KAPITEL 4

 

Lavisser zögerte. »Würden Pistolenschüsse auf der Fregatte zu hören sein?«, fragte er.

»Vermutlich«, sagte Sharpe. »Geräusche tragen über Wasser. Warum?«

»Ich habe die Sorge, dass die Pistole nass geworden ist und nicht funktioniert. Ich wollte das überprüfen, aber ich möchte nicht die Cleopatra alarmieren. Man könnte dort denken, dass wir Probleme haben.«

»Die Pistole ist nicht nass geworden«, sagte Sharpe. »Das Wasser reicht gerade bis zu unseren Knöcheln.«

»Vermutlich haben Sie recht.« Lavisser steckte die Pistole weg. »Ich halte es für das Beste, wenn Sie hier warten, Richard. Wenn Samuels uns an der richtigen Stelle abgesetzt hat, dann ist Herfölge höchstens eine Stunde Fußweg entfernt. Ich werde Sie im Morgengrauen wiedersehen, und mit etwas Glück bringe ich einen Wagen mit Pferd, und wir können das verdammte Gold wegtransportieren.« Er kletterte eine Düne hinauf. »Sie bleiben bei Mister Sharpe, Barker?«

»Das werde ich, Sir«, erwiderte Barker.

»Sie wissen, was zu tun ist«, sagte Lavisser heiter und wandte sich ab.

»Haben Sie den Schlüssel zur Truhe?«, rief Sharpe dem Gardisten nach.

Lavisser wandte sich halb um. Auf der Düne war er nur als Schatten auszumachen. »Gewiss brauchen Sie den nicht, Richard, oder?«

»Ich möchte die Pistolen aus der Truhe herausnehmen.«

»Wenn es sein muss, Barker hat den Schlüssel. Ich sehe Sie in zwei oder drei Stunden.« Lavisser winkte und verschwand auf der anderen Seite der Düne.

Sharpe blickte zu Barkers dunklem Schatten. »Der Schlüssel?«

»Ich suche danach.« Barkers Antwort klang mürrisch.

Sharpe schlenderte wartend die Düne hinauf. Es war kalt für einen Sommer, die Kälte kroch vermutlich von der kühlen See heran. Von der Düne aus konnte er die Fregatte als dunkle Silhouette sehen, die sich vom östlichen Himmel abhob, während sie vom Binnenland aus wie ein ferner Lichtfleck wirkte. Captain Samuels hatte gesagt, dass bei diesem Wetter Nebel wahrscheinlich sei, und der verschleierte Lichtfleck ließ den Eindruck entstehen, dass er sich über dem flachen Ackerland bildete. Der Boden schien sich zu wiegen, als Sharpe sich daran gewöhnte, wieder an Land zu sein. Er konnte Heu, Salz und Seetang riechen. »Sind Sie schon mal in Dänemark gewesen, Barker?«, rief er zum Strand hinunter.

»Nein«, erwiderte Barker.

»Wo ist der Schlüssel?«, fragte Sharpe.

»Ich nehme an, er hat ihn mir nicht gegeben.«

»Es ist üblich, Offiziere mit ›Sir‹ anzureden.« Sharpe konnte seine Abneigung gegen den Mann nicht verbergen. Barker war offenbar wegen seiner Größe und Gewalttätigkeit angestellt, nicht wegen irgendwelcher Fähigkeiten als Diener. Sharpe kramte in seinem Packen und fand den Dietrich. Dann kehrte er zum Strand zurück und kniete sich neben die Truhe.

»Was machen Sie da, Sir?«, fragte Barker und betonte Letzteres spöttisch.

»Ich nehme mir meine Pistolen«, sagte Sharpe und schloss das Vorhängeschloss auf.

Ein Klatschen ließ ihn herumfahren. Die Barkasse musste die Fregatte erreicht haben, die jetzt ihr Focksegel anholte, und das Geräusch entstand, weil das Segeltuch im Wind schlug, und das Geräusch rettete Sharpe das Leben. Er sah das Schimmern in Barkers Hand, erkannte, dass es ein Messer war, mit dem der Hüne zustoßen wollte, und so warf er sich gedankenschnell zur Seite und kroch dann von der Truhe fort. Er ließ den Dietrich los, schleuderte eine Hand voll Sand in Barkers Augen und zog seinen Säbel. Dann hörte er das Klicken einer Waffe, die gespannt wurde, und wusste, dass Parker eine Pistole unter seiner Jacke verborgen gehabt hatte. Sharpe rannte einfach los, hetzte die Düne hinauf, wo er sich seinen Packen schnappte und dann den sandigen Abhang hinab in die Dunkelheit hinter dem Strand rannte.

Er hatte kaum Zeit zum Denken gehabt, seit das Klatschen des Segels wie eine Warnung für ihn gewesen war. Er hatte nur reagiert, doch jetzt duckte er sich in den Sand und beobachtete die Kuppe der Düne, rechnete damit, dass Barkers Schatten dort auftauchen würde. Mein Gott, dachte er, ich bin reingelegt worden! Er hätte Lavissers Behauptung, dass er Barker den Schlüssel für die Truhe gegeben hatte, nicht glauben sollen. Niemand würde ein Vermögen in Gold einem Diener wie Barker anvertrauen.

Lord Pumphrey hatte also recht gehabt, als er gesagt hatte, dass etwas seltsam an dieser ganzen Mission sei, aber in seinen wildesten Fantasien hatte Sharpe nicht an so etwas Ungeheuerliches gedacht. Lavisser wollte seinen Tod. Was sonst? Jetzt war nicht die Zeit, darüber zu spekulieren, denn Barker war auf der Kuppe der Düne aufgetaucht und richtete die Pistole in die Schatten. Er wartete darauf, dass Sharpe sich bewegte. Der Nebel wurde dichter, als der südliche Sommerwind über die kalte See strich. Sharpe blieb reglos im Sand liegen. Im Binnenland schlug eine Glocke viermal.

Barker bewegte sich ein paar Schritte nordwärts, und Sharpe erhob sich und rannte südwärts. Barker hörte ihn, und genau das wollte Sharpe, denn er hoffte, Barker würde trotz des zunehmenden Nebels einen Weitschuss versuchen. Wenn die Waffe entladen war, würde es eine Weile dauern, neu zu laden, und Sharpe würde bei seinem Gegner sein, wie ein Terrier, der eine Ratte angreift. Aber Barker war kein Dummkopf. Er hielt sein Feuer und folgte stattdessen Sharpe in der Hoffnung, nahe genug an ihn heranzukommen, um nicht das Risiko einzugehen, danebenzuschießen.

Sharpe warf sich in den tiefen Schatten zwischen zwei flachen Dünen zu Boden. Der Nebel hatte sich vor die erste Helligkeit der Morgendämmerung geschoben und dämpfte die Geräusche von Wind und Wellen. Barker hatte ihn wieder aus den Augen verloren, doch er ahnte, wo Sharpe war. Sharpe sah ihn als Silhouette vor dem Horizont. Der Mann war kein Soldat, sonst hätte er tieferen Grund aufgesucht, denn bei Dunkelheit war es unmöglich, in Vertiefungen etwas zu erkennen. Man konnte aufwärts gegen den Himmel etwas sehen, aber nicht hinab.

Sharpe beobachtete die geduckte Gestalt, die sich vor dem Himmel abhob. Dann tastete er durch den Sand und fand ein Stückchen Holz und zwei kleine Steine, die er nacheinander südwärts warf. Sie verursachten Geräusche, als sie aufprallten, und Barker, der sie hörte, bewegte sich lauernd in diese Richtung.

Sharpe kroch nordwärts zurück. Er tastete vor sich und entdeckte zwei weitere Holzstückchen, die er in die neblige Dunkelheit warf, um Barker weiter nach Süden zu locken, und erst, als von dem Hünen nichts mehr zu sehen war, erhob sich Sharpe, überquerte wieder die Dünen und schlich zum Strand. Er musste den Dietrich finden, doch der war im zertrampelten Sand rings um die Truhe verschwunden. Sharpe suchte schnell, ließ Sand durch seine Finger rieseln, doch seine Suche blieb vergebens.

Plötzlich hörte er Barker zurückkehren. Der Diener hatte seine Jagd aufgegeben und kam zurück, um das Gold zu bewachen, sodass Sharpe die Waffen in der Truhe aufgab und wieder über die Dünen flüchtete.

Er hetzte ins Binnenland, bis er ein feuchtes Gemüsefeld erreichte, neben dem ein Wassergraben verlief. Er ging jetzt nordwärts, folgte dem Graben, der halb mit Sand verschlammt war. Ein Vogel flog von seinem Nest auf und erschreckte ihn, und dann sah er, dass er an einen Feldweg gelangt war, der tief von Wagenrädern zerfurcht war und offenbar ins Binnenland führte. Als er ihm folgen wollte, hörte er Hufschlag, und so kroch er zurück zu dem Graben und legte sich an dessen Rand ins feuchte Gras.

