste sich auf. Und versagte immer wieder. So ziemlich die einzige Methode, die sie bisher nicht versucht hatte, war ein Streichholz zu nehmen und sich anzuzünden.

Dabei hatte es so einfach ausgesehen.

Wieder begann sie, in dem Zimmer auf und ab zu gehen. Was machte einen Ifrit aus? Welcher Teil seines Wesens sorgte für diese Verwandlung? Sie wünschte, Alexander hätte mehr erzählt. Ifrit waren Dämonen des Feuers. Sie waren temperamentvoll, schnell, unsterblich und liebten die Wärme.

Feuer. Vor ihrem inneren Auge entstand das Bild einer Kerzenflamme. Sie flackerte in einem Luftzug. Um den Docht herum war die Flamme blau, dann wurde sie weißlich. Ein kaum wahrnehmbarer Rauchfaden stieg von ihr nach oben. Er entstand durch den Sauerstoff, den das Feuer verbrannte, zusammen mit der „Nahrung“, die der Kerzendocht lieferte.

Feuer, Sauerstoff und Nahrung ergaben Rauch.

Sariel atmete tief ein. Und aus. Und wieder ein. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung, auf den Rhythmus, mit dem die Luft in ihren Körper strömte und ihn dann wieder verließ. Ein und aus. Ein und aus.

Nach etwa fünf Minuten brach sie ab. Das konzentrierte Atmen hatte nicht mehr gebracht, als sie zum Hyperventilieren zu bringen. Möglicherweise hatte ihre Mutter ihr diese Eigenschaft nicht vererbt. Sie war zu sehr Mensch.

Vor wenigen Stunden noch hätte sie dieser Gedanke erfreut. Aber jetzt nicht mehr. Es war ihr erstaunlich leicht gefallen, ihr Anderssein zu akzeptieren. Zum großen Teil lag es an dem Gefühl der Erleichterung, das sie seit dieser Erkenntnis spürte. Es war, als ob sie durch ihr Wissen einen Teil ihres Wesens wiedergefunden hatte. Mit einem Mal fühlte sie sich ganz, was seltsam war, denn bisher war ihr nie aufgefallen, dass etwas in ihr gefehlt hatte. Aber das war nicht alles: Sie hatte zusätzlich den Eindruck, durch ihr Wissen eine Verbindung zu ihrer Mutter zu knüpfen. Seit dem Tod ihrer Eltern fühlte sie sich abgeschnitten. So, als sei eine unsichtbare Nabelschnur, die bis dahin die Familie verbunden hatte, durchtrennt worden. Jetzt war eine zarte, neue Brücke entstanden.

„Lara“, sie flüsterte den Vornamen ihrer Mutter. Es tat gut, den vertrauten Klang zu hören, die Schwingungen zu spüren. Und dann - plötzlich - tauchte ein Bild vor ihrem inneren Auge auf. Eine Szene, die sie längst vergessen hatte. Sie sah sich selbst als kleines Mädchen, das mit großen Augen auf die Stelle starrte, an der ihre Mutter eben noch gestanden hatte. Jetzt hing weißlicher Rauch in der Luft. Es ertönte ein Lachen, und ihre Mutter schloss sie von hinten in die Arme.

„Wie machst du das?“ Sariel lachte und versuchte, sich aus der Umarmung zu befreien. Dann klatschte sie in die Hände. „Noch einmal. Ich will das noch einmal sehen. Bitte Mama.“

Erneut der Rauch. Das Lachen, Sariels Frage und die Antwort ihrer Mutter: „Ich stelle mir einfach den Ort vor, an dem ich sein will.“ Die Worte klangen in ihren Ohren.

„Ich stelle mir einfach den Ort vor, an dem ich sein will.“

Kein Atmen. Kein Gefühl von Auflösung. Nur ihre Vorstellungskraft. Ein Lachen befreite sich aus ihrer Kehle und flog davon. Sie würde es schaffen!

Erneut durchmaß sie den Raum mit ihren Schritten. Sie musste sich einen geeigneten Ort vorstellen, denn es war nicht auszuschließen, dass sie einen Fehler beging. Was, wenn sie etwas falsch machte und in der Alster landete? Oder in einem fremden Haus?

Außerdem galt es, einen weiteren Punkt zu berücksichtigen. Sie musste mit ihrem Onkel reden. Ihm verständlich machen, dass ihre Entscheidung, nach Paris zu gehen feststand. Sie ließe sich nicht ein zweites Mal zur Gefangenen seiner Wünsche machen. Das musste ihm klar sein. Und dann würde sie ihn mit dem konfrontieren, was Alexander gesagt hatte. Sie musste herausfinden, ob der Ifrit recht hatte. Ob es tatsächlich etwas gab, was Torsten Halder von ihr wollte.

Ihrer Berechnung nach musste es mittlerweile etwa zwölf Uhr nachts sein. Zu dieser Zeit war ihr Onkel in seiner Bibliothek zu finden. Mit nur wenig Konzentration konnte sie sich den großen Raum mit seinen hohen Regalen und dem imposanten Schreibtisch vorstellen. Ihr Onkel würde dort, in seine Dokumente und Unterlagen versunken, sitzen. Eine Lesebrille auf der Nase. Im Winter flackerte ein Feuer im Kamin. Jetzt, im Sommer, wäre es angenehm kühl. Eine Karaffe mit eiskaltem Wasser stünde auf einem kleinen silbernen Tablett, gleich neben dem großen Sessel, der für Besucher und Gäste gedacht war.

Zunächst bemerkte sie es nicht, dieses Gefühl der Leichtigkeit, der Schwerelosigkeit. Dann aber sah sie den dichten Nebel, der sie umgab. Weißlich und durchsichtig. Wie Rauch …