DIE VERGANGENHEIT IST NIE TOT,
SIE IST
NICHT EINMAL
VERGANGEN.
William Faulkner
Dass ausgerechnet der eitle und scharfzüngige Richter John Willingham die erste der beiden Leichen finden sollte, und das auch noch an seinem letzten Arbeitstag am Königlichen Gerichtshof Jersey, war schon ein pikanter Zufall.
Leicht angeheitert und beseelt von den Feierlichkeiten zu seinem Abschied trat Willingham um kurz nach acht Uhr abends aus dem Eingang des ehrwürdigen Gerichtsgebäudes auf den Royal Square hinaus. Es war noch hell draußen, aber in der Innenstadt war die Abendkühle vom Meer bereits zu spüren. Während er unter den Kastanienbäumen auf sein Taxi wartete, atmete er in tiefen Zügen die frische Luft ein und ließ für einen Augenblick das Fest und die vielen Reden in sich nachwirken. Mit dem weißen Haarkranz und seiner aristokratischen, eleganten Gestalt war er immer noch eine eindrucksvolle Persönlichkeit.
Er liebte es, wenn andere sich für ihn Mühe machten. Als Oberster Richter hatte der Bailiff ihm zuliebe einen feierlichen Abschied in der ehrwürdigen Bibliothek des Royal Court gegeben. Einige der Reden hatten zwar bei Weitem nicht die intellektuelle Brillanz besessen, für die er, Willingham, berühmt war, doch er war zufrieden. Auch der Abschied von seinen Mitarbeitern war ihm so bewegend erschienen, dass er sich in diesem Moment überaus glücklich fühlte – trotz der anstehenden Veränderungen. Mit sechzig hatte er sich den Ruhestand redlich verdient. Auf ihn wartete eine kostspielige Leidenschaft, die er seit seinem Studium in Oxford pflegte – der Reitsport. Er konnte sich zwar beim besten Willen nicht vorstellen, wie das Magistratsgericht künftig ohne ihn auskommen würde, aber das war nun nicht mehr seine Sache.
Von seinem Taxi war immer noch nichts zu sehen. Langsam schlenderte er zum benachbarten Pub The Cock & Bottle hinüber, dessen vollbesetzte Tische sich an der historischen Häuserfront des Royal Square entlangzogen. Interessiert musterte er die lärmenden Touristen, die dort saßen und ihr Bier tranken.
Plötzlich rief jemand seinen Namen. Er drehte sich um. Gwyneth Trollop, seine langjährige Assistentin, kam auf ihn zugelaufen. Wegen des eng geschnittenen schwarzen Rockes, den sie heute ihm zu Ehren angezogen hatte, konnte die kräftige junge Juristin nur kleine Trippelschritte machen. In der Hand trug sie eine schwere Plastiktüte, gefüllt mit Weinflaschen, die man ihm zum Abschied überreicht hatte.
»Sie haben Ihre Sachen liegen lassen, Richter Willingham!«, rief sie atemlos.
Er ging ihr ein paar Schritte entgegen. »Danke, Gwyneth. Da sehen Sie mal – Zeit, dass ich aufhöre. Sonst habe ich nie etwas vergessen.«
Gwyneth wusste genau, wie sie mit ihm umgehen musste. Während sie ihm die Tüte gab, sagte sie schelmisch: »Einspruch, Euer Ehren. Ich habe Sie beobachtet. Sie haben die Weine nur liegen lassen, weil sie Ihnen nicht gefallen.«
»Ertappt, Gwynnielein.« Willingham seufzte zerknirscht. »Aber ich schwöre Ihnen, früher hat diese Methode immer funktioniert.«
Die junge Frau hob resigniert die Schultern. »Früher hatten Sie ja auch keinen Nachfolger, der aufgepasst hat und schon morgen früh Ihr Büro beziehen will. Wetten, dass er mich am Ende doch nicht in sein Team übernehmen wird?«
Willingham wiegelte ab. »Ach was. Sie werden sehen, man kann gut mit ihm zusammenarbeiten.«
Es war eine gnädige Lüge, denn Edward Waterhouse konnte ziemlich arrogant sein. Aber Gwyneth hatte seiner Meinung nach ein bisschen Hoffnung verdient.
Das Taxi rollte über den belebten Platz auf sie zu. Richter Willingham gab dem Taxifahrer mit einem kleinen Handzeichen zu verstehen, wo der Wagen halten sollte. Dann wandte er sich wieder an seine Mitarbeiterin.
»So, und jetzt gehen Sie wieder zu den anderen. Ich glaube, Waterhouse will gleich noch seine Antrittsrede halten.«
Bissig erwiderte Gwyneth: »Schon allein das ist eine Stillosigkeit!«
Die Kofferraumklappe des Taxis sprang automatisch auf. Der dicke Taxifahrer machte keine Anstalten, den fetten Hintern von seinem Platz zu bewegen. Normalerweise hätte der Richter sich geweigert, dem Fahrer die Arbeit abzunehmen. Doch heute hatte er keine Lust, sich von einem Flegel den Abend verderben zu lassen.
Vorsichtig hob er die schwere Tüte mit dem Wein in den Kofferraum, als er plötzlich stutzte.
Vor ihm – neben zwei schmuddeligen Tupperdosen mit irgendetwas Essbarem – lag der blutverschmierte, jämmerlich gekrümmte Körper einer jungen Frau mit dunklen Haaren. Unter ihrem Oberkörper ragte das Ende eines öligen Wagenhebers hervor. Sie trug Jeans und ein grünes T-Shirt, auf dem das Blut riesige schwarze Flecken hinterlassen hatte. Ihre starren Augen waren weit aufgerissen.
Er musste kein zweites Mal hinschauen, um Gewissheit zu haben, dass der Taxifahrer ihm soeben eine Tote serviert hatte. Wenn das kein Mordopfer war, würde er die Weinflaschen in der Tüte freiwillig austrinken.
Zögernd blickte Willingham zu Gwyneth Trollop hinüber, die mit verschränkten Armen unter einem Baum stand und ihm still zulächelte.
Zynisch fragte er sich, was jetzt wohl besser wäre – die Kofferraumklappe einfach wieder zu schließen, mit seinem Wein auf dem Rücksitz Platz zu nehmen und seinen noblen Abschied für immer in guter Erinnerung zu behalten, oder seinem Nachfolger Edward Waterhouse ein bisschen Arbeit zu bescheren, denn dieser Mordfall würde unweigerlich auf dessen neuem Schreibtisch landen.
Er entschloss sich, seinen moralischen Prinzipien treu zu bleiben. Heftig winkend signalisierte er Gwyneth Trollop, dass sie rasch zum ihm kommen solle.
Es war bitter, aber wie es aussah, war der Rest dieses schönen Abends für ihn gelaufen.
Die überschaubare, bis auf ein paar harmlose Wochenendschlägereien und Drogendelikte recht friedliche Welt auf Jersey hatte einen Riss bekommen. Es war, als hätte über Nacht eine riesige Welle die Kanalinsel überrollt und Ratlosigkeit zurückgelassen. Der brutale Mord war eine Bedrohung der Sicherheit, wie man sie sonst nur vom Festland kannte. Für das behagliche Landleben hinter den Hecken und Steinmauern der Cottages konnte es nichts Schlimmeres geben.
Auch wenn man in der Hauptstadt St. Helier – dort, wo die Leiche gefunden worden war – sehr viel realistischer mit dem Mordfall umging, sorgten vor allem die ständigen Fernsehberichte für zusätzliche Anspannung in den Pfarrbezirken. Am besten brachte es der eiserne alte Mr. Buckley auf den Punkt, als er frühmorgens am Hafen von St. Aubin seine Zeitung kaufte.
»Es geht los«, sagte er, »Europa kommt immer näher.«
Jeder wusste, dass Buckley 1940 besonders tapfer gegen die Besetzung der Insel durch die Deutschen gekämpft hatte und daher eine Menge von Gefahr verstand.
Vor allem den Frauen machte der Mord Angst. Die propere Mrs. La Pierre, deren Familie im Hinterland von St. Aubin die berühmten kleinen Jersey Royal züchtete – winzige wohlschmeckende Kartoffeln, die ebenso zum Ruhm von Jersey beigetragen hatten wie die Strickwaren, die Tomaten und die Kühe –, organisierte mit ihren Freundinnen noch am selben Vormittag, als die Tat bekannt wurde, einen Selbstverteidigungskurs bei John Lee, dem jungen, muskulösen Tai-Chi-Lehrer des Sportclubs.
Die Einzige in der Gegend, die auch künftig an der guten alten Sitte festhalten wollte, die Türen ihres Farmhauses niemals abzuschließen, war die selbstbewusste Helen Keating. Ihr gehörte eine der beiden Lavendelgärtnereien auf Jersey, ein großes Gelände bei St. Ouen. Da sie nach Feierabend ehrenamtlich das Zeitungsarchiv des Jersey-Museums in Schuss hielt, beruhigte sie alle, indem sie versicherte, dass es früher bereits viel schlimmere Verbrechen auf Jersey gegeben hatte. Doch bis auf Mrs. Bloom, ihre beste Freundin, wollte niemand eine so nüchterne Einschätzung hören. Stattdessen brannte jeder darauf, endlich neue Details des Kriminalfalles serviert zu bekommen.
Selbst zwei Tage nach dem Verbrechen gab es morgens im hellblauen Bus nach St. Helier keinen Fahrgast, der nicht in seine Zeitung vertieft war und den Polizeibericht las. Man hatte den Mörder immer noch nicht gefasst.
Debbie Farrow saß wie jeden Tag in der ersten Reihe hinter dem Busfahrer, diesmal auffallend schweigsam mit ihrer Zeitung beschäftigt. Sie stammte aus St. Brelade’s Bay, genauso wie der Mann hinter dem Lenkrad, mit dessen Tochter sie zur Schule gegangen war. Normalerweise unterhielt sie sich während der Fahrt mit ihm, doch heute hatte sie keine Lust zu reden. Wie gebannt verschlang sie den neuesten Artikel über das schreckliche Verbrechen.
Während sie las, bewegten sich ihre blonden Haarspitzen im Fahrtwind. Die frische Luft drang durch das offene Schiebefenster über ihr herein und wehte leicht über die Seiten ihrer Zeitung. Niemand sagte etwas. Mit konstantem Brummen, als wollte der Fahrer die angestrengte Lektüre seiner Gäste nicht durch unnötige Motorgeräusche stören, fuhr der Bus an der leeren Strandpromenade entlang.
Debbie hob den Blick und schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Sie hatte immer noch Probleme damit, etwas über den Tod eines Menschen zu lesen. Was diesem Opfer passiert war, klang besonders grausam.
Das Mordopfer war eine 24-jährige Polin namens Jolanta Nowak. Man hatte sie durch fünf bestialische Messerstiche umgebracht. Ein Arzt im Krankenhaus hatte sie wiedererkannt. Sie war erst vor vier Tagen bei ihm in Behandlung gewesen. Statt der von ihr erwarteten Entzündung der Eierstöcke hatte er bei ihr eine Schwangerschaft im zweiten Monat diagnostiziert.
Schnell verdrängte Debbie den aufkeimenden Gedanken an die ersten Ultraschallbilder ihres eigenen Kindes. Auch sie war damals erst vierundzwanzig gewesen und auf ein Kind in keiner Weise vorbereitet. Jetzt, mit Anfang dreißig, hätte sie vieles anders gemacht.
Als sie wieder in die Zeitung schaute, stach ihr das Foto der Toten ins Auge. Es war ganz offensichtlich ein Passfoto, das die Polizei veröffentlicht hatte. Am Rand konnte man noch einen blassen polnischen Stempel erkennen. Es zeigte eine schüchterne, schmalgesichtige junge Frau mit großen traurigen Augen und halblangen braunen Haaren.
Angestrengt dachte Debbie nach.
Wo war ihr diese Frau schon einmal begegnet? Als Kundin in der Bank? Am Strand von St. Brelade’s Bay? In der Stadt?
Es fiel ihr nicht ein.
Auch der Taxifahrer, der die Tote unfreiwillig transportiert hatte, fand in dem Artikel Erwähnung. Offenbar hatte man ihm die Leiche heimlich in den Kofferraum gelegt, während er seinen Wagen für einen kurzen Arztbesuch auf einem Platz hinter dem Strand geparkt und nicht abgeschlossen hatte.
Als Debbie mit einem erneuten Blick aus dem Fenster feststellte, dass sie gleich aussteigen musste, faltete sie die Zeitung zusammen und ließ sie in ihrer Handtasche verschwinden. Später im Büro würde sie sie noch einmal lesen. Sie rutschte aus der Sitzbank, zupfte ihren Rock zurecht und stellte sich vor die automatische Tür.
In der Scheibe konnte sie sehen, wie sich ihr blondes Spiegelbild über die vorbeiziehende Häuserfront der Victoria Esplanade hinwegbewegte. In ihrem dunkelblauen Kostüm mit der beigefarbenen Bluse sah sie aus wie all die anderen Bankangestellten draußen auf der Straße – dezent bis zur Langweiligkeit. Andererseits konnte sie froh sein, den Job in der Bank überhaupt bekommen zu haben. Nach dem Tod ihres kleinen Sohnes war sie psychisch in einen tiefen Krater gesunken. Viele Monate lang hatte es nicht so ausgesehen, als wenn sie es jemals wieder schaffen würde, im Beruf Fuß zu fassen.
Doch der Krater hatte sie wieder ausgespuckt. Es war alles so ungerecht. Sie lebte, aber ihr Sohn lag auf dem Friedhof. Immer wenn sie kurz die Augen schloss, konnte sie den lachenden kleinen David mit seinen lockigen braunen Haaren vor sich sehen. So machte sie es jeden Tag, wann immer sie wollte. So wie jetzt.
Mit einem Ruck bremste der Bus ab. Debbie öffnete schnell ihre Augen und hielt sich an der Haltestange fest, um nicht umzufallen.
Genau in diesem Moment fiel ihr wieder ein, wo sie die junge Polin gesehen hatte. Es war seltsam, sofort empfand sie den Gedankenblitz als Himmelsgeschenk von David.
Es war vor zehn Monaten gewesen, auf seiner Beerdigung.
Inmitten der Menge dunkel gekleideter weinender Menschen war die Unbekannte nach der Grabrede hinter Davids kleinem Kindergrab aufgetaucht. Sie war die Einzige unter den Trauergästen gewesen, die Debbie nicht gekannt hatte.
Was hatte Jolanta Nowak dorthin getrieben?
Debbie bekam Angst. Schon lange hatte sie den Verdacht, dass sie nicht die ganze Wahrheit über den Tod ihres Sohnes wusste. Seine fünf jämmerlich kurzen Kinderjahre hatten am Ende nur noch aus Krankenhausaufenthalten und aus der Tortur schrecklicher Asthmaanfälle bestanden. Irgendetwas hatte seinen kleinen Körper so geschwächt, dass er den Krankheiten keinen Widerstand mehr entgegensetzen konnte. Auch die Ärzte hatten nicht mehr weitergewusst. Sie hatte David beerdigt in dem ohnmächtigen Gefühl, sie müsse ihn aus Unwissenheit gehen lassen. Heute bereute sie heftig, dass sie damals einer Obduktion nicht zugestimmt hatte.
Der Bus hielt an, zischend öffnete sich die automatische Tür. Debbie stieg aus, bis zur Verwirrung beschäftigt mit der Frage, was sie jetzt tun sollte. Unschlüssig blieb sie an der Bushaltestelle stehen.
Es gab eigentlich nur einen Menschen, der ihr jetzt weiterhelfen konnte – ihr Cousin Oliver. Auch wenn er das schwarze Schaf in der Familie war, um den kleinen David hatte er sich immer rührend gekümmert. Sie wusste, wo sie ihn um diese Zeit finden konnte.
Während sie ihre Schritte bereits Richtung Hafen lenkte, wählte sie kurz entschlossen die Handynummer ihrer Kollegin Lindsay in der Bank. Debbie hatte Glück, sie saß bereits an ihrem Platz.
»Lindsay? Könntest du bitte dem Chef sagen, dass ich heute etwas später komme?«
»Nicht nötig. Mr. Arnold kommt selbst erst nachmittags von den Verhandlungen in London zurück. Irgendwelche Probleme? Du klingst so aufgeregt.«
»Nein … oder doch, ja … Es ist wieder mal was Familiäres. Ich muss noch schnell meinen Cousin treffen, bevor ich ins Büro komme.«
»Ah – den Netten mit den Locken? Der immer in Archies Pub rumhängt?«
Lindsay hatte Oliver so in Erinnerung, wie er vor einem halben Jahr ausgesehen hatte. Jetzt würde sie ihn höchstwahrscheinlich nicht mehr wiedererkennen.
»Ja, den. Ich beeil mich auch.«
»Lass dir ruhig Zeit. Und grüß ihn schön.«
»Mach ich. Bis später.«
Während Debbie über die große Kreuzung ging und auf eine schmuddelig wirkende Eckkneipe gegenüber dem Hafen zusteuerte, bereitete sie sich innerlich auf das Treffen mit Oliver vor. Er war drei Jahre jünger als sie und als Schulabbrecher die meiste Zeit arbeitslos. Mit seinem gutmütigen Charakter hätte er leicht eine Ausbildungsstelle finden können, das sagte jeder, der ihn kannte. Aber durch seine krankhafte Faulheit – die Psychologen des Arbeitsamtes nannten es in ihren Papieren rücksichtsvoll Lethargie – hatte er jede sich bietende Chance vertan.
Dennoch war Oliver viele Monate lang für Debbie ein Rettungsanker gewesen. Als alleinerziehende Mutter war sie oft genug mit dem kränkelnden Kind und den ständigen Geldsorgen überfordert gewesen. Ihre Mutter war tot, ihre einzige Schwester lebte in England. Wann immer sie Überstunden machen musste, um zusätzlich ein paar Pfund zu verdienen, hatte Oliver bereitwillig seinen kleinen Neffen zu sich genommen und auf ihn aufgepasst.
Debbie empfand es als besonders tragisch, dass Davids Tod ihn noch ein Stück weiter aus der Bahn geworfen hatte.
Natürlich hatte sie versucht, ihm wieder auf die Beine zu helfen. Sie hatte in seinem Namen auf Stellenanzeigen geantwortet, knüpfte Kontakte für ihn, half ihm gelegentlich mit einer kleinen Summe – doch er weigerte sich hartnäckig, sein Leben zu ändern. Warum, blieb ihr ein Rätsel.
Seit einiger Zeit hing er schon morgens in seinem Stammlokal herum. Nur wenn er zweimal, bestenfalls dreimal die Woche Aushilfsjobs im Hafen bekam, riss er sich für ein paar Stunden zusammen.
Als Debbie die rote Tür zu Archies Pub öffnete und eintrat, hoffte sie inständig, dass Oliver heute halbwegs ansprechbar war.
Laute Popmusik dröhnte ihr entgegen. Offenbar hatte Archie das Radio nur für sich selbst aufgedreht, denn Gäste waren um diese Uhrzeit noch nicht zu sehen. Der ganze Raum roch nach schalem Bier. Mit müdem Gesicht und zerstrubbelten Haaren stand Archie hinter dem Tresen und trocknete Gläser ab. Als er Debbie erkannte, hob er kurz das Kinn in Richtung der Treppe, die zu den Toiletten hinunterführte.
Mit mulmigem Gefühl ging Debbie weiter, bis sie schließlich ihren Cousin entdeckte. Als ewiger Stammgast saß er am letzten Tisch in einer schummrigen Nische. In seiner verwaschenen Jeansjacke sah er zwar immer noch jungenhaft aus, aber sein Äußeres war ziemlich ungepflegt. Die blonden Locken, die ihn früher immer so fröhlich aussehen ließen, waren fettig und lang, das löchrige Hemd war schmutzig. Mit gekrümmtem Rücken hing er über seinem Teller, auf dem ein angebissenes Croissant lag. Daneben stand ein Glas starkes dunkles Lagerbier, das er schon fast leer getrunken hatte.
Debbie hätte heulen können darüber, wie heruntergekommen Oliver wirkte. »Hallo, Oliver.«
Erstaunt ließ er seinen müden Blick an ihr hochwandern.
»Debbie? Was machst du denn hier?«
Sie setzte sich ihm gegenüber und legte die Hände auf den braunen Tisch, aber die Tischplatte war so klebrig, dass sie sofort wieder davon abrückte.
»Ich muss mit dir reden«, sagte sie.
Oliver wirkte, als hätte er die ganze Nacht durchgefeiert. Meistens spielte er mit seinen Freunden Karten.
»Reden ist immer gut …« Er nickte mit halb geschlossenen Lidern. »Aber versuch bloß nicht, mir wieder irgendeinen blöden Job unterzujubeln …«
»Nein«, sagte Debbie, »du kannst beruhigt sein. Ich komme wegen einer anderen Sache.«
Sie zog die Zeitung aus ihrer Handtasche, faltete sie auseinander, schob Olivers Teller zur Seite und breitete die Seite mit dem Foto der Ermordeten vor ihm aus.
»Kennst du diese Frau?«
Gehorsam stierte Oliver auf das Foto. Für einen Moment hatte Debbie den Eindruck, als würde Wut über sein Gesicht huschen, während er die Kiefer aufeinanderpresste. Doch als er wieder aufblickte, war nichts mehr davon zu sehen.
Kopfschüttelnd sagte er: »Nie gesehen. Wieso glaubst du, dass ich sie kenne?«
»Weil ich mich erinnert habe, dass die Frau bei Davids Beerdigung war.«
Mit einer fahrigen Handbewegung winkte Oliver ab. »Quatsch … Hör endlich auf, immer in der alten Geschichte rumzurühren … Hey Baby, das ist nicht gut für dich, glaub mir …«
Sie atmete tief durch. Traurigkeit klang aus ihrer aufgebrachten Stimme. »Alte Geschichte? Oliver, es geht um mein Kind! Siehst du ihn noch vor dir? Wie er geweint und gewimmert hat, bis er tot war? Ja?«
Oliver hielt sich die Ohren zu. Seine langen Fingernägel starrten vor Dreck. »Hör auf! Wie kann ich das vergessen?«
»Dann sag mir jetzt die Wahrheit. Du kennst das Mädchen. Ich hab’s dir angesehen.«
Auf seinem Stuhl vor und zurück wippend, schaute er sie eine Weile schweigend an. In seinen Mundwinkeln stand Spucke. Debbie ertappte sich dabei, wie sie sich vor ihm ekelte. Das war nicht mehr der Oliver, der ihr immer aus der Patsche geholfen hatte. Sie hatte den Verdacht, dass er seit einiger Zeit Drogen nahm.
Plötzlich war es ihr egal, wie abgewrackt er vor ihr saß. Er sollte sich gefälligst fünf Minuten zusammennehmen.
»Ich kriege jetzt eine Antwort von dir, okay? Oder ich rufe deinen Vater an und erzähle ihm, wie du hier vor die Hunde gehst.«
Das wirkte. Oliver erschrak. Vor seinem Vater, einem stiernackigen Vorarbeiter, hatte er immer noch große Angst. Seit Jahren ging er ihm aus dem Weg.
Kleinlaut sagte er: »Also gut, meinetwegen … Kann sein, dass du recht hast … Dass die Polin da war, meine ich …«
»Wer hat sie mitgebracht?«
»Keine Ahnung.«
»Du lügst, Oliver.«
Er protestierte mit weinerlicher Stimme. »Hey, hab ich mich nicht immer super um deinen Sohn gekümmert? Ist das jetzt der Dank dafür?«
»Darum geht es nicht. Du lügst, und ich will wissen, warum. Was hatte diese Polin mit meinem Kind zu tun?«
»Bitte hör auf zu fragen«, bettelte Oliver. »Du machst alles nur noch schlimmer.«
Debbie wurde wütend. Mit einer schnellen Bewegung beugte sie sich über den Tisch, packte ihn am Kragen seiner Jeansjacke und schüttelte ihn heftig.
»Sag’s mir, verdammt noch mal! Was ist damals mit meinem Kind passiert? Und wie hängt das mit der Toten zusammen?«
Sie konnte sehen, wie die Farbe aus Olivers Gesicht wich. Auf einmal war er kalkweiß. Es schien ihn unendlich viel Überwindung zu kosten, weiterzureden. »Kannst du dir nicht denken, wer da seine Finger im Spiel hat?«, sagte er schließlich. »Der Scheißkerl hat unser Leben ruiniert …«
Stockend begann er zu erzählen.
Mit aufgerissenen Augen hörte Debbie ihm zu. Entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund.
Eine Insel der Sicherheit.
Richter Willingham verzog gequält das Gesicht, als er den Satz in der Zeitung las.
Noch vor einem Jahr hatte der Justizsprecher mit dieser Formulierung die verschwindend geringe Verbrechensrate auf Jersey in höchsten Tönen gelobt. Dass die Presse ihn jetzt auf bissige Weise damit zitierte, konnte ja nicht ausbleiben.
Die Jersianer waren verdammt hart im Austeilen, wenn man sie in ihrem gemütlichen Alltag störte. Ihr höchstes Gut war die Freiheit. Das hatten sie von ihren Vorfahren, den Normannen, geerbt. Nicht nur der Reichtum an französischen Familiennamen auf Jersey und das nur noch selten gesprochene Jèrriais zeugten bis heute von dieser historischen Verwandtschaft. Auch wenn das Jersey-Französisch schon lange der englischen Sprache gewichen war – in den Namen der Verwaltungsbezirke, Orte, Straßen und Häuser spiegelte sich der französische Geist der Insel noch immer wider.
Niemand wusste das besser als Richter Willingham. Nach so vielen Jahren als Strafrichter war er ein exzellenter Kenner seiner Landsleute. Mochte die Insel heute auch für viele nur ein Steuerparadies sein – in ihrem Herzen waren die jerseymen Menschen geblieben, die stets eine Krume Erde in der Tasche hatten. »Inselbewohner voller Selbstvertrauen, mit klugem Geschäftssinn, enorm fleißig, schweigend und sparsam« – diese Beschreibung des Historikers G. R. Balleine, der ein enger Freund seines Vaters gewesen war, traf nach Willinghams Erfahrung immer noch zu.
Nicht gerade gut gelaunt saß er unter dem weißen Sonnenschirm auf seiner gepflasterten Terrasse, blätterte stirnrunzelnd die Zeitungen durch und frühstückte dabei. Selbst der schöne Blick auf den kleinen Park und die weißen Villen unterhalb seines Grundstücks konnte ihn heute nicht milde stimmen. Kein Wunder, dass sich seine Frau schon sehr früh zum Golfspielen aufgemacht hatte.
Nein, so hatte er sich seine neue Freiheit vom Richteramt nicht vorgestellt.
