Ich sitz noch immer mit Jesus und Mary auf meinem Bett, noch immer versunken in meine Dad-Gedanken und meine Gott-Gedanken, und die alles überflutende Schönheit von The Jesus and Mary Chain wirbelt dunkel durchs Zimmer, als sich plötzlich die Hundeohren aufstellen, Jesus und Mary vom Bett springen und wie verrückt die Zimmertür ankläffen. Es ist ihr Jemand-ist-an-der-Haustür-Bellen (RAURAURAURAURAURAURAU), was mich irgendwie überrascht, denn der Wecker auf meinem Nachttisch zeigt 22.39 Uhr … nicht dass das spät ist oder so. Ich meine, als Dad noch da war, konnte es die ganze Nacht vorkommen, dass irgendwer klingelt. Aber Dad ist nicht mehr da. Und zu Mum und mir kommen nicht viele, schon gar nicht um die Uhrzeit.
Deshalb die Überraschung.
Egal, bis ich jedenfalls vom Bett aufgestanden bin, die Musik leise gestellt, Jesus und Mary aus dem Zimmer gelassen hab und sie die Treppe runtergewetzt sind (RAURAURAURAURAURAURAU), hör ich schon Mum, wie sie die Tür aufmacht und zögernd jemand begrüßt.
»Wer ist es, Mum?«, ruf ich und geh die Treppe runter.
Bei dem aufgeregten Gekläffe kann ich nicht viel verstehen, aber was ich hör, klingt nicht so schlimm. Ich meine, es klingt nicht nach jemand, den Mum nicht sehen will. (Seit Dad weg ist, hat sie immer Angst, dass eines Tages die Polizei vor der Tür steht.)
»Mum?«, ruf ich wieder, während ich mich dem Treppenende nähere. »Alles in Ordnung? Wer ist es?«
Wer immer es ist, sie lässt sie jetzt jedenfalls rein. Und Jesus und Mary bellen nicht mehr, sie drehen irgendwelche wirren Schleifen im Flur, wedeln mit dem Schwanz und winseln und hecheln in ihrem Hundeglück.
»Freundinnen von dir«, sagt Mum, tritt schwankend zur Seite und lächelt mich mit Kaffee und Whisky gedopt an. (Freundinnen von mir?, überleg ich.) Sie dreht sich wieder zu den Leuten an der Tür um und schiebt sie ins Haus. »Kommt nur rein«, sagt sie zu wem auch immer.
Und da kommen sie – eine fiese Erscheinung flacher Bäuche und Brüste, mit klirrenden Tragetüten in der Hand: Mel Monroe und Taylor Harding.
»Hey, Dawn«, sagt Taylor grinsend. »Wie läuft’s?«
(Hä?)
»Ja«, fragt Mel. »Alles okay?«
Ich kann einfach nicht antworten. Ich steh bloß unten an der Treppe und starr die beiden stumm an, wie sie über den Flur auf mich zukommen. Taylor wirft im Vorbeigehen einen Blick ins Wohnzimmer und verschafft sich einen schnellen Überblick, auch Mels Augen springen rum und nehmen alles auf. Hinter ihnen seh ich, wie meine Mum die Haustür schließt und mir vage zunickt, als ob sie sagen wollte: Gut gemacht, Dawn, schön, dass du endlich Freundinnen hast. Und ich möchte ihr antworten: Nein, das sind nicht meine Freundinnen … ich will nicht, dass sie hier sind. Aber Taylor steht jetzt vor mir und es bleibt mir nichts anderes übrig, als ihr in die Augen zu sehen und die Härte hinter ihrem Lächeln zu erkennen.