Der Hufschlag klang wie der von einem ganzen Kavallerietrupp, aber Sharpe konnte im Nebel nichts erkennen. Er blieb reglos liegen, und der Hut beschattete sein Gesicht vor dem ersten Licht des Morgens. Dann sah er einen Schatten im Nebel, einen weiteren, und plötzlich schälte sich ein halbes Dutzend Reiter aus dem Nebel. Alle trugen rote Uniformröcke mit blassblauem Kragen und Ärmelaufschlägen. Ihre Hosen waren dunkelblau mit weißer Paspelierung, und die Hüte waren schwarze Zweispitze mit weißen Federn. Ihre langen Säbel hingen an gelben ledernen Bandeliers und ließen den Schluss zu, dass sie Dragoner waren.

Ein zweiter Trupp erschien, und alle ritten langsam wegen des Nebels, aus dem sich ein schäbiger Karren schälte. Er wurde von einem Pony gezogen und war mit den Resten von Seetang behangen. Sharpe nahm an, dass der Karren normalerweise benutzt wurde, um Tang vom Strand zu holen, der als Dünger diente, und jetzt sollte damit das Gold abgeholt werden.

Die Reiter und der Karren verschwanden auf dem Strand. Sharpe schlich über den Weg und fand Deckung in einem anderen Graben. Er hörte gedämpfte Stimmen und glaubte Wut darin zu erkennen. Aber wer war wütend und warum? Hatten die Dragoner Lavisser gefangen genommen oder waren sie von ihm geschickt worden?

Sharpe hob den Kopf und spähte durch den Nebel, doch er konnte nichts erkennen. Er schlich landeinwärts und duckte sich, damit man keinen Schatten von ihm im Nebel sah. Was, zum Teufel, sollte er tun? Das Kollern eines Schottersteins veranlasste ihm, sich wieder auf den Boden zu legen.

Die Reiter hatten sich offenbar im Nebel verteilt, um nach ihm zu suchen, aber sie suchten zu weit südlich. Sie riefen einander etwas zu, und es klang jetzt seltsam fröhlich, und Sharpe dachte, dass es sich eher um eine Gruppe Freunde handelte statt einer militärischen Einheit. Sie lachten, als sie ihre Pferde durch das nasse Gemüsefeld trieben, und dann verschwanden sie nach Süden, und Sharpe kroch weiter.

Geh ins Binnenland, dachte er, und finde irgendein Versteck. Versuche dann herauszufinden, was zu tun ist. Vielleicht sollte er einfach warten. Die britische Armee kam vermutlich nach Dänemark. Doch der Gedanke, einem Begrüßungskomitee herablassender Offiziere aus einer Scheune oder einem Graben heraus entgegenzutreten, war mehr, als er ertragen konnte. Sie würden sagen, dass er wieder gescheitert war. Aber was sonst konnte er tun?

Stimmen und Hufschlag näherten sich wieder, und Sharpe warf sich zu Boden. Er musste sich näher am Feldweg aufhalten, als er gedacht hatte, denn er konnte das Quietschen und Holpern des Karrens hören.

Dann hörte er Barkers Stimme.

Barker entschuldigte sich, doch seine Entschuldigung verstummte abrupt, als Lavisser ihn unterbrach.

»Es ist ein Jammer, Barker«, sagte der Gardist, »aber es ist keine Tragödie. Was kann er schon gegen uns ausrichten? Ich habe den Kerl gemocht, aber er ist immer noch eine Belastung und ganz nutzlos. Jämmerlich nutzlos.«

Nutzlos? Sharpe hob den Kopf und sah, dass Lavisser eine dänische Uniform trug. Er musste heim zu seinem Großvater gegangen sein, die Uniform angezogen und sich seinen wartenden Freunden angeschlossen haben, um reich zu werden. Alles in ein, zwei Stunden. Verdammter Kerl, dachte Sharpe. Zum Teufel mit ihm. Sharpe beobachtete, wie der Karren und die Kavalleristen im Nebel verschwanden.

Geh nach Kopenhagen, dachte er. Er suchte in seiner Tasche und fand den Zettel, den Lord Pumphrey ihm in Harwich gegeben hatte. Es war gerade hell genug, um die elegante Handschrift zu erkennen.

»Ole Skovgaard, Ulfedts Plads«, entzifferte er und starrte darauf. War das ein Name? Oder eine Adresse? Dann nahm er an, dass Ole Skovgaard der Name des Mannes und Ulfedts Plads seine Adresse war. Und diese musste in Kopenhagen sein, also musste er schnell dorthin. Nicht nutzlos, sondern nützlich sein.

Er steckte den Zettel wieder in seine Rocktasche, vergewisserte sich, dass Lavisser und die anderen Reiter wirklich außer Sicht waren und erhob sich.

In diesem Augenblick schnappte die Falle zu.

Es war ein alter Trick. Die Kavalleristen hatten einen Reiter zurückgelassen, in der richtigen Annahme, dass sich Sharpe nach ihrem Wegritt sicher fühlen und aus seinem Versteck kommen würde.

Was der Fall war, und der Dragoner, der bei den Dünen wartete, sah den Schützen als dunkle Gestalt in dem Feldweg auftauchen.

Der Dragoner hätte sofort seine Kameraden zurückrufen sollen, doch er wollte den vermissten Engländer selbst gefangen nehmen, und so zog er seinen Säbel und gab seinem Pferd die Sporen. Sharpe hörte den Hufschlag und sah, wie das große Pferd über das schlammige Feld getrieben wurde.

Er verfluchte sich, weil er auf solch eine alte List hereingefallen war, doch zugleich wog er eiskalt seine Chancen ab. Er sah, dass der Reiter Rechtshänder war und er sein Pferd deshalb auf seine eigene rechte Seite zutrieb, um sich dann aus dem Sattel zu beugen und mit dem Säbel zuzuschlagen, und er wusste, dass ihm keine Zeit mehr blieb, seinen eigenen Säbel zu ziehen. Instinktiv wusste er, wie er reagieren musste.

Der Kavallerist schrie etwas, mehr um Sharpe in Furcht zu versetzen als seine Kameraden zu alarmieren, doch er war zu selbstsicher und zu unerfahren. Er glaubte, Sharpe würde zu einer Salzsäule erstarren und sich von seinem Säbel in Stücke schlagen lassen. Er rechnete nicht damit, dass der Mann seinem Pferd den schweren Packen an den Kopf schlagen würde.

Lavisser hatte ihn gewarnt, dass der Engländer gefährlich war, und der Dragoner hatte vorgehabt, ihn mit einer Klinge von den Beinen zu fegen, doch jetzt versuchte er verzweifelt, sich im Sattel seines scheuenden Pferdes zu halten.

Sharpe ließ seinen Packen fallen, bekam den Arm des Dragoners zu fassen und riss ihn vom Pferd. Der Dragoner schrie auf, als er aus dem Sattel stürzte und hart aufprallte. Dann wollte er nochmals schreien, doch er hatte keinen Atem mehr, denn Sharpe warf sich auf ihn.

»Verdammter Narr«, keuchte Sharpe, als er auf dem Bauch des Dragoners landete.

Das Pferd war stehen geblieben und schüttelte den Kopf. An seinem Sattel steckte eine Pistole im Holster.

Sharpe war wütend. Seit Grace gestorben war, wurde er leicht zornig, und er schlug den Mann hart. Der Mann stöhnte, und Blut schoss aus seiner Nase und tropfte in seinen blonden Bart.

Sharpe dachte daran, sich den Säbel des Gegners zu nehmen, doch der lag ein Stück entfernt, und die anderen Dragoner mussten die Schreie ihres Gefährten gehört haben, denn der Ruf eines Mannes hallte weit durch den Nebel.

Lavisser und seine Gefährten kamen zurück!

Sharpe ergriff seinen Packen und rannte zu dem Pferd. Er schob den linken Fuß in den Steigbügel, humpelte unbeholfen, als das Pferd tänzelte, dann schaffte er es, sich in den Sattel zu ziehen und das Pferd anzutreiben. Der Dragoner schaute ihm wütend nach, als er nach Norden preschte.

Sharpe ritt im Bogen zum Strand zurück. Er konnte Hufschlag hören und wusste, dass ihn die anderen Dragoner bald jagen würden. Am Strand lenkte er das Pferd nach Süden und trieb es zum Galopp. Er ritt an der Stelle vorbei, an der er und Lavisser an Land gekommen waren, dann wandte er sich wieder landeinwärts. Er ritt in einem Kreis, hoffte, dass der Richtungswechsel seine Verfolger verwirren würde. Er ritt über die Dünen, ließ das Pferd seinen eigenen Weg über den Graben finden und lenkte es dann auf das Feld.

Er lauschte, konnte aber nichts außer dem Schnauben des Pferdes hören. Sein Gefühl sagte ihm, dass er seine Verfolger abgehängt hatte, aber er bezweifelte, dass Sie die Jagd schon aufgegeben hatten. Sie würden weiterhin nach ihm suchen.

