Erst um sieben Uhr abends war die Sitzung beendet. Als Conway das Hauptquartier in St. Helier verließ und zu seinem Wagen ging, wirkte sein Gesicht noch hagerer als sonst. Müde schloss er das Auto auf und warf seine Aktentasche auf den Rücksitz.
»Einen Moment bitte, Mr. Conway!«
Hinter ihm stand Detective Inspector Waterhouse. Er drehte sich um. Sie sah wütend aus.
»Ja?«
»Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie beim Bailiff gegen mich interveniert haben?«
Conway war überrascht. Sein Brief hatte also doch etwas bewirkt.
»Ich habe nicht gegen Sie interveniert, sondern für die Unterstützung von Scotland Yard. Das ist ein Unterschied«, sagte er betont sachlich und ließ die Autotür wieder zufallen. »Soweit ich mich erinnere, wollten Sie sich heute Morgen damit abfinden, dass durch den Besuch des amerikanischen Außenministers unsere Ermittlungen ins Stocken geraten.«
Jane Waterhouse sah merkwürdig bleich aus. Er vermutete, dass sie hinter ihrer kühlen Fassade viel empfindsamer war, als sie immer tat. Er hätte sich gewünscht, dass sie ihm das nur ein einziges Mal auf andere Weise gezeigt hätte.
»Dann gratuliere ich Ihnen«, sagte sie mit scharfer Stimme. »Ich habe eben in meinem Büro eine Nachricht vom Bailiff vorgefunden. Er hat die Sache selbst in die Hand genommen. Morgen Vormittag wird der Profiler von Scotland Yard, um den Sie so dringend gebeten haben, bei uns eintreffen. Sie können sich also freuen.«
Erstaunt wollte Conway fragen, ob es nicht auch eine Erleichterung für sie selbst als Chefermittlerin war. Aber in diesem Augenblick kam ihre Sekretärin mit mehreren Akten unter dem Arm über den Parkplatz. Offensichtlich sollte sie die Unterlagen zum Wagen ihrer Chefin tragen.
»Ich komme, Brenda!«, rief Jane Waterhouse ihr über die Autodächer hinweg zu. An Conway gewandt, sagte sie knapp: »Tut mir leid, ich muss zu einem Termin.«
Conway wollte sich nicht so abspeisen lassen. Nicht schon wieder. Schließlich kämpften er und sie doch an derselben Front.
»Meinen Sie nicht, dass es Zeit wäre, einmal in Ruhe über alles zu reden?«, fragte er in friedfertigem Ton. »So können wir unmöglich zusammen weiterarbeiten. Ich jedenfalls nicht.«
Jetzt erst fiel ihm auf, dass er heute schon zum zweiten Mal als Friedensengel unterwegs war. Zuerst bei Emily Bloom, jetzt hier. Wo war bloß sein alter Kampfgeist geblieben?
Jane Waterhouse sah ihn lange an. Ihre grauen Augen tasteten sein Gesicht ab, als ob sie erwartete, dass er jeden Moment gehässig seine Miene verziehen würde. Doch sie sah nur, dass er ebenso erschöpft war wie sie.
»Einverstanden. Passt Ihnen morgen Mittag?«, fragte sie leise.
»Das würde mich freuen«, sagte er.
»Gut.«
Sie griff in die Innentasche ihrer schwarzen Jacke und sagte: »Hier, damit ich es nicht vergesse, die Kopie der Notiz, die der Oberstaatsanwalt mir geschickt hat.« Sie zog ein zusammengefaltetes Blatt hervor und gab es Conway. Dann ging sie mit schnellen Schritten zu ihrem Wagen hinüber, vor dem Brenda Poitou auf sie wartete.
Plötzlich sah Conway ein Foto neben dem Hinterrad seines Autos liegen. Seltsam. Lag es schon länger dort, oder war es Jane Waterhouse aus der Tasche gerutscht, als sie ihm die Kopie gegeben hatte? Er bückte sich und hob es auf. Es war schon älter und abgegriffen. Ein junger Mann war darauf abgebildet. Er sah gut aus mit seinen lockigen Haaren, dem ovalen Gesicht und dem ausgeprägten Kinn. Er saß auf einer Wiese und trug das typische Geschirr der Fallschirmflieger, neben ihm im hohen Gras breitete sich ein Fallschirm aus blauer Seide aus. Wahrscheinlich war er gerade auf dem Boden gelandet …
Conway pustete den Staub von der Fotografie und steckte sie in die Hosentasche.
Er wollte gerade einsteigen, da sah er, dass Brenda Poitou auf ihn zukam. Sie war eine kleine, zierliche Frau, der man kaum zutraute, dass sie schon zum vierten Mal Jersey-Meisterin im Bogenschießen geworden war. Irgendwie passten sie und Jane Waterhouse in ihrer stählernen Art zusammen, fand Conway.
»Muss ihre Chefin schon wieder abends zu Hause arbeiten?«, fragte er. »Ich habe gerade die Akten gesehen …«
Brenda nickte mitfühlend. »Ja. Allein zwei Ordner sind voll mit hochnäsigen Instruktionen vom CIA. Ein echte Zumutung.«
»Wann kommt der Außenminister denn morgen an?«
»Es heißt immer nur, gegen Mittag. Mehr erfährt unsereins ja nicht.«
Wie beiläufig zog Conway das kleine Foto aus der Tasche und hielt es Brenda hin. »Kann es sein, dass Miss Waterhouse das gerade verloren hat?«
Er hatte eigentlich erwartet, dass sie es kommentarlos einstecken würde. Doch sie wurde puterrot, als sie ihm das Foto aus der Hand nahm.
»Äh … Danke«, sagte sie schnell. Und mit einem Stoßseufzer der Erleichterung fuhr sie fort: »Oh Gott, wie gut, dass Sie ihr das nicht selbst gegeben haben!«
»Wieso?«
Sie biss sich auf die Unterlippe, ihr Gesicht war immer noch rot wie Feuer. »Weil … weil es sehr privat ist …«, stotterte sie verlegen.
Plötzlich begriff er, was sie meinte. Er hatte soeben ein streng gehütetes Geheimnis der eisernen Jane Waterhouse entdeckt – ihr Privatleben. »Sagen Sie bloß, Jane Waterhouse hat einen Freund?«
Sie nickte schnell. Es schien ihr sehr peinlich zu sein, dass sie sich verplappert hatte.
»Und das soll keiner wissen?«, fragte Conway weiter.
Brenda begann zu weinen. Er kam sich barbarisch vor, dass er sie so quälte. Doch dass sie ihm erlaubte, so konkret zu fragen, ließ ihn vermuten, dass sie fast erleichtert war, endlich einmal mit jemandem darüber reden zu können.
»Sie müssen mir wirklich versprechen, dass Sie es für sich behalten«, flehte sie ihn an. »Bitte! Ich könnte Miss Waterhouse sonst nie mehr in die Augen schauen!«
»Mein Ehrenwort!«, versprach Conway.
»Also gut«, sagte Brenda. Sie holte tief Luft. »Ja, sie hat einen Freund. Seit elf Jahren. Sein Name ist Kenneth. Er ist … war Fallschirmspringer.«
»Daher also das Foto«, warf Conway ein.
Brenda schüttelte den Kopf und schluchzte. »Nein … Er sieht schon lange nicht mehr so aus wie auf dem Foto. Seit neun Jahren sitzt er im Rollstuhl, gelähmt und mit spastisch verkrümmten Gliedern. Er kann auch nichts mehr sehen und kaum noch etwas hören. Und trotzdem liebt Miss Waterhouse ihn abgöttisch.«
Entsetzt stieß Conway den Atem aus. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
Brenda fuhr fort: »Es ist vor neun Jahren passiert, als er eine Zeit lang in Südafrika war, um andere Fallschirmspringer auszubilden. Kein Sturz, sondern eine Krankheit. Er hatte sich vorher in London eine Grippeimpfung geben lassen, da hatte er den Virus wahrscheinlich schon in sich, sagen die Ärzte. Als man ihn wieder nach Jersey zurückgeflogen hat, war er nur noch ein Schatten. Seitdem lebt er bei ihr. Sie überschüttet ihn mit Liebe, als wenn sie ihn geheiratet hätte. Und sie ist immer für ihn da. Immer. Auch nachts, wenn er diese schrecklichen Anfälle kriegt … Heute muss sie wieder zum Arzt mit ihm …«
Brenda schlug die Hand vor den Mund. Sie zitterte am ganzen Körper.
»Das tut mir leid«, sagte Conway hilflos. »Wenn ich geahnt hätte, dass sie so eine schwere Last tragen muss …«
Brenda nickte stumm und wischte sich mit den Fingern die Tränen ab. Langsam beruhigte sie sich wieder. So standen sie beide einen Augenblick lang schweigend da. Schließlich sagte sie: »Ich muss jetzt wieder ins Büro zurück. Und Sie haben mir was versprochen!«
»Sie können sich darauf verlassen«, versicherte er.
Brenda ging mit gesenktem Kopf zum Eingang zurück.
Conway schämte sich plötzlich dafür, dass er Jane Waterhouse immer mit Vorurteilen begegnet war.
Er hätte wissen müssen, dass es keinen Menschen auf der Welt gab, der unter seinem Herzen nicht wenigstens einen Schmerz und ein Geheimnis trug.
Der Anruf vom Gestüt ging ein, als Sandra Querée und Roger Ellwyn gerade dabei waren, am Computer einen Unfallhergang zu protokollieren. Sandra ging ans Telefon.
Willingham war am Apparat. Ohne Einleitung sagte er: »Ich weiß jetzt, wer es war.«
Sandra verstand.
Sie verzichtete darauf, Ellwyn darüber zu informieren, worum es ging, sondern sagte ihm nur, dass sie noch mal kurz wegfahren musste. Die Aufklärung des Falles Guiton sollte ihr Meisterstück werden, mit dem sie den Chef de Police überraschen wollte.
Willingham erwartete sie schon voller Ungeduld auf dem Parkplatz des Gestüts. Als Sandra ankam, zog er sie beinahe aus dem Auto. Eilig führte er sie durch die große Empfangshalle des Gestüts zu einem kleinen Nebenraum. Es war das ehemalige Büro von Guitons verstorbenem Vater, das jetzt nur noch als Abstellkammer für ausrangierte Möbelstücke fungierte. Auch hier roch es nach Pferd und Mist.
Der Verräter saß zusammengekauert auf der schäbigen Eckbank und kaute an seinen schmutzigen Fingernägeln. Sobald er die Polizistin erblickte, stand er auf. Hinter seinem Rücken, zwischen der niedrigen vergilbten Holzdecke und der Eckbank, hing die verblasste Luftaufnahme der Rennbahn von Windsor an der Wand. Über dem Tisch, vor einem staubbedeckten Fenster, baumelte ein Band mit Fliegenleim, an dem unzählige tote Fliegen klebten.
Die muffige Atmosphäre des Raumes schien den jungen Mann zusätzlich einzuschüchtern. Willingham hatte ihm in strengem Ton befohlen, dass er sich nicht aus dem Zimmer wagen sollte, und er hatte sich daran gehalten.
»So, da sind wir«, sagte Willingham zu Sandra, während er die Tür hinter sich schloss. »Darf ich vorstellen: Josh Nisbet, einer unserer beiden Bereiterlehrlinge – Constable Officer Querée.«
Josh reichte Sandra stumm die Hand. Die Innenfläche war feucht und kalt. Auch sonst stand dem großen, schlaksigen Jungen die Angst ins Gesicht geschrieben. Es war voller Sommersprossen, auf der Stirn hatte er mehrere Pickel.
»Darf ich Josh sagen?«, fragte Sandra lächelnd. Er war erst achtzehn, und sie wollte ihm von Anfang an das Gefühl nehmen, dass man sich vor ihr in Acht nehmen musste, nur weil sie Polizistin war.
Josh nickte.
»Okay«, sagte Sandra, »wenn es dir recht ist, würde ich unser Gespräch auf Band aufnehmen, dann musst du später nicht alles noch mal erzählen. Einverstanden?«
»Kein Problem.«
Alle drei setzten sich. Willingham beobachtete, wie Sandra ein kleines Diktiergerät aus ihrer Handtasche holte, es vor sich auf den Tisch legte und den Aufnahmeknopf drückte. Ein rotes Licht leuchtete auf.