»Na?«, sagt sie. »Lust auf ’n Drink?«
(walk away
you empty head)
Taylor quasselt auf mich ein, als ich sie unwillig nach oben in mein Zimmer führe. »Die Party ist abgeblasen«, erklärt sie mir. »Mels Mum ist nach Hause gekommen, da mussten wir sie absagen. Wir dachten, ist vielleicht besser, wenn wir schnell bei dir vorbeigehen und Bescheid sagen, nicht? Wir hätten dich ja auch angerufen, aber wir haben deine Nummer nicht …«
Ich hör ihr nicht richtig zu (allerdings genug, um mich zu fragen, wieso sie plötzlich wieder behauptet, die Party sollte bei Mel stattfinden und nicht bei ihr). In mir macht sich nur so ein Gemisch aus Befremden, Verwirrung und ungewollter Neugier breit, dass mir der Magen flattert. Ich will nicht neugierig sein, wieso sie hier sind. Ich will gar nichts sein. Ich will nur, dass sie verschwinden. Bitte, möchte ich sagen, verschwindet aus meinem Zuhause, lasst mich in Ruhe. Ich will nicht, dass ihr hier seid.
Aber ich hab nicht den Mut.
Stattdessen öffne ich, während Taylor weiterquasselt – »… und weil wir sowieso gerade in der Gegend waren, dachten wir, wir können doch genauso gut was zu trinken mitbringen … verstehst du, ist doch ’ne Schande, das Zeug vergammeln zu lassen …« –, die Tür und die beiden folgen mir ins Zimmer.
Jesus und Mary trippeln hinter ihnen her und springen aufs Bett.
Auf dem PC läuft noch immer Head.
»Hübsch«, sagt Taylor, während sie sich nach meinen Sachen umschaut.
»Ja«, stimmt Mel zu.
Ich weiß nicht, ob sie das wirklich so meinen oder nicht, aber es würde mich nicht überraschen. Denn ich hab echt ein paar hübsche Sachen rumstehen: unter anderm einen Arbico-880-GTX-PC mit 20.1-Zoll-Flachbildschirm, ein Sony-Vaio-Blu-ray-Notebook, einen hübschen kleinen 19-Zoll-Flachbildfernseher, einen 30GB-iPod Touchscreen, ein Samsung-1320-Handy … echt, ich hab alle möglichen tollen Sachen. (Aber mehr ist es eben auch nicht – einfach nur Sachen. Und in zwanzig Jahren werden sie nicht mal mehr das sein, sondern bloß noch ein Haufen Schrott.)
Jedenfalls, während sich Taylor und Mel nach meinen Sachen umschauen, seh ich heimlich sie an und hab fast aufgehört, mich zu fragen, was sie hier machen. Sie sind da, fertig. Im Moment hab ich damit genug zu tun. Also schau ich sie irgendwie einfach bloß an, verstehst du? Ihre Gesichter, ihre Augen, was sie anhaben …
Mit Klamotten kenn ich mich nicht so aus (sind bloß Klamotten für mich, irgendwas, um meine Plumpheit zu verdecken), aber soweit ich seh, tragen Taylor und Mel noch das Gleiche wie heute Nachmittag. Kurze, enge Sachen, die ihre weiblichen Kurven zur Schau stellen. Und als ich sie betrachte, muss ich peinlicherweise an die Eva-Bilder in meiner Illustrierten Kinderbibel denken (obwohl ich sehr bezweifle, dass Taylor und Mel jemals einen Apfel zum Verführen verwendet haben).
Der Gedanke an Eva erinnert mich plötzlich an etwas anderes, und als sich Taylor, ohne zu fragen, auf meine Bettkante setzt und Mel kommt, um sich danebenzuhocken, schlender ich lässig auf die andere Seite, nehm (genauso lässig) die Bibeln vom Bett und klopf gleichzeitig kurz die Decke glatt, so als ob ich nichts weiter machen würde, verstehst du … ich versuch doch nichts zu verstecken. Mir ist auch nichts peinlich. Was soll mir denn peinlich sein? Mir? Peinlich? Nein, ich mach nur … du weißt schon, ich mach nur ein bisschen Ordnung.