Die Verhöre nach seinem Leichenfund waren sehr langwierig gewesen. Doch er hatte sie geduldig ertragen, damit ihm später keiner nachsagen konnte, er hätte die Schlafmützen von der Polizei nicht ausreichend unterstützt. Was ihm dagegen zunehmend auf die Nerven ging, war der Ansturm der Journalisten. Freundlicherweise hatte Gwyneth Trollop es in alter Verbundenheit übernommen, die zahlreichen Telefoninterviews zu koordinieren und ihm allzu dumme Fragen vom Hals zu halten.
Um sich etwas abzulenken und den Kopf frei zu bekommen, hatte er heute eigentlich gleich nach dem Frühstück ausreiten wollen. Sein Pferd stand ganz in der Nähe im Reitstall von Frank Guiton, einem jungen, smarten Züchter, den der Richter außerordentlich schätzte. Guiton war nicht nur ein ausgezeichneter Pferdekenner, er besaß auch glänzende Kontakte zur Rennbahn von Windsor. Schon manches Mal hatte Willingham dort über ihn Karten für beste Logenplätze erhalten.
Doch mit dem geplanten Ausritt wurde es heute nichts. Vor einer halben Stunde hatte ihn Guiton aufgeregt angerufen. Über Nacht war eine seiner wertvollsten Zuchtstuten aus dem Stall entführt worden. Eine Spur zu den Tätern gab es nicht, niemand hatte etwas bemerkt. Willingham wusste, dass das Rennpferd mit einer Viertelmillion Pfund versichert war, sodass Guiton wenigstens kein allzu großer finanzieller Schaden entstand. Dennoch hatte der Züchter ziemlich deprimiert geklungen.
Willingham konnte ihn gut verstehen. Was für ein mieser Tag.
Eine Insel der Sicherheit!
Ironischer hätte das Schicksal gar nicht darauf antworten können.
Als das Telefon erneut klingelte, war Willingham auf alles gefasst. Ein Terroranschlag, eine Brandkatastrophe – plötzlich erschien ihm alles möglich.
Er fischte den Hörer unter dem Stapel der gelesenen Zeitungen hervor, hielt ihn sich ans Ohr und blaffte so unfreundlich wie möglich hinein: »Ja?«
Es war sein Nachfolger, Richter Edward Waterhouse. In saloppem Ton, der typisch war für den schlaksigen fünfundvierzigjährigen Harvard-Absolventen, sagte Waterhouse: »Guten Morgen. Wollte nur mal hören, ob Sie die Aufregungen gut überstanden haben.«
»Danke der Nachfrage«, antwortete Willingham betont höflich. »Bis auf den Zirkus mit den Journalisten will ich mich nicht beklagen. Gibt es schon irgendwelche Neuigkeiten?«
»Nicht wirklich, aber der Nebel lichtet sich … Wir wissen jetzt, dass die Polin eine Art friedlicher Engel war.«
»Was heißt das?«, fragte Willingham irritiert.
»Sie war hier, um eine alte Tante zu pflegen, die seit zwanzig Jahren auf Jersey lebt und seit einiger Zeit bettlägerig ist.«
»Und wovon hat sie gelebt?«
»Ausschließlich vom Geld der Tante. Die Nachbarn sagen, sie war nett, bescheiden und zurückhaltend. Hat angeblich nur selten das Haus verlassen.«
»Trotzdem …« Willingham kam so viel Bescheidenheit merkwürdig vor. »Sie muss doch irgendwelche Kontakte gehabt haben. Was ist mit einem Freund? Mit anderen Landsleuten?«
Waterhouse lachte. Es klang auf jugendliche Weise überheblich. »Moment, Moment – so weit ist der Staatsanwalt noch nicht!«
Willingham begriff sofort, was sein Nachfolger ihm damit sagen wollte: Finger weg, du alter Sack!
Indigniert brach er das Thema ab. Er kannte die Jungs aus Harvard. Sie taten locker und waren in Wirklichkeit arrogant. Und sie hielten zusammen. Der Leitende Staatsanwalt war auch so einer, dem die britischen Universitäten nicht mehr gereicht hatten.
Gereizt fragte er: »Gibt es wenigstens schon einen Sonderstab der Polizei?«
»Ja«, sagte Richter Waterhouse. »Seit heute Morgen.«
»Und? Wer leitet die Gruppe?«
»Eine Frau.«
Willingham stöhnte vernehmlich auf. »Etwa das schmale blasse Wesen, das aussieht wie eine Marathonläuferin kurz vor dem Ziel?«
»Genau die«, sagte sein Nachfolger genüsslich. »Detective Inspector Jane Waterhouse. Meine Schwester.«
Nachdem Debbie Farrow den Pub wieder verlassen hatte, irrte sie aufgewühlt durch die Innenstadt. Was Oliver ihr erzählt hatte, war schockierend gewesen. Jetzt, da sie wusste, dass das furchtbare Leiden ihres Kindes zu verhindern gewesen wäre, schien ihr Herz endgültig zu zerreißen. Gleichzeitig spürte sie, wie ein dumpfes Rachegefühl in ihr wuchs, stark wie ein Baum, der in rasender Geschwindigkeit neue Äste hervorbrachte.
Ihre Entschlossenheit wuchs. Sie würde den Mörder ihres Kindes vor Gericht bringen. Und sie wollte ihm dabei ins Gesicht sehen, wenn er erfuhr, dass sie die Wahrheit wusste.
»Hallo Debbie«, sagte plötzlich eine freundliche Stimme neben ihr.
Es war Mrs. Bloom. Sie stand neben der verbeulten Tür eines uralten roten Ford, in der Hand ein verschnürtes Paket. Offensichtlich hatte sie gerade eingeparkt, jedenfalls zog sie mit der freien Hand ihren Autoschlüssel aus dem Schloss und schaute Debbie dabei freundlich an.
»Äh … Hallo Mrs. Bloom«, antwortete Debbie schnell. »Wir haben uns ja ewig nicht gesehen.«
»Du kommst ja auch nur selten bei mir im Laden vorbei. Geht’s dir gut?«
»Danke, alles okay.«
Debbie musste sich sehr zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen und ihr die Wahrheit zu sagen. Sie zeigte auf Mrs. Blooms Paket. »Kann ich Ihnen was abnehmen?«
»Geht schon. Sind nur ein paar Kartons Tee drin. Adrian Fletcher vom Ceylon Tea Room hat heute Morgen gejammert, dass ihm der Darjeeling ausgegangen ist.«
»Oh ja! Das kann Adrian gut, jammern«, stimmte Debbie ihr zu. »In den Ferien habe ich mal bei ihm gejobbt. Er ist der größte Geizhals, den man sich vorstellen kann.«
»Wir sind eben eine Insel voller Individualisten«, meinte Mrs. Bloom humorvoll. »Da kommen alle Varianten reichlich vor. Gehst du ein Stück mit?«
»Gerne. Ich muss zurück zur King Street.«
Sie gingen los.
Schon auf den ersten Blick konnte man Mrs. Bloom ansehen, dass sie eine herzliche und bodenständige Lady vom Land war. Sie war zwar schon fünfzig, hatte aber auffallend lebhafte, jung gebliebene Augen. Ihre dunkelblonden Haare hielt sie mit einem schicken braun marmorierten Reif in Form, sodass sie auf interessante Weise damenhaft und gleichzeitig burschikos aussah. Ihr sympathisches Gesicht, dessen unverblühte Schönheit durch ein paar Fältchen nur noch interessanter geworden war, ließ allerdings auch ahnen, wie willensstark Mrs. Bloom sein konnte. Die paar kleinen Pfunde zu viel, die sich unter ihrem weißen Pulli und der blauen Windjacke andeuteten, zeigten ihren einzigen Schwachpunkt. Mrs. Bloom kochte für ihr Leben gern.
Sie war zweifellos eine höchst eigenwillige Persönlichkeit. So hatte sich Debbie früher immer die kluge und witzige Lehrerin aus ihren Internatsbüchern vorgestellt, eine in die Jahre gekommene Mary Poppins, die einem aus der Patsche half.
Niemand, der Mrs. Bloom näher kannte – und Debbie war seit ihrer Kindheit oft bei ihr in dem winzigen, bewusst traditionell eingerichteten Teeladen gewesen –, konnte sich ihrer warmherzigen und humorvollen Art entziehen.
Wenn man Mrs. Bloom etwas erzählte – während sie nach der ungeliebten Lesebrille griff, den Tee abwog und auf den silberfarbenen Tüten handschriftlich die Teemischung notierte –, hörte sie mit geduldiger Aufmerksamkeit zu. Doch dann überraschte sie mit geschickten Zwischenfragen, verblüffenden Schlussfolgerungen und wohltuend pragmatischen Ratschlägen. Man fühlte sich auf angenehme Weise durchschaut. Wie Mrs. Bloom das machte, wusste Debbie bis heute nicht, wahrscheinlich hatte sie einfach nur eine Menge Lebenserfahrung. Vor allem aber vergaß sie nie etwas, was man ihr einmal erzählt hatte, wirklich gar nichts, nicht einmal Winzigkeiten. In diesem Punkt war sie wie ein lebendes Archiv. Vielleicht erschien sie Debbie deshalb auch immer ein bisschen geheimnisvoll.
»Irgendwie siehst du blass aus«, stellte Mrs. Bloom mit kritischem Seitenblick fest, während sie in die Mulcaster Street einbogen. »Hast du was?«
»Ach, nur ein bisschen privaten Ärger …« Debbie versuchte ein kleines Lachen. »Sie merken aber auch alles.«
»Das hat deine Mutter auch immer gesagt …« Mrs. Bloom und Debbies Mutter hatten sich in der Jugend gut gekannt, draußen auf dem Land, wo selbst heute noch der unverwechselbare Geruch nach vraic über den Wiesen hing. Vraic war das getrocknete Seegras, das man auf Jersey seit jeher zum Düngen der Felder benutzte. »Also im Ernst, Debbie – wenn du jemanden zum Reden brauchst …«
»Ich komm schon allein klar«, antwortete Debbie und hob trotzig ihr Kinn. »Sie wissen doch, unsere Familie ist ganz groß, wenn es darum geht, allein zurechtzukommen.«
Mrs. Bloom lachte leise. »Oh ja! Darin seid ihr wirklich Weltmeister.« Kopfschüttelnd fügte sie hinzu: »Es ist nicht zu glauben – du bist Mary-Ann so was von ähnlich! Weißt du das eigentlich?«
Debbie zuckte etwas verloren mit den Schultern. »Ich wünschte, es wäre so … Mum hätte bestimmt nicht so viele Fehler gemacht wie ich … Sie ist viel zu früh gestorben.«
»Das kann man wohl sagen.«
Mit traurigem Nicken und zusammengekniffenem Mund, so als würde sie sich über die Gemeinheit des Schicksals, dass Menschen sterben mussten, sehr ärgern, stellte Mrs. Bloom den Kragen ihrer Windjacke auf und schaute in den Himmel. Trotz des strahlenden Wetters wehte ein scharfer Wind durch die Straßen.
Sie gingen über einen Zebrastreifen und konnten jetzt den Jachthafen und die kleine Insel mit den Ruinen des alten Elizabeth Castle sehen. Draußen auf dem offenen Meer zog ein weißes Kreuzfahrtschiff vorbei, was wegen des extremen Tidenhubs von fast vierzig Fuß nur sehr selten vorkam. Es war ein erhabener Anblick.
Debbie schaute auf die Uhr und erschrak.
»Oje, ich müsste schon längst im Büro sein.«
»Dann lass uns ein bisschen schneller gehen.«
Als sie die Pier Road erreichten, zeigte Debbie plötzlich nach rechts auf ein heruntergekommen wirkendes mehrstöckiges Wohnhaus. An der Fassade bröckelte der schmutzig graue Putz, neben der Haustür quollen die Müllcontainer über. Aus einem der Fenster lehnte sich ein alter Mann im Unterhemd.
»In dem Haus wird demnächst ein großes Apartment frei. Ich überlege, ob ich da einziehe. Das wäre näher an meiner Bank.«
Mrs. Bloom erschrak. »In den hässlichen Schuppen? Da wohnst du jetzt aber schöner.«
Debbie seufzte. »Ich weiß. Aber die neue Wohnung wäre erheblich billiger. Die andere habe ich damals ja nur wegen David genommen …«
»Ach so … Daran habe ich nicht gedacht …« Mrs. Bloom sah, dass Debbie mit den Tränen kämpfte. Mitfühlend fragte sie: »Ist es immer noch so schlimm?«
Debbie zuckte mit den Schultern.
»Mein Leben geht irgendwie weiter …«, sagte sie traurig. »Mehr aber auch nicht.«
»Und das ist zu wenig, um wieder glücklich zu werden, oder?«
»Vielleicht ist ja mein neuer Job bei der West Island Bank ein guter Anfang.« Sie machte eine kurze Pause und lächelte zaghaft. »Ich versuch’s wenigstens.«
»Ich wünsche es dir von Herzen«, sagte Mrs. Bloom. Ihre Augen strahlten eine ehrliche Anteilnahme aus, die Debbie guttat. »Gerade weil du David so geliebt hast, musst du lernen, ihn loszulassen – ohne ihn zu vergessen. Das musste ich auch erst lernen, als ich meinen Mann verloren hatte.«
Debbie nickte. »Und trotzdem … Egal, wie ich mich ablenke …« Debbie suchte zögernd nach den richtigen Worten. »Alles bleibt … so leer. In Wirklichkeit denke ich den ganzen Tag an ihn. Ich gehe jeden Morgen vor dem Büro zum Friedhof, bete für ihn und hoffe, dass ich irgendwann alles begreife. Aber ich mache Fortschritte. Ich weiß jetzt von Dingen, die ich vorher nicht wusste.«
Mrs. Bloom wurde hellhörig. »Darf ich fragen, was das für Fortschritte sind? In psychologischer Hinsicht? Indem du den Tod deines Kindes besser verarbeiten kannst?«
Debbie wich aus.
Plötzlich klingelte das Handy in ihrer Handtasche. Sie blieb stehen, griff hektisch in das kleine Fach neben Schminkzeug, Geldbörse und Babyfotos und fischte ihr Telefon heraus.
Mrs. Bloom schaute wartend zu, wie Debbie das Handy ans Ohr drückte. Es war pinkfarben.
»Debbie Farrow … Ja?« Sie wandte sich ab und ging ein paar Schritte bis zum nächsten Schaufenster, wo sie sich ungestört glaubte.
Mrs. Bloom bemerkte, dass Debbies Gesichtsausdruck sich schlagartig änderte, während sie zuhörte. Ihre Stirn legte sich in Falten, gleichzeitig erhielt ihr Mund einen trotzigen, kämpferischen Zug. Im Nu war aus der lieben Debbie eine kleine Furie geworden.
»Natürlich müssen wir uns treffen!«, fauchte sie in den Hörer. »Wo, ist mir egal … Um wie viel Uhr? … Von mir aus. Ich muss sehen, ob ich das schaffe … Nein, das werde ich dir garantiert nicht sagen! Und wehe, du bist nicht pünktlich!«
Mrs. Bloom gab ihr ein Zeichen, dass sie schon einmal allein weitergehen wollte. Am Ende der Straße leuchtete das verschnörkelte goldfarbene Firmenschild von Adrians Ceylon Tea Room in der Sonne.
Debbie war so konzentriert auf ihr Telefonat, dass sie nur flüchtig die Hand hob, sich dann gleich wieder wegdrehte und weiterredete.
Nachdenklich steuerte Mrs. Bloom auf den Tea Room zu. Sie war ernsthaft in Sorge. So aufgeregt hatte sie Debbie noch nie erlebt. Vielleicht sollte ich dieses gebrochene, ziellose Geschöpf einmal zu mir nach Hause einladen, dachte sie mit mütterlichem Instinkt. In gewisser Weise war sie das Debbies Mutter schuldig.
Als sie sich noch einmal umdrehte, sah sie Debbie mit dem Telefon am Ohr erregt hin und her gehen.
Die Nacht war merkwürdig fahl und still, was auf Jersey nicht oft vorkam. Normalerweise sorgte nach Sonnenuntergang eine kühle Brise für klare Luft, während der Mond reflektierende Lichter auf die Oberfläche des Meeres zauberte. Dadurch wurde es auf der Insel nie ganz dunkel, es sei denn, es war gerade Neumond und ein Wetterwechsel stand bevor. Doch diesmal war die Mondsichel schon seit Stunden von einem Ring aus Nebel umgeben, und das war immer ein schlechtes Zeichen.
Emily Bloom wachte schweißgebadet auf. Ihre Albträume waren zurückgekehrt, und sie hatte im Schlaf geschrien. Ein paar Wochen lang hatte sie Ruhe gehabt, doch jetzt gewann ihr aufdringliches Gedächtnis wieder die Oberhand. Sie hatte es kommen sehen. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn die Albträume diesmal ausgeblieben wären.
Das schweißnasse Nachthemd klebte ihr an der Haut. Emily setzte sich auf, knipste das Licht an und nahm die Uhr vom Nachttisch.
Kurz nach zwei.
Oh, mein Jubiläum hat begonnen, dachte sie selbstironisch, während sie sich wieder auf ihr zerwühltes Kopfkissen zurücksinken ließ.
Heute, am 23. Juni, auf den Tag genau vor zwölf Jahren, hatte sich ihr Leben verändert.
Ein schwarzumränderter Tag. Einer, der alles verändert hatte.
Bis heute wunderte sie sich, dass sie damals nicht daran zerbrochen war. Es musste ihr angeborenes positives Naturell gewesen sein, dass sie vor Schlimmerem bewahrt hatte.
6.45 Uhr, eine Viertelstunde bevor ihr Wecker geklingelt hätte, war sie aufgewacht. Richard bekam mit, wie sie aus dem Bett schlüpfte. Er öffnete kurz die Augen, wünschte ihr mit heiserer, verschlafener Stimme für ihren Termin alles Gute, drehte sich dann wieder um und schnarchte sofort weiter. Nachdenklich blieb Emily am Fußende des Bettes stehen und schaute ihren Mann lange an. Sie hatte gespürt, dass er in den vergangenen Jahren immer egoistischer geworden war. Aber dass er sich nur noch so wenig interessiert zeigte an ihrem Schicksal, war ein Schock für sie.
Als um 7.30 Uhr der Verkehrsbericht auf BBC Jersey lief, saß sie am Küchentisch und frühstückte. Draußen war es verdächtig windstill. Die gezackten Blätter des hohen Ahorns vor dem Fenster hingen so unbeweglich an den Ästen, als wären sie gar nicht echt. Auch das Meer – von der Küche aus als tiefblauer Streifen über dem Rosenbeet zu erkennen – schien sich kaum zu rühren, was ungewöhnlich war für einen Morgen an der Küste von Jersey. Lustlos kaute Emily auf einem aufgewärmten Croissant herum.
Noch vor zwei Tagen hatte sie im Garten fröhlich ihren achtunddreißigsten Geburtstag gefeiert, heute dagegen war ihre schöne Unbeschwertheit verschwunden. Schon während der ganzen Nacht hatte ihr Unterbewusstsein sie wie eine tickende Zeitbombe daran erinnert, dass ihr an diesem Vormittag der Termin im Krankenhaus bevorstand. Um neun Uhr wurde sie von Professor Riddington im General Hospital in St. Helier erwartet. Und sie machte sich nichts vor – diese Schlussbesprechung würde ihr ganzes weiteres Leben verändern.
7.50 Uhr, noch Zeit für ein paar Zeilen an Jonathan, ihren sechzehnjährigen Sohn, falls sie wider Erwarten doch ein oder zwei Tage im Krankenhaus bleiben musste. Jonathan war auf Klassenfahrt in Frankreich. Emily wollte vermeiden, dass er wiederkam und keinen Gruß von ihr vorfand, denn Richard hatte ab morgen die Steuerprüfer in der Zentrale seines Teegroßhandels und würde voraussichtlich für mehrere Tage ausfallen.
8.53 Uhr. Emily trat beklommen aus dem Fahrstuhl. Die Station für Neurologie war ihr inzwischen halbwegs vertraut. Fünf neuropsychologische Gedächtnistests waren dem heutigen Termin bereits vorausgegangen, fünf Tage voller irritierender Fragen, Versuchsreihen mit einem EEG-Gehirnschreiber und Röntgenaufnahmen.
Aus einem der Krankenzimmer kam eine der Schwestern. Emily kannte sie von ihrem letzten Termin.
»Nehmen Sie ruhig schon in Behandlungszimmer zwei Platz, Mrs. Bloom.«
Emily ging an den Plakaten und Fotodrucken des langen kalten Flures entlang und öffnete die letzte Tür auf der rechten Seite. Es war das Behandlungszimmer mit dem großen bequemen Kippsessel, in dem sie schon mehrmals während der neurologischen Sitzungen gelegen hatte.
9.05 Uhr. Schon während der Begrüßung war Professor Riddington auf seinem Schreibtischstuhl an ihren Kippsessel herangerollt, sodass sie sich jetzt direkt gegenübersaßen.
Emily spürte das Zittern ihrer gefalteten Hände auf den Knien. Sanft legte er eine Hand auf ihren Arm. Er war Anfang fünfzig und nicht unattraktiv. Seine Stimme hatte einen jugendlichen Klang, der beruhigend wirkte.
»Bleiben Sie ganz entspannt, Mrs. Bloom! Hören Sie einfach nur zu.« Er machte eine kleine Pause, bis sie sich etwas beruhigt hatte. »Wir haben nun also ein Ergebnis. Und es ist tatsächlich ein Phänomen, das es so erst wenige Male gegeben hat, zuletzt bei einer Frau in den USA …«
»Was heißt das?«, fragte sie zaghaft. »Ist es eine Krankheit?«
Lächelnd schüttelte er den Kopf. »Nein. Ganz im Gegenteil – ich würde sagen, es ist eher ein besonderes Geschenk der Natur.«
Mit leiser Stimme fragte sie: »Was bedeutet das genau?«
»Nun, wir haben ja in der vergangenen Woche darüber gesprochen, dass es in jedem menschlichen Gedächtnis Regionen gibt für die Speicherung von Faktenwissen und Regionen für das episodisch-autobiografische Wissen. Letztere sitzen in der rechten Gehirnhälfte.«
Sie nickte. »Ich erinnere mich.«
Er quittierte ihre Bemerkung mit einem kleinen Schmunzeln. »Daran habe ich nicht gezweifelt.« Dann wurde er wieder ernst und wandte sich dem umfangreichen Gutachten zu. »Wir wissen nun: Das episodische Erinnern ist bei Ihnen offensichtlich von Geburt an in einem Maße ausgeprägt, wie man es bisher kaum für möglich gehalten hat. Unsere neuropsychologischen Tests haben das ebenso erwiesen wie sämtliche andere Untersuchungen. Kurz: Ihre Gedächtniskapazität – und wir reden ausschließlich über das Langzeitgedächtnis – sprengt jedes bisher gekannte Maß.«
Mühsam versuchte sie, sich auf Professor Riddingtons Ausführungen zu konzentrieren. Seine hohe Reputation als international angesehener Hirnforscher war unumstritten. Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln, dass er auch in ihrem Fall die richtigen Schlussfolgerungen zog.
Behutsam begann er ihr klarzumachen, warum sie im wahrsten Sinne des Wortes einzigartig war. Sie besaß die ungewöhnliche Fähigkeit, sich detailgenau an die Abläufe jedes einzelnen Tages zu erinnern, den sie jemals erlebt hatte.
Der 5. Mai vor sieben Jahren? Kein Problem für Emily. Ohne Zögern konnte sie sagen, dass sie sich damals mittags um Viertel nach zwölf mit ihrer Freundin Helen zum Essen im Bistro Central getroffen hatte, was sie gespeist hatten und dass es in ihrem Gespräch um Helens neuen Liebhaber gegangen war. Am Nachbartisch hatten drei junge Banker in schwarzem Anzug und dunkelblauer Krawatte gesessen.
Der 30. April 1983? Eine heftige Auseinandersetzung mit ihrem Schwager Harold Conway, der behauptet hatte, Emily würde sich zu wenig um ihre Schwiegereltern kümmern. Jedes Wort dieser Diskussion wusste sie noch, als sei es gestern gesagt worden. Ihr Gehirn war ein Kalender mit sämtlichen Eintragungen aller dreihundertfünfundsechzig Tage eines Jahres, jederzeit abrufbar nach Terminen und Ereignissen.
»Am erstaunlichsten in Ihrem Fall«, fuhr Professor Riddington fort, »ist für uns aber die komplette Vernetzung ihrer situativen Erinnerung mit den Einzelerinnerungen Sprache, Geruch und Raumerlebnis. Alle Tests, die wir in den vergangenen Wochen gemacht haben, konnten das bestätigen.«
»Ich habe es befürchtet«, sagte Emily so ruhig wie möglich. Sie wusste, es hatte keinen Zweck mehr, sich gegen die Erkenntnis zu wehren, dass sie anders war als andere Menschen.
Sie war selbst oft genug erschrocken gewesen über dieses Phänomen. Denn nicht nur längst vergangene Begegnungen und Gespräche konnte sie jederzeit wie Filmaufnahmen wieder vor ihren Augen und in ihren Ohren lebendig werden lassen, sie erinnerte sich auch problemlos daran, wo und wann ihr bestimmte Gerüche und Düfte in einem Raum begegnet waren, welchen Klang einzelne Stimmen besaßen oder welche Kleidung sie selbst oder andere zu irgendeiner Gelegenheit getragen hatten.
Mit zwölf Jahren hatte es angefangen, und es hatte nie mehr aufgehört. Es war Fluch und Segen zugleich. Warum, fragte Emily sich in diesem Moment verzweifelt, hatte es ausgerechnet sie treffen müssen? Ihre Schwester Edwina hatte ein ganz normales Gedächtnis.
Sie brauchte jetzt dringend eine Pause. »Können wir einen Augenblick unterbrechen?«, fragte sie.
»Kein Problem«, sagte Professor Riddington. »Gehen Sie ruhig eine Viertelstunde an die frische Luft.«
9.42 Uhr. Aufgeregt ging Emily auf dem Parkplatz hin und her. Was sie gerade erfahren hatte, war nur schwer zu verdauen, auch wenn sie das meiste davon ja schon geahnt hatte. Sie beschloss, Richard anzurufen. Mit wem sollte sie darüber reden, wenn nicht mit ihrem Mann? Mit blassem Gesicht klopfte sie an das Glashaus des Pförtners und bat darum, kurz ein Ortsgespräch führen zu dürfen.
Als Richard nach langem Klingeln endlich ans Telefon kam, wirkte er merkwürdig unkonzentriert, als sei er gerade mit etwas anderem beschäftigt gewesen. Atemlos berichtete sie ihm, was der Professor ihr mitgeteilt hatte. Natürlich erwartete sie, dass er ihr irgendetwas Tröstliches sagte, doch stattdessen zögerte er einen Moment und meinte dann in sachlichem Ton: »Klingt irgendwie beängstigend … Vielleicht musst du doch noch einen anderen Fachmann fragen.«
Sie war irritiert. »Ist irgendwas, Richard?«
Seine Stimme nahm einen gereizten Ton an. »Nein, wieso? Ich frühstücke gerade.«
Enttäuscht beendete sie das Gespräch.