Als Erstes nahm sie Joshs Personalien auf, fragte ihn, wie lange er schon im Gestüt arbeitete – »Seit zehn Monaten, die Lehrstelle war in der Rennzeitung ausgeschrieben« – und wie sein Verhältnis zu Frank Guiton war.
»Eigentlich gut …« sagte Josh kleinlaut. »Deswegen tut mir das ja auch alles so leid …«
Verlegen zog er den Rotz in seiner Nase hoch.
»Was tut dir leid?«
»Dass ich ihn belogen habe.«
Willingham warf Sandra Querée einen triumphierenden Blick zu. Doch sie ließ sich dadurch nicht von ihrer freundlichen Art abbringen, sondern fragte in ruhigem Ton weiter. »Hast du Kontakt gehabt zu den beiden Zeugen, die behauptet haben, dass Mr. Guiton sein Pferd selbst entführt hat?«
»Ja, das hab ich. Wir haben ein paar Mal telefoniert, um alles abzusprechen.«
»Was abzusprechen?«
»Wie die Sache mit der Entführung der Stute ablaufen soll.«
»Und wie sollte sie ablaufen?«, fragte Sandra.
»Es musste alles so aussehen, als ob Mr. Guiton das Pferd irgendwo verstecken wollte, um danach die Versicherungssumme zu kassieren«, antwortete Josh.
»Es war also von Anfang an klar, dass die Polizei das Pferd am nächsten Tag finden sollte, ja? Um Frank Guiton Versicherungsbetrug zu unterstellen. Ist das richtig so?«
»Ja, so war’s.«
»Wer hat denn das Pferd nachts weggebracht, wenn es dein Chef nicht selbst getan hat?«
Josh schwieg. Er blickte zu Willingham, der die Augenbrauen hob wie ein strenger Vater.
»Ich war es«, gab Josh leise zu. »Ich habe die Stalljacke von Mr. Guiton angezogen, seine Mütze aufgesetzt, falls mich doch jemand sieht, und die Stute auf den Anhänger gebracht. Das war morgens gegen drei. Dann habe ich das Pferd zu einer leeren Koppel bei St. Aubin gefahren …«
»… wo man es am nächsten Tag entdeckt hat. Und prompt hat die Polizei Mr. Guiton am Morgen danach festgenommen«, ergänzte Willingham grimmig. »So, wie es gewünscht war.«
Schuldbewusst verzog Josh den Mund und sah zum Fenster hinaus.
Jetzt war es Sandra, die Willingham einen zufriedenen Blick zuwarf. Sie hätte jubeln können. Damit war Frank Guiton endgültig von jedem Verdacht befreit.
»Kannst du uns auch sagen, wer Mr. Guiton am Tor zusammengeschlagen hat, als er aus dem Gefängnis zurückkam?«, fragte Willingham und beugte sich vor.
Sofort hob Josh abwehrend die Hände. »Damit habe ich nichts tun! Das war Mr. Fonteau!«
Willingham lehnte sich wieder zufrieden zurück. »Der Gemüsehändler, sieh mal an!« Er wandte sich an Sandra. »Sie erinnern sich – einer der beiden Zeugen.«
Sandra strich in Gedanken mit den Fingern über das Aufnahmegerät und fragte Josh: »Ich nehme an, Mr. Fonteau wusste von dir, dass dein Chef an dem Morgen entlassen wird? Hab ich recht?«
»Ja. Und ich wusste es nur, weil ich zufällig mithörte, wie Mr. Guitons Haushälterin einen Anruf aus dem Gefängnis erhielt.«
»Wie viel Geld hast du für deine … Gefälligkeiten bekommen? Es war sicher nicht wenig.«
Er murmelte etwas.
»Könntest du bitte lauter sprechen?«
»Siebentausend Pfund.«
»Wer hat dir das Geld gegeben?«
»Jemand, der mit Mr. Guiton zur Schule gegangen ist. Und der unbedingt das Gestüt von der Bank haben wollte.«
»Und diesen Jemand kennst du persönlich?«
»Mein Vater kennt ihn gut. Sie besuchen sich manchmal gegenseitig mit dem Boot.«
»Wie heißt er?«
Josh schwieg. Er schien mit sich zu kämpfen, ob er den Namen wirklich preisgeben sollte.
Sandras Stimme wurde schärfer. »Wer ist es, Josh?«
»Er ist Fischer und heißt Tony Kinross.«
Zwanzig Minuten später raste Sandra Querée über die Uferstraße zurück nach St. Aubin, neben sich in der Handtasche das Tonbandprotokoll mit dem Geständnis von Josh Nisbet. Sie sah auf die kleine Digitaluhr unterhalb der Geschwindigkeitsanzeige. Harold Conway müsste jetzt eigentlich zurück sein von der Sitzung im Polizeihauptquartier. Sie brauchte sein Einverständnis, um die Festnahme des Fischers in die Wege zu leiten. Die Verhaftung selbst konnten dann die Kollegen der Honorary Police in St. Helier übernehmen.
Voller Vorfreunde dachte sie daran, was sie nach Feierabend tun würde. Willingham wollte Frank Guiton zwar selbst die gute Nachricht überbringen, doch sie würde abends mit Frank am Krankenbett darauf anstoßen, egal, wie spät es wurde. Im Kühlschrank der Polizeistation versteckte sich noch eine Flasche Crémant, ein Rest von Ellwyns Geburtstagsfeier, die würde sie sich bis morgen ausleihen.
Plötzlich spürte sie eine tiefe Sehnsucht nach Frank, nach einer innigen Umarmung und einem Kuss seiner rauen Lippen. Nichts davon hatte sie sich bisher zu holen gewagt, aus Angst, dass sie ihn in seiner Erinnerung an Debbie Farrow zu sehr erschreckte. Doch heute würde sie Farbe bekennen und aufhören, sich zurückzuhalten. Ab jetzt war er frei – in jeder Hinsicht.
Sie stellte das Autoradio an. Es gab Nachrichten, aber sie wollte Musik. Laut, schnell und jetzt. Sie drehte am Knopf.
Hinter einer Kurve schoss plötzlich unter ohrenbetäubendem Hupen ein roter Sportwagen auf sie zu. Entsetzt registrierte sie, dass ihr kein Platz zum Ausweichen blieb. Viel zu ruckartig zog sie das Lenkrad nach links. Das Auto brach durch eine Buchenhecke und schoss auf einen dahinter liegenden Seerosenteich zu. Durch die Erschütterung jaulte kurz das Signalhorn auf ihrem Dach auf. Durch die aufgesprungene Tür flogen Gegenstände in hohem Bogen in den Teich, die Polizeikelle, der Feuerlöscher, ihre Handtasche.
Sandra bekam noch mit, wie der Wagen sich überschlug und irgendwo ein Baum splitterte. Dann war alles vorbei.
Emily hatte sich geirrt. Der Fischereihafen La Collette, in dem das Schiff von Tony Kinross vertäut lag, war so kurz vor der Dämmerung alles andere als ausgestorben. Von überall her hallte Lärm. Es roch nach Diesel. Nach den Stunden der Ebbe war die Flut zurückgekommen, sodass wieder Wasser ins Hafenbecken schwappte. Schwere Schiffsmotoren wurden angelassen, schillernde Ölspuren bildeten sich unterhalb der Kaimauer. Jeder, der mit dem Boot hinauswollte, konnte es nur jetzt tun. Zudem drohte die Nacht unruhig zu werden, wenn man dem Wetterbericht trauen durfte.
Andererseits waren die Seeleute an Bord der Schiffe zu beschäftigt damit, ihr Auslaufen vorzubereiten, als dass sie Zeit gehabt hätten, auf eine Gestalt zu achten, die hinter den Containern entlanglief. Immer wieder verirrten sich Touristen hierher, die eigentlich den Jachthafen suchten. In ihrer blauen Wachsjacke passte Emily gut in dieses Bild.
Sie sah sich neugierig um.
Die MS Harmony dümpelte in einer ruhigen Ecke des Hafenbeckens vor sich hin.
Ihre weißen Aufbauten und das grüne Deck wirkten wie frisch geschrubbt. Weder Möwendreck noch Fischreste – wie auf den anderen Kuttern – verrieten, dass es sich um ein Fischerboot handelte. Es war tatsächlich das einzige Schiff, auf dem niemand arbeitete.
In diesem Augenblick verließ ein großer Trawler den Hafen. Langsam schob er sich durch die Wellen ins offene Meer, dabei ließ er zweimal sein Horn erklingen. Die Männer an Bord der anderen Schiffe sahen hinüber.
Emily nutzte die Gelegenheit, um mit einem großen Schritt an Bord der MS Harmony zu gelangen. Der Handlauf der Reling fühlte sich klebrig an vom Salzwasser. Sie ging quer über das Deck bis zur Kajüte. Hier konnte sie von den anderen Booten aus nicht mehr gesehen werden, denn ein riesiger Trawler mit rostigen Netzkränen und Auslegern schirmte sie ab.
Sie rüttelte an der Tür der Kajüte. Verschlossen. Mit der Stirn an der Fensterscheibe spähte sie ins Innere. Neben dem polierten Steuerrad, auf einer hölzernen Ablagefläche über dem Radar, stand eine Teetasse, daneben lagen zwei Päckchen französische Zigaretten und eine aufgerissene Packung mit Teebeuteln. Die Marke war gut zu erkennen, es war der zarte japanische Kovencha, eines der teuersten Gewächse, die es gab. Emily kannte die seltene Teesorte nur zu gut. Ihr Mann hatte sie als einziger Händler auf die Kanalinseln importiert.
Ratlos blickte sie sich an Deck um. Was tat sie hier eigentlich? Wenn Harold Conway erfahren würde, dass sie hier eigenmächtig herumturnte, statt auf ihn zu warten und ihn selbst Tony Kinross verhören zu lassen, würde die neu begonnene Freundschaft mit ihm schnell wieder beendet sein.
Also kehrt marsch, befahl sie sich.
Sie ging zum Heck zurück. Nervös wie sie war, stolperte sie über eine Eisenschwelle und verlor dabei ihren Schuh. Als sie in die Hocke ging, um ihn wieder anzuziehen, entdeckte sie den offenen Spalt einer Ladeluke. Es war eine von zwei stählernen Luken zwischen den mittleren Aufbauten und dem Heck. Meistens öffneten sich darunter Stauräume, bei manchen Trawlern auch Kühlanlagen.
Emily sah sich die Luke näher an. Sie war tatsächlich nur zugedrückt worden und nicht verriegelt, was selbst erfahrenen Skippern auf Segelschiffen immer wieder passierte. Mit beiden Händen zog sie den runden Deckel auf und spähte nach unten.
Der weiß gestrichene quadratische Laderaum war etwa zehn Fuß tief. Eine schmale Eisenleiter führte nach unten. Auf dem Boden standen zwei blaue Fässer, ein Surfbrett und mehrere Kartons. Es roch beißend nach Chemie. Vielleicht war die Luke auch deshalb offen geblieben.
Emilys Neugier wuchs. Sie öffnete die Luke vollständig.
Trotz ihrer schweren Wachsjacke fiel es ihr leicht, sich durch die Öffnung zu zwängen und die Leiter hinunterzusteigen. Sorgfältig schloss sie die Luke hinter sich. Als sie unten war, bediente sie den Lichtschalter neben der Leiter. Ihre Schritte hallten so hohl wie im Inneren des Leuchtturms von La Corbière.
Es war eng unten. Sie konnte sich kaum bewegen zwischen den Fässern und den Kartons. In eine Wand war eine halbhohe, zugezogene Schiebetür eingelassen, die wahrscheinlich zu einem anderen Laderaum führte.
Rasch inspizierte sie die Kartons. Ein Teil war leer, drei andere waren vollgestopft mit Vorräten an Gemüsebüchsen, Fertiggerichten und Kartoffelchips. Ein begnadeter Koch schien Tony Kinross nicht zu sein. Auch die beiden blauen Fässer enthielten nichts Interessantes. Das kleinere war voller Salzlake, das größere diente dem Fischer offenbar als Mülleimer. Sie verzog angewidert die Nase und drückte schnell wieder den Deckel darauf.