»Hast du die heute Nachmittag gekauft?«, fragt Mel, als sie die Bibeln in meiner Hand sieht.
»Äh, ja …«, sag ich schulterzuckend. »Hat aber nichts weiter zu sagen … ist nur für so ’n Schulprojekt.«
»Schulprojekt? Was denn für eins?«
»Reli«, erklär ich ihr, während ich die Bibeln in der Nachttischschublade verstau.
»Scheiß Reli«, sagt Taylor. »Scheiß Zeitvergeudung.« Sie holt eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Tasche und sieht mich an. »Ist das okay, wenn ich rauche?«
»Von mir aus kannst du dich auch selber anstecken«, sag ich.
Es ist dämlich, das zu sagen – nicht mal besonders lustig –, und Taylor reagiert auch nicht, sie zündet sich einfach die Zigarette an, greift in die Tüte zu ihren Füßen und zieht eine halbe Flasche Wodka raus. Sie schraubt den Verschluss auf, nimmt einen Schluck und bietet dann mir die Flasche an.
»Willst du auch was?«
»Nein, danke.«
»Wieso nicht?«
Ich zuck nur mit den Schultern.
Sie nimmt die Tüte hoch. »Ich hab auch WKD Blue dabei, wenn du den lieber magst –«
»Nein, schon gut«, sag ich. »Ich will nichts, danke.«
»Sei nicht albern«, antwortet sie und wedelt mit der Wodkaflasche in meine Richtung. »Komm schon, nimm ’nen Schluck … bringt dich schon nicht um.«
Ich schüttel den Kopf. »Nein, echt …«
Sie guckt mich schräg an. »Verdammt, was ist los –?«
»Sie hat gesagt, sie will keinen«, unterbricht Mel Taylor und schnappt sich die Flasche aus ihrer Hand. »Wenn sie keinen will, dann will sie eben nicht. Klar?« Sie starrt Taylor einen Moment an, dann – nachdem sie kurz zu mir rübergegrinst hat – nimmt sie einen kräftigen Schluck aus der Flasche.
Taylor schüttelt den Kopf, verwirrt, als ob sie noch nie jemanden erlebt hat, der was zu trinken ablehnt. Sie zieht an ihrer Zigarette und bläst den Rauch aus. Jesus, der neben ihr sitzt, schnuppert, blinzelt, hebt den Kopf und niest. Mary sieht ihn erschrocken an. Mel lacht. Taylor klemmt die Zigarette zwischen die Lippen und reibt ihm zum Spaß mit beiden Händen die Schnauze.
Jesus wedelt mit dem Schwanz.
Ich geh rüber zu meinem Computertisch, kipp einen Becher mit Stiften aus und reich ihn Taylor als Aschenbecher.
Sie lächelt mich mit schmalen Lippen an. »Ich wette, deine Mum würd nicht Nein sagen zu einem Drink?«
Ich geh zum Fenster und öffne es einen Spalt, um den Zigarettenqualm rauszulassen.
»Die mag bestimmt auch ’n bisschen Gras, stimmt’s?«, fährt Taylor fort. »Hab ich an ihrer Kleidung gerochen.«
»Ja und?«, sag ich wieder mit einem Schulterzucken.
Auch sie zuckt mit den Schultern. »Nichts und … ich mein bloß, sonst nichts.«
»Du meinst bloß was?«
»Nichts.« Sie grinst mich einen Moment an, dann schnippt sie ihre Zigarettenasche in den Becher und dreht sich zu Jesus und Mary um.
»Wie heißen die beiden?«, fragt sie.
»Was?«
»Die Hunde – wie sie heißen?«
Ich erzähl ihr, dass ich sie nach The Jesus and Mary Chain genannt hab, dass das meine Lieblingsband ist, bla bla bla, und beide, Taylor und Mel, scheinen das echt lustig zu finden, dass meine Hunde Jesus und Mary heißen. Und das Verrückte ist: Wie sie so drüber kichern und schnauben, merk ich, dass mir ihr Lachen gefällt. Gibt mir ein angenehmes Gefühl. Gibt mir Selbstvertrauen. Als ob ich sie beeindruckt hätte – und aus irgendeinem jämmerlichen Grund gibt mir das einen Kick.