Als die Sonne höher stieg, begann sich der Nebel zu lichten. Das Pferd konnte jetzt verräterisch für ihn sein. Lavisser und seine Kumpane würden in dieser flachen Landschaft nach einem Reiter suchen, und so stieg Sharpe widerwillig aus dem Sattel. Er nahm dem Pferd Zaumzeug und Sattel ab und trieb es dann mit einem Schlag auf die Kruppe davon. Mit etwas Glück würden die Verfolger es nur als grasendes Tier auf der Weide ansehen.

Mit der Pistole konnte Sharpe nichts anfangen. Sie war nicht geladen. Er warf die Pistole in den Graben, wo er den Sattel versteckt hatte, und ging zu Fuß weiter. Er beeilte sich und nutzte die letzten Reste des Nebels für seine Flucht.

Am Vormittag, als die Sonne den Nebel aufgelöst hatte, konnte er seine Verfolger sehen. Sie ritten weit entfernt über die Felder. Er beobachtete sie lange, bis sie schließlich die Suche aufgaben und landeinwärts trabten.

Sharpe wartete noch eine Zeitlang, für den Fall, dass sie wieder einen Mann zurückgelassen hatten. Er bekam Hunger, hatte jedoch nichts zu essen. Der Himmel bewölkte sich, Regen lag in der Luft. Dennoch wartete er, bis er sicher war, dass keiner der Verfolger auf ihn wartete, und marschierte dann über die Felder. Die Dünen ließ er zu seiner Rechten, um sicherzugehen, dass er sich nach Norden wandte. Er passierte weiß angestrichene Bauernhäuser und große Scheunen, überquerte Feldwege und watete durch Wassergräben, und am Nachmittag, gerade als es zu regnen begann, musste er tief landeinwärts gehen, um einem Fischerdorf auszuweichen.

Er durchquerte einen Bach und ein Eichenwäldchen und erreichte den Park eines Herrenhauses mit zwei hohen Türmen. Die Fensterläden waren geschlossen, und ein Dutzend Männer, die wohl gemäht hatten und offenbar vom Regen überrascht worden waren, schützten sich jetzt mit Kapuzen. Sharpe ging am Waldrand entlang, überkletterte eine Mauer und befand sich wieder auf einem Feld, doch der Himmel vor ihm war mit Rauch geschwängert, was auf einen Ort hinwies. Er betete, dass dort Kopenhagen sein musste, doch er spürte, dass er sich immer noch zu weit im Süden befand. Er konnte nur die Entfernung an der Zeit schätzen, in der die Cleopatra an der Küste entlanggesegelt war, und er nahm an, dass Kopenhagen vermutlich zwei oder drei Tage zu Fuß entfernt war.

Die Stadt musste Köge sein. Er roch sie, bevor er sie sah. Da war der vertraute Geruch einer Brauerei und der scharfe Geruch von Räucherfisch, der seinen Magen knurren ließ. Er spielte mit dem Gedanken, in die Stadt zu gehen, um etwas Essbares zu erbetteln oder zu stehlen. Als er jedoch an Köges südlichen Rand gelangte, sah er zwei Männer in dunkler Uniform am Straßenrand stehen. Sie stoppten eine Kutsche. Sharpe sah, dass einer der Uniformierten durch eines der Fenster spähte. Er sah nichts Verdächtiges, sprang vom Trittbrett herab und salutierte kurz. Die suchten nach jemandem, und Sharpe wusste, nach wem. Lavisser hatte ihn zu einem Gejagten gemacht.

Das Hungergefühl wurde stärker, und er wandte sich landeinwärts. Der Regen nahm zu, als der Abend dämmerte. Sharpe wanderte und wanderte. Die Stadt mit ihrem Geruch und ihrer Ansammlung von Lichtern blieb zu seiner Rechten zurück. Er überquerte eine Hauptstraße, folgte einem Weg nach Norden und überquerte weitere Felder. Seine Stiefel waren mit Matsch bedeckt, seine Kleidung war durchnässt, und der Packen schien immer schwerer zu werden. Er wanderte, bis er nicht mehr konnte.

Dann schlief er in einem Waldstück, wo er von heftigen Regen kurz vor der Morgendämmerung geweckt wurde. Sein Magen knurrte, und ihm war kalt. Er erinnerte sich an das Schlafzimmer, das er mit Grace geteilt hatte, den Kamin und die breiten Fenster, die auf einen Balkon hinausblickten. Er wusste, dass es eine Illusion von ihm gewesen war, zu denken, dass diese Idylle für immer bestehen bleiben würde. Er hatte seine indischen Juwelen verkauft und das Geld für ein schönes Heim verwendet, während die Anwälte über das Testament von Graces verstorbenem Mann gestritten hatten. Dann war Grace gestorben, und die gleichen Anwälte hatten sich wie die Geier auf den Besitz gestürzt, den Sharpe gekauft hatte. Das Haus war auf Graces Namen eingetragen worden, es sollte eine Sicherheit für sie sein, wenn er wieder als Soldat ins Ausland musste. Diese liebevolle Fürsorge hatte dazu geführt, dass er alles verloren hatte. Schlimmer noch, er hatte Grace verloren. Grace, dachte er, Grace, wärst du doch noch bei mir! Das Selbstmitleid überwältigte ihn, und er hielt sein Gesicht in den Regen, damit er seine Tränen wegspülen konnte.

Verdammter Narr!, schalt er sich. Sei nützlich. Reiß dich zusammen. Die Frau ist tot, und du kannst ihr nicht helfen, wenn du zusammenbrichst. Steh auf und geh weiter!, befahl er sich. Sei nützlich. Er erhob sich, nahm seinen Packen und ging zum Waldrand.

Dort hellte sich seine Stimmung schlagartig auf. Ein Bauernhof lag nur hundert Meter entfernt, ein langes, weiß angestrichenes Haus, zwei Scheunen, eine Windmühle und eine Molkerei. Zwei Männer trieben Vieh zur Molkerei, während sich ein Dutzend Arbeiter im Hof versammelte. Alle hatten Leinenbeutel dabei, und Sharpe nahm an, dass ihr Essen darin war, vielleicht Brot und Käse.

Er beobachtete vom Waldrand aus. Die meisten der Männer fuhren westwärts mit einem kleinen Fuhrwerk, das mit Spaten und Heugabeln beladen war, aber drei verschwanden in der kleineren der beiden Scheunen. Sharpe wartete mit knurrendem Magen. Die Tore der größeren Scheune standen weit offen. Geh da rein und erkunde, dachte er, vielleicht kannst du sogar einen Weg in die Küche oder Molkerei finden und was zu essen stehlen. Er dachte nicht an das Geld in seinem Packen. Er hätte sich Essen kaufen können, doch sein Gefühl riet ihm, sich nicht zu zeigen.

Die Tiere waren von der Molkerei auf die Weide zurückgetrieben worden, und dann regte sich auf dem Bauernhof eine Weile nichts, bis zwei Kinder, Taschen schwingend, den Weg hinuntergingen. Als sie außer Sicht waren, verließ Sharpe seine Deckung, rannte über die Weide, durchquerte den Graben und sprintete die verbliebenen paar Meter in die große Scheune. Er hatte fast mit Hundegebell oder Protestschreien gerechnet, aber es blieb alles still. Er war unbemerkt geblieben.

In der Scheune sah er einen Heuwagen, hoch beladen mit Heu. Ein Leinenbeutel lag auf dem Wagenbock, als hätte ihn einer der Arbeiter dort abgelegt, und Sharpe nahm ihn an sich und kletterte an der Seite des Wagens hoch. Im Heu wühlte er sich ein Versteck frei, legte seinen Packen und Mantel ab. Dann öffnete er den Beutel und fand darin Brot, Käse, ein großes Stück Schinken, ein Würstchen und eine Steinflasche, die Bier enthielt, wie er feststellte, als er sie entkorkte.

Er aß sich satt, das halbe Brot und den gesamten Käse. Vermutlich konnte er Stunden im Heu auf dem Wagen versteckt bleiben, doch es war wichtiger, nach Kopenhagen zu gelangen und Skovgaard zu finden.

Er wollte gerade vom Wagen klettern, als er ein sonderbares Klappern unter sich hörte. Er erstarrte und hielt den Atem an. Das Klappern war laut, Holz gegen Stein. Das Geräusch verwirrte Sharpe, bis er es schließlich als Schritte erkannte. Holzschuhe, die auf den Bodensteinplatten klapperten. Dann rief ein Mann etwas Wütendes, vermutlich wegen seines gestohlenen Leinenbeutels, ein anderer Mann lachte, und Sharpe hörte die Geräusche von Hufen und das Klirren von Ketten. Ein Gespann wurde vor den Heuwagen geschirrt. Ein Wortwechsel von Männern, und eine Frau sagte etwas, das zu Gelächter führte. Alles schien ewig zu dauern. Sharpe blieb, wo er war, halb begraben unter dem Heu auf dem Wagen.