Vielleicht ist der Nebenraum interessanter, dachte sie. Mit einem kräftigen Ruck am Hebel zog sie die sperrige Schiebetür auf und kroch hinüber.
Dort richtete sie sich wieder auf. Dabei stieß sie mit dem Kopf an ein Holzregal. Unter ihren Füßen spürte sie das Schiff schwanken. Aus dem anderen Raum fiel nur wenig Licht herein. Doch es reichte Emily aus, um ihr zu zeigen, das sie schneller am Ziel ihrer Suche angekommen war, als sie vermutet hatte.
Auf hohen Regalen lagerten ganze Stapel bunter Kartons, Tüten und Gläser mit chinesischen Schriftzeichen. Es sah aus wie in einer Apotheke.
Fassungslos stand sie mitten in dem engen Raum und drehte sich langsam um die eigene Achse. Kinross schien die asiatischen Medikamente nach einem bestimmten Prinzip geordnet zu haben, denn auf einem Regal befanden sich nur große Mengen Tee und Pulver, auf einem anderen reihten sich vakuumverschlossene Gläser aneinander, in denen man unter anderem zerriebene Pflanzen und andere Substanzen erkennen konnte. In einem Glas glaubte sie winzige Tierkrallen erkannt zu haben. Es war eklig.
Viel Platz nahmen auch Kartons voller Salbentuben und seltsamer sechseckiger Cremetöpfchen ein, die sie an das Tiger Balm erinnerte, das sie sich einmal aus London mitgebracht hatte.
Unter den Behältern klebten kleine Zettel, auf denen die Namen und die Wirkung der Mittel notiert waren: Ling-Zhi-Pilze – Immunsystem (Göttliche Pilze der Unsterblichkeit) … Bu Gan-Tang – Leberbeschwerden … Tou Ton Ling – Kopfschmerzen … Mu Tong – Blasenentzündung/Entwässerung/Desinfektion … Ren Nai Li San – Männerstärke. Beim Tee hieß es jeweils nur: Meditationstee, Tee gegen Arterienverkalkung, Schmerztee …
Von einem rostigen Nagel in einem der Regale baumelte eine Art Lehrbuch, in dem die jeweils richtigen Medikamente nachgeschlagen werden konnten.
Sie fragte sich, ob Kinross wirklich wusste, was er da unter die Leute brachte. Sie bezweifelte es. Aber wenn ihr Verdacht – oder eigentlich war es ja nur ein mulmiges Gefühl – richtig war und ihr Mann nach seinem Verschwinden tatsächlich in dieses Geschäft eingestiegen war, dann wurde das Ganze ohnehin noch viel komplizierter.
Plötzlich hörte sie ein Rumpeln über sich. Sie lauschte angespannt und erstarrte. Es klang, als wenn jemand mit schweren Schritten zum Steuerstand ging. War Tony Kinross auf sein Schiff zurückgekehrt?
In ihrer Aufregung musste Emily sich dazu zwingen, das Richtige zu tun.
Das Licht.
Von Deck aus konnte man die angeschaltete Lampe unter dem offenen Spalt der Luke mit Sicherheit erkennen. Sie musste also schnellstens zurück in den anderen Laderaum.
So leise wie möglich robbte sie durch die niedrige Öffnung in den ersten Raum zurück. Ihre steife Wachsjacke machte raschelnde Geräusche, und sie beschloss, sie auszuziehen. Auch ihre Schuhe könnten sie verraten, also weg damit. Dann erst kletterte sie lautlos bis nach oben und knipste das Licht aus.
Auf einmal begann der Motor zu dröhnen. Tony Kinross hatte offenbar beschlossen, doch zum Fischen hinauszufahren. Alles um Emily herum vibrierte. Ihr wurde übel bei dem Gedanken, ein paar Stunden hier unten eingesperrt zu sein – wenn Kinross sie nicht vorher entdeckte, was ziemlich wahrscheinlich war.
Ganz langsam drückte sie die Luke auf und schaute nach draußen. Sie konnte den Fischer durch das große Fenster seiner Kajüte sehen. Er saß mit dem Rücken zu ihr am Steuerstand. Wieder trug er seine rote Arbeitsjacke. Als er sich zum Radar hinüberbeugte und seinen Monitor aufflimmern ließ, wusste Emily, dass es gleich losgehen würde.
Schnell schätzte sie die Entfernung bis zur Pier ab. Wenn sie schnell genug war, konnte sie es noch schaffen.
Doch es war zu spät. Bebend löste sich das Heck von der Kaimauer.
Emily war gefangen. Voller Entsetzen darüber, wie naiv sie sich verhalten hatte, zog sie sich wieder unter Deck zurück.
Fieberhaft überlegte sie, was sie tun konnte. Gar nichts, musste sie sich eingestehen. Sie konnte nur abwarten. Da sie nicht wagte, wieder das Licht einzuschalten, verharrte sie im Dunkeln. Schon bald hatte sie kein Gefühl mehr dafür, wie viel Zeit verging.
Plötzlich stoppte die Maschine, und das Heck schlug irgendwo hart an. Das Meer war rauer als vorher. Emily hörte das Quietschen einer Leine, die unter Spannung an einem Pfosten rieb. Sie hatten irgendwo angelegt.
Leise kletterte sie wieder nach oben und drückte vorsichtig die Luke auf. Kinross war nirgendwo zu entdecken. Die Brandung warf immer wieder Schwaden von Gischt durch die Luft. Das Schiff lag an einer Art Rampe, direkt unterhalb einer felsigen Steilküste, aus der neben der Bordwand der Harmony ein großes Portal aus bröckeligem Beton herausragte. In den Beton war eine graue Stahltür eingelassen. Emily vermutete, dass sie sich irgendwo an der windumtosten Nordküste befanden, wo es viele alte Bunker aus der deutschen Besatzungszeit gab.
Plötzlich tauchte Kinross am Bug hinter einer Netzwinde auf, eine zusammengerollte Leine in seinen Pranken. Er legte sie neben die Reling und kletterte geschickt zur Rampe des Bunkers hinüber, während sich das Schiff in der starken Brandung auf und ab bewegte.
Da er ihr den Rücken zudrehte, traute sich Emily etwas weiter aus ihrem Versteck heraus. Sie konnte genau beobachten, wie er eine Abdeckung von der Wand nahm und sie auf den Boden legte. Zum Vorschein kam eine Tastatur mit Zahlen, ähnlich wie bei einem Tresor. Da der Wind in ihre Richtung blies, konnte sie hören, dass jede Taste, sobald sie gedrückt wurde, ein piepsendes Geräusch von sich gab.
Dann zog Kinross die Bunkertür auf und verschwand nach innen. Die Tür ließ er offen. Nur zu gerne hätte Emily einen Blick in den Bunker geworfen, weil sie vermutete, dass er in diesem einsamen Versteck noch mehr Medikamente hortete, aber eine innere Stimme warnte sie.
Plötzlich hörte sie, dass Kinross im Bunker mit jemandem sprach. Eine Frauenstimme antwortete ihm hastig.
Kinross begann wütend zu brüllen.
Plötzlich schrie die Frau auf, mit einem herzzerreißenden Weinen.
Es war Constance!
Zitternd vor Aufregung krampfte Emily ihre Finger um den Einstiegsrand der Luke. Immer wieder überlegte sie, wie sie jetzt vorgehen sollte. Wenn Tony Kinross Constance entführt hatte, war er vermutlich auch der Mörder von Debbie. Dann musste Emily davon ausgehen, dass weder sie selbst noch Constance überleben würden, falls er sie an Bord entdeckte.
Sie hatte kein Telefon bei sich, und es wäre glatter Selbstmord gewesen, einen starken Mann wie Kinross anzugreifen.
Ich muss ins Wasser springen und an Land schwimmen, dachte sie verzweifelt, das ist das Einzige, was ich tun kann, um Hilfe zu holen. Sie schaute in das aufgewühlte graue Wasser hinter der Reling. Die Strömung war zwar gefährlich, und die Wellen schlugen hoch, aber irgendwie würde sie es schon schaffen. Sie war eine ausgezeichnete Schwimmerin.
In diesem Moment hob eine gewaltige Welle das Schiff an. Es schien sich aufzubäumen, doch dann fiel es wie ein Stein hinunter. Ein dichter feiner Nebel aus weißer Gischt schlug über Emily zusammen. Sie versuchte noch, sich festzuhalten, doch ihre Finger rutschten ab. Sie rutschte die glatte Leiter hinunter und stürzte auf den Boden des Laderaums zurück.
Mit schmerzendem Kopf rappelte sie sich auf und kletterte die Leiter wieder hoch.
Als sie ihren Kopf aus der Luke steckte, wehte ihr ein frischer Fahrtwind entgegen. Entsetzt stellte sie fest, dass das Schiff schon wieder abgelegt hatte. Tony Kinross stand in seiner gläsernen Kajüte hinter dem Steuer und blickte durch ein Fernglas Richtung Horizont. Von Constance war nichts zu sehen.
Wie in Zeitlupe, die Augen tränenblind vor Enttäuschung und Resignation, schloss Emily die Eisenluke über sich und stieg zurück in ihr Versteck.
Schluchzend setzte sie sich unten auf den Boden. Unter dem lauten Dröhnen der Dieselmotoren stampfte das Schiff weiter durch die hohen Wellen.
Zu so später Stunde brannte im Krankenhaus nur noch dort Licht, wo jemand vor Schmerzen nicht zur Ruhe kam oder wo sich ein schlafloser Patient die Nacht mit dem Fernsehprogramm vertrieb.
Frank Guiton war der Einzige auf seiner Etage, der fröhlich in seinem Bett saß, in der Hand ein Glas Champagner. Nach den guten Nachrichten, die Willingham ihm überbracht hatte, konnte er vor Erleichterung kein Auge zumachen. Zum wiederholten Mal stießen die beiden an. Nur zu gerne hatte Willingham sich überreden lassen, etwas länger an Guitons Krankenbett auszuharren, gewissermaßen als Entschädigung dafür, dass Sandras Querée nicht hier war.
Beide vermuteten, dass Sandra unvorhergesehen zu einem Einsatz gerufen worden war. Frank hatte sich dabei ertappt, dass er sie mehr vermisste, als er sich eingestehen wollte. Ihre stille, geduldige Zuneigung fehlte ihm heute besonders.
Keiner der beiden konnte ahnen, dass Sandra nur zwei Stockwerke tiefer auf der Intensivstation lag. Sie hatte viel Blut verloren und war noch immer ohne Bewusstsein. Außerdem hatten die Chirurgen einen Beckenbruch diagnostiziert. Lebensgefahr bestand zum Glück nicht mehr.
Außer Sandras besorgten Eltern war auch Harold Conway sofort ins Krankenhaus geeilt. Er rätselte noch immer, wo sie mit dem Dienstwagen hergekommen war. Erst bei Tageslicht würde man den schwer zugänglichen Unfallort nach weiteren Spuren absuchen können, bis dahin mussten sie Geduld aufbringen.
Irgendwann gegen Mitternacht spürte er, dass der anstrengende Tag ihn zermürbt hatte. Hinter der Glasscheibe, die Sandras Bett von der Außenwelt abschirmte, war die Nachtbeleuchtung eingeschaltet. Nur die Eltern wachten noch geduldig im kalten Neonlicht vor der Tür zu ihrer Tochter.
Nachdenklich fuhr Conway mit dem Lift nach unten. Die Wände des Fahrstuhls waren zerkratzt und abgestoßen von den vielen Krankenbetten.
Genauso zerkratzt wie unsere Hilfsbereitschaft und das Mitleid, das man uns Polizisten abfordert, dachte Conway traurig.
Was war nur mit ihm los? Er war doch sonst nicht so sentimental.
Kaum saß er wieder im Polizeiwagen, lenkte ihn zum Glück Roger Ellwyn ab, dessen Stimme plötzlich aus dem Funkgerät kam.