10.00 Uhr. Sie lag wieder auf Professor Riddingtons weißem Kippsessel. Mit ängstlichen Augen schaute sie den Arzt an und stellte ihre wichtigste Frage. »Was kann ich tun, um diese Fähigkeit wieder loszuwerden? Geht das überhaupt?«
Professor Riddington schüttelte langsam den Kopf.
»Nein, im Gegenteil. Es könnte sogar sein, dass Sie mit fortschreitendem Alter manche Erinnerungen noch intensiver, noch farbiger und noch nachdrücklicher speichern werden. Die guten Erfahrungen, aber auch die schlechten.«
Verzweiflung und plötzliche Furcht vor ihrem eigenen Körper stiegen in Emily hoch. Sie spürte, wie ihre Haut glühte. Ohne dass sie es selbst merkte, wurde ihre Stimme lauter und angestrengter, als könnte sie das Problem mit Worten aus der Welt schaffen.
»Aber es muss doch Strategien geben, meinen Kopf von all diesen Dingen wieder zu befreien! Hypnose, psychoanalytische Behandlungen, was weiß ich … Nennen Sie mir einen Weg, und ich werde ihn gehen!«
Professor Riddington ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Seine Menschenkenntnis sagte ihm, dass es falsch wäre, sie jetzt zu schonen. Nur wenn sie die vollständige Wirkungsweise der so ungewöhnlich ausgeprägten Amygdala-Region ihres Gehirns und des Hippocampus begriff, konnte sie ihr Leben neu einrichten.
»Lassen Sie es mich so erklären«, sagte er so sachlich wie möglich, »Ihre Erinnerung ist wie ein Film, von dem bei jedem Löschen automatisch eine neue Kopie hergestellt wird, ohne dass Sie etwas dagegen tun können. Das Vergessenwollen ist eine Sisyphusarbeit – Sie können sie niemals vollenden, sosehr Sie sich auch bemühen, während der gewaltige Felsen des Erinnerns immer größer wird.«
Emilys Stimme zitterte. »Und wie soll ich damit fertig werden? Sagen Sie es mir!«
Er hob beschwichtigend die Hand. »Aber Mrs. Bloom! Es ist doch nicht nur eine Last, wie Sie jetzt denken. Es ist auch ein großes Geschenk. Vergessen Sie das nicht. Sie sind jetzt achtunddreißig, sie haben noch viele Jahre vor sich. Die meisten Menschen sehnen sich nach einer so ungewöhnlichen Fähigkeit, wie Sie sie besitzen. Nie mehr zu vergessen erscheint uns wie ein Abbild der Unsterblichkeit. Das gelebte Leben – für immer festgehalten.«
Langsam begann sie zu begreifen, was diese Sätze bedeuteten.
Ihr bisheriges Leben, aber auch ihr zukünftiges erschienen ihr plötzlich in einem neuen, erschreckend grellen Licht. Dass die alltäglichen, harmlosen Erinnerungen stets präsent waren in ihr, damit konnte sie seit Langem gut leben. Es waren Gedächtnisfetzen, die sie wie andere Menschen auch ganz nebenbei für ein anregendes Gespräch benutzte: Erinnerungen an empfundene Zärtlichkeiten und unvergessene schöne Stunden, aber auch an einen kleinen Streit mit Richard und die anschließende romantische Versöhnung. Daran dachte sie gern.
Doch was war mit den schlimmen Erinnerungen?
Mit den schrecklichen Minuten des Autounfalls, bei dem ihre Eltern umgekommen waren und den sie als Sechzehnjährige auf dem Rücksitz überlebt hatte? In vielen Nächten kehrten die blutigen Bilder mit grausamer Realität in ihren Kopf zurück, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte.
Was war mit den unerträglichen Schmerzen, den ihr ein Beinbruch vor fünf Jahren beschert hatte? Noch heute – sie brauchte sich nur mit dem Küchenmesser in den Finger zu schneiden – spürte sie diese bohrende Mischung aus dumpfen, scharfen und knochentief vibrierenden Schmerzen in ihrem Bein, als sei es gerade erst passiert.
Was war mit den schlaflosen Nächten voller Angst, als sie vor einigen Jahren einen Knoten in ihrer rechten Brust ertastet hatte, der sich später zum Glück als harmlos herausgestellt hatte?
Mit dem Handrücken fuhr Emily sich über das Gesicht. Feuchte Spuren schwarzer Wimperntusche blieben auf den Wangen zurück.
»Und meine Albträume? Wie ertrage ich die?«, flüsterte sie unter Tränen.
Professor Riddington gab keine Antwort. Sie wusste, was sein Schweigen bedeutete. Für den Rest ihres Lebens würde sie dazu verdammt sein, sich jeden Tag neu mit den dunkelsten und schmerzhaftesten Momenten ihrer Erinnerung zu quälen.
Das Geschenk des Vergessens war ihr nie wieder vergönnt.
11.35 Uhr. Wie ausgebrannt kam sie nach Hause zurück. Ihr schönes altes Cottage auf der Anhöhe über St. Brelade’s Bay erschien ihr plötzlich grau, obwohl genau in diesem Augenblick ein Strahl Sonne durch die Wolken brach und über den blühenden Garten wanderte. Ohne es zu bemerken, schloss sie die dunkelgrün lackierte Haustür. Sie hoffte inständig, dass Richard dahinter stand und sie in den Arm nahm.
11.43 Uhr. Er war nicht da. Auf dem Küchentisch stand noch sein Frühstücksteller voller Krümel, darauf die blaue Teetasse. Kein Gruß, gar nichts. Bitter enttäuscht ging Emily durch den Flur ins Schlafzimmer, um sich auszuziehen. Sie hatte nur noch den Wunsch, sich von allem zu reinigen, was ihr heute widerfahren war.
Als sie den Raum mit der niedrigen alten Balkendecke betrat, fielen ihr sofort die offenen Schranktüren auf. Entsetzt musste sie feststellen, dass Richards Hälfte der Fächer, seine Kleiderbügel und sämtliche Schubladen für Strümpfe und Unterwäsche leer geräumt waren. Ungläubig trat sie einen Schritt zurück und ließ sich aufs Bett fallen. Es gab keinen Zweifel – Richard hatte sie verlassen.
Ihr wurde schwindelig.
18.20 Uhr. Ein Anruf der Polizei ließ Emily endgültig zusammenbrechen. Drei Meilen vor der französischen Küste hatte man Richards Segelschiff entdeckt, herrenlos auf dem Meer treibend. Nur die beiden Reisetaschen mit seinen persönlichen Sachen standen noch in der Kajüte. Das vordere Deck war voller Blut. Zwei blutbeschmierte Messer, die im Ankerkasten versteckt waren, deuteten auf einen Kampf hin, machten aber Richards mysteriöses Verschwinden nur noch rätselhafter.
Emilys Finger verkrampften sich um den Telefonhörer. Sie konnte nicht einmal schreien …
Fast wütend über ihre Erinnerung warf Emily die warme Daunendecke zur Seite, setzte sich auf den quietschenden Bettrand und atmete ein paar Mal tief durch. Langsam kam sie wieder zur Ruhe. Eigentlich hatte sie diese schlimme Zeit überwunden. Das Einzige, was sie in all den Jahren nicht fertiggebracht hatte, war, ihren Mann für tot erklären zu lassen. Seine Leiche hatte man nie gefunden.
Alles, was Professor Riddington ihr prophezeit hatte, war eingetroffen. Mit jedem Jahr, das sie älter geworden war, hatte ihre besondere Gedächtnisleistung zugenommen. Heute war sie so weit, dass sie ohne Probleme nicht nur Gespräche, sondern sogar ganze Zeitungsinhalte oder Fernsehsendungen, die sie vor Monaten gesehen hatte, wortwörtlich wiedergeben konnte.
Um andere Menschen nicht zu erschrecken, machte sie jedoch nur selten Gebrauch davon. Sie versuchte, das Ganze mit Humor zu nehmen. Nur einige enge Freunde wussten Bescheid. Sie kam sich vor wie eine Hexe, die ihre Fähigkeiten für sich behalten musste, damit sie nicht die Sympathie der anderen verlor.
Gedächtnishexe hatte ihr Sohn sie einmal im Spaß genannt.
Auch der Chef de Police der Gemeinde St. Brelade, Harold Conway, glaubte an die negative Kraft schlechter Mondnächte, und so fühlte er sich heute unausgeschlafen und gerädert. Nach so wenig Schlaf frühmorgens am Flughafen herumstehen zu müssen, ärgerte ihn sehr.
Obwohl er Glück hatte, weil er heute von Constable Officer Sandra Querée begleitet wurde, die wenigstens attraktiv und fröhlich war, machte ihn dieser Einsatz geradezu mürrisch. Da er aber nun einmal in dieser Woche Dienst hatte und für die Verhaftung von Frank Guiton zuständig war, musste er sich wohl oder übel gedulden. Eigentlich hätte der Fall Guiton zum Polizeirevier St. Ouen gehört, doch dort grassierte die Sommergrippe, und man war dramatisch unterbesetzt.
Sie warteten auf dem seitlichen Parkplatz, wo die Mietwagen zurückgebracht wurden. Von dort aus konnten sie den Eingang der Abflughalle am besten im Auge behalten. Erstaunlich, wie viele Menschen morgens um sieben die ersten beiden Flieger nach London nehmen wollten. Ein goldfarbener Bentley fuhr vor. Der Chauffeur sprang heraus und öffnete die hintere linke Tür. Ein teuer gekleideter Fahrgast mit silbernem Haar und arroganter Attitüde stieg gemächlich aus. Der Chauffeur reichte ihm eine lederne Aktentasche. Ohne sich weiter von seinem Fahrer zu verabschieden, verschwand der Mann in der Abflughalle.
Mit verschränkten Armen lehnte Conway an der Backsteinmauer neben dem kleinen Holzkasten, in den die Mietwagenkunden zum Schluss ihre Autoschlüssel einwerfen mussten. »Was macht so ein arroganter Pinsel wohl nachher in London?«
Sandra Querée spielte mit ihren braunen Haaren, die zu einem frechen Pferdeschwanz zusammengebunden waren. In ihrer schwarzen Jacke und Hose, die zusammen fast wie ein Overall aussahen, wirkte sie beinahe keck.
Abschätzig verzog sie den Mund. »Wahrscheinlich geht er erst zu seiner Bank und anschließend zu seinem Herrenausstatter in die Savile Row.«
»Die Sorgen möchte ich auch haben.«
Conway trug nur selten die eng anliegenden Polizeijacken, die seine jüngeren Kollegen bevorzugten. Als Chef liebte er es dezenter. Meistens trug er einen Anzug mit blauem Polizeihemd und Krawatte. Auf seinem Revers prangte das Abzeichen der Honorary Police von Jersey. Sein hageres Gesicht wirkte im Morgenlicht wie holzgeschnitzt. Durch seine großen Segelohren, die das militärisch kurze, rötliche Haar begrenzten, war er eine unverwechselbare Erscheinung.
Mit ironischem Unterton zitierte er einen Spruch, den jeder auf Jersey kannte: »Wie sagt man so schön? Ruft das Geld, rennt die Welt.«
Sandra lachte. »Das hat Frank Guiton sicher auch gedacht, als er sein eigenes Rennpferd geklaut hat.« Sie beugte sich etwas vor, um die Halle besser im Blick zu haben. »Sollten wir nicht mal langsam zu den Abflugschaltern rübergehen?«
Conway sah auf seine Fliegerarmbanduhr. »Schon zwanzig nach sieben … Hoffentlich kommt er überhaupt.«
Sie hatten gestern Abend einen anonymen Hinweis bekommen, wo die verschwundene Stute versteckt war und dass Frank Guiton, ein junger, angeblich hoch verschuldeter Züchter, die Sache von vornherein als Versicherungsbetrug angelegt hatte. Guiton sei seit gestern Abend absichtlich untergetaucht und wolle sich heute Morgen mit einem der ersten Flüge nach London absetzen.
»Da ist er!«, sagte Sandra plötzlich.
Vor dem Eingang zur Abflughalle stieg Frank Guiton gerade aus einem Taxi. Polohemd, Jeans, braun gebrannt, dunkle Haare, Ende dreißig – er wirkte wie einer der lässigen, gut aussehenden jungen Polostars aus England, die Conway am vergangenen Sonntag bei einem Turnier gesehen hatte. In der Rechten trug Guiton eine Reisetasche, in der Linken eine schwarze Sportjacke.
Conway gab Sandra ein Zeichen. »Los geht’s!«
Dass sie eine solche filmreife Festnahme vornehmen mussten, kam nicht allzu oft vor. Harold Conway hatte deshalb beschlossen, diesen Auftritt als Polizeichef auch ein wenig zu genießen.
Sie gingen mit schnellen Schritten über die Straße, betraten die Halle, in der sich die Check-in-Schalter befanden, und erwischten Frank Guiton in dem Moment, als er abseits der langen Schlangen vor den Schaltern an einem der neuen Automaten selbst einchecken wollte.
»Mr. Frank Guiton?«
»Sekunde … Ja?« In aller Ruhe nahm er sein Flugticket aus dem Automaten, dann erst drehte er sich um.
Mit lauter Stimme sagte Conway: »Honorary Police St. Brelade! Dürfen wir Sie bitten, uns zu einer Vernehmung nach St. Aubin zu begleiten?«
Guiton schien weit weniger erschrocken zu sein, als Conway erwartet hatte. Er schaute irritiert, aber seelenruhig von einem zum anderen. Seine kräftigen Augenbrauen verliehen ihm eine sehr männliche Ausstrahlung. Die ruhige und dunkle Stimme passte gut dazu. »Ich nehme an, es geht um den Pferdediebstahl.«
Er schien das Ganze immer noch für Routine zu halten.
»Ja, aber wir möchten das ungern hier diskutieren«, antwortete Conway knapp. Mit seinem knochigen Zeigefinger deutete er auf die schwarze Reisetasche. »Darf ich fragen, was Sie in London wollen?«
»Ich bin Mitglied im Vorstand eines großen Pferdezuchtverbandes. Und um zwölf Uhr beginnt eine wichtige Sitzung auf der Rennbahn von Windsor.« Offensichtlich ging er immer noch davon aus, dass er die Maschine erreichen würde. »Soll ich umbuchen und eine Stunde später fliegen? Hilft Ihnen das?«
»Vergessen Sie Ihren Flug«, sagte Conway. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass heute noch was draus wird.«
»Geht es auch weniger geheimnisvoll?«, fragte Guiton.
In Conways Jacke klingelte das Handy. Er zog es aus der Tasche und sah auf dem Display, dass es das Büro des Staatsanwalts war. Wieder einmal rief es zur unpassenden Zeit an.
»Sekunde.«
Er ließ Guiton stehen und trat hinter eine Säule, um zu telefonieren.
Guiton nutzte die Gelegenheit, um sich an Sandra Querée zu wenden, die auf ihn den Eindruck machte, als sei sie etwas entgegenkommender als der Chef de Police. Sie war nur unwesentlich jünger als er, und ihm war nicht entgangen, dass sie ihn die ganze Zeit mit weiblicher Neugier betrachtet hatte.
»Bekomme ich wenigstens von Ihnen einen Tipp, worum es geht?«, fragte er leise und ließ seinen ganzen Charme spielen.
Sandra biss sich auf die Unterlippe. »Darüber darf ich nicht sprechen …«
»Bitte! Nur eine Andeutung! Stellen Sie sich vor, Sie wären selbst in so einer unangenehmen Situation …«
Sein hilfloser Blick aus den tiefblauen Augen verfehlte nicht seine Wirkung. Plötzlich konnte Sandra sich wieder erinnern, wo sie dieses magisch männliche Gesicht schon einmal gesehen hatte. Es hatte ihr von einem großen Werbeplakat für irgendwelche Veranstaltungen auf der Pferderennbahn entgegengelacht. Verwegen wie ein Cowboy hatte er ausgesehen.
Ihr Mitleid siegte. Nachdem sie sich vorsichtig nach Conway umgeschaut hatte, der immer noch gestikulierend an der Säule stand, sagte sie hastig: »Man hat Ihr Pferd wiedergefunden, gestern Abend. Auf einer Wiese bei St. Aubin. Und es gibt Zeugen, die behaupten, dass Sie selbst es waren. Die Staatsanwaltschaft geht jetzt von Versicherungsbetrug aus …«
Frank Guiton schien ehrlich entsetzt zu sein. »Was?! Aber das ist doch verrückt! Warum sollte ich so was tun? Ich habe einen guten Ruf zu verlieren!«
»Vorsicht, mein Chef kommt zurück«, raunte Sandra ihm warnend zu.
Sie taten so, als hätten sie sich die ganze Zeit angeschwiegen, doch in Guitons Kopf arbeitete es sichtlich. Conway trat zu ihnen und steckte knurrend sein Handy wieder ein. »Sind wir so weit?«
»Ich denke, ja.« Sandra nickte. Sie vermied es, Guiton anzublicken.
Conway legte eine Hand auf Guitons Schulter und deutete zum Ausgang. »Gehen wir. Unser Wagen steht dort drüben auf der anderen Seite.«
Mit hoch erhobenem Kopf ging Guiton los, flankiert von Conway und Sandra. Der Kragen seines weißen Polohemdes hatte sich aufgestellt. Sandra sah es und hätte ihm den Kragen am liebsten ordentlich heruntergeklappt. Das Klappern ihrer Handschellen am Gürtel erinnerte sie jedoch an ihre Pflichten als Polizistin.
Sie verließen die Halle und traten hinaus auf den Vorplatz. Dort setzten sie den Verhafteten in den kleinen silberfarbenen Peugeot, der an den Seiten gelb-blau lackiert war und das Wappen des Staates Jersey trug. Darüber war der Name der zuständigen Polizeidienststelle St. Brelade angebracht.
Der Chef de Police klemmte sich hinter das Steuer, während Sandra sich neben Guiton auf die Rückbank setzte. So wollten es die Regeln. Stumm und mit angespannt mahlendem Unterkiefer starrte Frank Guiton aus dem Seitenfenster. Während der Fahrt sagte er kein Wort.
Inzwischen war es taghell geworden. Während ihr Chef den Dienstwagen steuerte, warf Sandra heimlich einen schnellen Blick auf den gut aussehenden Mann neben ihr. Er duftete angenehm nach Rasierwasser, und sie fragte sich, wie sie wohl aufeinander reagiert hätten, wenn sie sich am Wochenende in einer Diskothek kennengelernt hätten. Ihr war es durchaus nicht unangenehm, dass sich ihre und Frank Guitons Beine immer wieder kurz berührten, während ihr Chef mit flottem Tempo durch die vielen Kurven fuhr.
Im Rückspiegel registrierte Conway den musternden Blick seiner jungen Kollegin. Es ärgerte ihn, dass Sandra ihr Interesse an Männern so offen zeigte.
Wir sind alle viel zu nett, dachte er düster und kritisch. Das ist der Preis, den Jersey für seine ehrenamtliche Polizei bezahlt.
Es war ein System, das einmalig auf der Welt war. Seit Jahrhunderten verwalteten die Bürger der Kanalinsel – 160 Kilometer vom britischen Festland entfernt und 21 Kilometer vor der französischen Küste in der Bucht von St. Malo gelegen – ihre Sicherheit selbst. Polizeiarbeit, kommunale Verwaltung und viele andere Aufgaben speisten sich aus dem System der Freiwilligkeit. Erst seit 1853 gab es in der Hauptstadt St. Helier zusätzlich eine hauptberufliche Polizei für die übergeordneten Aufgaben.
Doch der größte Teil der alltäglichen Polizeiarbeit wurde nach wie vor von den vielen freiwilligen, unbezahlten Polizisten in den einzelnen Gemeinden übernommen. Bis heute ließ die Verfassung von Jersey eine Anklage als Grundlage für einen Gerichtsprozess nur dann zu, wenn sie von der ehrenamtlichen Polizei erhoben wurde. Das sorgte für ihren hohen Stellenwert.
Die Honorary Police erfüllte also alle Pflichten, die auch Ordnungshüter anderer Länder zu bewältigen hatten. Ob Verkehrskontrollen, Geschwindigkeitsmessungen, Festnahmen und Verhöre – Männer wie Harold Conway und Frauen wie Sandra Querée waren für Jerseys Sicherheit unverzichtbar.
Conway war im Hauptberuf vereidigter Bausachverständiger, Sandra Querée arbeitete normalerweise in einer Apotheke. Beide hatten sich als Kandidaten für die Polizei in der Gemeinde St. Brelade aufstellen lassen. Nach ihrer Wahl waren sie ausgebildet und für eine Amtszeit von drei Jahren am Royal Court vereidigt worden.
Harold Conway war stolz darauf, dass er bereits mehrere Amtszeiten hinter sich hatte und dass er seinen Dienst als leitender Polizist – im Wechsel mit anderen vengteniers immer für eine Woche im Monat – nun schon viele Jahre tat. Als Chef de Police war er inzwischen erfahren genug im Umgang mit der Alltagskriminalität. Das meiste, womit er zu tun hatte, waren Verkehrsrowdytum, Drogendelikte, häusliche Gewalt und Prügeleien. Ansonsten war die Pfarrgemeinde St. Brelade ein friedlicher Platz auf Erden, und Conway wollte, dass es so blieb.
Das Polizeirevier war im Gemeindeamt des hübschen Küstenortes St. Aubin untergebracht. Der Chef de Police fuhr auf den Hof hinter dem Gebäude. Während er den Wagen einparkte, meldete sich vom Rücksitz Frank Guiton zu Wort. Seine Stimme klang gefasst. »Darf ich vor dem Verhör wenigstens meinen Anwalt anrufen?«
Conway bemühte sich um Korrektheit. »Miss Querée wird das für Sie erledigen.«
»Danke.«
Sandra öffnete die Autotür und wartete, bis Guiton ausgestiegen war. Dabei warf er der jungen Polizistin ein dankbares Lächeln zu. Sie lächelte schnell zurück.
Conway hob den Kopf. Durch irgendein offenes Fenster roch es einladend nach Toast, doch vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Egal, plötzlich verspürte er Lust auf ein Croissant und eine Tasse Tee. Er hasste es, wenn er ohne Frühstück unterwegs sein musste. Wie für die meisten Bewohner von Jersey war auch für ihn die genießerische Freude an gutem Essen das vielleicht schönste Erbe ihrer französischen Vorfahren.
Kurz entschlossen sagte er zu Sandra Querée: »Nehmt schon mal die Personalien auf, ich muss noch schnell was erledigen. Aber mit der Befragung wartet ihr, bis ich wieder da bin.«
Sie nickte und verschwand mit Frank Guiton im Eingang der Dienststelle.
Conway sah hinter den beiden her. Noch wusste er nicht so recht, ob Guiton wirklich nur ein ahnungsloser Schnösel aus der Rennsportszene war oder ob er nicht doch einen Versicherungsbetrug plante. Er vermutete Letzteres, denn Guiton hatte einen Berg Schulden.
Schnell ging er über die Straße und holte sich aus dem kleinen Laden gegenüber ein frisches Croissant und einen Becher Tee, damit er endlich was in den Magen bekam.
Den Pappbecher vorsichtig von seiner Kleidung weghaltend, schlenderte er ein paar Schritte über die Promenade am Meer entlang. Die hübschen kleinen Geschäfte von St. Aubin befanden sich größtenteils in schmalen Häusern, in denen früher Handelsfirmen und Fischer ihren Geschäften nachgegangen waren. Davor lag die weit geschwungene Bucht, die bis nach St. Helier reichte. Noch war wenig Verkehr in St. Aubin, aber spätestens zur Mittagszeit trafen die Touristen ein, und dann wurde es schlagartig voll in den Hafenrestaurants.
In einiger Entfernung sah Conway das Schaufenster von Emily Blooms Teegeschäft. Der Sockel war in alter viktorianischer Tradition glänzend schwarz lackiert. Er wusste, dass es Emilys aus seiner Sicht lächerlicher Vorstellung von Stil und Perfektionismus entsprach, ihren Teeladen so zu präsentieren, als wäre man hier in London. Zwei Jahre lang war sie seine Schwägerin gewesen, vor langer Zeit, als er noch mit ihrer Schwester Edwina verheiratet gewesen war. Edwina lebte jetzt auf Neuseeland, und Harold Conway hätte nichts dagegen gehabt, wenn ihre Schwester Emily gleich mit ausgewandert wäre. Aber sie waren schließlich erwachsene Menschen, und so bemühte er sich, höflich zu Emily zu sein und mit ihr auszukommen, wenn sie sich irgendwo trafen.
Unterhalb der langen Schutzmauer zwischen Meer und Straße rannten Kinder über den Strand. Langsam kam die Flut zurück, und die dunstlose, klare Luft über der gekräuselten See versprach einen angenehmen, sonnigen Tag.
Er blickte auf die Uhr. Es war höchste Zeit, Frank Guiton auf den Zahn zu fühlen.
Als er ein paar Minuten später den kleinen Raum betrat, in dem das Verhör stattfinden sollte, war alles schon vorbereitet. Er nahm auf dem Stuhl an der Kopfseite des Tisches Platz. Sandra Querée war gerade draußen, um die Polizei von St. Ouen zu unterrichten, in deren Bereich Guiton wohnte. An Sandras Stelle saß ihr Kollege Roger Ellwyn am Tisch, ein bulliger, ungemütlich wirkender Mann, den keiner mochte, der aber für Verhöre dieser Art die ideale Besetzung war.
Ellwyn hatte Guiton bereits über die Vorwürfe gegen ihn in Kenntnis gesetzt. Conway gab ihm ein Zeichen, dass er anfangen sollte, damit Guiton gleich zu Beginn ein bisschen Respekt bekam. Später würde er dann selbst eingreifen. Mit diesem System hatten sie gute Erfahrung gemacht.
Ellwyn nickte. »Wir haben Sie heute zu Gast, Mr. Guiton«, sagte er in beißendem Ton, »weil alles dafür spricht, dass Sie ein Märchenerzähler sind. Nun hat Ihre schöne Geschichte vom Pferd, das unsichtbar wurde, also doch kein gutes Ende.« Seine Stimme wurde hart. »Haben Sie die Stute tatsächlich gestern Morgen gegen vier Uhr auf einer Weide in St. Brelade versteckt, wie zwei Zeugen behaupten?«
»Nein. Das ist eine Lüge. Das Pferd ist aus meinem Stall gestohlen worden«, sagte Guiton gefasst.
»Hätten Sie dann vielleicht die Güte, uns zu erzählen, wo Sie gestern Abend waren, nachdem man Ihr Pferd wiedergefunden hatte?«, fragte Ellwyn grimmig.