Dann knallte plötzlich eine Peitsche, und der Wagen ruckte an. Er fuhr aus der Scheune und holperte und knarrte und rasselte, als er auf dem Hof an Schnelligkeit gewann. Ein Mann und eine Frau riefen etwas, das Sharpe als Abschiedsgruß deutete.

Die Wolkendecke riss auf, und Sharpe sah Streifen von Blau am Himmel, während der Wagen über einen Feldweg rumpelte. Er fuhr landeinwärts, und Sharpe war froh, mitgenommen zu werden.

Aber wohin würde er fahren, wenn er erst die Straße erreicht hatte? Er betete, dass sein Ziel nordwärts sein würde. Er duckte sich, als er mehrere Stimmen hörte, dann spähte er durch das Heu und sah eine Gruppe Arbeiter bei einem Wassergraben und einem Feld, auf dem sie offenbar ernteten.

Sharpes Stoßgebet wurde erhört: Der Wagen bog tatsächlich nach Norden ab. Er fuhr durch eine Furt und einen Hang hinauf, und dann gelangte das Gespann auf eine befestigte Straße, die breit und leer war. Tabakrauch drang in Sharpes Nase. Der Fahrer musste eine Pfeife angezündet haben.

Wohin ging die Fahrt? Kopenhagen war wahrscheinlich, denn wie London musste die Stadt Bedarf an Heu haben. Und wenn der Wagen woanders hinfuhr, stimmte jedenfalls die Richtung. Sharpe wühlte sich tiefer ins Heu, legte sich hin und döste ein.

Er erwachte gegen Mittag. Der Heuwagen fuhr immer noch nordwärts durch eine Landschaft mit kleinen Dörfern. Die Straße war jetzt belebt von einigen Fußgängern und Kutschwagen, und ein paar Hundert Meter entfernt folgte ein weiterer Heuwagen. Die Straße führte genau auf einen Rauchflecken am Horizont zu, was Sharpe verriet, dass sich der Wagen einer Stadt näherte. Er nahm an, dass es Kopenhagen war. Er dachte alarmiert, dass Lavisser die Stadt schon am Vortag erreicht haben konnte.

Lavisser!

Wie Sharpe sich an ihm rächen konnte, wusste er noch nicht, aber es würde ihm bestimmt etwas einfallen. Zorn wallte wieder in ihm auf, weil er sich durch die Freundlichkeit des Gardisten auf dem Schiff hatte täuschen lassen. Sharpe hatte an die Sympathie des Mannes geglaubt und so seine eigenen Gefühle offenbart. Und die ganze Zeit hatte Lavisser seinen Tod geplant. Dafür würde der heimtückische Bastard leiden, bei Gott. Sharpe mochte noch nicht wissen, wie er ihn leiden lassen würde, aber er wusste, wo.

In Kopenhagen.

 

Sharpe erreichte die Stadt, als der Abend hereinbrach. Der Wagen holperte durch ein Viertel mit feudalen Häusern in großen Parkanlagen, die an einem breiten Kanal vor der Stadtmauer endeten. Ein erhöhter Fußweg führte über einen schmaleren Graben zu einem der Stadttore. Der Heuwagen hielt zwischen einer Gruppe anderer Wagen und eleganter Kutschen. Stimmen erklangen in der Nähe.

Sharpe nahm an, dass hier Soldaten allen Verkehr überprüften, aber wenn das der Fall war, dann stellten sie dem Kutscher nur einige Fragen. Niemand machte sich die Mühe, an den Seitenwänden des Wagens hochzuklettern, und nach einer Weile schnalzte der Kutscher mit der Zunge, und das Gespann zog den Wagen an und zog ihn durch den langen dunklen Tunnel in das Herz der Stadt.

Sharpe lag im Heu und konnte nur Giebel, Dächer und Türme sehen. Die Sonne stand tief im Westen, und ihre Strahlen fielen auf rote Ziegel und Kupfer mit Grünspan. Der Abendwind blähte einen weißen Vorhang in einem hohen Fenster. Sharpe roch Kaffee. Dann hörte er Orgelspiel aus einer Kirche.

Sharpe zog seinen Mantel an, nahm seinen Packen und wartete, bis der Wagen in eine enge Straße bog. Dann kletterte er über das Wagendeck hinab auf die Pflastersteine der Straße.

Ein Mädchen beobachtete ihn aus einem Hauseingang, als er sich Stroh von der Kleidung abklopfte und sie glatt strich. Eine Frau, ein Kind an der Hand, überquerte die schmale Straße, statt nahe an ihm vorbeizugehen. Sharpe blickte an seinen mit Schlamm bespritzten Hosenbeinen hinab und war nicht überrascht, dass die Frau einen Bogen um ihn machte. Er sah aus wie ein Landstreicher, aber wie ein Landstreicher mit Säbel.

Es war an der Zeit, sich auf die Suche nach Lord Pumphreys Mann zu begeben. Sharpe knöpfte seinen Mantel zu und ging auf eine breitere Straße zu. Es war fast dunkel. Ladenbesitzer ließen die Rollläden herunter und schlossen ihre Türen ab, und gelber Lampenschein fiel aus unzähligen Fenstern. Eine gigantische Holzpfeife hing über einem Tabakgeschäft. Gelächter und das Klirren von Gläsern ertönte aus einem Wirtshaus. Ein Krüppel schwang seine Krücken über das Pflaster. Große Kutschen rollten flott die Straße hinab, wo kleine Jungs die Pferdeäpfel aufsammelten und zu Holzkisten trugen.

Kopenhagen war eine lebhafte Stadt, erinnerte an London, war aber nicht genauso. Viel sauberer, zum Beispiel. Sharpe staunte einen hohen Turm an, der aus den ineinander gewundenen Schwänzen von vier Kupferdrachen zu bestehen schien. Er nahm auch sehr Nützliches wahr. Zum Beispiel, dass jede Straße und Gasse deutlich mit einem Namensschild versehen war. Das war nicht wie in London, wo ein Besucher sich nur durch Raten und Gottes Hilfe zurechtfand.

Ein älterer Mann, bärtig und einen Stapel Bücher auf dem Arm, sah Sharpe die Straßenschilder anstarren, Er sagte etwas auf Dänisch. Sharpe zuckte nur mit den Schultern. »Vous êtes Français?«, fragte der Mann.

»Amerikaner«, antwortete Sharpe. Er hielt es für unklug, zuzugeben, dass er Engländer war, wenn eine britische Flotte und Armee im Begriff war, Dänemark anzugreifen.

»Amerikaner!« Der ältere Mann wirkte erfreut. »Haben Sie sich verirrt?«

»Ja.«

»Sie suchen ein Wirtshaus oder ein Hotel, ja?«

»Ich suche einen Platz namens ...« Wie, zum Teufel, hieß der? »Elfins Platz?«, riet er. »Einen Mann namens Ole Stovegaard?« Er wusste, dass er die Namen durcheinandergebracht hatte, und kramte in den Taschen nach Lord Pumphreys Zettel. »Ulfedts Plads«, las er dann den Namen unbeholfen ab. Zwei andere Passanten waren jetzt stehen geblieben. Es hatte den Anschein, dass die Bürger in Kopenhagen es als ihre Pflicht betrachteten, Hilfe anzubieten, wenn sich jemand verirrt hatte.

»Ah! Ulfedts Plads. Das ist ganz in der Nähe«, sagte der ältere Mann. »Aber in Kopenhagen ist alles ganz in der Nähe. Wir sind weder Paris noch London. Waren Sie mal in diesen beiden Städten?«

»Nein.«

»Washington muss groß sein, ja?«

»Sehr groß«, bestätigte Sharpe, der keine Ahnung davon hatte.

»Tragen alle Männer in Amerika Säbel?«, fragte der Däne, der sich nicht damit zufriedengab, Sharpe den Weg zu beschreiben, sondern ihn begleitete.

»Die meisten von uns«, sagte Sharpe.

»In Dänemark haben wir die Gewohnheit aufgegeben«, sagte der ältere Bürger, »abgesehen von den Soldaten und ein paar Adeligen, die es für ein Privileg halten.« Er kicherte. Dann seufzte er. »Ich befürchte aber, dass wir bald Säbel tragen müssen.«

»So? Warum?«

»Man hat uns gewarnt, dass die Briten uns wieder angreifen. Ich bete, dass es nur ein Gerücht ist, denn ich erinnere mich an das letzte Mal, als ihr Lord Nelson herkam. Vor sechs Jahren! Ich hatte einen Sohn auf der Dannebrog, und er verlor ein Bein.«

»Das tut mir leid«, sagte Sharpe verlegen. Er erinnerte sich vage, dass er von Nelsons Angriff auf Kopenhagen gehört hatte, aber das war geschehen, als er in Indien gewesen war, und die Nachricht war im Regiment nicht auf viel Interesse gestoßen.

»Es stellte sich zum Besten heraus«, fuhr der alte Mann fort. »Edvard ist jetzt Pfarrer, in Randers. Es ist sicherer, Pfarrer zu sein als Marineoffizier. Gibt es Lutheraner in Amerika?«

»O ja«, sagte Sharpe, der keine Ahnung hatte, was ein Lutheraner war.