»Sind Sie wieder da, Chef?«
»Ja.«
»Wie geht es Sandra? Hat sie das Schlimmste überstanden?«
»Das hoffen wir alle. Ihr Zustand scheint stabil zu sein.«
»Gott sei Dank! Darf ich Sie noch mit etwas anderem behelligen?«
»Das würden Sie doch auch tun, wenn ich jetzt Nein sage«, knurrte Conway. »Also?«
»Ich habe mir noch mal die Liste mit den Pick-ups angesehen, die Sie heute Abend aus dem Hauptquartier mitgebracht haben. Die komplette Liste meine ich, also auch die Wagen, die keine dunkle Farbe haben.«
»Ja und?«
»Mir ist da ein Name aufgefallen. Oliver Farrow. Er besitzt einen weißen Pick-up. Mein Schwager hat seinen weißen Ford vor Kurzem rot umlackiert, deswegen dachte ich … Diesen Trick haben wir noch gar nicht in Erwägung gezogen …«
Plötzlich war Conways Müdigkeit wie weggeblasen. Er beugte sich ganz dicht an das Funkgerät heran und rief hinein: »Verflixt noch mal, Ellwyn, dafür kriegen Sie einen Tag frei!«
»Oh, vielen Dank! Soll ich Ihnen vorher noch Farrows Adresse geben?«
»Die weiß ich auswendig. Und es wird mir eine große Freude sein, den Knaben aus dem Bett zu holen!«
Warum fuhr er denn immer im Kreis? Emily zermarterte sich den Kopf. Seit fünf Stunden war die MS Harmony jetzt auf hoher See unterwegs. Noch immer waren weder Richtung noch Ziel erkennbar. Nicht ein einziges Mal warf Kinross seine Netze aus. Sie mussten sich irgendwo südlich befinden, im Dreieck von Jersey, Guernsey und der französischen Küste bei Point de L’Arcouest, denn einmal, als sie kurz durch die Luke schaute, meinte sie in der Ferne den Leuchtturm von Île de Bréhat auszumachen.
Kinross schien auf etwas zu warten, auch wenn es längst nach Mitternacht war.
Immer wenn Emily aus ihrer Luke schaute, hoffte sie, endlich eine Hafeneinfahrt zu entdecken oder ein anderes Schiff. Was sollte sie tun? Sie war allein mit dem Mörder.
Sosehr sie sich auch den Kopf zermarterte – wie sie doch noch von Bord fliehen konnte, wie die schrecklichen Verbrechen, die Kinross offenbar begangen hatte, miteinander zusammenhingen –, resignierend musste sie erkennen, dass sie der Situation ausgeliefert war. Am meisten quälte sie der Gedanke an Constance, die hilflos in ihrem Verlies festsaß.
Gegen ein Uhr morgens ließ der Wind nach. Kurz darauf wurde die Harmony plötzlich langsamer, bis sie irgendwann im Leerlauf dahintrieb. Alarmiert stieg Emily wieder die Treppe hoch, öffnete vorsichtig die Luke und beobachtete ängstlich, was an Deck geschah.
Kinross hatte alle Positionslampen gelöscht und auch den Neonstrahler in seiner Kajüte ausgeschaltet, sodass nur noch der Mond sein Licht auf das Schiff warf. Breitbeinig stand Kinross vor dem Netzkran am Bug und starrte nach Backbord über die Reling.
Dort tauchte plötzlich ein Frachter auf. Seine Aufbauten und der Mast hoben sich fast bedrohlich gegen das Meer ab. Emily glaubte die spanische Flagge am Heck zu erkennen. Auch drüben waren die Lichter ausgeschaltet. Der Frachter schien auf dem Wasser stillzustehen, doch Emily wusste, dass dieser Eindruck täuschte, denn in Wirklichkeit trieben beide Schiffe genauestens aufeinander abgestimmt nebeneinander her.
Am geheimnisvollsten war, dass sich an Deck des Frachters niemand zeigte. Es sah aus wie ein Totenschiff. Die erwartungsvolle Stille, die sich zwischen beiden Schiffen aufbaute, wurde nur durch das Klatschen der Wellen unterbrochen.
Plötzlich kam ein Schlauchboot mit Außenbordmotor auf die Harmony zu.
Emily konnte erkennen, dass ein einzelner Mann in dem Boot saß, vor sich einen Stapel Kisten oder Kartons. Wahrscheinlich war es eine illegale Lieferung für die asiatische Apotheke an Bord.
Kinross ging zur Reling und warf dem Mann, der durch seine dunkle Wollmütze und die schwarze Fleecejacke fast mit dem schwarzen Hintergrund verschmolz, eine Strickleiter zu. Dann zog er ihn an Deck.
Emily hätte beinahe aufgeschrien, als der Besucher die Mütze abnahm. Vor Aufregung biss sie sich so fest auf die Unterlippe, dass sie den Geschmack von Blut in ihrem Mund spürte.
Der Mann war Richard.
Er war kaum wiederzuerkennen. Der graue Vollbart, der einen Großteil seines Gesichtes bedeckte, machte ihn älter, als er tatsächlich war. Er war auch dicker geworden, schwerfälliger, was vielleicht auch damit zu tun hatte, dass er Probleme beim Gehen hatte. Sein rechtes Bein schien steif zu sein. Er benutzte einen Stock. Einen Augenblick lang erinnerte er Emily an seinen eigenen Vater, einen britischen Kriegsveteranen.
Nach dem ersten Schock war Emilys zweite Empfindung ohnmächtige Wut, als sie ihren Mann dort stehen sah. Am liebsten wäre sie ihm entgegengetreten, damit er wusste, dass sie seine Lügen entlarvt hatte. Doch stattdessen musste sie weiter in diesem engen Loch unter Deck ausharren und durfte ihn nur beobachten – und das alles, damit sie seine Tochter retten konnte.
Was für ein Hohn!
Seine Stimme hatte sich kaum verändert, sie war wie früher ruhig und klar. Noch ein schmerzhafter Augenblick, den sie verkraften musste.
Während Richard sich an die Rückseite der Kapitänskajüte lehnte, wo es windgeschützt war, sagte er zu Tony Kinross:
»Ich weiß, dass wir heute spät dran sind. Aber meine Spanier hatten ein Problem mit dem Anker. Wir mussten die Kette austauschen.«
Mit beiden Händen begann er, sein Knie zu massieren.
Emily konnte jedes Wort verstehen. Sie sah auch, dass Kinross sehr nervös war, als hätte er Angst vor Richard.
»Ist schon okay«, sagte der Fischer. »Ich wünschte, das wäre meine größte Sorge.«
»Darauf kommen wir noch zu sprechen«, antwortete Richard seltsam gefühllos. Plötzlich wirkte er gefährlich, ganz anders, als sie ihn gekannt hatte. »Was macht Guernsey? Lief in letzter Zeit wohl nicht so gut. Oder täusche ich mich?«
»Stimmt schon«, gab Kinross zu. »Aber das hängt damit zusammen, dass die Leute auf Guernsey und Sark die Krise spüren und weniger kaufen. Sogar die Kranken. Das Einzige, was auf Sark wie verrückt läuft, sind die Ling-Zhi-Pilze.« Er lachte kurz auf.
In scharfem Ton entgegnete Richard: »Zum Glück findet nicht jeder unsere Mittel so komisch wie du. Du siehst nur das Geld, das damit zu machen ist.«
»Das ist nicht wahr!«, ereiferte sich Kinross. »Wäre ich sonst von Anfang an dabeigeblieben?«
»Wir wollen jetzt nicht streiten. Es gibt was viel Wichtigeres. Du hast uns geschworen, dass du nichts zu tun hast mit Debbies Tod. Wie kommt es dann, dass die Polizei nach deinem Auto sucht?«
»Nach meinem Auto?«, fragte Kinross erschrocken. »Woher willst du das wissen?«
»Ich kenne jemanden, der gute Beziehungen zur Kriminalpolizei hat. Also?«
Tony Kinross sah weg.
Richard löste sich von der Wand, ging auf den Fischer zu und schrie ihn an: »Du feiger Idiot! Du hast mir fest versprochen, dass du nie wieder Kontakt aufnimmst zu Debbie! Das war meine Bedingung, und du hast mir immer geschworen, dass du dich daran hältst!«
»Was sollte ich denn machen? Verdammt noch mal, Debbie hat mich fünf Mal hintereinander angerufen und wollte sich unbedingt mit mir treffen!«
»Weswegen?«
Kinross zögerte. »Unter anderem … weil sie ein paar Sachen rausgekriegt hat, die ihr nicht gefallen haben. Bitte Richard, frag nicht weiter!« Abwehrend hob er die Hände. »Es ist besser, wenn du nichts davon weißt.«
Die beiden Männer fixierten sich hasserfüllt. Im Mondlicht sah Richards Vollbart bläulich und fahl aus. Seine Zähne mahlten, während er nachdachte. Emily konnte von der Luke aus sehen, wie sein Gesicht dabei zusehends versteinerte.
Warum zwingt er den Mörder nicht, alles über Debbies Tod zu sagen?, fragte Emily sich. Doch sie konnte sich die Antwort selber geben. Weil Debbie die Tochter seiner Geliebten Mary-Ann war, dachte sie bitter. Er will nicht mehr daran denken. Das sähe ihm ähnlich.
Aber sie irrte sich.
»Du erzählst mir jetzt auch den Rest. Ich will alles wissen«, sagte Richard unvermittelt. »Was ist mit der Polin, die man gefunden hat?«
Kinross schien keinen Widerstand mehr zu leisten. Er sank auf die Stufe vor der Kajütentür und begann zu weinen.
Richard stieß mit seinem schwarzen Stock gegen Kinross’ Beine. »Erspar mir deine Jammerei!« Kinross starrte in die Nacht, während er zu reden begann. »Meine Mutter war Polin, darum kann ich etwas Polnisch. Ich habe Jolanta am Strand kennengelernt. Wir haben uns nur manchmal getroffen, immer heimlich. Irgendwann wollte sie, dass ich sie heirate. Sie hat mir nicht gesagt, dass sie schwanger war. Angeblich wollte sie nur heiraten, damit sie die Staatsangehörigkeit von Jersey bekommen kann und bleiben darf. Aber das wollte ich nicht. Plötzlich war sie nicht mehr das nette, harmlose Mädchen. Und dann hat sie mich erpresst.«
»Womit?«
»Einmal ist sie eine halbe Stunde zu früh gekommen und hat mitgekriegt, wie Leute bei mir im Hafen Medikamente abgeholt haben. Und dann hat sie meine Vorräte da unten entdeckt. Sie hat gedroht, es dem Gesundheitsamt zu melden …«
Tonlos fragte Richard: »Und da hast du sie erstochen?«
Kinross schluchzte auf und nickte stumm. Mit seinen groben Händen wischte er die Tränen ab, während ein Windstoß durch sein Haar fuhr.
Emily spürte, wie sie zu zittern begann, denn ihr wurde schlagartig klar, dass es ihr nicht viel anders ergangen wäre als der Polin, wenn Kinross sie im Laderaum entdeckt hätte. Kurz spielte sie mit dem abenteuerlichen Gedanken, jetzt durch die Luke zu steigen und sich an Deck zu zeigen, damit Richard sie beschützte. Aber konnte sie tatsächlich auf ihn zählen? Was wusste sie denn über ihn, wie er heute war?
Richard ließ nicht locker. »Jetzt zu Debbie. Was war es da?«
Kinross schüttelte den Kopf. »Ich war so enttäuscht von Debbie. Genau wie die Polin hat sie mich unter Druck gesetzt. Andauernd hat sie mich mit ihren Anrufen verfolgt, an jenem Tag ganz besonders. Sie wusste was über mich, Richard, das uns viel Ärger bereitet hätte. Uns allen. Auch dir.« Mit einem Mal klang er trotzig, fast beleidigt. »Vielleicht hättest du deine Firma schon längst nicht mehr und würdest hier nicht stehen, wenn ich nicht die Notbremse gezogen hätte.«
»Was soll Debbie mit meiner Firma zu tun haben? Was ist das für ein Unsinn?«, schnauzte Richard ihn an. »Du weißt genau, wie gern ich das Mädchen mochte.«
»Ach, und ich etwa nicht?« Kinross schüttelte den Kopf. »Leider wollte dieses nette Mädchen mich an die Polizei verraten. Hätte ich das hinnehmen sollen?«
»Ich will keine Entschuldigungen, ich will endlich wissen, was passiert ist!«, drängte Richard, ohne weiter auf das verlogene Selbstmitleid von Kinross einzugehen.