»Und«, sagt Mel, während sie von Taylor eine Zigarette schnorrt, »ist das, was da gerade läuft – die Musik, mein ich –, sind das diese Jesus-und-Mary-Dingsbums?«
»Chain«, antworte ich. »The Jesus and Mary Chain, ja …« Ich geh an meinen Schreibtisch und dreh die Lautstärke vom PC hoch. Der Sound von Head kreischt und heult aus den Lautsprechern.
(i think you’re crawling up my spine
i think you’re crawling up my spine
hey hey hey
hey hey hey
don’t want you to stay
want you to stay)
»Und, gefällt’s euch?«, frag ich Taylor und Mel. »Mögt ihr die Musik?«
Mel zuckt mit den Schultern. »Schon ganz okay. Sind die neu?«
»Neu?«
»Ja, ist das ’ne neue Band?«
»Nee … ich glaub, die haben schon in den Achtzigern angefangen –«
»Verdammt, Mann«, giftet Taylor und zieht ein Gesicht. »Hast du nichts anderes?«
»Nein«, murmel ich vor mich hin (und spür, wie mich das angenehme Gefühl, der Selbstvertrauenskick, wieder verlässt).
»Wie wär’s mit ’n bisschen Lily Allen?«, sagt Taylor. »Kanye West oder Mika und so? Ich mein, verdammt …« Sie schüttelt den Kopf, wedelt wegwerfend mit der Hand nach den Lautsprechern. »Das da ist doch totale Kacke.«
»Na ja«, murmel ich, »wenn’s dir nicht gefällt –«
»Aber ’n hübsches Teil«, sagt sie und ignoriert mich. »Der PC, mein ich.« Sie wirft die Zigarette in den Becher, nimmt noch einen Schluck Wodka und gibt die Flasche Mel. »Muss ja ’ne Stange gekostet haben«, sagt sie zu mir.
»Was?«
»Der PC … das alles hier.« Sie wedelt wieder mit der Hand. »Und der Fernseher, den ihr unten habt … ich mein, muss euch ja echt gut gehen.« Sie grinst mich an. »Wenn’s nicht geklaut ist natürlich.«
Ich sag nichts dazu, ich schau nur zu Mel (ohne besonderen Grund, kommt mir vor – ich merk bloß, dass ich plötzlich zu ihr rüberschau). Sie sitzt mit gekreuzten Beinen da, nippt vorsichtig an der Wodkaflasche und irgendwas an ihren dunklen Mandelaugen – irgendwas an der Art, wie sie mich anguckt – macht mich auf eine bescheuerte Weise schüchtern. Sie trägt ein abgeschnittenes Shirt mit weitem Ausschnitt, auf dem vorn (in Goldbuchstaben) GLORIOUS steht, dazu sehr kurze, sehr enge Jeansshorts und Rocket-Dog-Schuhe mit der Aufschrift SEXY ARMY. Sie hat Armreifen am Handgelenk, Ringe an fast allen Fingern, baumelnde Plastikohrringe und eine feine Goldkette um den Hals. Ihre Haare sind so was wie lilaschwarz, glänzend und gelockt. Sie hat sie oben zusammengebunden, aber ein paar Strähnen hängen lose runter. Dazu hat Mel echt schöne olivfarbene Haut und ihre Zähne sind ziemlich klein und sehr, sehr weiß.
»Was ist?«, sagt sie und zieht die Augenbrauen hoch. »Was guckst du?«
Ich schüttel bloß den Kopf und senk den Blick.
Taylor schnieft. »Und was macht dein Alter?«
Ich seh sie an.