»Das freut mich zu hören«, sagte der alte Mann. Er hatte Sharpe in eine Gasse geführt, die auf einem kleinen Platz endete. »Dies ist der Ulfedts Plads.« Er wies hin. »Werden sie sich jetzt zurechtfinden?«, fragte er besorgt.

Sharpe versicherte es und dankte dem freundlichen Mann, dann holte er den Zettel hervor und las den Namen im schwindenden Licht, Ole Skovgaard. Eine Seite des Platzes wurde von einer Aquavit-Destillerie eingenommen, die andere von einem hohen Lagerhaus, und dazwischen befanden sich kleine Läden, eine Böttcherei, eine Stellmacherei und ein Messerschmiedegeschäft. Er ging an den Lädchen vorbei, hielt nach Skovgaards Namen Ausschau, und dann sah er ihn in verblassten weißen Lettern hoch auf der großen Lagerhauswand aufgemalt.

Das Lagerhaus hatte eine hohe Toreinfahrt und daneben eine kleinere Tür mit einem polierten Messingklopfer. Die kleinere Tür gehörte offenbar zum Lagerhaus, denn das »S« vom Skovgaard-Schriftzug war auf die Wand gemalt.

Sharpe betätigte den Türklopfer. Er war nervös. Lord Pumphrey hatte ihm klargemacht, dass Skovgaard nur die letzte Rettung war, aber Sharpe wusste nicht, wo er sonst Hilfe bekommen konnte. Er klopfte noch einmal an, hörte, dass ein Fenster hochgeschoben wurde, und trat zurück. Jemand spähte aus dem Fenster.

»Mister Skovgaard?«, rief Sharpe.

»Nein«, sagte der Mann.

»Sind Sie Mister Skovgaard?«, fragte Sharpe erneut.

Es folgte eine Pause. »Sind Sie Engländer?«, fragte der Mann dann misstrauisch.

»Ich muss mit Mister Skovgaard sprechen.«

»Es ist zu spät«, sagte der Mann missbilligend.

Sharpe unterdrückte einen Fluch, »Ist Mister Skovgaard denn da?«

»Warten sie dort, bitte.« Das Fenster wurde geschlossen, dann waren Schritte auf der Treppe im Haus zu hören, und einen Augenblick später wurde die Tür entriegelt und aufgeschlossen. Als sie geöffnet wurde, sah Sharpe einen großen, jungen Mann mit langem, hellbraunem Haar und einem blassen besorgten Gesicht. »Sind Sie Engländer?«, fragte er.

»Sind Sie Ole Skovgaard?«

»O nein! Nein!« Der junge Mann runzelte die Stirn. »Ich bin Aksel Bang, Mister Skovgaards Aufseher. Sagt man das so auf Englisch? Ich wohne jetzt hier. Mister Skovgaard ist nach Vester Fælled gezogen.«

»Wo ist das?«, wollte Sharpe wissen.

»Vester Fælled ist nicht weit. Es ist da, wo sich die Stadt ausbreitet.« Bang blickte stirnrunzelnd auf den Schlamm auf Sharpes Kleidung. »Sind Sie Engländer?«

»Mein Name ist Sharpe. Richard Sharpe.«

Bang ignorierte die Vorstellung. »Mister Skovgaard besteht darauf, dass die Engländer zu ihm gebracht werden. Er hat es uns befohlen, verstehen Sie? Ich hole mir einen Mantel, und dann werde ich Sie nach Vester Fælled bringen. Warten Sie bitte hier.« Er verschwand für einen Augenblick und kehrte dann im Mantel und mit einem breitkrempigen Hut zurück. »Mister Skovgaard hat hier gewohnt«, erklärte er, als die Tür zuzog und sorgfältig abschloss. »Aber er hat ein Haus außerhalb der Stadt gekauft und ging vor einem Monat von hier fort. Das ist noch nicht lange her, und Vester Fxlled ist nicht weit. Es ist dort, wo sich die neuen Häuser befinden. Noch vor fünf Jahren war dort nur eine Wiese, aber jetzt stehen Häuser darauf. Sie sind extra nach Kopenhagen gekommen?«

»Ja

»Mein Englisch ist nicht so gut«, sagte Bang, »aber ich übe. Wissen Sie, wie ich das mache? Indem ich die Bibel auf Englisch lese. Das ist gut, finde ich. Es gibt eine englische Kirche hier, wussten Sie das?«

»Nein.«

»Gibt es eine dänische Kirche in London?«

Sharpe bekannte seine Unwissenheit. Er wurde zunehmend nervös, denn er wusste, dass er wie ein Landstreicher aussah. Sein Mantel war schmutzig und seine Stiefel waren mit Schlamm bedeckt, aber es war sein Säbel, der die meisten missbilligenden Blicke auf sich zog, und so schnallte er die Scheide unter seine linke Achsel, sodass der Mantel sie verbarg. Im nächsten Augenblick wankte ein Mann aus einer Seitengasse und wollte ihn umarmen. Aksel Bang trieb Sharpe weiter. »Dieser Mann hat zu viel Wein getrunken. Ein schlimmer Säufer.«

»Haben Sie nie einen über den Durst getrunken?«

»Ich verabscheue Alkohol. Es ist das Gesöff des Teufels. Ich habe nie einen Tropfen davon angerührt und werde das mit Gottes Hilfe nie tun. Niemals. Wir haben nicht so viele Säufer in Kopenhagen, aber einige schon.« Er sah Sharpe ernst an. »Ich hoffe, Sie sind wiedergeboren in Jesus Christus?«

»Das hoffe ich auch«, murmelte Sharpe und hoffte, dass diese Antwort Bang zufriedenstellen würde. Sharpe war sein Seelenheil im Augenblick ziemlich egal, er war viel besorgter wegen des Stadttors vor ihnen. Er wischte einen Strohhalm von seinem Mantel und richtete den Säbel unter dem Mantel. Das Tor befand sich in dem langen Tunnel, der durch die dicken Mauern führte, und stand weit offen, und dort standen Männer in blauen Uniformen im Licht von zwei großen Laternen, die an dem vorspringenden Dach des Tunnels hingen.

Fahndeten sie nach Sharpe? Es war möglich, und er hoffte, dass sie nur den ankommenden Verkehr überprüften.

»Gott hat die Welt so geliebt, dass Er Seinen einzigen Sohn geschickt hat. Sicherlich kennen Sie diesen Vers in der Heiligen Schrift?«

Der Tunnel war jetzt sehr nahe. Ein Uniformierter mit buschigem Schnurrbart und geschulterter Muskete kam aus dem Wachhaus, blickte zu Bang und Sharpe, dann rieb er einen Feuerstein auf Stahl, um eine Pfeife anzuzünden. Er saugte an der Pfeife und schaute dabei Sharpe hart an. »Wie heißt der Vers auf Dänisch?«, fragte Sharpe Bang.

Bang wiederholte den Vers auf Dänisch. Sharpe versuchte, einen Blickkontakt mit dem schnurrbärtigen Wachmann zu vermeiden. Er hoffte, dass der Klang des Dänischen die Posten ablenken würde. Die Säbelscheide presste er mit seinem linken Ellbogen an den Körper. Er hielt den Kopf gesenkt und tat, als lausche er aufmerksam Bangs inbrünstigen Worten. Ihre Schritte hallten unter dem Torbogen. Sharpe roch den Tabakrauch, als er an dem Wachmann vorbeiging. Er fühlte sich auffällig und befürchtete, angehalten zu werden, doch keiner schien ihn verdächtig zu finden, und plötzlich waren Sharpe und Bang aus dem Tunnel hinaus. Sharpe seufzte vor Erleichterung.

»Wunderschöne Worte«, sagte Bang überschwänglich.

»In der Tat«, pflichtete Sharpe ihm bei, und sein Seufzer ließ es inbrünstig klingen.

Schließlich galten Bangs Gedanken nicht mehr Sharpes Seele. »Haben Sie sich schon mal mit Mister Skovgaard getroffen?«, fragte er.

»Nein.« Sie gingen jetzt auf dem überhöhten Fußweg über den Kanal, und Sharpe fühlte sich endlich sicherer.

»Ich frage, weil es Gerüchte gibt, dass England eine Armee schickt, um unsere Flotte zu übernehmen. Ist da was dran, was meinen Sie?«

»Ich weiß es nicht.«

Bang blickte zu der Säbelscheide, die Sharpe herabgelassen hatte, weil sie jetzt aus der Stadt heraus und in weniger belebten Vororten waren. »Ich dachte, Sie sind vielleicht ein Soldat«, sagte er.

»Ich war einer«, erwiderte Sharpe.

»Die Knöpfe auf Ihrem Mantel, nicht wahr? Und der Säbel. Ich wäre gern Soldat geworden, doch mein Vater glaubte, ich sollte besser Geschäftsmann werden, und Mister Skovgaard ist ein sehr guter Lehrer. Ich habe Glück, denke ich. Er ist ein guter Mann.«

»Und ein reicher?«, fragte Sharpe. Sie hatten die Straße verlassen und gingen über einen Friedhof, und jenseits der niedrigen Friedhofswand konnte Sharpe Herrenhäuser in großen Gärten sehen.