»Genau genommen ging es um zwei Sachen«, sagte Kinross. »Mit der ersten hast du nichts zu tun, das war meine eigene Dummheit. Ich hab mit einem Typen von Debbies Bank versucht, an Frank Guitons Gestüt zu kommen. Es war ungeschickt, das gebe ich zu. Aber mich hat geärgert, dass Debbie mit diesem Scheißkerl ein Verhältnis hatte! Mit Guiton, meine ich … Auf jeden Fall hat sie rausgekriegt, was ich da mit ihrem Abteilungsleiter einfädeln wollte.«
»Du bist ein noch größerer Idiot, als ich dachte!«, rief Richard verächtlich. »Was ist das andere?«
Kinross druckste herum. »Ich hab es dir nie sagen wollen, Richard, weil ich weiß, dass du mich dann aus dem Geschäft geworfen hättest … Als der kleine David damals so krank war, hab ich ihm in Olivers Wohnung eine Woche lang die Mu-Tong-Tropfen gegeben. Weil er immer wieder Infekte hatte, an den Nieren, im ganzen Körper, und nichts hat geholfen … Ich wollte ihm doch nur helfen!« Wieder begann er zu schluchzen, diesmal noch jämmerlicher als vorher. »Ich konnte es einfach nicht mehr mit ansehen, wie der kleine Zwerg in seinem Bettchen lag und geweint hat …«
Richard war außer sich. Mit hochrotem Gesicht hob er seinen Stock und schrie: »Du hirnloser Idiot! Du hast das Kind umgebracht!«
Voller Wut ließ er seinen Stock auf Kinross niedersausen. Er traf ihn genau an der linken Stirn, sodass Kinross wie eine Puppe auf das Deck stürzte, mit dem Kopf gegen einen der Eisenpfosten schlug und reglos liegen blieb. Richard prügelte immer weiter auf ihn ein.
»Du wusstest genau, dass Mu-Tong niemals an Kinder verabreicht werden darf! Ich hab es dir gesagt! Du Schwein hast Debbie leiden lassen! Sie war ein so wunderbares Mädchen, genau wie ihre Schwester! Warum sie?!« Wieder und wieder schlug er zu. »Du hast uns alle ins Unglück gestürzt, alle! Hörst du?«
Emily schloss die Augen, um nichts mehr sehen zu müssen. Aufhören, dachte sie. Warum hört er nicht endlich auf! In ihrer Verzweiflung begann sie zu beten, was sie schon lange nicht mehr getan hatte. Sie wollte nur, dass es vorbei war.
Als sie die Augen wieder öffnete, war Richard verschwunden. Den spanischen Frachter sah sie nur noch als dunkle Silhouette in der Nacht. Kinross lag immer noch da. Ob er tot war?
Emily kroch aus ihrem Versteck hervor und richtete sich auf. Kalter Wind wehte ihr ins Gesicht und drang durch ihren dünnen Pullover. Das führerlose Schiff schlingerte durch die Wellen, sodass sie sich an der Reling festhalten musste, während sie auf Kinross zuging und sich über ihn beugte. Er lag in einer großen Blutlache.
Plötzlich bewegte er den linken Arm. Langsam öffneten sich die Augen in seinem blutigen, geschwollenen Gesicht, und er starrte Emily ungläubig an. Er versuchte, den Kopf zu heben, doch es gelang ihm nicht. Dann wurde er ohnmächtig.
Entsetzt wich Emily zurück. Hektisch riss sie die Tür zur Kajüte auf, hetzte hinein und schloss von innen ab. Als sie sich in dem winzigen Raum umblickte, entdeckte sie, dass die Lichter des Radars und des Funkgerätes flimmerten. Gott sei Dank, Kinross hatte sie nicht abgestellt.
Sie erinnerte sich daran, was man tun musste, um das Funkgerät zu bedienen. Richard hatte es ihr damals auf seinem Segelboot beigebracht, damit sie nicht zu den Seglerfrauen gehörte, die sich blamierten, wenn einmal Not am Mann war.
Sie drückte die Taste für die richtige Frequenz.
Es rauschte. Dann meldete sich eine raue Männerstimme. Es war der Hafen von St. Helier.
Emily schrie ins Mikrofon: »Hier ist MS Harmony! … Mayday! Mayday!«
Harold Conway hatte seine Verhöre schon in höchst unterschiedlichen und manchmal auch in skurrilen Umgebungen durchgeführt – aber noch nie in einer dreckigen Garage.
Eine Nachbarin von Oliver Farrow hatte ihm gesagt, dass Oliver erst am Nachmittag aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Er hatte wieder einmal Drogenprobleme gehabt. Doch darauf konnte Conway keine Rücksicht nehmen. Es dauerte zehn Minuten, bis er den jungen Mann aus dem Bett geklingelt hatte.
Farrow war immer noch nicht ganz nüchtern, aber immerhin in der Lage, auf Conways Fragen zu antworten. Seine fettigen Haare klebten ihm am Kopf, sein Atem roch widerlich, und der braune Schlafanzug, den er trug, war rissig und ausgefranst.
Conway gab ihm Zeit, sich anständig anzuziehen.
Er wartete vor der Tür, bis Oliver Farrow aus dem Schlafzimmer kam. Immerhin sah er jetzt etwas manierlicher aus.
»Wo steht Ihr Auto?«, fragte Conway in barschem Ton.
»Ich habe kein Auto«, sagte Oliver verdattert. »Schon lange nicht mehr.«
»Ach nein? Und was ist mit dem weißen Pick-up, dem Toyota, der auf Ihren Namen zugelassen ist?« Er nannte Farrow die Autonummer.
Der fasste sich an die Stirn, als würde er nachdenken. »Ach der! Den hab ich einem Freund überlassen.«
»Was heißt überlassen? Hat er ihn abgekauft?«
»Ja … nein … Er hat mir Geld dafür gegeben, dass er ihn immer benutzen darf, wenn er will. Und er bezahlt auch die Versicherung.«
»Na so was! Ein toller Freund. Ist der Wagen irgendwo in der Nähe?«
»In einer Garage … In der Plémont Road, um die Ecke …«
Farrow stützte sich am Türrahmen ab, seine Finger zitterten.
»Dann wollen wir uns die Garage mal ansehen. Einverstanden?«, sagte Conway betont mild.
Farrow nickte. Er nahm seinen Schlüsselbund vom Haken, und gemeinsam gingen sie los.
Die Garage stand zwei Straßen weiter. Es war eine von fünf Garagen im Hof eines Lokals. Als sich das elektrische Tor öffnete, sah Conway einen schwarzen Pick-up darin stehen. An einer Stelle unterhalb der hinteren Stoßstange konnte man noch erkennen, dass der Wagen früher weiß gewesen war. Roger Ellwyn hatte also recht gehabt.
Der Chef de Police verzichtete auf jeden Triumph. Stattdessen blickte er Oliver Farrow von der Seite an und fragte ganz ruhig: »Warum haben Sie ihn umlackiert?«
Farrow hob abwehrend die Hände. »Nein, nein – das war ich nicht! Das hat der Freund gemacht, der den Wagen fährt.«
Conway stellte sich dicht vor ihn. »Jetzt passen Sie mal auf, mein Junge! Ihnen müsste inzwischen eigentlich klar geworden sein, dass Sie ab heute ein Hauptverdächtiger in den beiden Mordfällen sind. Es sieht schlecht aus für Sie.«
Der Chef de Police war darauf gefasst, dass irgendwelche fadenscheinigen Entschuldigungen folgen würden. Doch er hatte sich geirrt.
Oliver Farrow lehnte sich erschöpft gegen die Wand. »Ich möchte eine Aussage machen«, sagte er leise. »Können wir uns hinsetzen? Mir ist nicht gut …«
Das Auto war unverschlossen. Conway öffnete weit die Beifahrertür und schob Farrow in den Wagen. Er selbst blieb daneben stehen. Als Oliver Farrow zu reden begann, stützte sich Conway auf das Autodach und hörte ruhig zu.
Was er erfuhr, war so kompliziert, dass er einige Minuten brauchte, um alle Zusammenhänge zu begreifen. Oliver Farrow erzählte von Tony Kinross, der dieses Auto dazu benutzte, um Medikamente aus China und Thailand auf der Insel auszuliefern, und er nannte bestimmte Leute, die Kinross unter der Hand weiterempfahlen. Es schien ein raffiniert geknüpftes Netzwerk zu sein. Die meisten dieser Tränke und Heilpflanzen waren medizinisch höchst umstritten, viele sogar wegen ihrer Gefährlichkeit verboten. Doch Kinross verdiente viel Geld damit, und so konnte er Farrow hin und wieder Drogen spendieren.
Conway hörte den Namen Kinross zum ersten Mal. Und er verstand etwas nicht. »Was hat ausgerechnet ein Fischer mit diesem ganzen Zeug zu tun?«
Farrow erklärte ihm, dass Kinross als Fischer besonders gut geeignet war, weil er die illegale Ware vor der Küste übernahm und sie dann auf den Inseln verteilte. Jeder Kunde wusste, dass man besser nicht darüber redete. »Niemand ist verschwiegener als ein Kranker, der sich Hoffnung macht«, zitierte Farrow seinen Freund Tony Kinross.
»Und was hat Debbie mit dem Ganzen zu tun?«, fragte Conway.
Farrow hatte Mühe, ruhig zu sprechen. Seine Zunge schien ihm vor Aufregung kaum noch zu gehorchen. »Als der kleine David … einmal bei mir war … da kam auch Tony in meine Wohnung. Er hat gesagt, dass er nicht mehr mit ansehen kann, wie die Ärzte im Krankenhaus das Kind mit Medikamenten vollstopfen und es trotzdem nicht besser wird. Da hat er David eine Woche lang heimlich chinesische Tropfen gegeben und irgendein Pulver. Vor allem wegen Davids Nieren … Ich sollte es Debbie nicht erzählen, und das habe ich auch nicht gemacht. Jedenfalls bis neulich.«
Conway richtete sich auf. »Soll das heißen, dass diese Medikamente das Kind umgebracht haben?«
Farrow vermied es, den Chef de Police bei seiner Antwort anzuschauen. Auf das Armaturenbrett starrend, sagte er: »Tony hat so eine Andeutung gemacht. Er hatte plötzlich Angst, dass es rauskommt.«
Conway sah, dass Farrow zunehmend schneller atmete und sehr blass war. Lange würde er die Vernehmung nicht mehr durchstehen. Doch noch waren ein paar wichtige Fragen offen.
»Und das haben Sie Debbie zum allerersten Mal erzählt, als sie am Tag vor dem Mord mit ihr zusammen waren?«
»Ja. Ich musste es ihr einfach irgendwann sagen … Ich war schließlich Davids Patenonkel.«
»Hat Tony Kinross beide Frauen ermordet, Debbie und die Polin?«
Oliver Farrow starrte ihn nur an.
»Wollen Sie die Frage nicht beantworten, oder können Sie sie nicht beantworten, Oliver?«
»Ich möchte nichts dazu sagen.«
»Kannte Debbie diesen Tony Kinross?«
Farrow sah ihn verständnislos an. »Ob sie ihn kannte? Mann, er war doch der Vater ihres Kindes!«
Während die Küstenwache mit zwei Sanitätern an Bord den schwer verletzten Tony Kinross übernahm und einer der Offiziere die MS Harmony nach St. Helier zurücksteuerte, wurde Emily von einem kleineren Boot abgeholt und auf direktem Weg zum Bunker an der Nordküste gebracht. Sie wollte dabei sein, wenn Constance befreit wurde.
Zu ihrer Überraschung wurde sie auf der Rampe vor dem Bunker von Harold Conway erwartet. Da es noch dunkel war, hatte er auf dem Polizeiboot, mit dem er und zwei junge Polizisten vom Hauptquartier eingetroffen waren, einen starken Scheinwerfer aufstellen lassen. Die Eingangsseite und die graue Tür des Bunkers lagen in hellem Licht. Inzwischen war festgestellt worden, dass es keinen zweiten Zugang zum Bunker gab, da er in die Steilküste hineingebaut worden war.
