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Kalt.

 

Es schien Stunden zu dauern, bis Alexanders Gedanken imstande waren, dieses eine Wort zu formen.

So kalt.

Alexander versuchte, Luft zu holen, schaffte es aber nur mit Mühe, etwas davon in seine Lungen zu pressen. Eine unsichtbare Kraft schien seinen Oberkörper nach unten zu drücken, seine Brust einzuschnüren. Er konnte nicht mehr als ein paar zittrige Atemzüge tun.

Ich muss … Wärme … ich … brauche … Wärme …

Das Formen dieser wenigen Worte in seinem Kopf erschöpfte ihn. Zu der Kälte gesellte sich Dunkelheit. Nicht lange und er würde in ihr versinken, um nie wieder zurückzukehren. Nie wieder …

Die Worte hallten in seinem Kopf, brachten Fragmente seiner Willenskraft zurück. Er würde nicht aufgeben. Er war ein Ifrit. Ein Dämon des Feuers. Auch wenn seine Lebensflamme kaum noch zu flackern schien, so war sie nicht erloschen. Er würde es Torsten Halder nicht so leicht machen.

Die Entscheidung schien einen winzigen Funken in ihm zu entzünden. Ein Funke, der die tödliche Kälte kaum spürbar erwärmte.

Besser.

Die Erstarrung, die Alexander in festem Griff hielt, lockerte sich soweit, dass er seine Augen öffnen konnte. Ohne den Kopf zu bewegen, ließ er seinen Blick schweifen, erfasste den dunklen, fensterlosen Raum, in den Halder ihn verbannt hatte. Viel gab es nicht zu sehen. Der Boden bestand aus grauem Beton, die Wände ebenfalls. Die Pritsche, auf der er lag, schien aus Metall zu sein.

Eine Stahltür sorgte dafür, dass die Kälte diese vier Wände nicht verlassen konnte, ebenso wenig wie er selbst. Solange er diesen eisigen Temperaturen ausgesetzt war, konnte er sich nicht in Rauch verwandeln. Die Erkenntnis rief ein ironisches Lächeln hervor. Verwandeln! Er konnte froh sein, wenn er es schaffte, bei Bewusstsein und am Leben zu bleiben.

 

*

 

Mit einem letzten kritischen Blick in den Spiegel wandte Sariel sich um. Ihr Onkel hasste Unpünktlichkeit, und das Frühstück wurde jeden Morgen genau um halb sieben serviert. Als Sariels Eltern noch lebten …

Entschlossen verbannte sie diesen Gedanken aus ihrem Kopf. Ihre Eltern waren tot. Seitdem lebte sie bei Onkel Torsten, und auch wenn seine Angewohnheiten ihr oft seltsam erschienen, musste sie ihm doch dankbar sein. Immerhin hatte er sie bei sich aufgenommen. obwohl er alleinstehend und kinderlos war. Plötzlich eine fast erwachsene Nichte unter seinem Dach zu haben, musste ihn in seinem gewohnten Lebensstil einschränken. Aber nicht mehr lange. Heute wollte Sariel ihm die frohe Botschaft überbringen, dass sie in drei Tagen nach Paris reisen würde. Ihr Kunststudium an der Sorbonne begann in zwei Wochen. Bis dahin musste sie eine Bleibe gefunden und den Transfer ihrer wenigen Besitztümer organisiert haben.

Das Problem war: Ihr Onkel würde sich nicht freuen. Nicht umsonst hatte er ihr immer wieder nahegelegt, ihre Studien auf den Bereich der Betriebswirtschaftslehre zu konzentrieren. Mit der Perspektive, eines Tages die Führung seiner Bank zu übernehmen.

„Guten Morgen, Onkel“, murmelte Sariel, als sie das Esszimmer betrat. Wie immer war der Tisch tadellos gedeckt. Das Silberbesteck glänzte im Sonnenlicht, das durch die hohen Terrassentüren fiel und den Raum zu überfluten schien. Hier tanzten keine Staubpartikel in dem grellen Licht. Wahrscheinlich erstarrten auch sie in Angst und Ehrfurcht vor Torsten Halder.

Das edle Porzellan wurde von feinen Stoffservietten eingerahmt. Die silberne Teekanne, die auf dem Tisch stand, versprach den edelsten Darjeeling. Kaffee wäre ihr lieber gewesen, aber davon hielt ihr Onkel nichts. Ganz der vollendete Kavalier stand er sofort auf, als sie den Raum betrat. Dann erst erwiderte er ihren Morgengruß: „Guten Morgen, Sariel. Ich hoffe, du hast gut geschlafen.“

„Ja, danke“, log sie mechanisch, während sie die Serviette auf ihrem Schoß ausbreitete. Sie hatte gehofft, ihn in eine seiner Zeitungen vertieft zu sehen, aber heute war Sonntag. Der optimale Zeitpunkt, um von ihren Plänen zu berichten. Sie hatte die ganze Nacht damit verbracht, dieses Gespräch vorzubereiten, die richtigen Formulierungen zu finden und ihre Argumente überzeugend darzulegen.