»Er ist wohlhabend, ja«, sagte Bang, »aber in Sachen des Geistes ist er arm. Sein Sohn starb, seine Frau starb, sie ruhen in Frieden, ebenso sind der Ehemann seiner Tochter und ihr Sohn verstorben. Vier Tote in drei Jahren! Jetzt sind nur noch Mister Skovgaard und Astrid übrig geblieben.«

Etwas am Klang von Bangs Stimme veranlasste Sharpe, ihn von der Seite anzublicken. Skovgaard hatte eine Tochter und keinen Sohn, was bedeutete, dass die Tochter erben würde. »Und die Tochter, hat sie noch einmal geheiratet?«, fragte Sharpe.

»Noch nicht«, sagte Bang mit gekünstelter Gleichmütigkeit, entriegelte die Pforte des Friedhoftors und winkte Sharpe hindurch.

Sie gingen durch eine Allee, bis sie zu einem weiß angestrichenen Tor gelangten, hinter dem eines der großen Häuser stand. Es wirkte neu. In der Stadt schlug eine Kirchturmglocke halb neun, und das Geräusch wurde von anderen Kirchenglocken in den Vororten übertönt, als Bang Sharpe über den langen Zufahrtsweg zum Haus führte.

Ein Diener in einem braunen Anzug mit Silberknöpfen öffnete die Tür. Er wirkte nicht überrascht, Aksel Bang zu sehen, doch er runzelte die Stirn beim Anblick von Sharpes schmutziger und ungepflegter Kleidung.

Bang sprach auf Dänisch mit dem Diener, der sich verneigte und ging.

»Warten Sie bitte hier«, sagte Bang zu Sharpe, »ich werde Mister Skovgaard über Ihr Kommen informieren.«

Bang verschwand über einen kurzen Korridor, während Sharpe sich in der getäfelten Halle umblickte. Ein Kristalllüster hing an der Decke, ein orientalischer Teppich bedeckte den Boden. Durch eine der geschlossenen Türen drang Musik von einem Spinett oder Cembalo. Er nahm seinen Hut ab und sah sich in einem goldgerahmten Spiegel, der an der Wand über einem zierlichen Tisch hing, auf dem in einer Schale Visitenkarten lagen. Er schnitt eine Grimasse beim Anblick seines Spiegelbilds, zupfte noch einen Strohhalm von seinem Mantel und versuchte sein Haar glatt zu streichen.

Die Musik hatte aufgehört, und Sharpe, der immer noch in den Spiegel schaute, sah, dass die Tür hinter ihm geöffnet wurde.

Er wandte sich um, und zum ersten Mal seit Graces Tod hatte er das Gefühl, dass sein Herz einen Sprung machte.

Ein Mädchen, ganz in Schwarz gekleidet, stand an der Tür und schaute ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Freude an. Sie war groß, sehr blond und blauäugig. Später, viel später bemerkte Sharpe, dass sie eine breite Stirn, volle Lippen und eine lange gerade Nase hatte und dass sie schnell lachte, doch in diesem Moment starrte er sie nur an, und sie starrte zurück, und der Ausdruck der Freude auf ihrem Gesicht erstarb und ging in eine verwirrte Traurigkeit über. Sie sagte etwas auf Dänisch.

»Entschuldigen Sie, ich verstehe kein Dänisch«, sagte Sharpe.

»Sie sind Engländer?«, fragte sie, und es klang überrascht.

»Ja, Miss.«

Sie schaute ihn sonderbar an und schüttelte dann den Kopf. »Sie sehen so aus wie ...«, sie suchte nach Worten, »... jemand, den ich kannte.« In ihren Augen schimmerten Tränen. »Ich bin Skovgaards Tochter«, stellte sie sich vor. »Astrid.«

»Richard Sharpe, Miss«, sagte er. »Sie sprechen gut Englisch.«

»Meine Mutter war Engländerin.« Sie blickte in den Korridor. »Sie sind hier, um mit meinem Vater zu sprechen?«

»Ich hoffe es.«

»Dann tut es mir leid, dass ich Sie gestört habe«, sagte sie.

»Haben Sie die Musik gespielt?«, fragte Sharpe.

»Ich bin nicht gut darin.« Sie schenkte ihm ein schnelles und verlegenes Lächeln. »Ich muss noch viel üben.« Sie bedachte ihn mit einem letzten verwunderten Blick, dann kehrte sie in das Zimmer zurück. Sie ließ die Tür einen Spalt offen, und kurz darauf waren wieder ein paar Töne zu hören.

Zwei Männer holten Sharpe ab. Wie der Diener, der die Tür geöffnet hatte, waren beide in Braun gekleidet, aber diese Männer waren viel jünger. Sie wirkten kräftig und hart. Einer ruckte mit dem Kopf, und Sharpe folgte ihm gehorsam den kurzen Gang hinab. Die Tür am Ende quietschte alarmierend. Sie öffnete sich in einen eleganten Raum, wo Aksel Bang neben einem schmächtigen Mann stand, der mit gesenktem Kopf an einem Schreibtisch saß.

Sharpe ließ seinen Packen auf einen Sessel fallen, legte Mantel und Hut darauf und wartete. Die Tür fiel quietschend hinter ihm zu, und dann blieben die beiden jungen Männer, offenbar Wächter, hinter seinem Sessel stehen.

Der Raum war ein Arbeitszimmer, doch groß genug, um darin zu tanzen. Bücherregale, gefüllt mit dicken Lederbänden, nahmen zwei Wände ein, die dritte hatte hohe Glastüren, die sich in einen Garten öffneten, während die vierte mit hellem Holz getäfelt war, das einen Marmorkamin umgab, über dem das Porträt eines traurig wirkenden Mannes in einem schwarzen Predigergewand hing.

Dann legte der Mann hinter dem Schreibtisch seine Schreibfeder aus der Hand, nahm seine Brille ab und schaute zu Sharpe auf. Er blinzelte sichtlich erstaunt, als er das Gesicht seines Besuchers sah, ließ sich jedoch nicht anmerken, was es war, das ihn so überrascht hatte.

»Ich bin Ole Skovgaard«, sagte er mit rauer Stimme, »und Aksel hat Ihren Namen vergessen.«

»Lieutenant Richard Sharpe, Sir.«

»Ein Engländer«, sagte Skovgaard missbilligend. »Ein Engländer«, wiederholte er, »doch er sieht fast wie mein armer Schwiegersohn aus, er ruhe in Frieden. Hast du Nils mal gesehen, Aksel?«

»Leider kam ich nicht in den Genuss dieses Privilegs«, sagte Bang, sichtlich erfreut, dass er von seinem Chef angesprochen wurde.

»Er sah genau wie dieser Engländer aus«, sagte Skovgaard. »Die Ähnlichkeit ist - wie heißt das Wort? Außergewöhnlich.« Er schüttelte verwundert den Kopf. Er hatte eingefallene Wangen, und sein Gesicht drückte Strenge und Missbilligung aus. Er wirkte wie fünfzig, obwohl sein blondes Haar noch kein Grau zeigte. »Schreiben Sie Ihren Namen mit einem ›e‹ am Ende?«, fragte er, und als Sharpe das bestätigte, setzte er seine Brille auf und notierte etwas mit kratzender Feder. »Und Sie sind Lieutenant, ja? In der Marine oder der Armee? Und in welchem Regiment?« Sein Englisch war perfekt. Er notierte Sharpes Antworten und blies auf die noch feuchte Tinte. Dann spielte er mit einem Brieföffner aus Elfenbein und musterte Sharpe von oben bis unten. Nach einer Weile zuckte er leicht mit den Schultern und wandte sich an Bang. »Aksel, würdest du in der Halle mit Astrid warten?«

»Selbstverständlich.« Bang sah absurd erfreut aus, als er aus dem Arbeitszimmer eilte.

»Sagen Sie mir, Lieutenant Sharpe, was führt Sie zu mir?«

»Man sagte mir, Sie würden helfen, Sir.«

»Wer sagte das?«

»Lord Humphrey, Sir.«

»Ich habe nie von einem Lord Humphrey gehört«, sagte Skovgaard. Er erhob sich und ging zu einem Beistelltisch. Skovgaard war ganz in Schwarz gekleidet und trug einen Trauerflor an seinem rechten Ärmel. Er war so dünn, dass er an ein wandelndes Skelett erinnerte. Er nahm eine Pfeife, stopfte sie mit Tabak aus einer Dose, auf der sich ein gemalter Drache wand, und ging dann mit einer Zunderbüchse zu seinem Schreibtisch zurück. Er zündete den Tabak an und wartete, bis er gleichmäßig brannte. »Warum könnte dieser Lord Pumphrey glauben, dass ich Ihnen helfen würde?«

»Er sagte, Sie wären ein Freund Britanniens, Sir.«

»So? Das sagte er?« Skovgaard saugte an der Pfeife. Der Rauch kräuselte zur Decke. »Ich bin ein Händler, Lieutenant Sharpe«, sagte er und betonte den Dienstrang so, dass es beleidigend klang. »Ich handele mit Zucker, Tabak, Jute, Kaffee und Indigo. All diese Dinge, Lieutenant Sharpe, müssen in Schiffen hertransportiert werden. Da könnte man meinen, dass ich der Royal Navy wohlgesinnt bin, denn es hilft unser eigenen Marine, die Seerouten zu schützen. Macht mich das zu einem Freund von Britannien?«

Sharpe schaute dem Händler in die Augen. Sie waren blass und blickten unfreundlich und unruhig. »So sagte man mir, Sir«, sagte Sharpe.

