Es ist jetzt halb sechs. Und wenn Mel mit Lee Harding recht hatte, heißt das, mir bleiben nur noch zwei Stunden, bevor ein ausgesprochen unangenehmer Mann gegen die Haustür hämmert.
Hundertzwanzig Minuten.
Das ist nicht gerade viel Zeit.
Und ich weiß, dass ich sie nicht vergeuden sollte, indem ich hier auf dem Bett lieg, immer noch im Bademantel, die Augen geschlossen, die Hunde (auf dem Rücken liegend) neben mir, den iPod voll aufgedreht und meinen Kopf voll Musik und Worten und Erinnerungen und Küssen und Hymnen und toten Brüdern und Höhlen und Pfarrern und Vätern und Müttern und Töchtern …
Nein, ich sollte an all diese Dinge nicht denken.
Aber ich tu’s.
Frage: Wieso?
Antwort: Weil ich mir schon alles, was es über Lee Harding zu überlegen gibt, überlegt hab, aber mehr als eine Liste von lauter Unmöglichkeiten ist dabei nicht rausgekommen:
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Ich kann nicht die Polizei rufen, weil die natürlich wissen will, wieso Lee Harding vorbeikommt, und von dem Geld kann ich nichts erzählen, weil es doch Drogengeld ist und Dad es gestohlen hat.
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Ich kann mich nicht mit Dad in Verbindung setzen, weil ich gar nicht weiß, wo er steckt und ob er überhaupt noch lebt. Und selbst wenn ich es könnte …
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Ich kann das gar nicht zu Ende denken.
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Ich kann Mum nicht anrufen, weil sie kein Handy hat.
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Ich kann nicht einfach aus dem Haus gehen und mich verstecken, bis Lee Harding wieder weg ist, weil: (a) er dann irgendwann wieder vor der Tür steht und (b) Mum bald nach Hause kommt. (Eigentlich müsste sie schon bald wieder da sein, aber es würde mich nicht überraschen, wenn sie sich verspätet. Ich nehm an, sie geht auf dem Heimweg noch für ein, zwei Drinks in einen Pub – oder vielleicht auch drei, vier. Egal, demnächst kommt sie zurück und ich kann sie doch nicht mit Lee Harding allein lassen.)
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Ich kann überhaupt nichts machen, stimmt’s? Ich kann nur hier rumliegen, versunken in meiner Musik und meinen Erinnerungen, und warten, dass Mum nach Hause kommt. Und hoffen, dass sie nicht allzu betrunken ist. Und dann …? Was passiert dann? Keine Ahnung. Wahrscheinlich werden wir reden. Ich werd Mum sagen, was Mel mir erzählt hat. Und zusammen werden wir versuchen, irgendeine Lösung zu finden.
Vielleicht werden wir Lee Harding das Geld geben.
Oder auch nicht.
Vielleicht werden wir ihn anlügen.
Oder vielleicht auch nicht.
Vielleicht werden wir beide viel zu viel Angst haben, um irgendwas zu tun.
Und er schreit uns bloß an.
Oder schlägt uns zusammen.
Oder tut noch was Schlimmeres.
Keine Ahnung.
Das Einzige, was ich im Moment tun kann, ist hier liegen, horchen und hoffen, dass nichts passiert.