Guiton strengte sich an, Ruhe zu bewahren. »Ich war auf meinem Segelboot. Die ganze Nacht. Im Nachhinein ärgere ich mich natürlich, dass ich keinem meiner Leute Bescheid gesagt habe.«
Mit einem Mal spürte Conway ein Kribbeln in den Fingern. Er beugte sich vor und fragte:
»Und Sie waren natürlich allein auf Ihrem Boot?«
»Ja.«
Conway fuhr hoch. Seine abstehenden Ohren waren plötzlich knallrot, wie immer, wenn er einen seiner Wutanfälle bekam. »Mr. Guiton, ich möchte nicht von Ihnen veralbert werden! Sie sind ein gut aussehender Mann. Meinen Sie, ich habe nicht bemerkt, wie die Weiber Sie anschmachten? Ich kenne auch dieses … Plakat mit Ihnen. Wenn ich so gut aussehen würde wie Sie, würde ich auf meinem Segelboot keine einzige Nacht allein verbringen. Also – wir hören!«
Guiton schien mit sich zu kämpfen. Er spürte, wie schnell sich die Situation weiter zuspitzen konnte, wenn er jetzt schwieg. Schließlich legte er den Kopf in den Nacken und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Also gut … Ich war an diesem Abend mit einer Frau verabredet. Aber sie ist nicht gekommen. Warum, weiß ich nicht.«
»Wie heißt sie?«
»Das möchte ich nicht sagen. Es wäre unfair, sie da hineinzuziehen, wenn sie sowieso nicht dabei war.«
»Oh nein!«, sagte Conway mit kaltem Lächeln. »Sie irren sich. Diese Frau ist nämlich Ihre einzige Chance, zu beweisen, dass Sie nicht untertauchen wollten! Also kommen Sie. Ich verspreche Ihnen, dass wir diskret vorgehen werden. Ist sie verheiratet?«
Frank Guiton schüttelte den Kopf. »Nein. Aber sie ist … Wie soll ich das erklären? … Sie ist etwas ganz Besonderes …«
»Sagen Sie uns einfach den Namen, Mr. Guiton«, drängte Conway.
Nach langer Pause, den Blick an die Holzdecke über seinem Kopf geheftet, sagte Frank Guiton schließlich: »Sie heißt Debbie Farrow.«
»Ich weiß zwar nicht, wer Debbie Farrow ist«, antwortete Conway. »Aber eines weiß ich: Bis diese Frau Ihre Aussage bestätigt hat, bleiben Sie wegen Fluchtgefahr in Untersuchungshaft.«
Vor der Küste zog die 11-Uhr-Fähre nach Guernsey vorbei.
Emily Bloom hob wieder ihr Marinefernglas vor die Augen. Was war das? Zwischen Fähre und Bucht trieb eine längliche Gestalt im türkisblauen Wasser dahin. Im Rhythmus der Wellen schwebte sie auf und ab, minutenlang, ohne sich zu bewegen. Wenn es sich dabei um eine Kegelrobbe handelte, wie Emily vermutete, war es der faulste Seehund, den sie je gesehen hatte.
Plötzlich schossen zwei Möwen zur Wasseroberfläche herab. Die Robbe schien darüber verärgert zu sein. Mit platschendem Flossenschlag tauchte sie ab. Wahrscheinlich verließ sie die Bucht, um woanders ihr Vergnügen zu suchen.
Das Rauschen der Brandung und die Schreie der Seevögel drangen bis zu den hohen Klippen hinauf, wo sich Emilys Ausguck befand. Sie saß auf einer hölzernen Plattform, die eigentlich den Ornithologen für ihre Arbeit diente, gut versteckt zwischen mannshohen Farnen und dichten Stechginsterhecken. Aus lauter Gefälligkeit hatte sie sich vom Leiter der Société Jersiaise dazu überreden lassen, bei der diesjährigen Zählung der Robben und Delfine vor der Küste auszuhelfen.
Inzwischen bereute sie ihre Hilfsbereitschaft heftig. Als Energiebündel war sie für stillen Naturidealismus einfach nicht geeignet. Es machte sie ganz kribbelig, stundenlang wie eine Statue im Gebüsch hocken zu müssen und sich nicht bewegen zu dürfen. Außerdem erinnerten sie die Fliegen und Käfer auf ihrem Gesicht auf unangenehme Weise an ihre Zeit als Pfadfinderin. Dennoch zog sie pflichtbewusst ihr Notizbuch aus der Tasche ihres Anoraks und notierte aus dem Gedächtnis Größe, Eigenart und Fellzeichnung der Robbe. Es war schon ihre dritte Begegnung mit einem Seehund an diesem Vormittag. Die Flut stand günstig. Mit dem einströmenden Wasser war sogar für kurze Zeit die majestätisch dahingleitende Rückenflosse eines Delfins aufgetaucht.
Emily war zufrieden. Sie hatte das Gefühl, für heute ihre wissenschaftliche Pflicht getan zu haben. Es war jetzt kurz vor zwölf, spätestens um eins wollte sie wieder in ihrem Teeladen hinter der Theke stehen und Tim ablösen. Nach Richards Verschwinden vor siebzehn Jahren hatte sie den Importhandel mit Tee notgedrungen aufgeben müssen. Jetzt führte sie nur noch das kleine, aber traditionsreiche Teegeschäft in St. Aubin weiter.
Vor der Bucht tuckerte ein rotes Fischerboot mit hochgezogenen Netzen vorbei, begleitet von einem Schwarm Möwen. Sie betrachtete das pittoreske Bild. Vielleicht hatte es ja doch nicht geschadet, nach einer schlaflosen Nacht hier draußen ein wenig Ruhe zu finden. Sie packte alles zusammen und machte sich auf den Rückweg. Es ging immer bergab.
Plötzlich raschelte es neben ihr im Dickicht. Erschrocken blieb Emily stehen und wartete ab. Hechelnd brach ein riesiger grauer Wolfshund durch die gelben Büsche und machte schwanzwedelnd vor ihr Halt.
»Mein Gott, Titus! Hast du mich erschreckt!«, sagte sie erleichtert. Obwohl sie wusste, dass er harmlos war, fand sie es nicht richtig, dass ein solches Ungetüm frei herumlief, Kaninchen jagte und Leute erschreckte.
Auf gut Glück rief sie: »Mr. Rondel, wo stecken Sie?«
»Hier!«
Schon im selben Moment kam James Rondel, ein kräftiger, rotgesichtiger Mann, neben den untersten Ästen einer Buche zum Vorschein. Heftig atmend blieb er stehen. Ihm gehörten die Wiesen an diesem Küstenstreifen. Amüsiert stellte Emily fest, dass er im selben Rhythmus hechelte wie sein Hund.
»Entschuldigung, Mrs. Bloom, wir wollten Sie nicht erschrecken …«, er schnappte nach Luft, »aber Titus sollte nur mal schnell ein paar Runden laufen.«
Mit mildem Tadel in der Stimme antwortete Emily: »Ich möchte Sie ja nicht belehren, Mr. Rondel, aber im Moment brüten eine ganze Menge Vögel hier oben. Das muss ich Ihnen als Jäger doch nicht sagen.«
»Ausnahmesituation«, sagte Rondel schnaufend und zog demonstrativ an seiner Krawatte. »Ich komme gerade von einer Tauffeier bei Bouilly Port.«
Emily musterte ihn erstaunt. Also deshalb trug er heute keine Jagdkleidung, sondern ein dunkles Jackett und eine schwarze Krawatte. So hatte sie ihn noch nie gesehen.
Titus legte sich mit einem langen Seufzer ins Gras und streckte die Beine von sich. Emily, die keinerlei Erfahrung mit Hunden hatte, fragte sich, wie man jemals wieder den Schlamm aus dem verkrusteten Fell herausbekommen würde.
»Wer hat denn in Bouilly Nachwuchs bekommen?«, fragte sie interessiert.
»Frederic Belmont und seine Frau. Christopher heißt der Kleine. Sieht leider aus wie sein Vater.« Rondel lachte laut.
»Also bitte, Mr. Rondel, das sind Kunden von mir!«, ermahnte ihn Emily übertrieben streng, obwohl auch sie sich sehr gut vorstellen konnte, dass es mit Frederic Belmonts Genen nicht zum Besten bestellt war.
»Dann vergessen Sie’s einfach. Komm, Titus, Abmarsch.«
Der riesige Hund erhob sich brav, schüttelte sich und wartete geduldig, bis sein Herrchen die Leine an seinem Halsband befestigt hatte. Rondel schaute dabei zu Emily und zwinkerte ihr verschmitzt zu.
»Noch ein kleiner Tipp, Mrs. Bloom. Vikar Ballard hat die Taufzeremonie abgehalten. Er wollte gleich vom Umtrunk zurück zur Kirche fahren. Also Vorsicht!«
Sie wusste, was das bedeutete, aber sie gab sich nicht die Blöße, Rondels plumpe Art von Humor zu goutieren. Deshalb sagte sie nur: »Vielen Dank für den Hinweis, Mr. Rondel. Und schönen Tag noch.«
Winkend und mit Titus an der langen Leine, verschwand Rondel auf dem Pfad zum Wanderparkplatz. Dort begannen die Wege durch die Heidelandschaft.
Wenig später stieg Emily das letzte Stück durch das Wäldchen zur Straße nach Bouilly Port hinunter. Und noch ehe sie auf dem Asphalt stand, hörte sie, wie das unkontrollierte Jaulen eines Automotors immer lauter wurde. Sofort trat sie wieder ein Stück zurück und blieb abwartend im Schatten eines Baumes stehen.
Godfrey Ballard war unterwegs. Schlingernd, aber immer hübsch auf der Mitte der Straße, kam er mit offenem Verdeck angefahren. Seit seine Eltern ihm zum Ende des Studiums einen kleinen zweisitzigen Sportwagen gekauft hatten, hatte er nie ein anderes Auto besessen. Inzwischen war Godfrey schon vierzig, und das weiße Cabriolet zeigte so viele Rostflecken, dass es aussah, als hätte es Windpocken. Godfrey war in St. Brelade als Vikar hängen geblieben.
Als er Emily entdeckte, bremste er abrupt. Sein erwachsen gewordenes Chorknabengesicht, vom Leben in der Pfarrei gut genährt, strahlte ihr entgegen. Über dem satten Bauch spannte der Stoff des Talars. Der schmale weiße Kragen war mit kleinen Spritzern Ketchup bekleckert.
Bei laufendem Motor rief er gut gelaunt: »Darf ich Sie ein Stück mitnehmen, Mrs. Bloom?«
»Danke, Godfrey«, sagte Emily schnell, »ich gehe lieber zu Fuß.«
Seine Alkoholfahne flatterte bis zu ihr unter den Baum. Doch erstaunlicherweise wirkte sie nicht abstoßend, sondern so dezent wie bei anderen Menschen der Geruch nach Kaugummi. Vermutlich haben wir uns schon viel zu sehr an seine kleinen Ausfälle gewöhnt, dachte Emily mehr amüsiert als erschrocken. Denn eines war klar: Godfrey Ballard war der beste Vikar, den sie je gehabt hatten, und er war überall beliebt. Während der langen Krankheit des alten Rektors hatte Godfrey – damals noch ein junger Kurator – seinen Vorgesetzten ausgezeichnet vertreten. Nur deshalb sah jeder über seine Schwäche für Gin hinweg.
»Wir hatten gerade eine wunderbare T … T … Taufe«, sagte Godfrey strahlend. »Und auch über diesem neuen Erdenbürger wird Gottes Segen halten …« Er stutzte und korrigierte sich sofort. »Nein … wird Gottes Segen walten und wirken für ewig.«
»Amen«, sagte Emily schnell, um die Sache zu beenden. Dann lächelte sie ihn an. »Wissen Sie was, Godfrey? Warum lassen Sie Ihren Wagen nicht einfach hier stehen, und wir laufen gemeinsam zum Pfarrhaus hinunter?«
Der Vikar schüttelte langsam den Kopf. Sein spärliches dunkles Haar klebte auf der Stirn. Mit schwerer Zunge lallte er: »… geht leider nicht, Mrs. Bloom. Ich habe noch eine … -erdigung vorzubereiten.«
Oh Gott, die arme Trauergemeinde, dachte Emily entsetzt. Für einen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, ihn kurzerhand vom Steuer wegzudrängen und selbst den Wagen weiterzufahren. Doch da streckte er schon fröhlich grüßend die Hand gen Himmel und trat aufs Gaspedal.
Mit einem Satz schoss das weiße Auto die abschüssige Straße hinunter. Entsetzt musste Emily mitansehen, wie es in der nächsten Kurve zu schlingern begann. Links und rechts der Straße standen Bäume. Ballard wollte wohl noch bremsen, aber es war schon zu spät.
Sie schloss die Augen und zählte.
Bei drei drang das hässliche Geräusch des Aufpralls an ihr Ohr.
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie den dampfenden Wagen auf dem linken Straßenwall aufsitzen, eingegraben wie ein fehlgeleitetes Geschoss. Mit der Stoßstange hatte er einen frisch gepflanzten jungen Baum aus der Erde gedrückt, sodass dieser jetzt wie eine armdicke Stange hingestreckt im Gras lag. Sein Wurzelballen ragte in die Luft.
Emily eilte zur Unfallstelle. Die etwa neun Fuß hohe Esche war erst heute Morgen vom Gemeindegärtner in die Alleelücke eingesetzt worden. Inständig betete sie, dass der biegsame Stamm den Vikar vor einem schlimmeren Aufprall bewahrt hatte.
Als sie näher kam, sah sie, wie Godfrey Ballard tatsächlich unversehrt aus dem Auto kletterte. Er war blass, und er zitterte. Seine Finger nestelten am Kragen herum, als bräuchte er dringend Luft.
»Geht es Ihnen gut, Godfrey?«, rief sie, während sie zu ihm die Böschung hochkletterte.
Der Vikar nickte zwar, doch er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Die Kühlerhaube sah aus wie eine Ziehharmonika. Zischend strömte Wasserdampf aus dem Motorraum.
»Lassen Sie mal sehen …«, begann Emily.
Entschlossen nahm sie sein Kinn in die Hand und ließ ihren Blick prüfend über sein Gesicht wandern. Tatsächlich hatte er nicht den kleinsten Kratzer abbekommen. Sein himmlischer Arbeitgeber musste ganze Heerscharen von Engeln für den Vikar bereitgestellt haben.
Sie ließ ihn wieder los.
Wie ein Häufchen Elend stand er vor ihr. »Was hab ich nur getan, Mrs. Bloom?«, stammelte er. »Wir hatten doch alle so gute Laune … nach der Taufe … Und ich bin doch gar nicht so schnell gefahren …«
»Na ja, darüber reden wir später mal, in einer stillen Stunde«, sagte Emily mütterlich und streichelte ihm beruhigend über die Schulter. Es hatte keinen Sinn, Godfrey jetzt die Leviten zu lesen. »Können Sie laufen?«
»Ja …«
»Gut. Dann bringe ich Sie jetzt erst mal nach Hause, und danach rufen wir den Abschleppdienst und den Gemeindegärtner an.«
»Danke, Mrs. Bloom.«
Er begann, die Böschung hinunterzuklettern. Um nur ja nicht auszurutschen, breitete er dabei beide Arme aus, wie ein Seiltänzer.
Emily blieb noch einen Augenblick neben dem Autowrack stehen und betrachtete den Schaden. Die junge Esche lag zum Teil unter der Stoßstange, die meisten Äste und die frischen grünen Blätter waren von den scharfen Kanten des Autoblechs abgetrennt worden.
Wo die Wurzel des Baums gesteckt hatte, klaffte jetzt ein großer Krater. Die Erde darin war locker, und in der Mitte des Lochs schauten drei kräftige weiße Wurzeln aus dem Erdreich hervor.
Irgendetwas irritierte Emily an diesem Bild.
Sie zog ihre Lesebrille aus der Tasche, setzte sie auf und beugte sich tief über das Loch, um sich die merkwürdigen Wurzeln etwas genauer anzusehen.
Was sie erblickte, war so furchtbar, dass ihr augenblicklich übel wurde: Es waren gar keine abgetrennten Wurzeln, sondern drei menschliche Finger, blass, erdverkrustet und mit rot lackierten Nägeln. Auf einem der Finger saß ein schmaler silberner Ring mit einem stilisierten Blattmuster. Emily hatte ihn schon einmal gesehen. Sie fühlte, wie ihr Magen rebellierte und wie ihr ganzer Körper von Entsetzen gepackt wurde.
»Mrs. Bloom! Jetzt kommen Sie doch endlich …«
Godfrey Ballards Stimme rief sie in die Wirklichkeit zurück. Sie blickte sich um. Schwankend und mit zerzausten Haaren stand er unten auf der Straße, die Hände in den Talar gekrallt, der in Höhe der Knie zerrissen und schmutzig war.
»Ich bin gleich bei Ihnen!«, rief sie ihm zu.
»Was machen Sie denn da so lange?«
Es schien, als hätte er unter dem Einfluss des Alkohols schon wieder vergessen, wer den ganzen Schaden angerichtet hatte. Sie musste ihn irgendwie loswerden. »Gehen Sie ruhig schon mal ins Pfarrhaus vor, Godfrey, ich komme gleich nach!« Emily hoffte inständig, dass er nicht weiter nachfragte und einfach tat, was sie sagte.
Ihre Hoffnung erfüllte sich. Er nickte gehorsam, murmelte ein paar unverständliche Worte, drehte sich schwerfällig um und marschierte torkelnd auf den Friedhof zu, dessen Grabkreuze schon zu sehen waren. Bald war er hinter der nächsten Kurve verschwunden.
Es wurde still im Wald.
Emily beugte sich wieder zu dem Loch hinunter. Es kostete sie große Überwindung, sich dem grausigen Fund noch einmal zuzuwenden. Doch es musste sein. Irgendetwas tief in ihrem Innern zwang sie dazu. Sie musste sich vergewissern, dass sie mutig genug war, ihrer Furcht vor dem Speichern dieser schrecklichen Eindrücke entschieden zu begegnen.
Vorsichtig begann sie, mit ihren Händen die Erde rund um die drei Finger zu lockern. Millimeter um Millimeter entfernte sie den Boden, bis zuerst eine schmale weibliche Hand zum Vorschein kam und dann das Gesicht eines Menschen. Die Augen geschlossen, die Nase gerade und eine Stirn, auf der wie ein paar Federn kurze blonde Haare klebten.
Es war das Gesicht von … Debbie Farrow!
Fluchtartig rannte Emily auf die Straße zurück. Ihr Herz klopfte einen rasenden Takt, während sie sich verzweifelt nach Hilfe umschaute. Doch weit und breit war niemand zu sehen.
Sie war allein mit der Toten.
Einsam stand sie da. Der Wind wehte ihr ein paar Haarsträhnen vor die Augen. Erst jetzt merkte sie, dass sie immer noch ihre Lesebrille trug. Mit zitternder Hand nahm sie sie ab, steckte sie ein und schob die Haare zur Seite. Auf einmal kam sie sich erschöpft und gealtert vor. Sie wusste, der Anblick von Debbie Farrows bleichem Totengesicht war für immer in ihrem Gedächtnis gespeichert.
Aber das spielte jetzt keine Rolle.
Ungeduldig zerrte sie ihr Handy aus dem Anorak und wählte die Nummer der Polizei in St. Aubin.
Eine junge Polizistin meldete sich.
Emily atmete so schnell, dass sie Mühe hatte, verständlich zu sprechen. »Hier ist Emily Bloom«, sagte sie, »ich möchte den Chef de Police sprechen.«
Sie hatte ihren Ex-Schwager lange nicht gesehen und war überrascht, wie militärisch er jetzt aussah. Natürlich lag das vor allem an seinen kurzen Haaren, die früher eher rötliche Kräusellocken gewesen waren, doch auch sonst schien er seine Rolle als Polizeichef betont drahtig ausfüllen zu wollen.
Harold Conway stand immer noch breitbeinig vor dem Erdloch und starrte auf das Gesicht der Toten, als könnte er schon darin den Hergang des Verbrechens genau ablesen. Er ist eben immer noch ein aufgeblasener Wichtigtuer, dachte Emily erzürnt. Sie wusste, dass manche Jersianer die ehrenamtlichen Polizisten Hobby Bobbies nannten, was allerdings ziemlich ungerecht war, denn ihre Arbeit war wichtig und unentbehrlich. Doch auf Harold, so fand sie, traf diese ironische Bezeichnung voll und ganz zu.
Er kletterte von der Böschung zu ihr herunter und sagte mit finsterem Blick: »Der zweite Mord in drei Tagen! Furchtbar, eine so hübsche junge Frau.«
»Ja«, stimmte Emily ihm traurig zu. »Es ist schrecklich. Ich bringe es auch nicht fertig, nochmal hinzuschauen.«
»Dann hoffen wir nur, dass du mit deiner Rumkratzerei am Tatort nicht alle Spuren vernichtet hast.«
Emily musste sich sehr zusammennehmen, um ihn nicht anzufahren. »Entschuldigung, Harold, aber wenn ich das nicht getan hätte, würdet ihr jetzt gar nicht hier stehen! Meinst du, das war angenehm für mich? Ich kannte das Mädchen schließlich.«
Genervt winkte er ab. »Ist ja gut, Emily. Ich bin dir ja auch dankbar für deine … Unterstützung. Du konntest schließlich nicht wissen, dass wir schon seit heute Morgen nach Debbie Farrow gesucht haben.«
»Wie bitte?«
»Du hast richtig gehört. Sie ist …«, er korrigierte sich, »sie war eine wichtige Zeugin in einem Betrugsfall. Hat mit dem Pferderennsport zu tun. Offensichtlich war sie die Geliebte unseres Hauptverdächtigen Frank Guiton.«
Irritiert fragte Emily: »Und du bist dir wirklich sicher, dass wir über dieselbe Frau reden? Debbie Farrow aus St. Brelade’s Bay? Sie arbeitet bei einer Bank in St. Helier.«
»Genau die.«
Harold bückte sich, um mit spitzen Fingern ein zerdrücktes Papiertaschentuch aufzuheben, das er am Straßenrand neben einem Felsbrocken entdeckt hatte. Während er eine kleine Spurensicherungstüte aus seiner Jacke zog und das Taschentuch darin verschwinden ließ, hatte Emily genügend Zeit, ihre Überraschung zu verarbeiten. Sie konnte sich zwar nicht vorstellen, dass Debbie in ihrer Trauer und in ihrem psychisch angeschlagenen Zustand der Sinn nach einer Affäre gestanden hatte, aber was wusste sie schon über die Gefühle dieser jungen Frau? Einsamkeit konnte auch blind machen. Immerhin ließ sich nicht leugnen, dass Debbie sehr verändert gewirkt hatte.
Nachdenklich meinte sie: »Ich habe Debbie gestern Morgen zufällig in der Stadt getroffen, und wir haben uns ein bisschen unterhalten. Sie war in einer merkwürdigen Stimmung. Sehr fahrig und unkonzentriert …«
»Na bitte«, sagte Harold, als würde das schon alles erklären. Er konnte nicht widerstehen und fügte mit einem kleinen süffisanten Lächeln hinzu: »Ich nehme an, dein Gedächtnis ist noch immer so gut, dass du dich Wort für Wort an das Gespräch erinnern kannst.«
Es kostete Emily große Überwindung, diese Taktlosigkeit hinzunehmen. Harold wusste ganz genau, wie sehr sie unter ihrem ungewöhnlichen Gedächtnis litt. Er war noch mit ihrer Schwester Edwina verheiratet gewesen, als sie damals die Diagnose von Professor Riddington bekommen hatte und dadurch in die schlimmste Krise ihres Lebens geraten war.
Sie beschloss, ihn mit seiner Bemerkung einfach kühl abblitzen zu lassen. »Du vermutest richtig«, antwortete sie emotionslos.
Sie war dankbar, dass sie in diesem Moment von Harolds junger, hübscher Kollegin Sandra Querée unterbrochen wurden. Sandra hatte bis eben im Polizeiwagen gesessen und mit den hauptberuflichen Spezialisten der Kriminalpolizei in St. Helier telefoniert.
Mit einem kleinen Zettel in der Hand trat sie neben den Chef de Police. »Die Kollegen müssen jeden Moment eintreffen.«
»Wer kommt?«
»Detective Inspector Jane Waterhouse und ihr Team.«
Harold schnaufte. Er wusste genau, dass er gegen Jane Waterhouse und ihre humorlose, irgendwie scharfkantige Art, sich über den Tatort herzumachen, keine Chance hatte. Es wäre besser, wenn er so schnell wie möglich versuchte, sich anderswo nützlich zu machen. Mit nervösem Räuspern sagte er: »Danke, Sandra, dann warten wir jetzt auf die Kollegen und knöpfen uns anschließend den Vikar vor.«
Unwillkürlich blickten alle zu Godfrey Ballards weißem Cabrio, das immer noch unverändert auf der Böschung hing. Sandra hatte es ausgiebig fotografiert und mit Kreide und roten Plastikstäben zahlreiche Markierungen in der Umgebung des Unfallortes angebracht.
Emily hatte plötzlich das Gefühl, den gutmütigen Vikar in Schutz nehmen zu müssen. »Mach Godfrey bitte keine allzu großen Vorwürfe«, bat sie Harold. »Er hat einfach die Gewalt über seinen Wagen verloren. So etwas passiert nun mal. Und dann war er so fix und fertig, dass ich ihn sicherheitshalber nach Hause geschickt habe.«
Sie musste nicht einmal lügen, denn so war es ja tatsächlich gewesen. Natürlich kannte ihr Ex-Schwager den Vikar gut genug, um zu ahnen, dass Godfreys Gang wahrscheinlich ein Torkeln gewesen war. Doch sie hoffte, dass Harold keine Lust hatte, sich schon wieder mit ihr anzulegen.
Sie hatte Glück. Widerspruchslos sagte er: »Ich verstehe.«
Hinter ihnen tat sich etwas. Ein kleiner Mannschaftswagen der Kriminalpolizei parkte auf dem schmalen Grasstreifen an der linken Straßenseite, zwei Männer und zwei Frauen stiegen aus, Autotüren wurden zugeschlagen, und einer der Männer lud mehrere Metallkisten aus, in denen sich das Material zur Spurensicherung befand.
Als erste Amtshandlung erklommen die vier Kriminalbeamten die Böschung und inspizierten – unter leisen fachmännischen Bemerkungen – das Erdloch mit Debbie Farrows Leiche. Alles war noch genau so, wie Emily es vor einer knappen Stunde hinterlassen hatte. Dann löste sich eine der beiden Frauen aus der kleinen Gruppe, sprang leichtfüßig auf die Straße hinunter und ging auf Emily, Harold Conway und Sandra Querée zu.
Es war Jane Waterhouse. Emily schätzte sie auf Anfang vierzig. Die jungenhaft schmale, sehnige Figur der Ermittlerin ließ einen sofort an entbehrungsreiche sportliche Wettkämpfe denken. Aber vielleicht war sie einfach nur ein herber Typ. Ihre extrem kurz geschnittenen braunen Haare, der sehr sportliche Gang und die nüchterne Art und Weise, wie sie gekleidet war, auch wie sie sprach, bekräftigten ihr Bemühen um Sachlichkeit am Tatort.