»Doch Britannien, Lieutenant Sharpe, hat eine Flotte in die Ostsee geschickt. Fregatten, Bombenschiffe, Kanonenboote und über zweihundert Transportschiffe - genug, um zwanzigtausend Mann zu befördern, denke ich. Diese Flotte passierte letzte Nacht das Kap. Was meinen Sie, wohin sie fährt?«

»Ich weiß es nicht, Sir«, sagte Sharpe.

»Russland? Ich glaube das nicht. Vielleicht zur kleinen schwedischen Garnison bei Stralsund? Aber Frankreich kann Stralsund einnehmen, wann immer es will. Schweden? Warum würde Britannien eine Armee zu seinen Freunden nach Schweden schicken? Ich glaube, diese Flotte kommt hierher, Lieutenant Sharpe. Nach Kopenhagen. Halten Sie das für eine unvernünftige Annahme?«

»Ich weiß nicht, Sir«, sagte Sharpe.

»Sie wissen es nicht.« Skovgaards Stimme klang jetzt ätzend. Er stand wieder auf, diesmal erregt. »Wohin sonst kann eine solche Flotte segeln?« Er ging vor dem leeren Kamin auf und ab. »Am Anfang dieses Monats wurde ein Friedensvertrag zwischen Frankreich und Russland unterzeichnet. Der Zar und Napoleon trafen sich in Tilsit und teilten sich Europa auf. Wussten Sie das?«

»Nein, Sir.«

»Dann werde ich Sie ins Bild setzen, Lieutenant. Frankreich und Russland sind jetzt Freunde, während Preußen isoliert ist. Napoleon herrscht in Europa, Lieutenant, und wir stehen alle in seinem Schatten, doch er hat keine Flotte. Ohne eine Flotte kann er Britannien nicht besiegen, und es ist nur eine Flotte übrig in Europa, welche die Royal Navy herausfordern könnte.«

»Die dänische Flotte«, sagte Sharpe.

»Sie sind doch nicht so unwissend, wie Sie vorgeben, wie?« Skovgaard legte eine Pause ein, um die Pfeife neu anzuzünden. »Da gibt es eine geheime Klausel in dem Vertrag von Tilsit, Lieutenant, mit der Russland Frankreich erlaubt, die dänische Flotte zu übernehmen. Diese Flotte kann Russland nicht verschenken und Frankreich nicht übernehmen, aber solche Kleinigkeiten werden Napoleon nicht stoppen. Er hat seine Armee bis an unsere Grenze auf dem Festland geschickt, in der Hoffnung, dass wir kapitulieren, anstatt zu kämpfen. Aber wir werden nicht kapitulieren, Lieutenant, das werden wir nicht!« Er sprach leidenschaftlich, doch Sharpe hörte die Hoffnungslosigkeit aus seiner Stimme. Wie konnte das kleine Dänemark Frankreich die Stirn bieten? »Also, warum schickt Britannien Schiffe und Männer in die Ostsee?«, fuhr Skovgaard fort.

»Um die Flotte zu übernehmen, Sir«, gab Sharpe zu, und er fragte sich, woher Skovgaard von der geheimen Klausel in dem Vertrag zwischen Frankreich und Russland erfahren hatte. Aber wenn Lord Pumphrey recht hatte, war es nicht Skovgaards einziges Geschäft, Tabak und Jute zu importieren.

»Wir sind neutral!«, protestierte Skovgaard. »Aber wenn Britannien uns angreift, dann wird es uns in die Arme von Frankreich treiben. Ist es das, was Britannien will?«

»Es will die Flotte aus Frankreichs Reichweite, Sir.«

»Das können wir ohne eure Hilfe schaffen«, sagte Skovgaard.

Aber nicht bei einer Invasion Frankreichs und einer Zerschlagung der dänischen Armee, dachte Sharpe. Der darauf folgende Friedensvertrag würde die Kapitulation der dänischen Marine verlangen, und so würde Napoleon seine Kriegsschiffe haben. Aber er sagte nichts davon, denn er nahm an, dass Skovgaard diese Wahrheit ebenso klar war wie ihm.

»Also sagen Sie mir, Lieutenant, weshalb Sie zu mir gekommen sind.« Skovgaard sah Sharpe fragend an.

So erzählte Sharpe seine Geschichte. Er berichtete von Lavisser, von der Goldtruhe, von der Mission zu dem Kronprinzen und von seiner Flucht vom Strand bei Köge.

Skovgaard hörte mit ausdrucksloser Miene zu. Dann wollte er mehr wissen. Wer genau hatte ihn geschickt? Wann hatte Sharpe zum ersten Mal von der Mission erfahren? Was waren seine Qualifikationen? Was war seine Geschichte? Er schien besonders daran interessiert zu sein, dass Sharpe von den Mannschaften zum Offizier aufgestiegen war. Sharpe verstand nicht, warum die Hälfte der Fragen überhaupt gestellt wurde, aber er beantwortete sie, so gut er konnte, wenn er auch die Befragung verabscheute, bei der er sich unbehaglich wie bei einem Verhör fühlte.

Schließlich endeten Skovgaards Fragen. Er legte seine Pfeife ab, nahm ein Blatt Papier aus der Schublade des Schreibtischs und schrieb eine Zeitlang schweigend, dann trocknete er die Tinte mit Sand, faltete das Blatt und versiegelte es mit Wachs. Anschließend sprach er auf Dänisch mit einem der beiden Männer, die hinter Sharpe standen.

Die Tür ging quietschend auf, und Aksel Bang kehrte ins Arbeitszimmer zurück. Skovgaard schrieb eine Adresse über den roten Siegelwachs.

»Aksel ...«, er sprach jetzt auf Englisch, vermutlich, damit Sharpe es verstand, »... ich weiß, es ist spät, aber wärst du so freundlich, diesen Brief abzuliefern?«

Bang nahm den Brief, und als er die Adresse las, malte sich Überraschung auf seinem Gesicht ab. »Natürlich, Sir«, sagte er.

»Du brauchst nicht hierher zurückzukommen«, sagte Skovgaard. »Es sei denn, es gäbe eine Antwort, was ich jedoch nicht erwarte. Ich werde dich am Morgen beim Lagerhaus sehen.«

»Selbstverständlich, Sir«, sagte Bang und verließ das Arbeitszimmer.

Skovgaard kratzte seine erloschene Pfeife aus. »Sagen Sie mir, Lieutenant, warum Sie, ein Armeeoffizier ohne hohen Rang, hier sind. Die britische Regierung beschäftigt Geheimdienstler. Solche Männer sprechen die Sprachen Europas und haben die Fähigkeiten, jede mögliche List anzuwenden. Doch man hat Sie geschickt. Warum?«

»Der Duke of York wollte, dass jemand Captain Lavisser beschützt, Sir.«

Skovgaard runzelte die Stirn. »Captain Lavisser ist ein Soldat, oder nicht? Er ist ebenfalls ein Enkel des Grafen von Vygard. Ich kann mir kaum denken, dass solch ein Mann Ihren Schutz in Dänemark benötigt. Oder irgendwo anders.«

»Es geht um mehr als das, Sir.« Sharpe wusste, dass sein Job schwer zu erklären war. »Lord Pumphrey vertraut Captain Lavisser nicht ganz, Sir.«

»Man vertraut ihm nicht? Und dann haben sie ihn mit dem Gold hergeschickt?« Skovgaard war amüsiert.

»Der Duke of York hat darauf bestanden«, sagte Sharpe lahm.