»Was ist?«
»Dein Dad … was arbeitet er? Woher hat er die ganze Kohle, um all das für dich zu kaufen?«
Ich schau zu Mel. Sie sitzt noch immer da, raucht ihre Zigarette und sieht mich mit ihrem Mandelaugenblick an. Ich dreh mich wieder zu Taylor um. »Mein Dad ist nicht mehr da«, sag ich zu ihr.
»Was soll das heißen?«, fragt sie. »Deine Eltern haben sich getrennt?«
»Nein … mein Dad ist einfach … er ist verschwunden.«
»Verschwunden?«
»Ja …«
Ich will darüber wirklich nicht reden. Es ist meine Sache, Mums Sache … unsere Sache. Sie geht niemand andern was an. Wir reden ja noch nicht mal selbst drüber.
Ist einfach zu schwer.
Zu nah und zu schwer.
»Wie meinst du das – verschwunden?«, fragt Taylor und beugt sich vor, mit großen Augen und ganz interessiert. »Er ist einfach abgehauen oder wie?«
»Ja«, sag ich seufzend. »So ungefähr … ich mein, er ist bloß … er ist bloß abends raus und nie mehr zurückgekommen.«
»Wann war das?«
»Vor ein paar Jahren.«
»Und ihr habt nie wieder was von ihm gehört?«
»Nein.«
»Mann, was ’ne Scheiße«, sagt sie und wirft einen Blick zu Mel. »So ein Arschloch, was?«
Mel nickt, während sie mich immer noch anschaut. »Was meinst du, was mit ihm passiert ist, Dawn? Glaubst du, er ist einfach abgehauen oder so? Ich meine, war er, du weißt schon … hatte er was mit ’ner andern oder so?«
Ich zuck mit den Schultern. »Weiß nicht …«
»Was hat deine Mum gemacht? Als er weg war, mein ich … hat sie ihn gesucht?«
»Natürlich. Sie wusste nicht, wo er hin war … sie hat sich zu Tode gesorgt. Sie hat überall nach ihm gesucht, jeden angerufen, den sie kannte … am Ende ist sie sogar zur Polizei.«
»Wieso das?«, fragt Taylor.
Ich starr sie an. »Was glaubst du denn, wieso? Niemand wusste, wo er steckt. Vielleicht hat er ja einen Unfall gehabt oder so. Oder jemand hat ihn …«
»Hat was?«, hakt Taylor nach.
Ich zuck wieder mit den Schultern. »Was weiß ich … vielleicht hatte er Streit mit jemand.«
»Was denn für ’n Streit?«
Langsam werd ich echt sauer. Was soll denn die ganze Fragerei … ich meine, verdammt, wieso fragen die mich so nach meinem Dad aus? Was treiben die mit mir?
(i think you’re crawling up my spine)
Ich seh Mel an
(want you to stay)
und dann Taylor
(don’t want you to stay)
und Taylor sagt: »Hatte er irgendwas vor?«
»Was vor?«
»Ja«, sagt sie grinsend und tippt sich an die Nase. »Du weißt schon … was vor?«
»Was denn vor?«
»Sag du’s mir.«
Ich starr sie an und bin sie endgültig leid, alles an ihr: ihr langes Gesicht, ihre blondie-blonden Haare, ihre dämlichen roten Lippen, ihre zu blauen Wimperklimper-Augen. Auch ihre Stimme geht mir total auf die Nerven. Sie redet wie ein Seevogel mit schwerer Bronchitis – ack ack yackack ack.
»Was haste?«, fragt sie mich jetzt. (Wackacka?) »Haste ’n Problem oder was?« (Ackacka packa ackackack?)
»Ja«, sag ich, während ich sie noch immer anstarr. »Ich hab ein Problem.«
»Ja?«
Wahrscheinlich will ich gerade noch mal »Ja« sagen, aber eh ich die Chance hab, stößt Mel sie leicht mit dem Ellenbogen in die Seite und sagt: »Lass gut sein, Taylor.«
»Ich will doch nur –«, fängt Taylor an.