Dreißig Minuten später hatte Sariel ihren Entschluss noch immer nicht in die Tat umgesetzt. Stattdessen lauschte sie mit geheucheltem Interesse seinen Ausführungen über die internationale Finanzwirtschaft. Wie so oft schweiften ihre Gedanken ab.

Kalt … So kalt …

Die Worte schlichen sich in Sariels Kopf, unterbrachen ihre Sorgen, die sich allesamt darum drehten, wie sie ihrem Onkel die Neuigkeiten beibringen sollte. Ihr war nicht kalt. Im Gegenteil ihre Handflächen schwitzten, und sie hatte das unangenehme Gefühl, dass ihr Deo nicht das hielt, was die Werbung versprach. Kälte war so ziemlich das Einzige, was Sariel im Moment nicht spürte. Seltsam. Konzentriert horchte sie in sich hinein, versuchte herauszufinden, was der Auslöser dieses Gedankens war.

Nichts. Wahrscheinlich verwirrten die Probleme, die sie heraufbeschwor, ihre Sinne. Es wurde Zeit zu handeln. Mit einem tiefen Atemzug versuchte sie, innere Stärke zu gewinnen.

„Aus diesem Grund ist es so wichtig, Sariel …“

„Onkel, ich muss dir etwas mitteilen“, unterbrach sie seine Ausführungen. Mit einem Stirnrunzeln brach er ab. Torsten Halder war es nicht gewöhnt, dass man ihm ins Wort fiel.

„Ich fange in zwei Wochen mit meinem Kunststudium an der Sorbonne an. Ich wollte es dir schon längst sagen, aber …“

„Kunst? Du willst Kunst studieren nach allem, was ich für dich getan habe?“ Torsten Halders Gesicht färbte sich rot. Mit einem Mal schien es, als würde Wut wie eine kalte Welle von ihm ausgehen. Wut, die sich auf Sariel richtete. Angst kroch in ihr hoch. Sie hatte sich vor dieser Konfrontation gefürchtet. Mit einem solchen Ausbruch hatte sie nicht gerechnet.

„Ich will nichts mehr davon hören.“ Torsten Halder schob seinen Stuhl zurück und stand auf. „Du wirst deine Anmeldung zurückziehen. In vier Wochen beginnt das Herbstsemester in Hamburg. Ich habe dich bereits für das Betriebswirtschaftsstudium angemeldet. Und das, junge Dame, ist genau das, was du studieren wirst!“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, verließ er den Raum.

 

 

Gegen seinen Willen schlossen sich Alexanders Augen. Wie Bleigewichte fielen die Lider nach unten, sie zu öffnen, würde mehr Kraft erfordern, als er besaß. Es waren nur wenige Sekunden, in denen er seine Umgebung erkundet hatte. Trotzdem überkam ihn ein bleiernes Gefühl der Müdigkeit, und er merkte, wie die winzige Flamme, die ihn am Leben hielt, kämpfte, um nicht zu erlöschen.

Kalt.

So kalt.

Die Worte verhallten in seinem Kopf, wurden zurückgeworfen. Wärme floss durch seinen Körper. Zurückgeworfen? Wärme? Irgendetwas oder irgendjemand hatte seine Gedanken gehört. Sein Pulsschlag beschleunigte sich, als er diese Erkenntnis aufnahm. Die Flamme, die eben noch kurz davor war zu ersterben, tanzte mit einem Mal. Energie! Nicht viel, aber genug, um ihn am Leben zu erhalten. Genug, um mehr zu ermöglichen.

Vorsichtig streckte er seine Sinne aus, zwang sie, diesen Raum zu verlassen. Dabei war er sich mit jeder Faser seines Wesens der Gefahr bewusst, in die er sich begab. Wenn Torsten Halder auch nur das kleinste Lebenszeichen von ihm auffing, war er verloren. Er musste weiterhin glauben, dass Alexander dem Tod entgegenging. Oder besser noch, bereits tot war.

Sariel.

Er hätte es wissen müssen. Torsten Halders Nichte hatte seine Gedanken aufgefangen, sie reflektiert und ihnen dadurch etwas von ihrer Kraft gegeben. Zögerlich tastete Alexander ihre Aura ab. Er wollte ihr nicht noch mehr Energie entziehen. Sie hatte bereits mehr als genug getan. Auch wenn sie davon nichts ahnte.

Angst.

Irgendjemand oder irgendetwas jagte Sariel Angst ein.