Als Emily vom Boot der Küstenwache auf die Rampe gestiegen war, nahm Harold sie sofort in die Arme. Es tat ihr gut, denn es zeigte ihr, dass er trotz seiner raubeinigen Art sensibel genug war, mitzufühlen, was sie in den vergangenen Stunden durchgemacht hatte.
»Geht’s dir wieder einigermaßen?«, fragte er leise.
»Es war furchtbar«, sagte sie müde. »Und jetzt will ich nur noch, dass Constance endlich gesund da rauskommt.«
Er ließ sie los und seufzte. »Emily, ich muss dir leider sagen, dass es eine kleine Verzögerung geben wird …« Er sah, wie sie erschrak, und fügte schnell hinzu: »Nichts Schlimmes, nur ein technisches Problem.«
»Oh nein! Was ist es?«
Er zeigte auf das Zahlenschloss neben der Tür. »Die Stahltür ist mit diesem System verriegelt, es gibt also kein gewöhnliches Schloss. Das heißt, wir müssen die Tür von einem Spezialisten aufsprengen lassen.«
»Aber das kann ja noch Stunden dauern!«
»Das will ich nicht hoffen.«
»Kann ich wenigstens durch die Tür mit Constance reden?«
Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Leider nein. Wir haben es schon versucht, aber die Wände sind so dick, dass sie uns nicht hören kann.«
»Gibt es denn keine Lüftung, über die man sie erreichen könnte?«
»Es gibt bestimmt eine. Sie wird irgendwo nach oben in die Klippen führen.« Er schnaufte wütend und ergänzte bitter: »Die Deutschen haben damals ganze Arbeit geleistet.«
Emily ließ ihn stehen, um mit ihrer Enttäuschung allein fertig zu werden. Sie ging bis zum Ende der Rampe und blickte dort grübelnd in das gurgelnde Wasser unter ihr. Verständnisvoll wartete Harold, bis sie sich wieder etwas beruhigt hatte. Dann erst ging er zu ihr.
Als er sie erreicht hatte, drehte sie sich zu ihm um und sagte: »Ich weiß jetzt, wie wir die Tür aufbekommen können.«
»Emily, glaub mir, wir haben alles durchgespielt. Die Tür lässt sich nur öffnen, wenn man die Zahlenkombination kennt.«
»Ich könnte sie rauskriegen«, sagte Emily.
Verblüfft sah Conway sie an. »Wieso?«
»Pass auf, Harold. Als Kinross die Tür geöffnet hat, haben die unterschiedlichen Zahlen bei jedem Tastendruck dieses Piepsgeräusch gemacht – wie bei einem Hotelsafe. Es scheint ein älteres Schloss zu sein. Wenn es mir gelingt, mich an diese Geräusche zu erinnern, können wir es schaffen.«
»Emily, ich weiß zwar, was für ein großartiges Gedächtnis du besitzt. Aber das ist unrealistisch! Sei mir nicht böse …«
»Bitte, Harold! Lass es mich versuchen! Ein Mal nur!«
Da der Sprengstoffexperte ohnehin noch mindestens eine Stunde auf sich warten lassen würde, gab Conway schließlich nach.
»Brauchst du irgendwas, um dich zu konzentrieren?«, fragte er, während sie langsam vor die Stahltür trat und den Blick auf das Quadrat mit den weißen Zahlen richtete.
»Am besten ist es, ihr geht zur Seite, damit ich nicht abgelenkt werde.«
Conway und die beiden Polizisten zogen sich auf das Polizeiboot zurück und ließen Emily allein auf der Rampe zurück.
Sie begann damit, zur Probe nacheinander sämtliche Zahlen zu drücken. Sie wollte sich die unterschiedlichen Töne genau einprägen. Das wiederholte sie noch zwei Mal.
Dann schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf die Situation, als Tony Kinross die vier Zahlen gedrückt hatte. Ganz deutlich waren die unterschiedlich hohen Klänge zu ihr herübergeweht. Erst ein tiefer Ton – die Neun vielleicht. Dann ein hellerer – die Drei? Nein, eher die Vier. Zusätzlich entschied sie sich für die Sieben und die Zwei.
Schließlich gab sie alle vier Zahlen auf der Tastatur ein. Bis jetzt klang alles so, wie sie es in Erinnerung hatte.
Dann kam der Augenblick der Wahrheit. Sie drückte auf die On-Taste, gab vorsichtig die ausgewählte Zahlenkombination ein und aktivierte dann die Enter-Taste. Mit angehaltenem Atem zog sie am Türgriff.
Nichts. Er bewegte sich nicht. Die Tür blieb zu.
Verzweifelt versuchte Emily es ein zweites Mal. Sie hoffte inständig, dass das Schloss nicht blockierte, wenn man zu oft falsche Zahlen eingab. Ihre Finger zitterten, während sie sie wieder nach der Tastatur ausstreckte.
War es doch nicht die Vier, sondern die Sechs gewesen?
Emily konzentrierte sich erneut. Ihre Erinnerung sagte ihr, dass Kinross die ersten beiden Zahlen sehr hastig eingegeben hatte, sodass die Töne fast miteinander verschmolzen waren.
Sie überlegte kurz und entschied dann, dass die zweite Zahl tatsächlich eine Sechs war. Sie zwang sich zur Ruhe und begann zu drücken.
On – 9672 – Enter.
Als sie diesmal den Griff packte und daran zog, schwang die zentnerschwere Tür tatsächlich auf, ganz langsam, wie ein Koloss, der jahrhundertelang geruht hatte. Emily hörte noch, wie die Männer auf dem Boot hinter ihr jubelten, doch da war sie schon in das Dämmerlicht des Bunkers vorgedrungen.
»Constance?«, schrie sie. »Wo bist du?«
»Hier hinten!«
Die Stimme kam vom Ende des Bunkers. Glücklich rannte Emily durch den langen Gang, vorbei an aufgestapeltem Bootszubehör, alten Netzen, Bojen und allerlei Gerümpel. Da sie nur die schwache Helligkeit hatte, die von der Eingangstür kam, stieß sie sich den Fuß an einem alten Anker, doch es war ihr egal. Plötzlich sah sie vor sich durch die Ritzen einer Eisentür Licht schimmern. Sie lief hin und hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür. »Bist du da drin? Geht es dir gut?«
»Ja!«, rief Constance. Ihre Stimme klang kräftig.
Emily war erleichtert. Gott sei Dank waren es nur zwei dicke Riegel, einer oben, einer unten, die die Tür fixierten. Sie reckte sich und zog den oberen Riegel zurück, dann den über dem Boden.
Nur Augenblicke später standen sie sich gegenüber. Constance stand mitten in einer kahlen Zelle, die Kinross offenbar hin und wieder als Lager gedient hatte. Eine alte Matratze lag am Boden, eine Kloschüssel stand in der Ecke, dazu vier Plastikflaschen mit Wasser und ein paar Essensvorräte – mehr gab es nicht in diesem menschenunwürdigen Gefängnis.
Weinend vor Freude fielen die beiden Frauen sich in die Arme.
»Danke, Emily! Danke!«, flüsterte Constance immer wieder, während sie Emily wie ein kleines Kind umklammerte. »Ich hatte solche Angst, dass ich hier nie wieder rauskomme …«
»Hat er dir wirklich nichts angetan?«
»Nein, er war in der ganzen Zeit nur einmal hier, gestern Abend …«
Emily strich ihr über die Haare und lächelte. »Da war ich schon ganz in deiner Nähe«, sagte sie. Hinter sich hörte sie Harold Conway und die beiden Polizisten näher kommen. Sie drehte sich um. Mit Suchscheinwerfern leuchteten sie jede Ecke des Bunkers aus. »Alles okay, Emily?«, rief Harold. »Hast du sie?«
»Ja, ich hab sie«, rief Emily laut. Sie zwinkerte Constance zu. »Und ich lasse sie nie mehr aus den Augen!« Constance lachte und wischte sich mit dem Ärmel ihres Pullis die Tränen ab.
Schon drei Tage später waren die Verhöre und die Ermittlungen so weit fortgeschritten, dass Anklage gegen die Beteiligten erhoben werden konnte. Obwohl Neuling in seinem Amt, erwies sich Richter Edward Waterhouse als jemand, der die nötige Durchsetzungskraft besaß, um den bevorstehenden Prozess zügig vorzubereiten. Durch seine hervorragenden internationalen Kontakte konnte er seiner Schwester und der Staatsanwaltschaft sogar zu einem direkten Draht nach Hongkong verhelfen.
Selbst John Willingham musste diese Leistung seines Nachfolgers respektvoll anerkennen. Er war mit Gwyneth Trollop zu einem konspirativen Treffen verabredet gewesen und wusste jetzt alles. Auf dem Rückweg machte er gleich noch beim General Hospital Halt, um Frank Guiton über die interessanten Neuigkeiten zu informieren.
Frank war gar nicht in seinem Zimmer. Die Schwestern hatten sein Bett auf den langen Balkon vor seinem Fenster geschoben und als Überraschung das Bett von Sandra Querée dazugestellt.
Willingham trat leise ins Freie. Die beiden bemerkten ihn nicht. Gerührt sah er sie nebeneinanderliegen, miteinander lachen und in die Bäume blicken. Sandra war noch ziemlich blass und genauso stark bandagiert wie Frank vor ein paar Tagen. Der wiederum konnte schon sitzen und hatte nur noch ein paar Pflaster.
»Na, ihr zwei Turteltäubchen«, sagte Willingham laut, »darf ich das Rendezvous mal kurz stören?«
Sie fuhren ertappt mit dem Kopf herum, Sandras blasse Wangen bekamen rote Farbe.
»Oh, Mr. Willingham! Wir haben Sie gar nicht gehört!«, sagte sie entschuldigend und strich schnell ihre Bettdecke glatt.
Frank setzte sich auf und gab seinem Anwalt erfreut die Hand.
»Hallo!« An Sandra gewandt, sagte er: »Mr. Willingham ist immer sehr leise. Das macht ihn ja gerade so gefährlich.«
Willingham lachte und setzte sich wie gewohnt auf Guitons Bett. Dieser Platz hatte ihn eine Woche lang inspiriert.
»Hoffentlich wissen das meine Konkurrenten«, sagte er amüsiert, aber auch ein bisschen eitel. Sorgfältig stopfte er sein verrutschtes weißes Einstecktuch in die Reverstasche seines blauen Jacketts zurück und musterte die beiden.
»Wie ich sehe, geht es Ihnen gut. Ich hoffe, Miss Querée, Sie haben keine Schmerzen mehr.«
»Es wird schon erträglicher …«
»Das freut mich. Dann würde ich die Erträglichkeit gerne noch steigern, indem ich Ihnen erzähle, was Ihre Ermittlungen alles ausgelöst haben.«
Sandra verzog den Mund und hob ihre gesunde Hand. »Ich darf gar nicht dran denken, was ich durch meinen blöden Unfall alles vermasselt habe …«
»Unsinn! Zum Glück gibt es ja Edgar MacDonald, diesen brillanten Zauberer. Nachdem er ihr Tonbandprotokoll wieder aus dem Wasser gefischt hat, hat er es tatsächlich wieder funktionsfähig gemacht.«
Sandra staunte. »Die Aussage von Josh Nisbet lässt sich verwenden?«
»Zumindest hat sie geholfen, dass er nichts widerrufen hat.«
»Was gibt es sonst Neues?«, fragte Frank Guiton.
»Viel, sogar sehr viel«, antwortete Willingham geheimnisvoll. Neben ihm ging die Balkontür auf, und eine junge Schwester stellte ihm freundlich lächelnd einen Stuhl hin.
»Danke, Schwester«, sagte er.