»Ja, ich weiß«, sagt Mel dazwischen und schneidet ihr das Wort ab.
Taylor wirkt einen Augenblick sauer, aber dann zuckt sie bloß mit den Schultern und wirft Mel die Schachtel Zigaretten zu. Mel fängt sie, nimmt eine raus und zündet sie an.
»Ich muss mal pinkeln«, sagt Taylor zu mir und steht auf. »Wo ist denn bei euch das Klo?«
»Unten, am Ende vom Flur, auf der rechten Seite.«
Sie geht aus dem Zimmer und richtet beim Rausgehen mit dem Daumen den Träger von ihrem BH. Ein paar Sekunden später springen Jesus und Mary vom Bett und rennen ihr nach, die Treppe runter. Ich überleg, ob ich ihr hinterherrufen soll: Mach dir keine Gedanken wegen den Hunden, Taylor, sie verfolgen dich nicht, die müssen nur raus, Gassi. Braucht dich gar nicht zu kümmern, die gehen einfach durch die Hundeklappe in den Garten. Doch bis ich es mir überlegt hab, ist Taylor schon unten und die Hunde kümmern sie wahrscheinlich sowieso einen Dreck.
Und auf einmal bin ich mit Mel allein
(i think you’re crawling up my spine)
und ein paar Sekunden herrscht ein merkwürdig peinliches Schweigen zwischen uns. Es ist so ein Schweigen, das entsteht, wenn man plötzlich mit jemandem allein ist, der einem das Gefühl gibt, idiotisch schüchtern zu sein. Wir sitzen beide nur da (ich an meinem Schreibtisch, Mel auf dem Bett) und wissen nicht recht, was wir tun sollen (obwohl wahrscheinlich nur ich nicht weiß, was ich tun soll). Und das Schweigen wird immer größer …
Bis Mel schließlich an ihrer Zigarette zieht und sagt: »Mach dir keine Gedanken wegen Taylor. Sie meint’s nicht so. Die muss einfach nur …«
»Einfach nur was?«
Mel lächelt. »Raushängen lassen, dass sie Taylor ist.«
Ich bin mir nicht ganz sicher, was das heißt, aber ich lächle und nicke, als ob ich es wüsste.
Mel lehnt sich zurück und reibt sich den Nacken. »Und«, fragt sie, »das Projekt, was du machst, das mit den Bibeln … worum geht’s da?«
Projekt?, denk ich einen Moment. Was denn für ein Projekt? Aber dann kapier ich, was sie meint, und muss mir schnell eine Antwort überlegen. »Ach so, das Projekt. Ja … also, das ist eigentlich nichts, geht nur um Gott, weißt du … Altes Testament und so. Hab noch gar nicht richtig mit angefangen.«
Mel nickt. »Und was denkst du darüber? Ich mein, über das Ganze mit der Religion … über Gott, über Jesus, über Priester und Pfaffen und so?«
Ich seh sie an und begreif plötzlich, dass ich in meinem Zimmer sitz und mit Mel Monroe über Gott rede.
Frage: Wie unwahrscheinlich ist das?
Antwort: Sehr.
»Mein Bruder …«, sagt Mel sehr leise.
»Was?«
Sie schüttelt den Kopf. »Nichts.«
»Ich wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast.«
»Hab ich auch nicht.«
Ich seh sie an und kapier nicht, was da gerade läuft. Sie sagt eine Weile nichts, sondern sitzt nur da, starrt blind auf den Boden, als ob sie völlig allein wär … und dann, ganz plötzlich, zittert sie irgendwie – so ein kurzes, vorübergehendes Zittern am ganzen Körper – und das scheint sie wieder rauszubringen (aus was auch immer). Sie nimmt einen tiefen Zug von der Zigarette und stößt dann seufzend den Rauch wieder aus.