Sie nickte höflich in die Runde und kam dann ohne Umschweife zur Sache, indem sie sich direkt an Emily wandte. »Ich bin Detective Inspector Waterhouse. Sie haben die Tote gefunden?«
»Ja.« Emily reichte ihr die Hand. »Emily Bloom aus St. Brelade’s Bay. Es hat hier vorhin einen kleinen Unfall gegeben, gerade als ich zufällig vorbeikam. Dabei habe ich dann die furchtbare Entdeckung gemacht.«
»Wo kamen Sie her?«
»Vom Aussichtspunkt Grosse Tête. Ich bin dort regelmäßig, um Tiere zu beobachten.«
»Gibt es irgendjemanden, den Sie davor oder danach hier an der Straße gesehen haben? Ein Auto, das wegfuhr, einen Spaziergänger, Leute, die unten vom Friedhof kamen?«
»Nur Mr. Rondel, der auf dem Klippenweg mit seinem Hund spazieren ging. Er wohnt in einem der Häuser an der Heide.«
In diesem Augenblick mischte sich Harold ein. »Der Wagen dort gehört übrigens Vikar Godfrey Ballard«, sagte er mit wichtiger Miene, als hätte er jetzt erst gemerkt, dass er vorhin sein Stichwort verpasst hatte.
Jane Waterhouse quittierte seinen verspäteten Hinweis mit einem kurzen Nicken, ohne dabei ihre Aufmerksamkeit von Emily abzuwenden. »Mrs. Bloom, wir werden nun als Erstes versuchen, einen Zeitrahmen für die Tat zu erstellen.«
Ihr arrogantes Verhalten Harold gegenüber wirkte wie eine Zurechtweisung, die offensichtlich auf zahlreiche andere unerfreuliche Begegnungen zwischen ihr und dem Chef de Police zurückzuführen war. Emily sah, wie Harolds Adern am Hals anschwollen, während er sich ein paar Schritte zurückzog. Sie wollte jetzt nicht in seiner Haut stecken.
Ungerührt fuhr Detective Inspector Waterhouse mit ihren Fragen fort. »Wissen Sie noch, um wie viel Uhr Sie an der Unfallstelle waren? Wenigstens ungefähr?«
Emily schloss kurz die Augen und konzentrierte sich auf jenen Moment, als sie Godfreys Auto kommen gehört und auf die Uhr geschaut hatte. Motorgeräusch und Uhr waren in ihrem Gedächtnis fest miteinander verbunden. Danach hatte sie sich etwa zwei Minuten lang mit dem Vikar unterhalten, bevor er weiterfuhr.
»Um sechzehn Minuten nach zwölf«, antwortete sie, ohne zu zögern.
Überrascht fragte Jane Waterhouse: »Das wissen Sie so genau?«
»Ich habe ein ziemlich gutes Gedächtnis«, meinte Emily bescheiden.
Sie hoffte, dass ihr Ex-Schwager jetzt den Mund hielt. Vorsichtig schwenkte ihr Blick zu Harold hinüber, der mit missmutigem Gesicht hinter seiner verhassten Kollegin aus St. Helier stand, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Seine Haltung sprach Bände. Er machte nicht den Anschein, dass er Emily jetzt in den Rücken fallen wollte.
»Ich schlage vor«, sagte Detective Inspector Waterhouse mit einem kritischen Blick in den strahlend blauen Himmel, »dass wir uns in den Wagen setzen, bevor es noch heißer wird. Das ist bequemer. Und Sie können ganz in Ruhe Ihre Aussage machen.«
»Wenn es Ihnen recht ist, würde ich vorher nur noch schnell in meinem Teeladen anrufen und meinem Mitarbeiter Bescheid geben, dass ich später komme.«
»Tun Sie das.«
Mit kühler Höflichkeit fragte Harold: »Und wie sieht’s mit uns aus? Werden Miss Querée und ich noch gebraucht?«
»Ach so, ja …« Jane Waterhouse drehte sich zu ihm um und fixierte ihn kurz, als müsste sie erst intensiv nachdenken, wie sie die Honorary Police halbwegs sinnvoll einsetzen könnte. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Peter und Holly bei den Markierungen helfen könnten. Jedenfalls so lange, bis der Pathologe hier ist und wir die Leiche zur Obduktion abholen lassen.«
Harold Conways Antwort verbarg nur schlecht, dass er innerlich kochte. »Wie Sie wünschen, Detective Inspector Waterhouse.«
Er drehte sich um und marschierte mit Sandra Querée im Schlepptau zum Fundort der Toten zurück. Seine ausgreifenden Schritte hätte man auf den ersten Blick übertriebenem Diensteifer zuschreiben können, wenn sein hochroter Kopf ihn nicht verraten hätte.
Auf dem Weg zum Mannschaftswagen der Polizei rief Emily mit ihrem Handy schnell bei Tim im Laden an. Normalerweise hätte er um ein Uhr gehen können, weil Emily nachmittags immer selbst im Geschäft stand. Nachdem sie ihn kurz über die Katastrophe informiert hatte, war sie bereit für das Verhör.
Sie stieg in den nicht gerade sauberen Polizeibus und nahm auf einem Hocker vor einem zerkratzten hellbraunen Tischchen Platz. Jane Waterhouse setzte sich ihr gegenüber und klappte einen schwarzen Laptop auf, der zur Ausrüstung des Busses gehörte. Währenddessen konnte Emily durch das Autofenster feststellen, wie die Unfallstelle draußen vor dem Fenster sich innerhalb von Minuten in ein Laboratorium verwandelt hatte. Das Team in den weißen Schutzanzügen nahm in lautloser Routine Gipsabdrücke, steckte Schilder mit Nummern in den Boden, streute Pulver über Baumstämme und hob innerhalb des Erdlochs – vermutlich rund um das Gesicht der armen Debbie Farrow – Erde ab. Mithilfe kleiner Pinzetten und winziger Schaufeln wurde sie in Tüten und Dosen abgefüllt.
Geduldig beantwortete Emily alle Fragen, die Jane Waterhouse ihr stellte. Wie gut hatte sie die Tote gekannt? Was hatte Debbie Farrow gestern für geheimnisvolle Andeutungen gemacht? Woran war Debbies Kind gestorben? Was für Freunde hatte sie? War sie in letzter Zeit irgendwo zusammen mit Frank Guiton gesehen worden?
Alles, was Emily sagen konnte, war, dass Debbie Farrows kleiner Sohn Asthma gehabt hatte und auch sonst sehr kränklich gewesen war. Jeder in St. Brelade wusste, dass der Kleine als uneheliches Kind auf die Welt gekommen war, so wie auch Debbie selbst ohne Vater aufwachsen musste. Nach dem Tod ihrer Mutter vor vier Jahren gab es nur noch die jüngere Schwester Constance, die jedoch in England lebte und schon lange nicht mehr auf Jersey gewesen war. Debbies Freunde kannte Emily kaum. Wie alle jungen Leute aus dem Ort war sie früher öfter in Diskotheken unterwegs gewesen oder hatte mit ein paar Jungs am Strand von St. Brelade’s Bay geflirtet. Und nein, der Name Frank Guiton sagte Emily gar nichts.
Erschöpft ließ sie sich an die gepolsterte Lehne des Autositzes sinken. Zuckende Kopfschmerzen in ihrem Hinterkopf erinnerten sie daran, wie lange sie schon unter Anspannung stand. Vorsichtig drehte sie ihren Kopf ein paar Mal hin und her, um den Schmerz loszuwerden, aber das Stechen blieb hartnäckig.
»Für uns drängt sich natürlich die Frage auf«, sagte Jane Waterhouse, »ob Debbie Farrows Tod etwas mit dem anderen Mord zu tun hat … Sie haben sicher darüber gelesen.«
»Ja, natürlich.«
»Sie könnte zum Beispiel Zeugin des ersten Verbrechens gewesen sein. Oder sie hatte Kontakte zu polnischen Einwanderern. Ist Ihnen da etwas bekannt?«
»Nein. Wie gesagt, so oft habe ich Debbie in letzter Zeit nicht gesehen …« Plötzlich fiel Emily etwas ein. »Aber Sie könnten ihren Cousin danach fragen. Oliver Farrow. Er arbeitet im Hafen.«
»Danke. Ich werde es überprüfen lassen.«
Die Ermittlerin beendete ihre Laptop-Notizen. Emily war aufgefallen, dass der Ton, in dem sie ihre Fragen stellte, etwas merkwürdig Indifferentes hatte, er war weder freundlich noch unfreundlich, eher distanziert und ebenso nüchtern wie das Äußere von Jane Waterhouse. Plötzlich glaubte sie zu verstehen, warum Harold mit dieser Frau nicht zurechtkam. Sie war zweifellos kompetent, aber bei ihrer Arbeit verhielt sie sich so leidenschaftslos wie ein Stück Holz. Über Harold Conway dagegen konnte man sagen, was man wollte – er kniete sich voller Eifer in seine Aufgabe bei der Polizei.
Jane Waterhouse stand auf. Offensichtlich hatte sie bemerkt, dass Emily unkonzentriert wurde. »Gut, ich denke, das waren jetzt erst mal die wichtigsten Fragen, Mrs. Bloom«, sagte sie lächelnd. Auch dieses Lächeln war wieder so, dass man es nicht näher bestimmen konnte. »Wir werden sicher noch einmal auf Sie zukommen, sobald die Obduktionsergebnisse vorliegen.«
Emily war alles recht, wenn sie nur möglichst bald diesen Ort des Schreckens verlassen konnte. Es fiel ihr schwer, zu akzeptieren, dass dort oben eine ermordete junge Frau lag, die sie gekannt und gemocht hatte und über die man jetzt sprach, als handelte es sich um einen Gegenstand, den man zur näheren Betrachtung auseinandernehmen musste. Erleichtert stieg sie aus dem Mannschaftswagen.
Gleich hinter dem Bus stand Harolds Polizeiauto. Er war gerade dabei, in seinen Wagen zu steigen, und rief ihr zu: »Bist du fertig?«
Emily ging zu ihm. »Ja. Könntest du mich vielleicht nach Hause fahren?«
»Steig ein. Meine Kollegin bleibt hier, bis der Pathologe kommt. Schaffst du noch den kleinen Umweg über das Pfarrhaus?«
Ihr entging nicht, dass in seiner Stimme die Hoffnung mitschwang, dass sie ihm bei Godfrey Ballard zur Seite stand. Wenn sie Harold nicht noch einmal verärgern wollte, sollte sie ihm diesen Gefallen tun. Er wusste genau, dass Godfrey immer auf sie hörte.
Seufzend sagte sie: »Meinetwegen.«
Das Haus des Vikars lag etwa in der Mitte des kleinen Badeortes St. Brelade’s Bay, in der Nähe des Winston Churchill Parks, am Ende eines versteckten Weges. Seit einem Jahr diente es als Ersatz für das eigentliche Pfarrhaus, das direkt gegenüber dem Friedhof lag und das mit seinen hübschen blauen Fensterrahmen beinahe wie eine kleine Privatvilla aussah. Die lange Krankheit ihres Rektors nutzte die Gemeinde dazu, das alte Pfarrhaus von Grund auf renovieren zu lassen, sodass Vikar Ballard als Stellvertreter vorerst mit der angemieteten Unterkunft am Churchill-Park vorliebnehmen musste.
Die Zufahrt war mit Kies bedeckt, wie die meisten Privatstraßen; für deren Unterhalt hatten die Eigentümer selbst aufzukommen. Rechts und links des sehr schmalen Weges wucherten ungeschnittene, dichte Hecken über die Zäune. Schimpfend lenkte Harold das Polizeiauto im Slalom um die herunterhängenden Äste herum, konnte aber dennoch nicht verhindern, dass mehrmals Zweige verdächtig laut auf dem Lack entlangkratzten.
»Das werden die Ersten sein, die bei der nächsten Heckenkontrolle dran sind!«, knurrte er. Zweimal im Jahr, bei der sogenannten Visite du Branchage, wurde in allen Gemeinden auf Jersey der Schnitt der Bäume und Hecken an den engen Straßen kontrolliert. Emily musste insgeheim schmunzeln über Harolds Eifer.
Es gab nur vier Häuser in der kurzen Sackgasse, alle im viktorianischen Stil, mit zugewachsenen Gärten und moosbedeckten Mauern zwischen den Beeten. Das letzte Haus, bis unter die Dachrinne mit Efeu bewachsen, war das Vikariat.
Harold parkte ein Stück hinter dem Tor. Interessiert blickte Emily über den dunklen Holzzaun in den Garten. Sie war erst einmal hier gewesen. Sie hatte das Grundstück sehr viel heller und sonniger in Erinnerung. Ganz offensichtlich gehörte Gartenarbeit nicht zu Godfrey Ballards Lieblingsbeschäftigungen. Nur der Rasen war ordentlich gemäht. Ringsherum jedoch hatte er alles so wuchern lassen, wie die Natur es freiwillig anbot. In Emilys Familie wurde ein solcher Wildwuchs ein ungekämmter Garten genannt, was ihm allerdings nicht seinen Charme absprechen sollte.
Sie öffneten das quietschende Eisentor und gingen zwischen den beiden hohen Steinsäulen hindurch, die das Tor ehrwürdig einrahmten und die durch einen verwitterten Granitbogen miteinander verbunden waren.
Fast wäre Emily über ein paar erdverkrustete olivgrüne Gummistiefel gestolpert, die am Fuß der Treppe zum Hauseingang lagen.
Merkwürdigerweise war die Eingangstür aus schwerem Eichenholz nur angelehnt. Harold Conway stieß sie so weit auf, dass sie einen Blick in das quadratische Treppenhaus werfen konnten.
»Herr Vikar? Sind Sie da?«
Er bekam keine Antwort. Stirnrunzelnd blickte er zu Emily. Sie zuckte mit den Schultern und legte den Kopf in den Nacken, um über die Treppe zur Balustrade hochzuschauen. »Godfrey, sind Sie oben?« Ihre Stimme hallte unter der hohen Decke.
Außer dem Summen einer Wespe war nichts zu hören.
»Du wirst sehen, der schläft seinen Rausch aus«, meinte Harold Conway und winkte ab, »aber so einfach kommt er mir nicht davon.«
Kurz entschlossen ging er an Emily vorbei und riss die zweiflügelige Glastür zum Wohnzimmer auf, das direkt in ein großzügiges Arbeits- und Bibliothekszimmer überging. Emily folgte ihm.
Im ersten Moment sah es so aus, als würde ein Mensch auf der wuchtigen Ledercouch vor dem Fenster liegen. Doch bei näherem Hinsehen entpuppte sich das längliche schwarze Etwas als eine unordentlich hingeworfene Wolldecke. Von Godfrey selbst war nichts zu sehen, weder im Wohnzimmer mit seinen altmodisch geblümten Sesseln noch im Arbeitszimmer, dessen Bücherregale von oben bis unten mit religiöser Fachliteratur vollgestellt waren. Erstaunt entdeckte Emily dazwischen ein Regalbrett mit leichten Romanen und Bildbänden. Auf einem Beistelltisch stapelten sich abgegriffene Gesangsbücher und die Einladungen zum Gemeindefest. Neugierig stöberte Harold Conway zwischen den Sachen herum.
»Musst du das jetzt wirklich tun?«, fragte Emily peinlich berührt.
Unwillig warf er die Einladungen wieder auf den Beistelltisch zurück. »Entschuldigung, aber der Vikar ist nun einmal der Auslöser von allem! Und wenn er nicht hier ist, kann das eine Menge bedeuten!«
Er hat ja recht, dachte Emily, es ging schließlich längst nicht mehr nur um Trunkenheit am Steuer, sondern um einen Mordfall. Sie hoffte inständig, dass Godfrey oben im Bett lag und fest schlief.
Entschlossen ging Harold zurück ins Treppenhaus. Wie immer, wenn er unter großer Anspannung stand, waren seine Lippen schmal und hart geworden. Emily folgte ihm. Sie sah, wie er eine Hand auf den blanken Holzlauf des Treppengeländers legte.
»Ich schau oben nach und du hier unten.«
Polternd eilte er die Treppe hinauf.
Emily blickte sich um. Im Erdgeschoss gab es drei geschlossene Türen, eine direkt am Eingang, die beiden anderen jeweils rechts und links neben der Flügeltür zum Wohnzimmer. Sie öffnete eine nach der anderen. Hinter der Tür am Eingang verbarg sich eine schmale Gästetoilette, über deren Waschbecken ein Plakat mit einem aus dem Meer auftauchenden Delfin hing.
Hinter der linken Tür erstreckte sich eine geräumige Küche, die für ein Pfarrhaus erstaunlich gut ausgestattet war. Godfrey Ballard schien ein ausgeprägter Feinschmecker und Hobbykoch zu sein, denn in den Küchenregalen stapelten sich feinste Delikatessen von der Gänseleberpastete bis zum Trüffelöl. Auf dem Fensterbrett stand ein Korb mit Gemüse und Salat.
Emily verbot es sich, noch länger in der fremden Küche herumzustöbern. Sie ging zurück in den Flur und öffnete die letzte Tür.
Sie brauchte einen Augenblick, um sich an das Dämmerlicht im Raum dahinter zu gewöhnen. Die halb zugezogenen blauen Damastvorhänge erzeugten eine geheimnisvolle Atmosphäre. Emily spürte, dass hier irgendetwas anders war als in den Zimmern, die sie bisher gesehen hatte. Entschlossen ging sie zum Fenster und schob die Vorhänge zur Seite. Von einer Sekunde zur anderen flutete Sonnenlicht durch den Raum, sodass der ausgeblichene, fadenscheinige Wollteppich auf dem Holzfußboden fast schon gelb wirkte.
Der Raum ähnelte einer Mönchszelle. Die sparsame, fast asketische Möblierung bestand aus einer Schlafpritsche, über deren Kopfende ein schlichtes Holzkreuz hing, zwei einfachen Stühlen, einem runden Beistelltisch sowie einem alten Stehpult, auf dem zwei Bibeln lagen, eine in französischer und eine in portugiesischer Sprache. Es herrschte eine merkwürdige, beinahe schon geheimnisvoll klerikal anmutende Atmosphäre.
Wozu wurde dieser Raum genutzt? Zum Meditieren? Oder als Gästezimmer? Emily konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es sich um das Schlafzimmer des lebensfrohen Vikars handelte.
Plötzlich hörte sie, dass jemand die Treppe herunterkam – allein. Wahrscheinlich war es Harold. Auch er schien nicht fündig geworden zu sein.
»Emily?« Ja, es war Harold.
»Ich komme!«, rief sie nach draußen.
Sie war schon an der Tür, als ihr etwas auffiel. Ein Foto schaute unter der französischen Bibel hervor. Die beiden Gesichter, die sie darauf zu erkennen glaubte, jagten ihr einen Schreck ein. Vielleicht irrte sie sich ja. Schnell zog sie das Foto hervor.
Doch sie irrte nicht.
Es war ein Foto von Debbie Farrow mit ihrem kleinen Sohn David. Beide lachten in die Kamera. Darüber stand, geschrieben mit rotem Lippenstift: Danke! Deine Debbie! Schockiert starrte Emily auf die geradezu intim wirkende Widmung.
Als Harold hereinkam, ließ sie das Foto rasch in ihrer Anoraktasche verschwinden. Es war mehr ein Reflex als die bewusste Entscheidung, dem Chef de Police etwas so Wichtiges vorzuenthalten. Sie war verwirrt. Ungeordnete Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Nur Harolds harte Stimme hinter ihr hielt sie davon ab, schon jetzt in wilde Spekulationen zu verfallen.
»Der Vikar ist tatsächlich verschwunden! Was sagst du dazu?«
Emily drehte sich um und folgte ihm zurück in den Flur. Jetzt erst bemerkte sie, dass auch über der Eingangstür ein großes Holzkreuz hing. Mit seiner Aura religiöser Macht schien das heilige Kreuz daran erinnern zu wollen, dass Godfrey Ballard Geistlicher war und Respekt verdiente.
»Vielleicht gibt es eine ganz simple Erklärung dafür. Er wird sich ja nicht in Luft aufgelöst haben«, meinte sie, auch um sich selbst zu beruhigen. Vieles an diesem merkwürdigen Fall ergab überhaupt keinen Sinn.
Harold winkte ab. »Geh nach oben, dann siehst du, was ich meine«, sagte er zornig. »Er ist regelrecht getürmt. Nur einen halb gepackten Koffer hat er stehen lassen.«
Sie versuchte eine Erklärung. »Vielleicht wollte er …«
Doch in seiner Rage ließ er sie nicht zu Wort kommen. »Verlass dich drauf, ich werde den Burschen finden!«
Noch bevor Emily weitersprechen konnte, hatte Harold schon die Haustür geöffnet und stürmte nach draußen zu seinem Wagen. Wahrscheinlich wollte er die Fahndung nach dem Vikar einleiten.
Emily blieb zurück. Ihre Finger befühlten das Foto in ihrer Tasche. Plötzlich glaubte sie, sie würde Debbies herzliches Lachen hören.
Nie wieder würde irgendjemand es hören können.
In diesem Augenblick beschloss sie, mitzuhelfen, damit der Mord an Debbie so schnell wie möglich aufgeklärt wurde.
Ärgerlicherweise gab es auch am nächsten Morgen immer noch keine Neuigkeiten aus der Gerichtsmedizin.
Obwohl die Ermittlungsgruppe unter Detective Inspector Jane Waterhouse bereits seit sieben Uhr morgens tagte, ließ sich die Pathologie Zeit. Das Einzige, was sie von den Medizinern gehört hatten, war die Bestätigung des Todeszeitpunktes. Man hatte ihn auf etwa dreiundzwanzig Uhr in der Nacht vor dem Leichenfund festgelegt.
Jane Waterhouse empfand es als Zumutung, derart hingehalten zu werden. Schon regelmäßige kurze Zwischenberichte der Gerichtsmedizin wären ihr hilfreich gewesen, denn improvisieren mussten sie schließlich alle. So schwere Verbrechen wie die beiden Morde geschahen nur höchst selten auf Jersey, dementsprechend hoch war der Druck auf die Ermittler. Quasi über Nacht hatte sie ihr fünfköpfiges Team zusammenstellen müssen, das jetzt mit den Füßen scharrte.
Erst gegen neun Uhr tauchte der gut aussehende junge Pathologe auf, den die Gerichtsmediziner zu Jane Waterhouse geschickt hatten, um ihr den abschließenden Befund zu liefern.
Mit einem Nicken legte er ihn vor ihr auf den Tisch. »Das Opfer ist definitiv erwürgt worden, und zwar mit den Händen«, sagte er. »Die Abdrücke der Finger sind deutlich auszumachen.«
»Sonst noch Verletzungen?«, fragte die Ermittlerin kühl.
»Nur Schürfwunden. Und natürlich das, was mit einer Leiche passiert, wenn man sie einbuddelt«, antwortete er flapsig. »Damit dürfte Ihnen doch geholfen sein, oder?«
»Ich falle Ihnen gleich vor Freude um den Hals«, giftete Jane Waterhouse.
»Bloß nicht«, konterte der junge Arzt grinsend. »Sie sehen ja, wie gefährlich das sein kann.«
»Raus!«, sagte Jane Waterhouse böse.
Er merkte, dass sie wirklich verärgert war, und verschwand.
Nachdenklich ging sie über den Flur in den Vernehmungsraum zurück, wo seit acht Uhr der Pferdezüchter Frank Guiton verhört wurde.
Auch vier Glastüren weiter, in der Spurensicherung, ging es hoch her. Der vierschrötige vollbärtige Schotte Edgar MacDonald hatte seine Leute so lange am Fundort der Leiche herumgescheucht, bis sie mehrere bemerkenswerte Spuren gesichert hatten, die jetzt ausgewertet wurden. Es gab zahlreiche Fingerabdrücke an einer im Gebüsch liegenden Schaufel des Friedhofsgärtners, es gab interessante Fußabdrücke in der Nähe des frisch gepflanzten Baumes, und man hatte verschiedene Fasern und herumliegende Gegenstände wie einen Kugelschreiber und zwei Schrauben sicherstellen können.
Und etwas Entscheidendes war unstrittig: Fundort und Tatort waren nicht identisch. Die vollständig bekleidete Leiche war zu der Böschung gebracht und dort vergraben worden. Ein Sexualverbrechen lag nicht vor. MacDonald hatte sofort die Ähnlichkeit zum Mord an Jolanta Nowak erkannt. In beiden Fällen hatte der Täter sich auf ungewöhnliche Art und Weise seines Opfers entledigt.
Doch all diese Fakten und Vermutungen hatten dem umtriebigen MacDonald nicht ausgereicht. Sein Gefühl sagte ihm, dass er irgendetwas übersehen hatte. An diesem Morgen war er, ohne zu frühstücken, von zu Hause losgefahren, um den Tatort noch einmal in Augenschein zu nehmen. Noch auf dem Weg dorthin hatte er mit Jane Waterhouse telefoniert und ihr von einer Idee erzählt, die ihm nachts durch den Kopf gegangen war. Genau genommen erzählte MacDonald nie, er konnte nur blaffen, grummeln oder knarzen, und zwar so lange, bis er in seiner typischen rücksichtslosen Art sein Ziel erreicht hatte. Diesmal forderte er zu seiner Unterstützung den besten Fährtenhund der Polizei an.
Jane Waterhouse glaubte, nicht richtig zu hören. »Wie bitte? Edgar, die Tat ist vor dreiunddreißig Stunden begangen worden, da kann kein Suchhund mehr etwas finden!«
»Verdammt noch mal, Jane, ich brauche dieses Biest! Und es ist kein Suchhund, sondern ein Fährtenhund!«
»Aber …«
»Na also! Warum nicht gleich so?«
Genervt gab Jane Waterhouse ihm grünes Licht.
Wenig später wurde ihm Arnie gebracht, ein berühmter schwarzer Labrador, genauso abgeklärt und erfahren wie MacDonald selbst. Jetzt erst war er zufrieden. Er hielt dem Hund zwei Kleidungsstücke aus Debbies Wohnung unter die feuchte Schnüffelnase, in der Hoffnung, dass sich nach so vielen Stunden noch Geruchspartikel auf dem Boden erhalten hatten. Mit seiner harten schottischen Sprache erteilte er dem Hundeführer genaue Anweisungen für die Suche. Nicht ohne Grund, wie sich herausstellen sollte, denn er hatte einen konkreten Verdacht, wo Debbie sich vor ihrem Tod aufgehalten haben könnte.
Es funktionierte.
Etwa eine Viertelstunde, nachdem der Kollege von der Hundestaffel sein kluges Tier auf dem Gelände des Friedhofes und entlang der Kirche auf und ab geführt hatte, schlug der Labrador an.