Sie verschwand wieder nach drinnen, und er fuhr fort. »Das Wichtigste zuerst: Tony Kinross hat inzwischen gestanden, und auch Richard Bloom sitzt hier auf Jersey im Gefängnis. Die Küstenwache hat ihn auf einem spanischen Frachter gefunden. Gestern Abend hat man außerdem Alex Flair in Untersuchungshaft genommen.«
»Alex?«, fragte Guiton überrascht. Er kannte die Flairs gut. Sie hatten erst vor wenigen Wochen mit ihm über ein Rennpferd verhandelt. Doch das Geschäft kam nicht zustande, weil Mrs. Flair lieber eine neue Jacht wollte.
»Flair war offensichtlich der Finanzier hinter all den zwielichtigen Geschäften. Aber weder er noch Richard Bloom hatten eine Ahnung, dass Tony Kinross die Morde begangen hatte …«
Mit der für ihn typischen Prägnanz begann Willingham, den Stand der Ermittlungen zusammenzufassen. Ernst und konzentriert hörten Frank Guiton und Sandra Querée ihm zu …
Alles hatte damit begonnen, dass Richard Bloom sein Leben verändern wollte. Er war schon seit Langem der Liebhaber von Debbie Farrows Mutter gewesen. Bei ihr hatte er auch Tony Kinross kennengelernt, der damals im Haus neben den Farrows wohnte. Bloom tauchte nach seinem vorgetäuschten Bootsunfall zuerst in Frankreich unter, später in Cádiz. Während der ganzen Zeit war er immer in Kontakt mit seinem Freund Alex Flair, der ihn ausreichend mit Geld versorgte und der ihm einen französischen Pass auf den Namen Richard Bressat besorgte. Gemeinsam bauten sie eine Firma auf, die offiziell Schuhe aus Thailand und Hongkong nach Frankreich importierte. In Wirklichkeit jedoch war es ein illegales Netzwerk für asiatische Heilmittel, vor allem für Kräuter und Pulver, deren Import verboten war. Denn damit war das meiste Geld zu machen. Sie hatten es so aufgezogen, dass mehrere Dutzend Leute die Ware verteilten. In London und Amsterdam lohnte das Geschäft ganz besonders. Hier gab es genügend asian communities, ganze Stadtteile voller Asiaten.
»Und warum dann ausgerechnet noch Jersey?«, fragte Sandra.
Willingham zuckte mit den Schultern.
»Vielleicht weil Jersey und die anderen Inseln ebenfalls ein guter Markt dafür sind … Vielleicht hat Bloom auch einfach nur zynisch genossen, dass er hier heimlich hinter dem Rücken seiner Familie und seiner alten Freunde Geschäfte machen konnte …«
»Und wie kam dann Tony Kinross ins Spiel?«, fragte Frank Guiton.
»Kinross war natürlich der ideale Mann für Richard Bloom. Als Fischer konnte er unauffällig vor der Küste die Ware übernehmen. Manchmal holte er auch Lieferungen in Frankreich ab und transportierte sie nach England hinüber. Außerdem brauchte Tony Kinross immer Geld, das wusste Bloom noch von damals.« Willingham holte Luft. »Ja, und damit kommen wir zu Debbie …«
Guiton schloss die Augen. »Stimmt es, dass Kinross der Vater von Debbies Sohn ist? Der Chef de Police hat gestern bei Sandra so was angedeutet.«
Willingham nickte. »Das stimmt. Als junge Nachbarn hatten die beiden nach einer fröhlichen Party einen One-Night-Stand, mehr war es wohl nicht. Kinross hat sich danach nicht besonders gut benommen und ist dann auch weggezogen. Jedenfalls wollte Debbie nie mehr etwas mit ihm zu tun haben. Nur ihre Mutter und ihr Cousin Oliver, der damals mit auf der Party war, wussten, wer Davids Vater war.«
Sandra blickte wieder zu den Bäumen hinüber. Leise fragte sie: »Und die Morde? Warum hat Kinross das alles getan?«
Willingham behielt für sich, dass die gute Gwyneth Trollop ihm heimlich eine Kopie des Kinross-Geständnisses zugesteckt hatte. Deshalb wusste er Bescheid über jedes Detail der beiden Verbrechen. Doch um Guiton und Sandra Querée nicht unnötig zu belasten, entschloss er sich, die grausigsten Passagen aus dem Protokoll für sich zu behalten und nur das Nötigste zu erwähnen. In ein paar Tagen würden die beiden ohnehin den Rest erfahren.
»In der Zeit, in der David so krank war, hat Debbie ihn tagsüber oft zu ihrem Cousin Oliver gebracht, der sich gerne um den Kleinen kümmerte. Debbie hatte keine Ahnung, dass auch Tony Kinross bei Oliver Farrow ein und aus ging. Die beiden arbeiteten oft zusammen im Hafen. Da kam Kinross eines Tages auf die Idee, dem Kind ohne Debbies Wissen Aristolochia-Tropfen zu geben, dreimal am Tag hochdosiert, eine Woche lang. Vierzehn Tage später starb David an Nierenversagen. Die Ärzte nahmen an, sein schlechter Allgemeinzustand sei Schuld an seinem Tod. Doch in Wirklichkeit war es die Aristolochia-Säure. Seit heute Morgen liegt ein Bericht der Pathologie vor. Sie haben Davids Leiche vorgestern exhumiert.«
»Was ist Aristolochia?«, fragte Guiton bestürzt. Er blickte fragend zu Sandra, die sich als gelernte Apothekenhelferin in diesen Dingen auskannte.
Sandra, nicht weniger schockiert, gab ihm die Erklärung. »Das Kraut der asiatischen Osterluzei, ein Teufelszeug, aber viele glauben daran. Es steckt unter anderem in den asiatischen Mu-Tong-Medikamenten. Falsch dosiert oder auch in Verbindung mit anderen Medikamenten führt es zu Nierenversagen.«
Ergänzend fügte Willingham hinzu: »Das Zeug ist seit einigen Jahren auf Jersey verboten. Ich habe damals selbst an dem Gesetz mitgewirkt.«
»Und das hat Debbie herausgefunden?«
Willingham nickte. »Ja. Ihr Cousin hat es ihr erzählt. Aber es gab noch einen zweiten Grund für sie, sich mit Tony Kinross zu treffen und ihn zur Rede zu stellen. In der Bank hatte sie nachmittags zufällig ein Telefonat zwischen Kinross und dem Chef der Kreditabteilung mit angehört. Dabei ging es um Sie, Frank.«
Guiton erschrak. »Um mich?«
»Ja. Die beiden verabredeten, dass Kinross, der ja inzwischen eine Menge Geld auf dem Konto hatte, Ihr Gestüt für ein hohes Gebot kaufen konnte, falls Sie durch den angeblichen Versicherungsbetrug zahlungsunfähig würden.«
Guiton blies die Luft aus. »Es war also alles längst eingefädelt?«
»Ja, das war es wohl.«
Vorsichtig berichtete Willingham, was weiter geschah. »Kinross verabredete sich nach Debbies Feierabend mit ihr auf seinem Kutter. An einem einsamen Steg nahm er sie an Bord und fuhr mit ihr hinaus, ein paar Stunden lang. Unterwegs stritten sie heftig. Debbie machte Kinross nicht nur heftige Vorwürfe wegen des Kindes und wegen der Bankgeschichte, sondern sie behauptete einfach, sie hätte Beweise dafür, dass er die Polin umgebracht hatte. Immerhin konnte er nicht leugnen, dass er Jolanta Nowak mitgenommen hatte auf die Beerdigung von David.« Willingham räusperte sich. »Und dann … hat er sie in seiner Wut erwürgt.«
Die beiden Kranken schwiegen betroffen.
Geduldig ließ er ihnen Zeit, alles zu verarbeiten.
Sandra Querée fragte schließlich: »Weiß man, warum er seine Opfer nicht einfach ins Meer geworfen hat? Warum hat er sie jedes Mal auf so perverse Art und Weise an Land versteckt? Das verstehe ich nicht.«
»Eine schlüssige Erklärung können uns wahrscheinlich erst die Gutachter liefern«, meinte Willingham. »Kinross selbst behauptet, er hätte das Meer damit nicht beschmutzen wollen.« Er hob seufzend die Hände. »Ob das stimmt? Jedenfalls hat er Debbie Farrows Leiche mit seinem kleinen Rettungsboot in den alten Hafen hinter der Kirche von St. Brelade’s Bay gebracht. Offenbar hatte er mitbekommen, dass dort die Bäume eingepflanzt worden waren und … Na ja, den Rest kennen wir ja alle.«
»Und warum war Kinross noch einmal in Debbies Wohnung?«, fragte Frank Guiton.
»Er behauptet, weil er nach den Papieren suchen wollte, die Debbie dort angeblich versteckt hatte. Der Psychiater, der ihn gestern untersucht hat, ist aber der Meinung, er war dort, weil es ihn in Debbies Leben zurückgetrieben hat. Kinross ist ein Psychopath. Bei Menschen wie ihm verstehen wir vieles nicht. Warum hat er zum Beispiel später Constance verschont? Er behauptet aus Mitleid. Aber der Psychiater sieht darin eher seinen Wunsch nach der Macht über andere … Wer weiß das schon?«
Frank Guiton fuhr sich durch die dunklen Haare. Es sah aus, als hätte er Kopfweh, doch er brauchte nur ein wenig Zeit, um die Erinnerung an Debbie von dem Gehörten zu lösen. Sandra spürte es. Verständnisvoll streckte sie ihren linken Arm nach ihm aus. Frank sah es und ergriff dankbar ihre warme Hand. Ihr bezauberndes Lächeln machte ihm Mut.
Willingham wollte nicht länger stören. »Ich muss los. Detective Inspector Waterhouse braucht noch eine Unterschrift von mir.« Er stand auf.
Sandra sah zu ihm hoch. »Sie hat mir gestern Pralinen geschickt. Hätten Sie das von ihr gedacht?«
Willingham überlegte. »Ja, doch, eigentlich schon. Sie ist ganz in Ordnung, wenn sie nicht gerade unter Druck steht. Und gerade in diesen Minuten …« Er blickte auf seine goldene Schweizer Uhr. »… muss sie noch eine heikle Sache hinter sich bringen.«
»Noch ein Verhör?«
Er schüttelte den Kopf. »Mrs. Bloom hat darauf bestanden, ihrem Ex-Mann gegenüberzutreten …«
Richard Bloom saß hinter einer Glasscheibe, bewacht von einem uniformierten Beamten. Seine Stimme kam über einen kleinen Lautsprecher, der rechts oberhalb der Scheibe in die Wand eingelassen war.
Auf Emilys Seite des dicken Panzerglases gab es nur den unbequemen Stuhl, auf dessen Rückenlehne der Name des Gefängnisses aufgedruckt war. Ansonsten war der Raum leer.
Die Atmosphäre war beklemmend. Wenn Emily nicht gewusst hätte, dass hinter ihr in der Ecke Detective Inspector Waterhouse stand und die Situation überwachte, wäre sie vermutlich wieder geflohen.
Sie hatte Zeit genug gehabt, sich an Richards verändertes Aussehen zu gewöhnen. Doch es fiel ihr immer noch schwer, in seine braunen Augen zu blicken und zu wissen, dass er bereit gewesen war, ihr Leben zu ruinieren.
Durch den Lautsprecher wirkte seine Stimme fern und etwas blechern.
»Ich muss dir nicht sagen, wie groß meine Schuldgefühle sind, Emily. Das kannst du dir ja denken …«
Sie versuchte, keine Regung zu zeigen. »Mach mir nichts vor. Vermutlich sind die einzigen Gefühle, die du noch kennst, Selbstsucht und Gier«, sagte sie starr. »Oder weshalb sonst hast du damals alles weggeworfen?«
»Die ganze Geschichte mit Mary-Ann … und der fingierte Unfall auf dem Schiff … das ging nie gegen dich, Emily. Mein Leben war einfach zu einer Falle geworden …« Er räusperte sich. »Diese verdammte Enge der Insel … unsere Geschäfte, die nicht so richtig liefen …«
Emily fiel ihm ins Wort. »Und deine reichen Freunde, die dir das Gegenteil vorgelebt haben, nicht? Trevor de Sagan, Alex Flair … und du warst dabei!«
»Ja, verdammt! Ein paar Mal habe ich versucht, mit dir darüber zu reden.« Er lachte auf. »Was heißt ein paar Mal? Ich weiß noch, wie wir damals Ostern darüber gesprochen haben. Wie es wäre, wenn wir nach England oder Frankreich gingen. Aber meine Träume sind an dir vorbeigerauscht wie … Schnellzüge!«
Emily schwieg. Betroffen erkannte sie, dass er damit ihre schlimmste Befürchtung ans Tageslicht geholt hatte: dass sie eine Mitschuld an seinem Verschwinden trug. Sie wusste, dass sie zu diesem Zeitpunkt sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war. Die rätselhaften Gedächtnisattacken, die ihr Leben belasteten, Jonathans Probleme in der Schule, ihr Teeladen … im Grunde Alltagsprobleme, die sich ihrer Liebe zu Richard in den Weg gestellt hatten. Und Richard war zu stolz gewesen, um sich zu wehren.