»Egal«, sagt sie und ihre Stimme klingt plötzlich kalt. »Kannst du jetzt mal die Musik abstellen? Die geht mir langsam echt auf die Titten.«
Ich zuck mit den Schultern – »Okay« – und klick auf den STOP-Button.
Im Zimmer wird es still.
Keine Musik, kein Soundtrack.
Ich hör das schwache Geräusch des Fernsehers unten.
Stimmen.
Eine Tür, die aufgeht, zugeht.
Ich werf einen Blick auf die Uhr: 23.42.
Taylor und Mel sind seit über einer Stunde hier.
»Geht’s deiner Mum gut?«, fragt Mel.
»Ja … wieso soll’s ihr nicht gut gehen?«
Mel zuckt mit den Schultern. »Hab nur gefragt.«
»Na dann …«
Und das scheint im Moment das Ende unserer Unterhaltung zu sein. Mel sitzt bloß mit gekreuzten Beinen da, raucht ihre Zigarette und wackelt mit dem einen Fuß hin und her. Und ich sitz in der unvertrauten Stille und stell mir Fragen.
Wieso braucht Taylor so lange?
Was hat Mel mit ihrem Bruder gemeint?
Und wie kommt es, dass sie plötzlich von fast ganz nett zu eindeutig nicht nett springt?
Und was hat Taylor wegen Dad gemeint? (So ein Arschloch, was? Hatte er irgendwas vor?)
(Ich heiß Dawn.
Ich bin dreizehn Jahre alt.
Ich heiß Dawn.
Ich will nicht drüber nachdenken.)
»Bist du okay?«
Ich öffne die Augen und seh Mel an. »Was?«
»Du warst gerade einen Moment lang so komisch …«
»Komisch?«
»Ich dachte, du wärst eingeschlafen.«
»Und was ist daran komisch?«
Sie schaut mich schräg an. »Nichts, ich hab nur gedacht …« Sie unterbricht sich, weil Taylor zurück in mein Zimmer stolziert kommt.
»Alles okay?«, fragt sie.
Mel nickt.
Jesus und Mary watscheln rein und springen aufs Bett.
Taylor grinst mich an. »Guckt deine Mum immer Horrorfilme im Spätprogramm? Ich mein, die sitzt da unten und guckt Creepshow 2, Mann.«
»Na und?«, sag ich.
Taylor zuckt mit den Schultern und schaut rüber zu Mel. »Bist du so weit?«
Mel nickt wieder und steht auf.
Taylor dreht sich noch mal zu mir um. »Dann bis die Tage, okay?«
»Ja«, antworte ich. (Obwohl mir nicht ganz klar ist, was sie meint. Meint sie wirklich, sie wollen mich demnächst wieder treffen, oder sagt sie bloß Tschüss?)
Als Mel meinen Hunden zum Abschied den Kopf krault, steh ich vom Schreibtisch auf und geh zur Tür. Taylor nimmt die Flasche Wodka und steckt sie zurück in die Tüte – klink – und Mel sieht sich kurz im Zimmer um und checkt, ob sie auch nichts vergessen hat. Dann schlendern die beiden hinaus.
Ich geh ihnen hinterher.
Die Treppe runter.
Den Flur lang.
Die Tür zum Wohnzimmer ist zu, aber Taylor ruft trotzdem: »Tschüss, Mrs B.«, als wir vorbeigehen. Dann sind wir am Eingang und ich denk mir, sei lieber nett und höflich und öffne ihnen die Tür, aber Taylor drückt schon die Klinke und tut es selbst (als ob sie das schon Millionen Mal gemacht hätte).
Kalter Regendunst kriecht herein und schimmert silbern und orange im von der Straßenbeleuchtung erhellten Dunkel. Irgendwo ein Stück die Straße runter hör ich ein Auto starten und wegfahren.
»Bis dann«, sagt Taylor und tritt hinaus in die Nacht.