Schnell stellte sich heraus, dass Debbie Farrows Leiche durch die steinerne Pforte hinter der Fischerkapelle über den Friedhof bis hoch zur Allee geschleift worden war. MacDonald vermutete, dass der Mörder die Tote mit den Füßen über den Boden gezogen hatte, sonst hätte der Hund nichts gerochen. Unterhalb der Kapelle gab es einen Zugang zum Strand und zum kleinen Hafenbecken. War Debbie Farrow dort unten ermordet worden? Mit dem Ablaufen der letzten Flut wären dann auch mögliche Spuren ins Meer geschwemmt worden.
So konnte es gewesen sein.
In früheren Zeiten hatten die Steinstufen von der Friedhofspforte hinunter zum Strand als Perquage gedient – als Fluchtweg, auf dem zu Tode Verurteilte nach altem normannischen Recht das Land mit einem Boot verlassen konnten, nachdem sie in der Kirche Schutz gefunden hatten.
Für Debbie Farrow hatte es so viel Gnade nicht gegeben. Sie musste den umgekehrten Weg nehmen.
Eine halbe Stunde später stapfte Edgar MacDonald über den Flur der Kriminalpolizei in St. Helier und klopfte an die Tür des Vernehmungsraumes.
Jane Waterhouse kam heraus und sah ihn erwartungsvoll an. »Was Neues, Edgar?«
»Nein, keine Spuren von Frank Guiton rund um den Friedhof.«
»Und auf seiner Jacht?«, fragte sie leise.
»Kein Blut von Debbie Farrow. Nur ein paar ältere, schon verwischte Fingerabdrücke von ihr.«
»Danke.« Jane Waterhouse ging zurück in den Vernehmungsraum und nahm wieder Platz.
Beim Verhör von Frank Guiton hatte sie gerade etwas sehr Wichtiges erfahren. Er hatte zugegeben, dass das Verhältnis, das er seit zwei Monaten mit Debbie Farrow gehabt hatte, recht kompliziert gewesen war.
»Eine Zeugin behauptet, Debbie und Sie hätten sich in der letzten Woche heftig gestritten. Stimmt das, Mr. Guiton?«, fragte Jane Waterhouse in scharfem Ton.
Er nickte zögernd. »Debbie und ich hatten unterschiedliche Vorstellungen von unserer Beziehung. Ich hätte sie am liebsten jeden Tag gesehen, während sie … oft für sich sein wollte.«
Sein Gesicht war blass, dunkle Ringe lagen unter seinen Augen. Trotzdem hatte seine Attraktivität nur zum Teil gelitten, er war immer noch ein interessanter Mann, wie Jane Waterhouse sich eingestehen musste.
»Gab es im Leben von Debbie Farrow vielleicht schon einen neuen Mann?«, fragte sie.
»Ich glaube, nicht. Ihr Problem war ja gerade, dass sie Männern misstraute.«
»Kennen Sie den Grund dafür?«
»Es hat wohl was damit zu tun, dass sie ohne Vater aufgewachsen ist.«
»Werden Sie eigentlich schnell eifersüchtig, Mr. Guiton?«
Obwohl Jane Waterhouse die Frage sehr schnell und überraschend gestellt hatte, musste er nicht lange überlegen.
»Nein. Obwohl es ziemlich hart für mich gewesen wäre, wenn Debbie mir den Laufpass gegeben hätte.«
»Dann könnte man also sagen … für Sie war es die große Liebe. Würden Sie das so bezeichnen?«
»Ja.«
Tatsächlich war die Liaison von Debbies Seite aus noch reichlich fragil gewesen. Sie hatte erst zweimal bei Frank zu Hause übernachtet und einmal auf seinem Schiff. Einer Freundin namens Elaine Barrymore, die in der Nachbarschaft wohnte, hatte sie anvertraut, dass sie den Pferdezüchter zwar wirklich zu lieben glaubte, dass sie aber noch unsicher war, ob ihre schwierige private Situation schon eine so feste Beziehung erlaubte, zumal Frank im Umgang ziemlich kompliziert sein konnte.
»Gut. Dann wenden wir uns wieder dem Tatabend zu.«
Jane Waterhouse legte das Protokoll der telefonischen Aussage von Elaine Barrymore zurück in die rote Laufmappe, die für Frank Guiton angelegt worden war.
Ganz nach ihrem sportlichen Geschmack trug die Chefermittlerin an diesem Morgen ein weißes T-Shirt unter einem blauen Blouson. Mit ihren kurz geschnittenen Haaren sah sie aus wie eine Schülerin im Sportunterricht. Es wirkte fast lächerlich, dass der Verdächtige ein ganz ähnliches weißes T-Shirt anhatte, allerdings mit dem Aufdruck des Gefängnisses, in dem er während der Untersuchungshaft untergebracht war.
Frank Guiton war irritiert über die kühle, knappe Art der Ermittlerin, was dazu führte, dass er sich bei seinen Antworten unter Zeitdruck fühlte. Aber genau das bezweckte Jane Waterhouse vermutlich auch.
»Sie haben behauptet, Mr. Guiton, dass Sie den ganzen Abend auf Ihrer Segeljacht verbracht haben.«
»So war es auch …«
Ihre sportlich durchtrainierten, fast schon muskulösen Hände griffen nach einem Foto, das vor ihr auf dem Tisch lag. Es zeigte eine 36-Fuß-Segeljacht mit Namen Matador, einen eleganten dunkelgrünen Rumpf, Teakaufbauten, drei Kajütfenster.
Sie hielt das Foto hoch. »Erklären Sie uns doch bitte, wie es möglich ist, dass Sie eine ganze Nacht lang an Deck dieses auffälligen Schiffes sein konnten, ohne dass irgendjemand Sie gesehen hat. Wie soll das gehen?«
Seine Antwort kam ruhig und konzentriert. »Weil die Jacht nicht in einem Hafen liegt.«
»Sondern?«
»An einer einzelnen Ankerboje hundertfünfzig Yard vor der Küste, nahe der Portelet Bay.«
Jane Waterhouse sah die zerklüftete kleine Bucht und das zerfallene Fort mitten im Meer vor sich. Ihr war sofort klar, dass man eine solche Boje bei Flut nur erreichte, wenn man mit einem Schlauchboot vom Ufer aus dorthin ruderte. Jeder auf Jersey wusste, dass es viele solcher Privatbojen gab.
»Und Sie waren zu diesem Zeitpunkt ganz allein dort draußen? Keine anderen Boote? Keine Spaziergänger am Ufer?«
»Nicht dass ich wüsste. Ich bin kurz vor 18 Uhr da gewesen. Das weiß ich noch, weil ich die Borduhr neu einstellen musste.«
Der junge Polizist, der mit am Tisch saß, schob Jane Waterhouse ein Blatt Papier zu, auf dem die Gezeiten jenes Tages notiert waren. Sie überflog es, hob den Blick wieder und sagte: »Wir hatten vorgestern den höchsten Stand der Flut um 18 Uhr 03 und den tiefsten Stand bei Ebbe um 0 Uhr 48. Das heißt, als Sie um sechs Uhr ankamen, war das Wasser noch so hoch, dass Sie zu Ihrer Boje hinausrudern mussten, aber zur Tatzeit gegen 23 Uhr schon so niedrig, dass Sie von der Portelet Bay bequem zu Fuß nach St. Brelade’s Bay hätten hinübergehen können. Richtig?«
Frank Guiton schloss die Augen und beteuerte eindringlich: »Ich wiederhole: Ich habe mit Debbies Tod nichts zu tun, und ich war auch nicht in St. Brelade’s Bay!«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Harold Conway schlüpfte leise herein. Auf Zehenspitzen ging er links an der Wand entlang und lehnte sich nach einem kurzen Nicken in Richtung der sichtlich verblüfften Jane Waterhouse kommentarlos an den altmodischen Heizkörper. Zufrieden registrierte er, dass ihm dieser kleine Auftritt mehr als gelungen war.
Detective Inspector Waterhouse hatte sich schnell wieder im Griff. Auch sie kannte die Verordnung, nach der sich ein Chef de Police jederzeit in die Ermittlungen einklinken konnte.
Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn bei der Vernehmung zu dulden und wie geplant fortzufahren. Nur wer sie genau kannte, spürte den eisigen Unterton, der ab jetzt in ihrer Stimme mitschwang. Sie ärgerte sich mächtig, bemühte sich jedoch, sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen.
»Mr. Guiton, wie hätte sich denn Miss Farrow bei Ihnen bemerkbar gemacht, wenn sie tatsächlich wie verabredet zwischen achtzehn und neunzehn Uhr am Ufer aufgetaucht wäre?« Sie lächelte kühl. »Mit Lichtzeichen?«
»Wir hatten vereinbart, dass sie mich über Handy anruft, dann wäre ich mit dem Schlauchboot ans Ufer gerudert und hätte sie geholt«, antwortete Frank Guiton so ruhig wie möglich.
»Gut. Sie ist also nicht gekommen. Was haben Sie stattdessen gemacht?«
»Ich habe zuerst in einer Bootszeitschrift gelesen und dann mit meinem neuen Kartenplotter geübt.«
»Was ist das – ein Kartenplotter?«, fragte Jane Waterhouse mit hochgezogenen Augenbrauen und blickte fragend in die Runde. »Entschuldigung, aber ich bin ja nur eine Frau und mit dem Spielzeug von Männern nicht so vertraut«, fügte sie ironisch hinzu.
Harold Conway verdrehte die Augen. Frank Guiton sah es. Es gab ihm den Mut, selbstbewusst und mit kräftiger Stimme zu antworten: »Es ist eine elektronische Seekarte mit GPS-System, das neueste Modell. Man braucht es zum Navigieren. Man kann eine Menge damit machen. Zum Beispiel Törns planen, gesegelte Strecken zurückverfolgen … Sehr nützlich.«
»Wie lange haben Sie daran gesessen?«
»Bis ich schlafen gegangen bin … Kurz nach Mitternacht, direkt nach dem Wetterbericht auf BBC. Da war klar, dass Debbie mich versetzt hatte. Sie ist ja auch nicht ans Telefon gegangen.«
»Haben Sie ihr aufs Handy gesprochen?«
»Natürlich, drei oder vier Mal.«
Jetzt schaute Jane Waterhouse zum ersten Mal zum Chef de Police hinüber. Er beantwortete ihren fragenden Blick mit nachdenklich gespitztem Mund. Beide wussten, dass man bei Debbies Leiche kein Handy gefunden hatte. Auch bei der Durchsuchung ihrer Wohnung war es nirgendwo aufgetaucht. Also hatte der Mörder es möglicherweise an sich genommen oder weggeworfen. Vielleicht log Frank Guiton auch.
Jane Waterhouse hatte das Gefühl, sie müsste jetzt den Sack zumachen. »Ich halte also fest: Sie haben keinen Zeugen. Und es wäre ein Leichtes für Sie gewesen, das Schiff heimlich zu verlassen und die Tat zu begehen.«
Plötzlich war ein kurzes Räuspern von Harold Conway zu hören. Er stieß sich vom Heizkörper ab und näherte sich dem Tisch. »Detective Inspector Waterhouse, wenn ich mich mal kurz einklinken dürfte …«
Sie nickte unwillig.
»Ja, bitte?«
»Mir ist da was eingefallen. Als alter Segler weiß ich, dass man bei den meisten modernen Kartenplottern, ähnlich wie bei einem Handy, auch nachträglich noch feststellen kann, zu welcher Uhrzeit sie benutzt wurden. Unsere Computerspezialisten müssten das doch fertigbringen …«
Jane Waterhouse sah wieder Frank Guiton an. »Stimmt das?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Aber wenn ich damit eine Chance habe, dass ich meine Unschuld beweisen kann, dann will ich, dass das nachgeprüft wird!«
Mit einer schnellen Bewegung aus dem Handgelenk warf Detective Inspector Waterhouse ihren angeknabberten schwarzen Kugelschreiber vor sich auf die Tischplatte. Schlecht gelaunt sagte sie: »Also meinetwegen. Ich unterbreche die Vernehmung.« Und an den Polizisten gewandt, fügte sie hinzu: »Edgar MacDonald soll sich sofort darum kümmern und einen von seinen Computerfreaks mit auf die Jacht nehmen.«
Harold Conway wartete nicht gerade auf ein Lob von der Chefermittlerin, aber wenigstens auf ein Wort des Respektes.
Er wartete vergeblich.
Bitter enttäuscht verließ er den Raum, ging wütend die Treppe hinunter und stürmte auf die Straße. Jetzt musste er sich erstmal im Pub um die Ecke mit einem Bier trösten.
Währenddessen machte sich Edgar MacDonald an Bord der versiegelten Matador über das Navigationsgerät her. Sein pfiffiger junger Mitarbeiter brauchte nur ein paar Minuten, um dem Kartenplotter sein Geheimnis zu entlocken und das Benutzerprotokoll der fraglichen Nacht auszudrucken.
MacDonald zupfte begeistert an seinem Vollbart. »Die heutige Technik ist wirklich verdammt gut!«, lobte er und riss den Computerausdruck an sich. »Lass mal sehen!«
Der Beweis war eindeutig. Frank Guiton hatte fast drei Stunden lang bis Mitternacht mit seinem Kartenplotter herumgespielt. Wieder und wieder hatte er die vielen Funktionen des neuen Gerätes ausprobiert.
Jane Waterhouse nahm Edgar MacDonalds Anruf mit versteinerter Miene zur Kenntnis. Dann ging sie wieder in den Verhörraum zurück. Erwartungsvoll sah Frank Guiton ihr entgegen.
»Die Techniker haben soeben Ihre Aussage bestätigt«, sagte sie kühl. »Sie können gehen.«
Strahlend vor Erleichterung lehnte Guiton sich zurück. »Danke! Und Sie werden sehen, dass ich auch mit dem Verschwinden meines Pferdes nichts zu tun habe!«
»Warten wir’s ab. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen.«
Sie traute ihm immer noch nicht. Aber vielleicht hatte er nur in dieser Pferdesache gelogen. Dann sollte der Chef de Police sich ruhig daran austoben.
Wenig später verließ Frank Guiton das Gefängnis als freier Mann und stieg in ein Taxi.
Der nächste Morgen brachte für Emily Bloom gleich mehrere Überraschungen.
Es begann damit, dass sie schon seit fünf Uhr wach war. Ruhelos geisterte sie durch das Haus und lenkte sich mit lauter albernen Tätigkeiten ab, die sie sonst verschmäht hätte. Sie nähte einen längst überfälligen Knopf an ihrem Lieblingskostüm an, reparierte endlich den schief hängenden Fensterladen vor dem Küchenfenster und sortierte mit der geblümten Teetasse in der Hand einen Stapel Rechnungen.
Sie hatte genauso schlecht geschlafen wie gestern.
Normalerweise versuchte sie, abends nicht eher ins Bett zu gehen, bis sie alle Dissonanzen, die ein Tag manchmal mit sich brachte, halbwegs verarbeitet hatte. Sie hasste nichts mehr, als stundenlang wach zu liegen und sich herumzuwälzen. Nur wenn sie wieder einmal eine der Nächte mit ihren Erinnerungsalbträumen erwischt hatte, fühlte sie sich hilflos wie ein Vogel im Käfig.
Diesmal hatte sich der Albtraum schon kurz nach dem Einschlafen in ihren Kopf gepirscht. Nach allem, was sie gestern erlebt hatte, war das auch kein Wunder.
Doch seltsamerweise öffnete der Traum in dieser Nacht ein neues Fenster in Emilys Seele …
Als ihre Finger die feuchte Erde über dem Gesicht wegkratzten, öffnete Debbie plötzlich die Augen und schaute sie wissend an. Es war ein seltsam sanfter Blick, sodass Emily vor Mitleid anfangen musste zu weinen. Verzweifelt versuchte sie, Debbies Gesicht zu streicheln. Doch wie durch Zauberhand verkleinerte es sich und wurde Teil eines Mosaiks mit Hunderten anderer Bilder, die sie schon kannte. Es war furchtbar. Wieder sah sie ihre Eltern im Autowrack, wieder spürte sie das Blut ihres Vaters über die eigenen Arme rinnen, wieder hörte sie die gellenden Schreie ihrer Mutter. Sie sah sich als Kind vom Dach einer Scheune fallen und fühlte den Schmerz, den sie dabei empfunden hatte.
Plötzlich wuchsen ihr Flügel, sodass sie immer höher in die Luft aufsteigen konnte, wie um zu fliehen. Doch das Mosaik unter ihr begann sich zu einer ekligen Masse zu verformen, die immer näher kam, Emily umschloss und sie wieder auf den Boden zurückzog. Als sie voller Angst ein kleines Loch im Boden zu vergrößern versuchte, um sich darin zu verstecken, spürte sie plötzlich etwas Weiches in der Erde. Hektisch grub sie weiter und weiter – bis sie Haare, eine Nase und Zähne spürte.
Erneut war es Debbies Gesicht. Und alles begann von vorn. Das Gesicht hatte einen so sanften Blick, dass Emily vor Mitleid anfangen musste zu weinen …
Als sie über diesen merkwürdigen Traum nachgedacht hatte, war es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen gefallen. Er war kein Zufallsprodukt ihres Gehirns, er hatte eine besondere Bedeutung.
Sie war die Einzige, deren perfektes Gedächtnis über zahlreiche Mosaikstücke von ihren Gesprächen mit Debbie Farrow verfügte. Debbie war fast jede Woche bei ihr im Teeladen gewesen, manchmal hatten sie sich auch als Nachbarn auf der Straße oder im Supermarkt getroffen. Fast immer hatte die junge Frau dabei von sich oder von ihrem Kind erzählt.
Ich muss nur anfangen, mich daran zu erinnern, dachte Emily staunend.
Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz.
Jetzt war es ihre Aufgabe, Stück für Stück, Gespräch für Gespräch zu rekonstruieren, was Debbie ihr im Laufe der Zeit über sich selbst anvertraut hatte. Es war vielleicht nicht viel – hier eine Bemerkung, dort eine Erklärung, eine Unsicherheit oder eine Frage … Aber es war genug, um Debbies kurzes Leben besser zu begreifen.
Sie brauchte frische Luft.
Entschlossen öffnete sie die Tür, die von der Küche in den Garten führte, und ging hinaus. Energisch begann sie, mit ihrer Gartenschere zwischen den Hibiskusblüten herumzuwerkeln. Dabei schaute sie auf die Häuser von St. Brelade’s Bay hinunter. Direkt unterhalb ihres Gartens fiel die Felswand steil ab und gab unter dem blauen Himmel einen wunderbaren, fast italienisch anmutenden Blick auf die Küste frei. Überall auf den Dächern und Bäumen unter ihr glitzerte noch der Tau. Wenn sie sich an der Mauer ein Stück vorbeugte, konnte sie unten sogar das Haus sehen, in dem Debbie gewohnt hatte.
Im Flur klingelte das Telefon.
Sie legte ihre Gartenhandschuhe und die Schere auf dem Rand einer bepflanzten Blumenschale ab und eilte erwartungsvoll ins Haus. So früh rief normalerweise nur ihr Sohn aus London an.
Doch es war nur eine Isabel aus dem Büro des Chef de Police, eine, wie sie erfuhr, neue Praktikantin. Sie klang auffallend jung und ein bisschen naiv.
»Mr. Conway lässt Ihnen ausrichten, dass eine Streife heute früh Vikar Ballard aufgefunden hat«, sagte sie mit leichtem Lispeln.
Emily spürte, wie ihr übel wurde. Vorsichtig fragte sie: »Wo hat man ihn entdeckt?«
»In dem alten Auto des kranken Rektors. Auf einem Parkplatz kurz vor dem Dorf Rozel.«
»Und wie … wie hat man ihn vorgefunden?«
»Wenn ich den Chef de Police richtig verstanden habe, war der Vikar wohl in einem schlimmen Zustand.«
»Oh Gott!«, entfuhr es Emily. »Weiß die Polizei denn schon, was passiert ist?«
Lakonisch meinte die Hospitantin: »Er hat offenbar seinen Rausch ausgeschlafen. Jedenfalls sah Mr. Ballard noch ziemlich verkatert aus, als ich ihn vorhin gesehen habe.«
»Er lebt also?«, fragte Emily erleichtert.
Isabel schien die Frage lustig zu finden, denn sie kicherte, während sie sagte: »Ich weiß ja nicht, wie lebend man sich noch fühlt, wenn man so verkatert ist.« Dann schien sie selbst zu merken, wie taktlos ihre Bemerkung war, und fügte kleinlaut hinzu: »Entschuldigung, Mrs. Bloom, das ist mir nur so rausgerutscht …«
»Schon gut … Ist der Vikar noch bei Ihnen, oder ist er schon wieder zu Hause?«
»Unsere Kollegin Sandra Querée hat Mr. Ballard vorhin ins Pfarrhaus gefahren.«
»Dann sagen Sie Mr. Conway vielen Dank für diese Information.«
»Gerne. Und Mrs. Bloom … wegen meiner Bemerkung eben …«
Doch da hatte Emily schon aufgelegt. Kaum hatte sie das getan, bekam sie auch schon ein schlechtes Gewissen, weil sie keinesfalls arrogant wirken wollte. Schließlich war es sehr aufmerksam von Harold gewesen, dass er an sie gedacht hatte.
Wie es dem Vikar jetzt wohl ging? Sie musste unbedingt mit ihm reden.
Plötzlich fiel ihr ein, dass irgendwo im Wohnzimmer das Foto von Debbie liegen musste, das sie gestern im Pfarrhaus heimlich eingesteckt hatte. Sie entdeckte es auf dem großen Esstisch, steckte es ein und verließ das Haus.
Als sie zur Garage ging, hörte sie zwei Motorräder die Straße heraufdonnern. Schon am Geräusch erkannte sie, dass eine der beiden Maschinen Tim Sousa gehörte. Der Krach war ohrenbetäubend. Er parkte in der Einfahrt zum Cottage, stellte den röhrenden Motor aus und nahm den Helm ab. Seine schwarzen Locken war vom Helm zerstrubbelt. Der zweite Fahrer blieb im Hintergrund auf seiner Maschine sitzen, auch er stellte den Motor aus. Er winkte kurz zu Emily herüber. Sie erkannte ihn. Es war Tims Freund Shaun Flair, der gut aussehende Surflehrer.
Emily ging ihrem Mitarbeiter entgegen.
»Guten Morgen, Tim.«
Er strahlte sie an. »Morgen. Ich wollte nur kurz sehen, ob es Ihnen wieder gut geht, bevor ich zum Laden fahre.«
Gerührt über so viel Anteilnahme, legte Emily ihre Hand auf den Arm seiner Lederjacke und streichelte darüber. »Das ist lieb von dir. Alles in Ordnung.«
»Unten an der Tankstelle haben sie von nichts anderem geredet als von diesem schrecklichen Mord«, meinte er kopfschüttelnd, während er abstieg. Er war groß und schlaksig. Emily hatte ein schlechtes Gewissen, weil er ihretwegen gestern bis abends um sieben im Laden bleiben musste. Eigentlich lautete ihre Abmachung, dass er parallel zu seiner Ausbildung als Teehändler nachmittags frei hatte, um über das Internet einen Fernkurs als Importkaufmann zu absolvieren. Sie bewunderte seinen Fleiß.
»Tut mir auch leid, dass du gestern erst so spät aus dem Laden gekommen bist«, sagte sie entschuldigend.
»Macht doch nichts«, meinte Tim. Er öffnete den Reißverschluss seiner Lederjacke und holte einen prall gefüllten Umschlag hervor. »Hier, die Post von gestern. Die Kopien der neuen Bestellungen sind auch mit drin.«
Emily nahm ihn entgegen. »Danke. Gab es irgendwas Besonderes?«
»Nein … Doch! Mr. Rodney hat endlich seinen Sencha-Tee abgeholt, und die gestylten neuen Kannen aus New York sind geliefert worden. Viereckig, in Rot und Gelb. Sehen super aus. Zwei davon konnte ich gleich verkaufen.«
»Glückwunsch, Timmi! Wollt ihr beiden noch schnell einen Espresso trinken?«
Trotz ihrer Liebe zum Tee mochten Tim und sie auch starken Kaffee, was viele Kunden erstaunte.
»Keine Zeit. Ich muss gleich noch schnell meinen neuen Squash-Schläger abholen.«
Emily wusste, dass Tim sehr sportlich war. Trotz seiner achtzehn Jahre wirkte er immer noch wie ein großer Junge. Vor zwei Jahren hatte sie ihm einen Job angeboten, damit er nicht unter die Räder kam. Er war ein einzelgängerischer Rebell gewesen, aus ärmlichen Verhältnissen, der immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Nur Emily und er wussten das, und sie hatten beschlossen, es für sich zu behalten. Inzwischen war aus ihm ein zuverlässiger Assistent geworden, auf den Emily sich blind verlassen konnte. Das gute Aussehen hatte er seinem portugiesischen Vater zu verdanken, von dem er auch die fröhliche, jungenhafte Art geerbt hatte. Alle mochten ihn, vor allem die Mädchen.
Er zog den Reißverschluss seiner Lederjacke wieder zu und fragte vorsichtig: »Weiß man schon mehr über Debbie Farrow? Ich meine, wie es passiert ist und so …«
Emily schüttelte den Kopf. »Nein, und das wird sicher auch noch dauern bis nach der Obduktion. Hast du sie denn gut gekannt?«
»Nur aus dem Laden. Und ein- oder zweimal habe ich sie auf einem Fest gesehen. Sah ziemlich gut aus.«
Auch eine Art von Trauer, dachte Emily bitter. Aber wie sollte ein Achtzehnjähriger auch sonst damit umgehen, wenn die Tote nicht gerade seine Freundin war?
»Was wurde denn so geredet über sie?«
»Dass sie unheimlich viel Pech hatte in letzter Zeit. Hat man ja auch gesehen, wenn sie immer so traurig in den Laden kam.«
»Weißt du, ob sie einen festen Freund hatte?«
Tim zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Das letzte Mal, dass ich sie getroffen habe … vor zwei Wochen auf dem Rennbahnfest … da saß sie an einem Tisch mit den Jockeys.«
Emilys Interesse war geweckt. »Hast du zufällig mitbekommen, ob sie auch Frank Guiton kannte, diesen Pferdezüchter …?«
»Frankie? Na klar kannten die sich! Einmal, irgendwann sonntags, sind Debbie und er in seinem roten Cabrio bei mir in der Straße rumgerast wie die Verrückten. Franks Cousin ist nämlich mein Nachbar.«
Erstaunt sagte Emily: »Tatsächlich? Wusstest du auch, dass man Frank Guiton gestern wegen irgendeiner Pferdegeschichte festgenommen hat?«
Jetzt war es Tim, der erstaunt war. »Häh? Da muss ich mal seinen Cousin fragen.« Damit schien für ihn das Thema auch schon erledigt zu sein, denn er blickte auf die Uhr und fragte höflich: »Ist es Ihnen recht, Mrs. Bloom, wenn ich mich jetzt auf den Weg mache?«
Verblüfft, aber auch ein wenig neidisch stellte Emily fest, wie schnell junge Leute in der Lage waren, sich von unangenehmen Themen zu verabschieden. Aber Tim hatte ja recht, der Teeladen musste pünktlich geöffnet werden.