Plötzlich entdeckte sie, dass Zufriedenheit in seinem Blick lag. Er genoss es, dass es ihm gelungen war, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen.
Ich werde dieses infame Spiel nicht ein zweites Mal mit mir treiben lassen, schwor sie sich. Sie war stärker als er, in vieler Hinsicht. Kämpferisch sagte sie: »Vielleicht hättest du besser zum Eheberater gehen sollen als unter die Schmuggler.«
»Was soll das, Emily?«
»Ich will endlich wissen, was für ein Mensch du geworden bist, Richard.« Und ironisch fügte sie hinzu: »Nachdem du auf deinen Schnellzug aufgesprungen bist, meine ich.«
»Keine Sorge, ich bin noch immer derselbe«, sagte er ungerührt. »Auch wenn du es nicht wahrhaben willst.« Spöttisch verzog er den Mund. »Bis auf mein Knie natürlich. Ein Motorradunfall in Singapur.«
Sie überhörte seinen selbstgefälligen Ton und bohrte weiter. »Macht es dir nichts aus, dass du Menschenleben auf dem Gewissen hast?«
»Natürlich belastet mich das sehr. Aber ich weiß auch, dass ich unzähligen Menschen mit den Medikamenten geholfen habe.«
Beide schwiegen. Richard legte die Hände in den Schoß und wich Emilys Blicken aus. Sie spürte, wie ihre Erbitterung langsam wieder nachließ und einer tiefen Traurigkeit Platz machte.
»Wie geht es Constance?«, fragte er unvermittelt.
»Das kann ich noch nicht sagen. Aber es scheint, als hätte sie alles gut überstanden. Sie wird noch eine Weile bei mir bleiben.«
»Das beruhigt mich. Bitte kümmere dich um sie. Sie kann nichts dafür.«
»Das weiß ich.«
Emily hatte das Gefühl, dass es Zeit war, wieder zu gehen. Sie wollte auf keinen Fall, dass es zu Sentimentalitäten kam. Und sie wollte auf keinen Fall Auf Wiedersehen sagen. Sie stand auf, schob den Stuhl zur Seite und ging auf Jane Waterhouse zu. Da hörte sie Richards Stimme durch den Lautsprecher: »Warte! Wie hast du es eigentlich herausgefunden?«
Emily drehte sich um und ging noch einmal zur Scheibe zurück. Selbstbewusst lächelnd sagte sie gegen die Panzerglasscheibe:
»Du weißt doch – ich bin eine Frau mit Gedächtnis.«
Constance blieb noch drei Wochen bei Emily. Auch wenn sie in der ersten Zeit immer wieder von ihren Ängsten eingeholt wurde, tat es ihr gut, wie früher in den Inselalltag eintauchen zu können. Schon ab der zweiten Woche ging es ihr von Tag zu Tag besser. Emily hatte ihr anfangs lange Wanderungen verordnet, die sie beide zusammen unternahmen. Doch schon bald fand Constance, dass so viel Natur schwermütig machte, also das Gegenteil von dem bewirkte, was Emily bezweckte. Von da an hieß die Devise: Hinein ins pralle Leben. Constance war jung und brauchte nichts so sehr wie Abwechslung. Am liebsten half sie im Teeladen mit, wo sie mit Tim herumalbern konnte und viele Leute traf. Da endlich wusste Emily, dass Constance das Schlimmste überstanden hatte.
Es wurde doch noch ein schöner Sommer, anders als die Meteorologen im Mai prophezeit hatten. Emilys Garten glich einem Feuerwerk an Farben, und sie kam mit dem Rasenmähen, dem Schneiden und dem Ausdünnen der Pflanzen kaum noch nach.
An dem Tag, als sie Constance zur Fähre brachte, war es besonders warm. Es wurde ein schwerer Abschied mit vielen Umarmungen und Tränen. Constance versprach hoch und heilig, im August wiederzukommen, wenn Emilys Sohn aus London herflog und vier Wochen lang als Aushilfe im General Hospital praktizierte.
Als die Fähre abgelegt hatte und hinter Elizabeth Castle verschwunden war, fiel Emilys Blick zufällig auf die beiden städtischen Gärtner, die die Oleanderbüsche am Hafen wässerten.
Plötzlich fiel ihr wieder ein, was heute für ein Tag war.
Visite du Branchage – einer der beiden Tage im Jahr, an denen ein Komitee der Gemeinde alle Hecken und Bäume kontrollierte, die den Verkehr behindern könnten. Es war ein Akt, dessen soziale Bedeutung nur jemand verstand, der auf Jersey aufgewachsen war und der die engen, wie Wände aufragenden Hohlgassen aus Mauern, Hecken und Büschen selbst befahren musste.
Heute nun war Emilys Straße dran. Das Datum hatte sie vor Kurzem auf der Gemeinde erfahren. Trotzdem hatte sie vergessen, ihre lange Hecke rechtzeitig zu schneiden.
Als sie in ihre Straße einbog, sah sie zu ihrem Schreck die Gruppe der Kontrolleure schon vor ihrem Haus stehen und kritisch die überhängende Lorbeerhecke begutachten. Hier und da drängten sich auch ein paar Äste ihrer Akazie durch den Lorbeer nach draußen. Das ganze undurchdringliche Geflecht war gut dreizehn oder vierzehn Fuß hoch.
Zum Komitee gehörten unter anderen der Connétable – der Bürgermeister –, Vikar Godfrey Ballard, ein Straßeninspektor, die Gemeindesekretärin und natürlich auch Harold Conway als Chef de Police. Der Straßeninspektor trug das wichtigste Instrument des Branchage-Termins, die Messlatte. An befahrenen Straßen durften die Hecken und Äste nicht tiefer als 12 Fuß überhängen, an Gehwegen lag das Maß bei gnädigen 8 Fuß.
Emily parkte ihr Auto in der Einfahrt und ging zu den Kontrolleuren hinüber. Zu Vikar Ballard sagte sie. »Entschuldigung, aber ich musste noch schnell Constance zur Fähre bringen.«
»Ich bitte Sie, das war doch weiß Gott wichtiger«, beruhigte Ballard sie. Leise und augenzwinkernd fügte er hinzu: »Sie sehen ja, das Komitee kommt auch ohne Sie ganz gut zurecht.«
In der Zwischenzeit war der Inspektor, der eine auffallend dünne Nase hatte, schon dabei, die Messlatte an die Hecke zu halten.
»Etwas mehr als 10 Fuß!«, rief er laut nach hinten. Nickend schrieb die Gemeindesekretärin die alarmierende Zahl ins Protokoll. Harold Conway, der neben ihr stand, sah ihr kritisch dabei zu. Er trug einen dunklen Anzug. Emily glaubte sich zu erinnern, dass es derselbe war, den er schon getragen hatte, als er damals mit ihrer Schwester zum Traualtar gegangen war. Sie erkannte es an den altmodischen grauen Metallknöpfen.
Nachdem auch noch einmal die Höhe der Äste, die aus der Akazie wuchsen, sorgfältig gemessen worden war, kam der Bürgermeister auf Emily zu und gab ihr die Hand. Er war ein gemütlicher, freundlicher Mann.
»Guten Tag, Mrs. Bloom. Wie Sie sehen, steht es in diesem Jahr leider nicht gut mit Ihrer Hecke. Besonders die dicken Äste sind gefährlich. Da ist ja fast nichts geschnitten …«
»Im Durchschnitt 10 Fuß!«, rief der Inspektor von hinten.
»Ja, ich weiß«, sagte Emily und gab sich zerknirscht. »Normalerweise übernimmt mein Sohn die Aufgabe, wenn er mal hier ist. Aber der musste auf einen Ärztekongress …«
Sie versuchte, ein bisschen hilflos auszusehen, was ihr aber schwerfiel. Zum Glück kam Godfrey Ballard ihr zu Hilfe. Mit seiner wohlklingenden Stimme sagte er in die Runde:
»Vergessen wir nicht, was Mrs. Bloom hinter sich hat. Was ist da schon eine Hecke? Ich schlage deshalb vor, in diesem Fall auf die Geldstrafe zu verzichten.«
Prüfend sah er sich um. Die meisten nickten, auch der Bürgermeister war einverstanden.
»Ich sehe da kein Problem. Was sagen Sie, Mr. Conway?«
Conway kratzte sich am Hals und setzte ein nachdenkliches Gesicht auf. Emily kannte diesen Blick. So schaute er immer, wenn er die Würde des Chef de Police in Gefahr sah. Sie ahnte, was jetzt kam.
»Wenn ich für die Honorary Police sprechen soll – nun, Mrs. Bloom weiß ja, wie sehr ich ihr zu Dank verpflichtet bin …« Er wandte sich direkt an Emily. »Wirklich großen Dank, Emily! Trotzdem, wir müssen da sorgfältig unterscheiden. Unsere Visite du Branchage darf nicht zur Farce werden, das sind wir der Ordnung auf Jersey schuldig. Und deshalb – so leid es mir tut – Zivilcourage und Branchage lassen sich nun einmal nicht miteinander verrechnen …«
Die Mitglieder des Komitees schwiegen betroffen. Damit hatte niemand gerechnet, auch wenn der Chef de Police für seine Unnachgiebigkeit bekannt war.
Emily ließ sich ihre Verärgerung über Harolds Sturheit in keinster Weise anmerken. »Ich finde, Mr. Conway hat recht«, sagte sie bemüht freundlich und zog ihre Geldbörse aus der Handtasche. »Selbstverständlich werde ich die fünfzig Pfund Strafe bezahlen.«
Der Bürgermeister versuchte einzulenken. »Also bitte, Mrs. Bloom …«
»Nein, nein, lassen Sie nur«, sagte sie scheinbar fröhlich und gab ihm die Geldscheine, »das ist ganz in Ordnung. Werde ich jetzt noch gebraucht?«
Alle versicherten ihr, dass die Sache damit erledigt sei und sie jetzt nur noch dafür sorgen müsse, dass die Hecke sobald wie möglich geschnitten würde. Als sie sich verabschiedete, würdigte sie Harold keines Blickes.
Kaum war sie im Haus, explodierte sie. Wütend knallte sie die Haustür hinter sich zu, warf ihre Jacke über einen Stuhl und stürzte zum Telefon im Flur. Wenn sie jetzt nicht bei irgendjemandem ihren Zorn loswerden konnte, würde sie daran noch ersticken. Sie wusste auch schon, bei wem.
Als Helen Keaton ahnungslos abnahm, bestürmte Emily sie ohne Vorrede mit einer Schimpfkanonade.
»Weißt du, was Harold sich eben geleistet hat? Er hat mich für meine Hecke Strafe zahlen lassen! Und das, nachdem ich ihm so geholfen habe!«
»Das ist nicht wahr!?«
»Doch! Vor dem ganzen Komitee! Und ich habe gedacht, er hat sich verändert!«
»Harold doch nicht.«
»Warum tut er das, Helen?«
Helen lachte. »Weil er Harold ist. Stur und eigenwillig.«
Emily protestierte. »Eigenwillig? Weißt du, was er ist?« Sie holte Luft und ließ wütend alles heraus, was sie über Harold Conway dachte. »Er ist ein eingebildeter, ehrgeiziger, besessener Hobby Bobby – das ist er!«
»Na also«, sagte Helen zufrieden. »Ich wusste doch, dass ihr ein gutes Gespann seid.«