Mel sagt nichts, sondern sieht mich nur mit einem merkwürdigen kleinen Lächeln an.
Und dann sind sie weg, klackern eng aneinandergeschmiegt über den regennassen Gehweg und ihre Stimmen verlieren sich in der Nacht.
(walk away
you empty head)
Mum ist ziemlich fertig, als ich ins Wohnzimmer komm. Ihre Augen sind halb geschlossen, der Kopf ist auf die Brust gesunken und die Zigarette in ihrer Hand ist bis auf den Filter runtergebrannt. Als ich ihr den Ascheschlauch aus der Hand nehm und in den Aschenbecher tu, hebt sie den Kopf, versucht ihre Augen auf mich zu richten und lächelt mich mit einem schwankenden Blick an.
»Alles okay?«, frag ich sie und setz mich auf die Lehne ihres Sessels.
Sie nickt.
Ich schau auf den Fernseher. Creepshow 2 muss wohl vorbei sein oder vielleicht hat Mum auch einfach genug gehabt, denn jetzt läuft so eine Serie mit lauter Polizei-Autojagden. Der Ton ist abgestellt. Es läuft gerade so eine Verfolgungsjagd – mit Nachtsichtkamera aufgenommen, aus einem Hubschrauber gefilmt, zwei weiße Kleckse, die durch ein unscharfes Grau jagen.
»Hat Taylor mit dir gesprochen, als sie unten war?«, frag ich Mum.
»Hmm …?«, murmelt sie und starrt auf den Bildschirm.
»Taylor … das blonde Mädchen. Ist sie hier reingekommen und hat mit dir gesprochen?«
»Taylor?«
»Ja. Das blonde Mädchen.«
Mum nickt (und dann, fast im selben Moment, schüttelt sie den Kopf). »Ja, nein … nein, viel hat sie nicht gesagt. Nur Hallo, du weißt schon … scheint ganz in Ordnung. Meinte, der Fernseher gefällt ihr.«
»Der Fernseher?«
»Ja, hübsches Teil … das hat sie gesagt. Hübsches Teil.«
»Klar …« Ich bin einen Augenblick still, betrachte abwesend eine weitere Verfolgungsjagd auf dem Bildschirm (diesmal aus einem dahinjagenden Polizeiwagen gefilmt), dann dreh ich mich wieder zu Mum um und hak noch mal nach: »Aber sie hat dich nichts über Dad gefragt, oder?«
Mum erstarrt. »Was ist mit ihm?«
»Nichts … nur weil Taylor echt neugierig war, das ist alles. Hat lauter Fragen über Dad gestellt und so. Ich wollt bloß sicher sein, dass sie dich nicht belästigt hat.«
Ein bisschen mühsam setzt sich Mum gerade und sieht mich an. »Was denn für Fragen?«
Ich zuck mit den Schultern. »Fragen eben, du weißt schon … was er macht zum Beispiel, so was in der Art.«
»Was er macht?«
»Kein Grund zur Aufregung, Mum … ist einfach was, was Leute eben so fragen. Du kennst das doch – mein Dad arbeitet bei dem-und-dem und wo arbeitet dein Dad?«
Mum runzelt die Stirn. »Wer ist denn dem-und-dem?«
»Niemand. Das ist … ich versuch dir nur zu erklären, was ich meine.« Und ich leg meine Hand auf ihre Schulter und lächel sie an. »Alles in Ordnung, Mum. Ehrlich … spielt keine Rolle. Vergiss es ganz einfach.«
Sie blinzelt mich an, müht sich, mich im Blick zu behalten, und versucht zu lächeln, aber sie ist zu betrunken, zu weit weg, zu verwirrt und traurig. Ich beug mich zu ihr runter und küss sie auf den Kopf. Ihre Haare riechen nach Kirschen und Rauch.
»Komm schon«, sag ich. »Lass uns ins Bett gehen.«