»Na dann los«, sagte sie lächelnd.
Tim hob die Hand, startete den Motor und griff nach dem wuchtigen Helm. Auch Shaun Flairs Harley sprang wieder an.
Plötzlich fiel Emily etwas ein. Sie hatte sich ja vorgenommen, bei Godfrey Ballard vorbeizuschauen. Gerade noch rechtzeitig, bevor Tims Kopf wieder unter dem Helm verschwand, rief sie ihm zu: »Tim! Heute Mittag könnte es bei mir wieder etwas später werden. Ist das okay für dich?«
»Kein Problem, Mrs. Bloom!«
»Danke!«
Mit knatterndem Auspuff fuhr Tim davon. Shaun folgte ihm winkend. Lächelnd blickte Emily hinter ihnen her.
Ihre Hände steckten in den schmalen aufgesetzten Taschen ihres grünen Kostüms, das sie immer dann trug, wenn sie besonders viel Selbstvertrauen benötigte. Der elegante schwarze Haarreif, für den sie sich heute entschieden hatte, ließ ihr Gesicht offen und ihre Haut glatt erscheinen, doch ihr war im Spiegel nicht entgangen, dass der sonst so humorvolle Ausdruck in ihren grünen Augen immer noch nicht zurückgekehrt war.
Im Schneckentempo kroch das Taxi, in dem Frank Guiton saß, die steile Haarnadelkurve bei Le mont du la valle hinter einem schweren Kühllastwagen her. Tief unter ihnen blieb der endlos lange Strand zurück, an dessen Wassersaum auch heute wieder Muschelsucher mit Tüten in der Hand entlangzogen.
Wegen der Hitze, die sich im Auto staute, hatte der Taxifahrer alle Fenster geöffnet. Er schob seinen Arm in den warmen Fahrtwind, klopfte ungeduldig mit der flachen Hand auf das Autodach und schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht, warum das noch keiner geschafft hat, endlich breite Straßen auf Jersey zu bauen«, schimpfte er. Sein Dialekt verriet ihn als jemanden, der irgendwo aus Nordengland stammte, wo genügend Platz für Motorways war. Guiton überlegte, ob er als Insulaner etwas Kritisches darauf antworten sollte, aber er ließ es. Immerhin war der Fahrer so feinfühlig gewesen, ihn nicht zu fragen, was er im Gefängnis gemacht hatte.
Während er draußen die Hecken und Steinwälle, die die Felder voneinander trennten, an sich vorüberziehen sah, sagte Guiton nur: »Oben auf der B 55 wird’s ja gleich besser.«
Er liebte die einsame, nur dünn besiedelte Landschaft im Nordwesten der Insel. Hier, bei St. Ouen, war er geboren, hier kannte er sich aus. Vor allem entlang der Steilküste, wo die ungezähmte Natur am ursprünglichsten und am wildesten war, gab es kaum einen Pfad, den er nicht auf dem Rücken eines Pferdes erkundet hatte.
Sobald sie wieder auf freier Strecke waren, drückte der Taxifahrer zweimal kurz auf die Hupe und setzte zum Überholen an. Der Wagen scherte aus, raste am Kühlwagen vorbei und setzte sich davor, und das alles so scharf und abrupt, dass Guiton auf der Rückbank hin und her geworfen wurde. Geistesgegenwärtig hielt er dabei seine Reisetasche fest, die neben ihm stand und aus deren Seitentasche der Umschlag mit den Gefängnisunterlagen herausschaute, die er als Duplikate mitbekommen hatte.
»Entschuldigung!«, rief der Fahrer nach hinten. »Ging leider nicht anders, wenn wir irgendwann mal ankommen wollen.«
»Schon in Ordnung.«
»Wo muss ich abbiegen?«
»Hinter der nächsten Kreuzung die vierte Straße links.«
Mit einem Gefühl von Ekel stopfte Guiton die Gefängnispapiere ganz tief in die Tasche zurück, sodass er sie nicht mehr sehen musste. Wie viel Kraft ihn die vergangenen zwei Tage gekostet hatten, spürte er erst jetzt. Sein ganzer Körper schien ausgelaugt und müde. Dabei war es weniger die Enge der schlichten Gefängniszelle, die ihn zermürbt hatte. Es war vor allem der psychische Druck, den Detective Inspector Waterhouse auf ihn ausgeübt hatte. Er dankte Gott dafür, dass er vor einer Woche die Entscheidung getroffen hatte, sich den neuen Kartenplotter zu kaufen.
Vor ihnen tauchte eine Fahrradfahrerin auf, die gegen den Wind kräftig in die Pedalen trat. Frank Guiton erkannte sie an ihrem flatternden grünen Seidenschal. Es war seine Nachbarin Helen Keating. Er konnte noch sehen, wie sie am Parkplatz ihres Keating Lavendel Parks vom Rad sprang und ein paar Besucher begrüßte. Auch mit Anfang fünfzig war sie immer noch ziemlich schlank, sie arbeitete allerdings auch hart. Da ihre blau leuchtenden Lavendelfelder unmittelbar an seine Pferdekoppeln grenzten, wusste er, wie oft sie während der Ernte selbst mit anpackte, obwohl sie mehrere Gärtner beschäftigte.
Frank Guiton war so sehr in Gedanken versunken, dass er erst am Knirschen des Kieses unter den Autorädern merkte, dass das Taxi schon in die Einfahrt zu seinem Gestüt eingebogen war.
»Geht das Tor von allein auf, Sir?«, fragte der Fahrer.
Guiton blickte an ihm vorbei durch die schmutzige Windschutzscheibe. Verwundert stellte er fest, dass das weiß gestrichene hölzerne Tor heute fest eingehängt war. Normalerweise stand es Tag und Nacht weit offen. Seltsam. Sowohl seine Haushälterin wie auch sein alter Stallmeister wussten doch, wann er heute zurückkam.
»Nein. Ich steige hier aus«, sagte Guiton, während er nach seiner Tasche griff und die Tür öffnete.
Der Taxifahrer schrieb eine Quittung und reichte sie Guiton durch das offene Fenster.
Guiton bezahlte.
Mit seiner Tasche in der Hand ging er auf das Tor zu. Hinter sich hörte er, wie das Taxi zur Straße zurücksetzte und wegfuhr. Durch die Äste der Bäume konnte er schon sein Farmhaus sehen, daneben die Stallungen und die große Scheune.
Er blieb stehen und atmete tief durch. Das hier war sein Leben – die Pferde, die Rennen, die Arbeit auf den Wiesen und Feldern. Jetzt, nach der quälenden Zeit im Gefängnis, empfand er plötzlich eine besonders tiefe Dankbarkeit für all das, und er nahm sich vor, von jetzt an noch bewusster mit diesem Geschenk umzugehen.
Endlich konnte er auch das Wiehern der Pferde auf den Koppeln hören. Keine Begrüßungsmusik hätte schöner klingen können für ihn.
Fast wie in einem symbolischen Akt zog er mit festem Griff das Tor auf, damit jeder auf der Farm sehen konnte, dass er als freier Mann wieder zurückgekommen war. Das unterste Brett kratzte über den Boden und zog eine halbkreisförmige Spur in den hellen Kies.
Das Knirschen übertönte jedes andere Geräusch. Und so hörte er auch nicht, wie sich leise jemand von hinten näherte.
Als ihn der Schlag des Knüppels auf den Hinterkopf traf, ergoss sich ein Schwall von Blut in seinen Mund, und ein unerträglicher Schmerz fuhr durch seinen Körper. Er konnte nichts mehr sehen. Dann spürte er einen zweiten Hieb, danach den dritten …
Wie in Zeitlupe sackte er zu Boden.
Als Emily Bloom den Vikar erblickte, war sie erschrocken.
Von der Fröhlichkeit, die Godfrey Ballard sonst immer ausgezeichnet hatte, war nicht mehr viel übrig geblieben. Aus seiner jungenhaften Unbekümmertheit war tief sitzende Sorge geworden. Mit fahrigen Bewegungen stellte er im Garten des Pfarrhauses die beiden Tassen auf den weißen runden Tisch unter der Birke und goss aus einer silbernen Kanne Tee ein. Dabei tropfte etwas Tee auf die Tischplatte.
»Jetzt habe ich auch noch gekleckert …«
Verschämt wischte er die Tropfen mit einem Ärmel seines schwarzen Pullovers weg.
Emily konnte seine Unruhe gar nicht mit ansehen. Sie zog ihn am Pulli, der über dem pummeligen Bauch ein wenig spannte, auf seinen Stuhl. »Da bleiben Sie jetzt sitzen! Kommen Sie doch endlich mal zur Ruhe, Godfrey.«
Er gehorchte und schien tatsächlich bemüht zu sein, mit ein paar tiefen Atemzügen sein inneres Gleichgewicht wiederzugewinnen. Schließlich trank er einen Schluck Tee und sagte kopfschüttelnd: »Mrs. Bloom, ich bin doch erledigt! Wie soll die Gemeinde mir künftig noch vertrauen? Ein besoffener Pfarrer, der in einen Mordfall verwickelt ist!«
»Sind Sie das denn – in den Mordfall verwickelt?«, fragte Emily vorsichtig.
In seinen großen Chorknabenaugen entdeckte sie aufrichtigen Protest. »Natürlich nicht! Aber ich habe Debbie nun mal gut gekannt. Außerdem musste ich mir von der Polizei einen Haufen unangenehme Fragen gefallen lassen. Zu Recht.«
»Mein Alibi für den Abend haben Sie auch überprüft«, meinte Emily. Und tadelnd fügte sie hinzu: »Sie hätten nach dem Unfall eben nicht einfach verschwinden dürfen. Auch noch mit Gepäck! Das musste ja wie Flucht aussehen. Wo wollten Sie überhaupt hin?«
Nervös spielte er mit dem Teelöffel. »Ach, ich kenne eine kleine Pension in Rozel, meine Schwester hat da ein paar Mal übernachtet. Nach dem Unfall war ich so durcheinander, dass ich nur noch wegwollte. Irgendwie hatte ich plötzlich das Gefühl, dass es für alle am besten wäre, wenn ich überhaupt nie mehr zurückkäme …«
»So ein Unsinn.« Emily Blooms Augen verrieten innige Anteilnahme an seiner Unsicherheit. Sie durchschaute, dass sein vieles Trinken und sein Verschwinden nur der verzweifelte Ausdruck eines anderen, gut versteckten Konfliktes in seinem Leben sein konnten. Sie wusste, wenn sie es jetzt nicht ansprach, würde sie es nie wieder tun können. Irgendwie spürte sie, dass er geradezu darauf wartete.
Behutsam fragte sie: »Warum trinken Sie eigentlich, Godfrey?«
Er blickte zur Seite, hob dann den Blick zu den Bäumen und schaute lange in das Laub einer Akazie. Emily ließ ihm Zeit.
Leise sagte er: »Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen, Mrs. Bloom …«
»Entschuldigung! Wenn Sie nicht möchten … Es muss ja nicht sein …«
»Doch, doch … Vielleicht tut’s mir gut, wenn ich es loswerde.«
Sie schwieg geduldig, während er allen Mut zusammennahm und nach dem richtigen Anfang suchte.
Schließlich fing er an zu erzählen. Seine Worte kamen stockend. »Es passierte, als ich vierzehn war … Ich hatte einen Freund aus dem Haus neben uns, er hieß Jacob … Wie alle Kinder mussten wir jeden Sonntag in die Kirche gehen, so wie es sich in unserem Dorf gehörte. Wie in diesem Alter üblich rebellierten Jacob und ich jedes Mal dagegen … ich wahrscheinlich mehr als er. Eines Sonntags stachelte ich ihn an, während der Predigt mit mir durch das Seitenportal aus der Kirche zu schleichen. Wir liefen über die Felder, bis ich auf die Idee kam, die Abkürzung über den Motorway zu nehmen …« Der Vikar presste die Lippen fest aufeinander.
Emily nickte ihm ermutigend zu. »Lassen Sie sich Zeit.«
Wie einen zerbrechlichen Glasfaden nahm er seine Erzählung wieder auf, mit seinen Worten vorsichtig in die Vergangenheit tastend. »Jacob war immer so schnell … Er kletterte als Erster über die Leitplanke. Er zählte laut bis drei und rannte dann los … Plötzlich flog er durch die Luft … wie eine Puppe … und war tot.« Schluchzend brach der Vikar ab.
Schockiert spürte Emily, dass der ganze Wust aus christlichen Fragen von Schuld, Verantwortung und Sühne, mit denen der Vikar seine Schäfchen so oft konfrontiert hatte, nichts anderes war als die schmerzhafte Essenz seines eigenen jungen Lebens. Er war gerade einmal vierzig, und er hatte schon so lange mit dem Tod seines Jugendfreundes gelebt. War er vielleicht nur deshalb in diese kleine Gemeinde nach Jersey gekommen, um dort zu büßen, wo er nie sein wollte – in der Kirche?
Emily stand auf, ging um den Gartentisch herum zu Godfrey und kniete sich neben ihn ins hohe Gras. Sie streichelte ihm sanft den Rücken, genau so, wie sie es früher bei ihrem Sohn getan hatte, als er noch ein Kind war.
Godfrey ließ ihr Streicheln geduldig zu, glaubte sich aber rechtfertigen zu müssen. »Wie soll ich diese Schuld ein Leben lang aushalten? Sagen Sie mir das?«, flüsterte er.
Emily nahm sich vor, ihm jetzt keine guten Ratschläge zu geben. Vielleicht hatte es ihm schon geholfen, dass er offen darüber reden konnte. »Godfrey, ich weiß das Vertrauen zu schätzen, dass Sie mir das erzählt haben. Und ich danke Ihnen von ganzem Herzen dafür.«
Er nickte stumm.
Plötzlich fiel Emily wieder ein Satz ein, den er selbst einmal gesagt hatte. Es war vor zwei Jahren gewesen, als sie nur schwer damit fertig werden konnte, dass ihre Schwester Edwina sie allein gelassen hatte und nach Neuseeland ausgewandert war. »Wissen Sie noch, Godfrey, womit Sie mich damals getröstet haben, als ich wie ein zertrampelter Regenwurm am Boden lag? Zweifeln Sie nie an Ihrer eigenen Stärke, sonst zweifeln Sie auch an Gottes Hand. Und Sie hatten recht!«
Der Vikar wischte sich die Tränen aus den Augen und versuchte zu lächeln. »So kluge Sachen soll ich gesagt haben?«
Sie nickte. »Und genau deshalb sind Sie in der Gemeinde auch so beliebt.«
Ein Eichhörnchen sprang direkt vor ihnen über den Rasen und kletterte wie ein Blitz den Stamm der Birke empor.
Der Vikar schaute dem Tier versonnen nach. Dann straffte er sich plötzlich, legte die Hände entschlossen auf die Armlehnen seines Gartenstuhls und richtete seinen Körper auf. »So, Schluss jetzt mit der Larmoyanz! Es gibt Wichtigeres. Weiß man schon etwas Neues über Debbies Tod?«
Emily stand auf, ging zur anderen Seite des Gartentisches zurück und setzte sich wieder auf ihren Platz. »Nein. Aber die Polizei ermittelt jetzt, ob es eine Verbindung zu dem anderen Mord gibt.« Sie seufzte. »Ach, Godfrey! Wenn ich an unsere liebe Debbie denke, könnte ich heulen. Ich nehme an, Sie haben der Polizei auch einiges über sie erzählen können.«
Der Vikar nickte. »Ja natürlich. Obwohl der Chef de Police mehr an meinem Alibi interessiert war. Aber er musste zur Kenntnis nehmen, dass ich vorgestern Abend auf einer Sitzung der Kirchenleitung in Grouville war und dort auch gleich bei einem Kollegen übernachtet habe. Offenbar hat er nun überhaupt keinen Verdächtigen mehr.«
Es war eine absichtliche Spitze gegen Harold Conway. Der Vikar wusste, dass Emily ihrem Ex-Schwager eher kritisch gegenüberstand.
»Doch, einen Verdächtigen gibt es. Frank Guiton.«
»So ein Unsinn! Debbie und Frank waren …« Er brach ab.
»Sie wissen es also auch?«, fragte Emily überrascht. »Dass die beiden befreundet waren, meine ich.«
Der Vikar nickte. »Ja. Obwohl sie es eigentlich noch nicht an die große Glocke hängen wollten.«
Emily fasste in ihre Kostümjacke und zog das Foto heraus, das sie gestern aus dem Pfarrhaus mitgenommen hatte. Mit ausgestrecktem Arm hielt sie es Godfrey hin. »Hier, das möchte ich Ihnen zurückgeben.«
Irritiert griff er danach. »Woher haben Sie das?«
»Ich weiß, es war indiskret«, sagte sie entschuldigend, »aber als ich gestern mit Harold Conway hier war, habe ich das Foto zufällig unter der Bibel liegen sehen. In dem kleinen Zimmer rechts unten …«
»Mein Meditationsraum … Er war sicher ziemlich unaufgeräumt …«
»Ach was!«
Sie verschwieg ihm, wie seltsam sie das Zimmer gefunden hatte. Heute verstand sie allerdings schon sehr viel besser, wie dringend er eine Art Mönchszelle für seine kranke Psyche brauchte.
»Harold war ziemlich in Rage«, sagte sie. »Wenn er das Foto entdeckt hätte, hätte er vielleicht die falschen Schlüsse daraus gezogen.«
»Meinen Sie?«
»Und ob! Überlegen Sie doch mal, Godfrey! Lippenstift und eine so persönliche Widmung von Debbie!«
Wurde der Vikar ein klein wenig rot, oder täuschte Emily sich, weil sie sich insgeheim wünschte, dass er rot wurde? Da die Geistlichen der Kirche von England jederzeit eine Familie gründen konnten, wäre schließlich nichts dagegen einzuwenden gewesen, wenn er mit Debbie geflirtet hätte.
Doch sie hatte sich wohl geirrt. Im Gegenteil, er schien sich über ihren Verdacht zu amüsieren, denn er lachte leise, während er noch einmal das Foto betrachtete.
»Debbie und ich? Doch, das könnte man wirklich denken, wenn man das so sieht. Aber ich kann Sie beruhigen, es war rein beruflich. Sie kam vor zwei Wochen mit einem ziemlich großen Problem zu mir und hat mich um Rat gefragt.«
Vorsichtig fragte Emily: »Ich nehme an, Sie dürfen mir nicht sagen, um welches Problem es da ging?«
Entschieden schüttelte er den Kopf. »Die Schweigepflicht, Mrs. Bloom.«
»Ja, natürlich.«
Emily wusste, dass es unfair gewesen wäre, den Vikar weiter zu bedrängen. Er hatte heute schon genug gelitten. Sie nahm ihre Handtasche und stand auf. »Gut. Dann mache ich mich jetzt mal wieder auf den Weg.«
»Ich muss auch gleich los«, sagte er, »in das neue Kinderheim.« Zögernd fügte er hinzu: »Und noch einmal, Mrs. Bloom … Es hat mir sehr geholfen, dass Sie sich so viel Zeit für mich genommen haben. Danke!«
»Das war doch selbstverständlich. Darüber müssen wir gar nicht mehr reden.«
Gedankenverloren begleitete er sie zum Gartentor. Rechts neben dem Eingang wucherte eine dichte Brombeerhecke, deren Früchte noch nicht reif waren. Plötzlich blieb der Vikar stehen.
Er hatte einen Entschluss gefasst.
»Mrs. Bloom, wenn Sie mir hoch und heilig versprechen, dass Sie es für sich behalten, sage ich Ihnen, warum Debbie bei mir war.«
Emily versuchte, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. »Ich verspreche es.«
Er faltete die Hände, so wie es viele Geistliche taten, wenn sie sich konzentrierten. Emily hatte diese Geste schon bei Godfreys Vorgänger beobachtet.
»Zwischen Debbie und ihrer Mutter gab es ein Geheimnis«, begann er zögernd. »Das Geheimnis um Debbies Vater …«
»So etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht.« Emily nickte.
»Nein, nein, nicht was Sie denken. Es handelt sich vielmehr um … das schreckliche Drama von Debbies Entstehung …«
Mit einem unheilvollen Gefühl begann Emily zu ahnen, worauf er hinauswollte. »Eine Vergewaltigung?«
Der Vikar nickte düster.
»Ja. Im Oktober vor zweiunddreißig Jahren. Auf dem Black Butter-Fest.«
Wie jeder auf der Insel wusste auch Emily Bloom, wie ein solches Fest ablief. Es fand immer nach der Apfelernte statt, früher war es jedenfalls so gewesen, als Jersey noch voller Apfelplantagen war. Die Black Butter war ein Nebenprodukt der Herstellung von Cider, dem bekannten Apfelwein.
Um Black Butter zu gewinnen, verkochte man über viele Stunden den Cider auf offenem Feuer, dann gab man Zucker, Zitrone, Likör und Gewürze hinzu, bis in den Kupferpfannen eine dickliche schwarze Masse entstand, die man als Brotaufstrich aß.
Es war eine Gemeinschaftsarbeit, auch Nachbarn und Freunde stießen im Laufe des Abends dazu. Es wurde viel getrunken, und alle halfen fröhlich mit.
»Hat Debbie Ihnen erzählt, auf welchem Hof das Fest damals stattfand?«, fragte Emily. Schon vor zweiunddreißig Jahren hatte es nicht mehr allzu viele Höfe gegeben, auf denen man die alte Tradition fortsetzte.
»Nein. Einen Namen hat sie nicht genannt. Ich war, ehrlich gesagt, so schockiert, dass ich auch nicht nachgefragt habe. Sie hat nur angedeutet, dass es der Sohn des Gutsherrn war, der ihre Mutter vergewaltigt hat. Einer aus bester Familie.«
»Vor zweiunddreißig Jahren …« Emily rechnete schnell nach. »… da war Mary-Ann gerade erst zweiundzwanzig. Und wir haben sie alle für hochnäsig gehalten, weil sie ihr Kind ohne Vater aufziehen wollte! Mein Gott, das muss hart gewesen sein für sie!«
Beruhigend sagte Godfrey Ballard: »Mrs. Bloom, nach so langer Zeit dürfen Sie sich keine Vorwürfe mehr machen. Keiner von Ihnen konnte damals ahnen, was Debbies Mutter in Wirklichkeit durchmachte.«
»Ich verstehe nur nicht, warum sie nicht zur Polizei gegangen ist und den Vergewaltiger angezeigt hat? Mary-Ann war doch sonst so willensstark.«
»Der Gedanke, ihm in St. Helier vor Gericht gegenüberstehen zu müssen, war ihr wohl unerträglich. Als sie spürte, dass sie schwanger war, sah sie nur einen Weg – mit ihren Eltern zu brechen.«
Emily hatte die rätselhafte Veränderung in Mary-Anns Leben noch genau vor Augen. Sie schüttelte betroffen den Kopf. »Mein Gott, das war also der Grund! Von einem Tag zum anderen ist sie von Noirmont nach St. Helier gezogen, hat allein in einer winzigen Dachwohnung gewohnt und eine Stelle als Köchin angenommen. Und dann wurde Debbie geboren.«
»Ja, unsere wunderbare Debbie … Jetzt wissen Sie also, was Debbie so schrecklich beschäftigt hat.«
»Wann hat ihre Mutter ihr es gesagt?«
»Kurz vor ihrem Tod. Für Mary-Ann war es bestimmt eine Erleichterung. Aber für Debbie war es eine Qual. Deswegen hat sie mich auch um Rat gefragt. Sie wollte von mir wissen, ob sie es nicht doch irgendwann ihrer Schwester Constance erzählen soll. Offenbar gibt es noch mehr Geheimnisse in der Familie.«
»Und? Was haben Sie Debbie geraten?«
»Dass nur sie diese Entscheidung treffen kann. Sie allein konnte wissen, wie Constance damit umgehen würde.«
Emily hatte plötzlich den Wunsch, zu gehen und in aller Ruhe über das nachzudenken, was sie gerade erfahren hatte. Sie würde eine Weile brauchen, um das Schicksal der Farrows innerlich zu verarbeiten. »Danke, Godfrey, dass Sie so ehrlich zu mir waren. Ich weiß das sehr zu schätzen.«
Fast schüchtern lächelte er sie an.
»Ich habe Ihnen zu danken, Mrs. Bloom. Beichte gegen Beichte – können wir unseren Glauben ehrlicher unter Beweis stellen?«
Während die Expressfähre aus England sich auf das Elizabeth Terminal im Hafen von St. Helier zubewegte, standen endlich auch die letzten Passagiere von ihren Sitzen auf. Das Schiff war ausgebucht, denn das anhaltend schöne Wetter hatte viele Touristen angelockt. Die meisten blieben allerdings nur ein paar Tage auf Jersey, um einen Kurzurlaub einzuschieben.
Constance stand mit ihrem Gepäck schon an der Treppe unter Deck. Sie nutzte die Zeit, um schnell noch ihre neuesten E-Mails auf dem Handy zu lesen. Gleichzeitig lenkte sie sich damit ein wenig ab. Plötzlich ruckte es, Taue wurden geworfen, Eisen quietschte.
Mit pochendem Herzen wusste sie: Sie war da.
Sie war da, wo sie eigentlich nie wieder sein wollte.
Kaum hatte das riesige Schiff sich mit seinen Katamaranflügeln an die Kaimauer gelegt, da öffnete sich auch schon die Luke, die Fußgänger kamen zum Vorschein und danach die Autos, begleitet von Motorlärm, Rufen, Hupen und Möwengeschrei.
Die Fähre hatte die englische Küstenstadt Weymouth, Grafschaft Dorset, um zehn Uhr vormittags verlassen und nach knapp dreieinhalb Stunden ruhiger Überfahrt pünktlich angelegt.
Constance war froh, dass sie endlich an die frische Luft kam. Eilig drängte sie sich an zwei alten Damen vorbei, schob sich durch eine Gruppe palavernder Italiener und stand endlich im Elizabeth Terminal. Von dort aus waren es nur noch ein paar Schritte bis auf den Vorplatz.
Ihr leuchtend roter Anorak, der blaue Rucksack auf dem Rücken und die längliche Reisetasche, die sie in der rechten Hand trug, ließen vermuten, dass es sich bei ihr um eine der vielen sportlichen Touristen handelte, die die Insel zum Wandern oder Surfen besuchten.
Doch der Eindruck täuschte. Zwanzig Jahre lang war sie hier zu Hause gewesen. Drei junge Hafenarbeiter pfiffen frech hinter ihr her. Constance war so angespannt, dass sie es gar nicht wahrnahm.
Es duftete herrlich nach Meer, wie so oft in St. Helier, wenn Hochdruckwetter die warme Luft mit positiver Energie erfüllte. Doch Constance konnte sich nicht daran freuen, denn sie spürte Angst. Angst vor dem Augenblick, in dem sie ihre tote Schwester identifizieren musste.
Es war kurz nach halb zwei. Sie war pünktlich.
Irgendwo hier draußen musste jetzt der Chef de Police von St. Brelade auf sie warten.
