sundown

Wir sitzen auf dem Fußboden, Mum und ich. Wir sind in meinem Zimmer, sitzen auf dem Boden, vor Dads Leiche. Wir stützen einander, weinen, eine im Arm der andern. Wir gehen gemeinsam unter. Und genau jetzt begreif ich tief in mir, dass dies das Ende ist. Es kann nichts anderes geben. Nicht nach dem hier. Es kann kein Morgen geben, keinen anderen Ort, es kann keinen Moment geben, der nicht genau jetzt ist. Dieser Raum, dieser Boden, diese Tränen, dieses Blut – das ist alles, was es gibt. Es ist alles, was es je geben kann.

Es ist …

Nein.

Horch …

Der Regen.

Es ist nicht das Ende.

Ich hör noch den Regen am Fenster. Der Regen fällt noch. Das hier ist nicht alles, was es gibt. Dieses Zimmer, dieser Boden … diese Tränen. Ich hör, wie sie jetzt zu etwas anderem werden. Zu mehr. Zu einer Stimme. Der Stimme meiner Mutter. Die vor Verzweiflung schluchzt.

»… ich konnte nicht … ich konnte nicht zulassen, dass er es tut, Schatz … ich musste ihn aufhalten … ich konnt es nicht zulassen … nicht noch einmal …«

Sie weint so sehr, dass ich kaum versteh, was sie sagt.

»Ist ja gut, Mum«, sag ich und halt sie fest. »Ist ja gut …«

»… ich wollte nicht … ich …«

Ich streich ihr über die Haare, lass sie weinen und langsam sinken ihre tränengetränkten Worte in mich ein.

… ich konnte nicht zulassen, dass er es tut, Schatz…

… nicht noch einmal…

… ich musste ihn aufhalten…

… nicht noch einmal …

Und falls ich es vorher nicht gewusst hab (und ich bin mir nicht sicher, ob ich es wirklich nicht gewusst hab), jetzt ist es klar: Sie weiß, was passiert ist. Sie weiß, was Dad mir angetan hat. Sie hat es die ganze Zeit gewusst. Deshalb hat sie ihn umgebracht. Sie muss seine Stimme gehört haben, als sie nach oben kam. Sie muss die Pistole aus ihrem Zimmer geholt haben, weil sie das Schlimmste befürchtete … und dann ist sie ins Zimmer gekommen und hat das Schlimmste gesehen: Dad und mich zusammen. Sie hat gesehen, wie ich ihn weggestoßen hab, und dass mein Bademantel offen stand. Sie hat die Panik der anderen Dawn in mir gesehen und genau wie die andere Dawn hat sie geglaubt, es geschieht noch einmal.

Sie konnte nicht zulassen, dass er es tut.

Nicht noch einmal.

»Woher wusstest du es, Mum?«, frag ich leise.

Sie zittert. »Was?«

»Das mit Dad, du weißt schon … mit Dad und mir … woher wusstest du es?«

Sie sieht mich zitternd an, wischt sich Rotz und Tränen aus dem Gesicht. »Es tut mir so leid … ich hab nicht … ich hätte was tun müssen …«

»Wie hast du’s rausgefunden?«

Sie schaut weg, schaut nach unten und ich spür, wie sie mir ihre Hand auf den Schenkel legt. Ich schau auch nach unten. Sie bewegt die Hand, fingert vorsichtig an dem blutbefleckten Saum von meinem Bademantel.

Als sie spricht, ist ihre Stimme nur ein gebrochenes Flüstern. »Anfangs hab ich gedacht, es läg an dir … das Blut auf dem Bademantel … ich dachte, du hättest deine Tage gekriegt … Auch auf dem Laken … ich dachte doch nicht …« Sie schweigt und schaut seltsam konzentriert zu, wie eine ihrer Tränen auf mein Bein tropft. Sie streckt die Hand aus und berührt die Träne mit der von Blut benetzten Fingerspitze. Die Träne wird rosa. »Er war blutig …«, murmelt sie. »Ich hab es gesehen … an dem Abend. Und die schrecklichen Dinge, die er gesagt hat … im Schlaf …« Sie schüttelt den Kopf. »Und da war noch mehr … ich kann dir das nicht erzählen. Aber ich wusste Bescheid. Und dann ist er gegangen … ich wollte einfach … ich wollte es nicht glauben … ich konnte nicht …« Sie sieht zu mir auf, ihr Gesicht ist ganz aufgelöst. »Ich hab ihn geliebt, Dawn … ich wusste nicht, was ich tun sollte … es tut mir so leid … ich wusste einfach nicht …«

»Ist gut, Mum«, sag ich sanft. »Ist schon in Ordnung …«

»Nein«, schluchzt sie. »Das ist nicht in Ordnung … wie kann das in Ordnung sein? Wie konnte er dir das antun? Er hat dich geliebt … wie konnte er das tun

»Ich glaub nicht, dass er gewusst hat, was er tut, Mum … er war zu … was weiß ich? Er war total am Ende.«

»Das ist keine Entschuldigung.«

»Ich weiß …«

Sie nimmt meine Hand und sieht mir fest in die Augen. »Ich konnte nicht zulassen, dass er dir noch einmal wehtut, Dawn. Das verstehst du doch, oder?«

Ich schau zurück und weiß nicht, was ich sagen soll. Was kann ich sagen? Sie hat gerade den Mann umgebracht, den sie liebt … sie hat ihn umgebracht, weil sie geglaubt hat, sie muss es tun. Sie hat gedacht, sie rettet mich. Doch das stimmt nicht.

Aber das kann ich ihr ja nicht sagen, oder? Es würde sie umbringen.

Aber wenn ich es ihr nicht sag …?

Wenn ich ihr nicht die Wahrheit sag, wird sie für immer glauben, dass Dad nicht zu vergeben war. Sie wird nie wissen, dass es vielleicht, nur vielleicht, einen Teil von ihm gab, den es immer noch wert war zu lieben.

Wie kann ich ihr das nehmen?

Und wie kann ich ihm die Möglichkeit nehmen, dass sie ihm vergibt?

Vergebung …

Ich schau ihn an, wie er zusammengesackt auf dem Stuhl sitzt, kalt und tot. Und ich würd gern glauben, dass noch was da ist … irgendwas, irgendwo … irgendwas von Dad, das irgendwie weiß, was in meinem Innern los ist. Ich würd gern glauben, dass er mich noch hören kann.

Ich vergeb dir, Dad.

Ich vergeb dir.

Aber ich kann nicht.

Es gibt nichts anderes. Das ist alles. Diese Welt, dieses Leben, diese Zeit – mehr ist nicht.

Leben und Tod.

Tod …

Der Tod lässt was zurück.

Das ist es, was ich jetzt denk, als ich hier in dem Zimmer, auf diesem Fußboden sitz und den leblosen Körper meines Vaters anstarre, diese kalte Realität – sein Tod lässt was zurück. Er lässt eine Lücke zurück, wo Dad sein sollte. Er lässt mich zurück, voll Blut und Tränen. Und er lässt meine Mum zurück, mit einem Mord an den Händen. Das ist die kalte Realität – meine Mum ist des Mordes schuldig.

Und wenn wir nicht sofort was tun, könnte es wirklich das Ende bedeuten.

Ich schau auf die Uhr (19.15 Uhr).

»Mum«, sag ich. »Wir müssen was tun.«