Skovgaard starrte Sharpe ein paar Sekunden an. »Wenn ich Ihre Position zusammenfasse, Lieutenant, erzählen Sie mir, dass Captain Lavisser unter Vorspiegelung falscher Tatsachen nach Dänemark gekommen ist, oder?«

»Ja, Sir.«

»Sie haben recht, Lieutenant«, sagte Skovgaard, »völlig recht.« Er sprach heftig und mit offensichtlicher Abneigung. »Der Ehrenwerte John Lavisser, Lieutenant, traf gestern in Kopenhagen ein und suchte Seine Majestät, den Kronprinzen, auf. Diese Audienz ist in der heutigen Berlingske Tidende beschrieben. Er nahm die Zeitung von seinem Schreibtisch, entfaltete sie und tippte auf den Artikel. »Die Zeitung sagt, dass Lavisser gekommen ist, um für Dänemark zu kämpfen, weil er es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann, England zu unterstützen. Seine Belohnung, Lieutenant, ist der Posten eines Majors bei den Leichten Dragonern und eine Ernennung als Adjutant von General Ernst Peymann. Lavisser ist ein Patriot, ein Held.« Skovgaard warf die Zeitung auf den Schreibtisch, und seine Stimme verriet neuen, bitteren Ärger. »Und es ist niederträchtig von Ihnen zu sagen, dass er geschickt wurde, um den Kronprinzen zu bestechen! Seine Majestät ist nicht verrückt. Er ist unsere große Hoffnung. Der Kronprinz wird unser Land gegen seine Feinde führen, ob es Briten oder Franzosen sind. Wenn wir den Prinzen verlieren, Lieutenant, dann könnten geringere Männer, furchtsame Männer, ein gefälliges Abkommen mit diesen Feinden treffen, doch der Prinz ist beherzt, und Major Lavisser, weit davon entfernt, Seine Majestät zu bestechen, ist hier, um ihn zu unterstützen.«

»Er hat Gold gebracht, Sir.«

»Das ist kaum ein Verbrechen«, sagte Skovgaard sarkastisch. »Also was, Lieutenant, wünschen Sie von mir?«

»Sir, meine Befehle lauten, Captain Lavisser und das Gold zurück zur britischen Armee zu bringen, wenn der Prinz sich nicht bestechen lässt.«

»Und Sie erwarten meine Hilfe bei diesem Vorhaben?«

»Ja, Sir.«

Skovgaard lehnte sich auf dem Stuhl zurück und starrte Sharpe angewidert an. Seine langen Finger spielten mit dem Brieföffner, dann warf er ihn hin. »Es stimmt, Lieutenant, dass ich bisweilen eine Hilfe für Großbritannien war.« Er schwenkte die Hand, wie um zu sagen, dass diese Hilfe unbedeutend gewesen war, obwohl es in Nordeuropa nur wenige Männer gab, die wertvoller für London waren. Skovgaard war ein dänischer Patriot, doch seine Ehe mit einer Engländerin hatte zu einer Verbindung mit ihrem Heimatland geführt, und jetzt wurde es von dessen Flotte bedroht.

Skovgaard hatte nie vorgehabt, sich in das düstere Geschäft der Spionage verwickeln zu lassen. Zuerst hatte er nur an die britische Botschaft die Nachrichten weitergegeben, die er von den Kapitänen der Ostseehändler, die in sein Lagerhaus kamen, gesammelt hatte. Und im Laufe der Jahre war dieser Nachrichtendienst so angewachsen, dass Skovgaard die Sankt-Georg-Goldstücke an Dutzende von Männern und Frauen im nördlichen Europa verteilt hatte. London schätzte ihn, doch Skovgaard war sich nun nicht mehr sicher, ob er London jetzt, da sich eine britische Flotte Kopenhagen näherte, helfen wollte.

»Dies ist eine Zeit«, sagte er zu Sharpe, »in der sich alle Dänen für ihre Loyalität entscheiden müssen. Das trifft auf mich hinsichtlich Major Lavisser zu, einem Mann, an dessen Integrität ich nicht zweifle. Er ist in Ihrem Militärdienst hoch aufgestiegen, Lieutenant. Er war ein Gardeoffizier, ein Adjutant des Duke of York und Gentleman, der es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann, länger zu unterstützen, was Ihr Land macht. Aber Sie? Was sind Sie, Lieutenant?«

»Ein Soldat, Sir«, sagte Sharpe.

»Welcher Art?« Die Frage klang sarkastisch. »Wie alt sind Sie? Dreißig? Und immer noch ein Second Lieutenant?«

»Es zählt, wo man anfängt«, sagte Sharpe bitter.

»Und wo wird es bei Ihnen enden?« Skovgaard wartete nicht auf eine Antwort. Stattdessen nahm er die Berlingske Tidende. »Die Zeitung, Lieutenant, sagt uns mehr als Fakten über Major Lavissers Ankunft. Gestern Nachmittag, auf Einladung des Kronprinzen, sprach Major Lavisser vor dem Verteidigungsausschuss, und ich finde, Sie sollten seine Worte hören. Er warnte davor, dass Britannien verzweifelt ist und zu den hinterhältlichsten Maßnahmen greifen wird, um Dänemarks Zweifel zu zerstreuen. ›Wenn es um die Sache des Köpfens geht, kann Britannien das genauso gut tun wie Madame Guillotine.‹ Haben Sie zugehört, Lieutenant? Dies waren Major Lavissers Worte. ›Ich habe gehört, ich kann nicht beschwören, dass es wahr ist, dass ein Armeeoffizier, dessen Karriere dem Ende nahe ist, ein Rüpel, der aus den Mannschaften befördert worden ist und wegen eines Skandals zu Hause nach Dänemark geschickt worden ist, um den Kronprinzen zu ermorden. Ich kann so etwas Ungeheuerliches nicht glauben, möchte aber trotzdem jeden loyalen Dänen ermuntern, wachsam zu sein.‹« Skovgaard warf die Zeitung auf den Schreibtisch. »Nun, Lieutenant?«

Sharpe starrte ihn ungläubig an.

»Und was sind Sie, Lieutenant?«, fragte Skovgaard. »Ein Lieutenant, der in den Mannschaften angefangen hat, und Sie wollen mir weismachen, dass England solch einen Mann schickt, um mit einem Prinzen zu verhandeln? Sie?« Er schaute Sharpe voller Abscheu von oben bis unten an.

»Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt!«, protestierte Sharpe ärgerlich.

»Das bezweifle ich«, sagte Skovgaard, »aber es ist leicht herauszufinden. Ich habe Major Lavisser eine Botschaft geschickt und ihn gebeten, am Morgen herzukommen und Ihre Worte zu bestätigen oder zu dementieren.«

»Sie haben Lavisser gebeten, hierherzukommen?«, rief Sharpe. »Dieser Bastard hat versucht, mich zu killen!«

Skovgaard versteifte sich. »Ich missbillige Ihre Vulgärsprache«, sagte er. »Also, Lieutenant, sind Sie bereit, hier zu warten und Major Lavisser gegenüberzutreten?«

»Den Teufel werde ich tun.« Sharpe machte kehrt, um seinen Packen und Mantel holen. »Und zum Teufel mit Ihnen, Skovgaard«, fügte er hinzu.

Die beiden jungen Männer blockierten Sharpe den Weg zur Tür, und Skovgaards Stimme ließ ihn zum Schreibtisch herumfahren. Der Händler hielt jetzt eine langläufige Pistole in der Hand.

»Ich bin nicht bereit, das Leben meines Prinzen aufs Spiel zu setzen, Lieutenant«, sagte Skovgaard. »Entweder bleiben Sie freiwillig hier, oder ich werde Sie mit Gewalt aufhalten, bis Major Lavisser mich beraten kann.«

Sharpe schätzte gerade die Entfernung zum Schreibtisch und die Wahrscheinlichkeit ab, dass die Pistole genau schoss, als einer der beiden Wächter eine Waffe zog. Es war eine große Pistole, mit der man ein Pferd töten konnte, und die Mündung war auf seinen Kopf gerichtet.

Skovgaard sagte etwas auf Dänisch, und während der Mann ihn mit der Pistole bedrohte, nahm der andere Mann ihm den Säbel ab und durchsuchte seine Taschen. Er fand das Gold, das Sharpe an Bord der Cleopatra gestohlen hatte, doch Skovgaard befahl ihm streng, es zurückzustecken. Dann entdeckte der Mann Sharpes kleines Klappmesser und ließ es in einer Schublade von Skovgaards Schreibtisch verschwinden. Dann wurde Sharpe, die Pistolen weiterhin auf ihn gerichtet, in die Halle geschoben. Astrid, Skovgaards Tochter, beobachtete das alles erstaunt von ihrer Türschwelle aus, sagte jedoch nichts.

Sharpe wurde in einen kleinen Raum neben der Halle gestoßen. Die Tür fiel zu, und er hörte, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Das Geräusch erinnerte ihn daran, dass er auf dem Strand bei Köge seinen Dietrich verloren hatte.

Es gab kein Fenster in dem Raum und kein Licht. Er tastete herum und stellte fest, dass er sich in einem kleinen Speisezimmer befand, das mit einem breiten Tisch und sechs Stühlen möbliert war. Es war die Art Raum, in der eine kleine Dinnerparty, gewärmt von einem Feuer im jetzt leeren Kamin, abgehalten werden konnte. Jetzt war der Raum Sharpes Gefängnis.

Er war eingesperrt und fühlte sich wie ein verdammter Narr. Lavisser hatte ihn erwartet, ihm eine Falle gestellt und gesiegt. Der Gardist war jetzt dreiundvierzigtausend Guineas reicher, und Sharpe war gescheitert.

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