Seine Mitarbeiterin hatte ihr am Telefon gesagt, dass er sie gleich von hier aus zur Gerichtsmedizin begleiten würde und sie anschließend über ihre Schwester befragen wollte. Der Termin war von einer Frau vereinbart worden, einer Detective Inspector Waterhouse, doch die war offenbar kurzfristig verhindert.
Mit zusammengekniffenen Augen schaute sie gegen die Sonne und suchte den Parkplatz nach dem Polizeiauto ab. Sie entdeckte es direkt neben der Einfahrt. Davor stand ein Mann.
Sie ging zu ihm.
»Ich glaube, Sie warten auf mich«, sagte sie zaghaft. Sein Aussehen – vor allem das hagere, unnachgiebig wirkende Gesicht – flößte ihr Respekt ein. Sie hoffte, dass er nicht ganz so unfreundlich war, wie er aussah.
»Ah, Miss Constance Farrow, ja?«
Mit zaghaftem Lächeln nickte sie, erleichtert, dass seine kräftige Stimme eher freundlich klang. »Ja.«
»Mein Name ist Conway«, stellte er sich höflich vor. »Geben Sie mir Ihr Gepäck und nehmen Sie schon mal Platz.«
Sie ließ den Rucksack von ihrer Schulter rutschen, er nahm ihn ihr ab, griff auch nach der Reisetasche und stellte beides in den Kofferraum.
Constance nahm auf dem Beifahrersitz Platz und schnallte sich an. Während Conway einstieg und den Motor startete, sagte er mit einem Blick auf die Menge der Touristen, die vom Terminal auf die Straße strömten: »Hauptsaison. Jetzt wird’s eng auf der Insel.«
»Ich weiß«, sagte Constance. »Und keiner von ihnen ist an den Linksverkehr gewöhnt.«
Sie fuhren los. Als sie an der ersten Ampel warten mussten, sah Conway zu ihr hinüber und sprach ihr sein herzliches Beileid aus.
»Es ist schwer für mich«, sagte Constance. »Jetzt gibt es nur noch meinen Cousin und mich. Und seinen Vater, aber zu dem hat niemand mehr Kontakt.«
»Lebt Ihr Vater auch noch?«, fragte Conway beiläufig und gab wieder Gas. Er richtete seinen Blick abwechselnd auf die Kreuzung vor ihm und den Stadttunnel rechts neben ihm. Von dort strömte heftiger Verkehr unter Fort Regent hindurch.
Dadurch, dass er beim Fahren so konzentriert sein musste, wurde das Antworten für Constance ein wenig leichter. Bemüht um einen normalen Ton sagte sie so locker wie möglich:
»Ach … Bei uns waren die Familienverhältnisse immer etwas komplizierter als bei anderen Leuten. Debbie und ich haben unterschiedliche Väter, aber keine von uns hat ihren kennengelernt.«
»Das ist bedauerlich …«
»Schon okay, unsere Mutter wollte das eben nicht. Und wir haben das respektiert.«
»Verstehe.«
Sie schwiegen einen Augenblick lang. Conway bereitete sich innerlich darauf vor, dass er in ein paar Minuten mit Constance Farrow in die bedrückende Unterwelt der Pathologie eintauchen musste.
»Miss Farrow …«, begann er schließlich, »was gleich erfolgt, wird nicht leicht sein für Sie, das weiß ich. Aber es lässt sich leider nicht vermeiden.«
Constance schluckte schwer, presste die Lippen fest aufeinander und nickte.
»Hatten Sie ein enges Verhältnis zu Ihrer Schwester?«
»Ja … So eng das über die Distanz eben ging. Wir waren sehr unterschiedlich, schon weil sie fast sechs Jahre älter war als ich. Aber wir haben uns regelmäßig Mails geschickt und viel telefoniert …« Sie begann zu weinen. »Debbie hat in den letzten zwei Jahren viel Schlimmes mitgemacht … Sie hing so an ihrem kleinen David. Es hat sie zerrissen, als er starb …« Sie brach ab.
Conway wartete kurz, bevor er weitersprach. »Seit wann waren Sie denn nicht mehr auf Jersey?«
»Seit Davids Beerdigung. Eigentlich bin ich schon seit sechs Jahren weg, wenn ich meine Zeit in London mit einrechne.«
»Darf ich fragen, was Sie da gemacht haben?«
»Eine Ausbildung zur Wirtschaftsassistentin. Gleich nach der Schule.«
»Und jetzt leben Sie in Weymouth?
»Ja. Ich arbeite bei einer kleinen Reederei, Switch & Dundee, als Assistentin der Geschäftsleitung. Und da bin ich auch sehr glücklich.«
Er seufzte. »Ja, manchmal wird einem unser liebes Jersey ein bisschen eng … So, da sind wir schon.«
Vor dem hoch aufragenden Gebäude des General Hospital parkten Krankenwagen und ein Notarztfahrzeug. Constance kannte diesen Eingang nur zu gut, denn hinter einem der Fenster zur Straße war vor vier Jahren ihre Mutter gestorben. Zögernd öffnete sie die Autotür, als könnte sie das Unvermeidliche dadurch hinauszögern.
Der Chef de Police ging voraus. Hier und da grüßte er mit erhobener Hand einen Arzt oder einen Patienten. Hinter der Krankenhausküche lag schließlich die Pathologie.
Als die Eingangstür sich mit einem leisen Plopp hinter ihr schloss, blieb Constance mitten auf dem Flur stehen. Kalt war es hier, doch das war nichts gegen ihre innere Kälte.
Harold Conway sah sich um und bat sie, sich einen Augenblick zu gedulden. »Ich bin gleich wieder da.«
Nach einer Weile kam er mit einem gut aussehenden jungen Mediziner im weißen Kittel zurück. Conway stellte ihn als Dr. Glenn vor.
»Mein aufrichtiges Beileid, Miss Farrow«, sagte der Mediziner freundlich, wenn auch nicht ohne eine Spur Selbstgefälligkeit. »Wir sind leider juristisch zu diesem Schritt verpflichtet. Aber es wird nicht lange dauernd. Und wenn Sie vorher noch Fragen haben sollten … Bitte, ich bin für Sie da.«
Constance blickte ihn unsicher an. Was sollte sie in dieser Situation denn für Fragen haben?
Mitfühlend kam Conway ihr zu Hilfe. »Ich denke, Miss Farrow möchte die Sache lieber so schnell wie möglich hinter sich bringen«, meinte er mit ruhiger, tiefer Stimme.
Dr. Glenn hob die Hände. »Natürlich, bitte! Wenn Sie mir dann zu Tisch drei folgen würden.«
Constance überhörte diese merkwürdige, kalte Formulierung und folgte ihm. Tapfer hatte sie beschlossen, die furchtbare Prozedur einfach über sich ergehen zu lassen. Nur Conway dachte sich seinen Teil. Es bestätigte einmal mehr seine Erfahrung, dass die meisten Pathologen nicht ganz richtig tickten.
Mit wehendem Kittel ging Dr. Glenn voran. Constance hielt den Atem an und tauchte hinter ihm ein in die makabre Welt der Leichen.
Die Prozedur dauerte zum Glück nicht lange. Nachdem sie die Identifizierung hinter sich gebracht hatte, hetzte Constance kreidebleich aus dem Raum. Ihre hastigen Schritte entfernten sich Richtung Treppenhaus.
Erst eine Viertelstunde später fand der Chef de Police sie in der Cafeteria wieder. Ganz in sich zurückgezogen saß sie an einem Tisch in der hintersten Ecke, ihre Arme um den Körper geschlungen. Mit ernstem, nachdenklichem Gesicht starrte sie zum Ende der Tischreihen, wo eine Putzfrau im Schneckentempo den Boden reinigte.
Als Conway sich auf den Stuhl neben ihr fallen ließ, fragte sie tonlos: »Habe ich jetzt das Schlimmste hinter mir?«
»Ja.«
Es schien, als würde sie endlich wieder Mut schöpfen und in die Gegenwart zurückkehren. Ihr Gesicht nahm wieder etwas Farbe an. Tapfer sagte sie: »Dann will ich jetzt den Rest auch noch hinter mich bringen.«
Auch Conway entspannte sich. Jetzt war er zurück auf dem Terrain, das er beherrschte.
»Danke. Ich schlage vor, wir unterhalten uns zunächst einmal über das Privatleben Ihrer Schwester«, sagte er einleitend. »Kannten Sie Debbies Freunde oder Kollegen?«
Constance schüttelte den Kopf. »Nein, höchstens ein paar ehemalige Schulfreunde von ihr. Als ich vierzehn war, hatte Debbie schon ihre Bankausbildung begonnen … Von da an habe ich sie eigentlich nur noch an den Wochenenden gesehen. Und als später unsere Mutter starb – da war ich neunzehn –, ist erst recht alles auseinandergelaufen …«
»Wie meinen Sie das?«
»Debbie ist immer mehr zu einer Einzelgängerin geworden. Vor allem, nachdem sie das Kind bekommen hatte … David …« Sie schniefte.
Schnell fragte Conway: »Kennen Sie den Vater des Kindes?«
»Nein, nicht mal mir hat sie es verraten. Wir haben alle gerätselt, weil sie in den ganzen Jahren auch nie einen festen Freund hatte. Aber Debbie war eben stur.« Constance machte eine kleine Pause. »In meinen Augen wollte sie nur …«
Conway wusste, das sich hinter solchen nicht zu Ende gesprochenen Sätzen oft das Wichtigste verbarg. Vorsichtig fragte er deshalb: »Diskretion wahren?«
Wieder schüttelte Constance den Kopf. »Doch nicht Debbie! Nein, ich denke, dass sie einfach nur ein Kind haben wollte, aber keinen Mann dazu. Das würde zu ihr passen. Sie wollte nie Kompromisse machen.«
Nach allem, was Conway von Debbie Farrow wusste, konnte diese Haltung tatsächlich zu ihr passen. Er glaubte auch nicht, dass die Frage der Vaterschaft irgendetwas mit dem Mord zu tun hatte. Viel interessanter fand er das Einzelgängerische, das Debbie offenbar zum Prinzip gemacht hatte.
Er lenkte das Gespräch wieder auf den Mord zurück. »Miss Farrow, wir haben in der Wohnung Ihrer Schwester einige Notizen mit Namen gefunden, die wir dem Bekanntenkreis von Debbie bisher noch nicht zuordnen konnten. Vielleicht könnten Sie einen Blick darauf werfen.«
Das Blatt Papier, das er aus seiner Jackentasche zog, war zweimal gefaltet. Er faltete es auseinander und breitete es vor ihr auf der grauen Kunststoffplatte des wackelnden Tisches aus. Constance nahm es in die Hand, warf einen ersten Blick darauf und sagte dabei: »Gut, dass Sie das ansprechen, Mr. Conway. Was glauben Sie, wann kann ich in Debbies Wohnung?«
»Sagen Sie bloß, Sie wollen da einziehen?«, fragte Conway überrascht.
»Es ist wahrscheinlich für lange Zeit das letzte Mal, dass ich auf Jersey bin und … auf diese Weise könnte ich meiner Schwester noch einmal ganz nahe sein.«
Ihr Wunsch war zwar ungewöhnlich, es gab aber keinen Grund, ihn abzulehnen.
»Ich denke, das dürfte kein Problem sein. Die Wohnung ist zwar noch versiegelt, aber ich weiß, dass die Spurensicherung fertig ist, sodass Sie wahrscheinlich schon heute Abend hineinkönnen.«
Constance schien erleichtert zu sein. »Das wäre schön.«
»Soll ich dafür sorgen, dass Sie bis dahin Ihr Gepäck irgendwo unterstellen können?«
»Danke, ich komme schon klar. Ich möchte nachher auch noch Mrs. Bloom besuchen.«
Der Chef de Police glaubte nicht richtig zu hören.
»Meinen Sie Mrs. Bloom aus St. Brelade’s Bay?«
»Ja. Sie war es doch, die Debbie gefunden hat, oder?«
»Richtig, das hat sie.«
Conway überlegte fieberhaft, wie er diese Begegnung verhindern konnte. Er hatte nicht die geringste Lust, seiner neugierigen Ex-Schwägerin eine so wichtige Person wie Constance Farrow in die Hände zu spielen. Aber er nahm sich zusammen.
»Darf ich fragen, woher Sie Mrs. Bloom kennen?«, fragte er so beiläufig wie möglich.
»Als Schülerin hatte ich oft Nachhilfe bei ihrem Sohn Jonathan«, antwortete Constance. Sie lächelte leicht. »Es gab Zeiten, da war ich jeden Nachmittag bei den Blooms. Mrs. Bloom war eine Mutter, wie ich sie mir immer gewünscht hatte.«
»Ja, so ist sie, die gute Mrs. Bloom«, sagte Conway freundlich, auch wenn er das Gefühl hatte, er würde in eine saure Zitrone beißen. Er musste schnellstens das Thema wechseln.
»Miss Farrow, wenn Sie erlauben, würde ich jetzt gerne mit meinen Fragen fortfahren. Es gibt mehrere Punkte, die uns nach wie vor Rätsel aufgeben. Beispielsweise das mögliche Motiv …«
Es war so weit.
Emily fühlte sich bereit, ihr Gedächtnis von der Kette zu lassen.
Sie saß an ihrem Tisch vor dem Wohnzimmerfenster und versuchte, sich zu konzentrieren. Sie hatte es sich auf einem gepolsterten Stuhl bequem gemacht, die Kostümjacke ausgezogen und den Reif von der Stirn genommen, sodass die manchmal widerspenstigen Haare jetzt locker um ihr Gesicht fielen. Sie hatte sogar ihre Schuhe ausgezogen. Nichts sollte sie einengen.
Vor ihr lag ein Schreibblock. Darauf hatte sie die Fakten notiert. Während sie ihre Notizen noch einmal überflog, goss sie sich aus einer alten burmesischen Zeremoniekanne eine Tasse grünen Tee ein und trank einen Schluck. Es war die beste Japansorte, die sie in ihrem Laden verkaufte, exquisiter Matcha Hikari, der Tee der Teemeister, wie man in Japan sagte. Sein mildes Aroma, gepaart mit einer eigentümlichen angenehmen Süße, streichelte ihre Sinne und weckte sie gleichzeitig. Und genau das konnte sie jetzt gut gebrauchen.
Sie begann nachzudenken.
Was ihr Vikar Ballard über Debbie und ihre Mutter anvertraut hatte, war so brisant, dass sie immer noch aufgewühlt war. Ihr war natürlich immer schon klar gewesen, dass Debbie und ihre Schwester Constance eine besonders schwere Kindheit hinter sich hatten. Bis zu ihrem Tod vor vier Jahren – da war sie Ende vierzig gewesen – hatte Mary-Ann Farrow als schlecht bezahlte Köchin in einem Kinderheim geschuftet, um ihren beiden Mädchen eine anständige Ausbildung zu ermöglichen. Es dürfte ihr größter Triumph im Leben gewesen sein, dass aus Debbie und Constance tatsächlich etwas Vernünftiges geworden war.
Schon oft hatte Emily sich gefragt, warum eine hübsche Frau wie Mary-Ann nie heiraten wollte. Nun kannte sie die bittere Erklärung dafür. Mary-Ann musste damals davon ausgegangen sein, dass ihr Leben so oder so verpfuscht war, ganz gleich, welche Entscheidung sie traf. Und mit Sicherheit hing ihr Entschluss, niemandem von der Vergewaltigung zu erzählen, auch mit den moralischen Grundsätzen ihrer Familie zusammen. Denn als strenggläubige Methodisten, die jeden Sonntag zweimal den Gottesdienst besuchten, hätten die Farrows nach dieser »Beschmutzung« wohl kaum noch zu ihrer Tochter gehalten. Dagegen war das uneheliche Kind nur eine »Verfehlung«, zwar nicht minder verachtenswert, aber als Zeichen menschlicher Schwäche vielleicht noch zu verzeihen.
Dennoch blieben aus Emilys Sicht ein paar entscheidende Fragen offen.
Nachdem Debbie von ihrer Mutter die Wahrheit erfahren hatte – wie hatte sie da wohl reagiert? War Godfrey Ballard tatsächlich der Einzige, den sie eingeweiht hatte? War es ihr peinlich, wie sie entstanden war? Oder hatte sie vielleicht sogar nach dem Tod ihrer Mutter Kontakt zu ihrem leiblichen Vater aufgenommen?
Mit feiner Handschrift hatte Emily gleich nach der Rückkehr von ihrem Gespräch mit Vikar Ballard aufgeschrieben, was sie bis jetzt über Debbies Leben wusste. Bei genauer Betrachtung war es gar nicht so viel. Allerdings würde mit Sicherheit noch eine ganze Menge hinzukommen, wenn sie erst einmal anfing, ihr Gedächtnis auf Hochtouren laufen zu lassen.
Doch so viel wurde ihr jetzt schon klar: Für den Mord an Debbie konnte es viel mehr Motive geben, als sie alle ahnten.
Die Polizei schien bisher davon auszugehen, dass ein eifersüchtiger Liebhaber mit im Spiel war. Ein Sexualverbrechen oder ein Raubmord wurden jedoch ausgeschlossen. Alles sprach dafür, dass Debbie den Täter gut kannte.
Natürlich konnte der Täter derselbe sein, der auch die Polin Jolanta Nowak umgebracht hatte. Vor allem Detective Inspector Waterhouse favorisierte diese Idee. Doch wo war der gemeinsame Nenner zwischen beiden Fällen?
Der eifersüchtige Liebhaber passte irgendwie nicht zu Debbie. Es passte nicht zu ihrem komplizierten Leben. Sie gehörte keiner Szene an, sie war immer noch in Trauer um ihr Kind, und sie war zurückhaltend, was neue Beziehungen anging.
Nein – Debbie Farrows Tod musste eine eigene, eine besondere Geschichte haben.
Plötzlich schoss Emily ein gewagter Gedanke durch den Kopf. Was, wenn Debbie tatsächlich Kontakt zu ihrem Vater aufgenommen hatte, nachdem ihre Mutter gestorben war? Jeder wusste, dass Debbie impulsiv, drängend und wütend sein konnte. Auch sie selbst hatte ihren David ohne Vater aufgezogen und dessen Namen für sich behalten. Sie konnte also die schwere Situation ihrer Mutter gut nachvollziehen.
Debbie könnte ihrem leiblichen Vater gedroht haben, mit der Wahrheit an die Öffentlichkeit zu gehen. Der Vergewaltiger müsste heute ein älterer Mann sein. Wenn er wirklich einer der alten, vornehmen Gutsbesitzerfamilien auf Jersey angehörte, hätte er einiges zu verlieren gehabt.
War dieser Mann Debbies Mörder?
Emily schloss die Augen, und schon bewegten sich ihre Gedanken rückwärts, suchten alle Begegnungen ab, die sie in letzter Zeit mit Debbie Farrow gehabt hatte. Beim 26. Januar blieben sie schließlich stehen. Vor sechs Monaten.
Es war nachmittags um kurz nach drei. Durch das Schaufenster winkte Debbie fröhlich zu ihr in den Teeladen. Nur Sekunden später klingelte die Türglocke, und Debbie stand vor ihr. Ihr Pullover war nass vom Sprühregen, der schon seit dem Morgen wie ein feiner Nebel vom Himmel fiel. Das war der Preis für die Lage der Insel am Golfstrom und für die milden Winter, in denen das Thermometer selten unter acht Grad Celsius fiel.
Debbie kaufte grünen Tee, die aromatische Sorte.
»Du siehst heute so fröhlich aus«, sagte Emily erstaunt, während sie den Tee in die Tüte abfüllte. »Geht es dir wieder besser?«
»Viel besser«, antwortete Debbie fast beschwingt. »Kennen Sie das, wenn man das Gefühl hat, ein ganz neues Kapitel im Leben fängt an?«
»Oh ja«, meinte Emily. Wie selbstverständlich ging sie davon aus, dass die strahlende junge Frau, die vor ihr stand, frisch verliebt war, was jeder Debbie von Herzen gewünscht hätte. »Das klingt ja nach einer Lovestory.«
Debbie schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nicht … Es ist ganz anders. Aber manchmal begegnet man Menschen, die einen überraschen. Und man wünscht sich, dass man sie schon viel früher getroffen hätte, weil sie dann eine ganze andere Rolle im eigenen Leben gespielt hätten …«
»Ja, so etwas gibt es. Und so jemandem bist du begegnet? Beruflich oder privat?«
Debbie zögerte. »Rein beruflich.« Sie lächelte zuversichtlich. »Vielleicht verläuft mein Leben ja doch noch in normalen Bahnen.«
Emily überlegte. Der Tod des kleinen David lag mittlerweile vier Monate zurück. Sie verschloss die silberfarbene Teetüte, klebte ihr schmales Firmenzeichen wie ein Siegel obendrauf und sagte:
»Was heißt denn noch, Debbie? Du bist ja noch jung. Jetzt geht das Leben für dich erst richtig los.«
Mit einem dankbaren Strahlen nahm Debbie die Teetüte entgegen. So entspannt hatte Emily sie schon lange nicht mehr gesehen.
»Stimmt schon«, sagte sie zufrieden. »Man muss mich manchmal nur daran erinnern.«
Sie hielt Emily eine nagelneue Hundertpfundnote hin. »Ich hoffe, Sie können wechseln, Mrs. Bloom, ich hab’s diesmal leider nicht kleiner.«
Emily öffnete wieder die Augen.
So könnte es gewesen sein. Debbie hatte Kontakt zu ihrem leiblichen Vater aufgenommen. Hatte sie ihn vielleicht doch erpresst? Oder ging es um einen ganz anderen Menschen, dem sie begegnet war?
Emily war irritiert.
Es muss doch noch festzustellen sein, dachte sie, auf welchen Gutshöfen man vor zweiunddreißig Jahren noch Black Butter-Feste gefeiert hatte. Viele konnten es nicht gewesen sein.
Sie griff zum Telefon. Die Einzige, die ihr jetzt weiterhelfen konnte, war ihre Freundin Helen Keating. Irgendwo auf ihren weitläufigen Lavendelfeldern erwischte man Helen immer, selbst abends. Nur an einem Nachmittag in der Woche half sie als studierte Historikerin im Jersey-Archiv aus, um die Berge von alten Zeitungen und handschriftlichen Aufzeichnungen zu sortieren, die dort landeten.
Emily brauchte es nicht lange klingeln zu lassen, bis Helen an den Apparat kam. »Keating Lavendelpark, guten Tag!«
»Ich bin’s«, sagte Emily. »Darf ich dich stören, oder hast du gerade eine Besuchergruppe?«
Helen schien ihr dankbar zu sein für die kleine Unterbrechung. Mit ihrer kräftigen Stimme posaunte sie in den Hörer: »Im Gegenteil, du kommst mir gerade recht. Ich hatte den ganzen Vormittag Aufkäufer aus England hier. Das ist Stress hoch drei, sag ich dir.«
»Warst du wenigstens erfolgreich?«
»Ja, irgendwie mögen sie meinen Lavendel.«
Emily musste schmunzeln. Dieser Tonfall war typisch für Helen. »Ich brauche deine Hilfe«, sagte sie. »Kannst du im Archiv etwas für mich nachschauen?«
»Was brauchst du?«
»Ich müsste wissen, wie viele Höfe vor zweiunddreißig Jahren noch Black Butter-Nächte gefeiert haben.«
Helen lachte kurz auf. »Black Butter-Nächte? Du liebe Zeit, die gibt’s ja kaum noch! Das war schon vor zweiunddreißig Jahren so. Die Leute haben auch damals kaum noch was getrunken.«
Helens Bedauern über das allmähliche Verschwinden der fröhlichen Partykultur, die in den späten sechziger Jahren aus London auf die Insel herübergeschwappt war, war nicht zu überhören. Sie hatte schon oft darüber gejammert. Dabei war sie früher alles andere als ein Partytier gewesen, eher eine stille Mitläuferin. Doch Emily wusste, dass sich ab einem gewissen Alter die eigene Rolle in der Jugend gerne verklärte.
Beruhigend antwortete sie:
»Natürlich weiß ich das. Aber ihr habt doch diese Chroniken, in denen solche Ereignisse festgehalten werden.«
»Gut, dann krieche ich heute Abend mal ins hinterste Archiv.« Helen seufzte. »Bis wann brauchst du eine Antwort?«
»So schnell wie möglich.«
»Warum willst du das eigentlich wissen?«
»Ich möchte jemanden damit überraschen«, antwortete Emily wahrheitsgemäß. Helen und sie hatten sich noch nie angelogen. Und das sollte sich auch nicht ändern, nur weil sie gerade mit einem Mordfall zu tun hatte.
Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, war sie unschlüssig, was sie tun sollte. Der Fall Debbie Farrow musste ruhen, bis Helen sich gemeldet hatte. Der Haushalt wartete. Sie sah sich um. Küche oder Garten? Genau das hasste sie an ihrem unfreiwilligen Singledasein – die lästige Freiheit, dass es keinen geliebten Menschen mehr gab, für den sie etwas tun musste. Jonathan, ihr Sohn, der als Arzt in London lebte, zog sie deswegen immer auf. Aber was wusste er schon von den Niederlagen seiner Mutter?
Plötzlich war ihr nach Ablenkung zumute. Mit der Fernbedienung stellte sie den CD-Player auf volle Lautstärke. Laut röhrte ein alter Titel von Genesis durch das Haus, eine Gruppe, die sie immer schon geliebt hatte.
Mitten in den Lärm hinein klingelte es an der Haustür. Schnell schlüpfte Emily wieder in ihre Schuhe, stellte die Musik leiser und ging öffnen.
Vor ihr stand eine hübsche junge Frau mit langen braunen Haaren. In den Händen hielt sie einen Rucksack und eine Reisetasche, wie jemand, der sich noch unsicher fühlt und sich nicht traut, sein Gepäck voreilig abzusetzen.
»Hallo, Mrs. Bloom«, sagte das Mädchen und lächelte schüchtern. »Könnte ich bis heute Abend bei Ihnen Asyl bekommen?«
»Mein Gott, Constance!«, rief Emily überrascht aus.
Während sie noch schnell ihre Kopfhörer von den Ohren nahm, hetzte Constable Officer Sandra Querée auf das Rathaus zu. Über dem Eingang stand in weißen Lettern Salle Paroissiale de Saint Brelade. Das historische Gebäude lag an einem kleinen Platz direkt am Hafen von St. Aubin, dunkelrot angestrichen, flankiert von zwei symmetrischen cremefarbenen Anbauten, in denen auf einer Seite die Honorary Police untergebracht war und auf der anderen das Büro des connétable, des Bürgermeisters. Dazwischen, unter der gewaltigen Uhr, erstreckte sich ein blumengeschmückter Balkon.
»Ach, Miss Querée!«
Es war Isabel. Sie stand mit einer Gießkanne in der Hand auf Zehenspitzen, um die Blumenpracht in allen vier Hängekörben zu gießen. Ihr verkniffenes Gesicht verriet Sandra, dass der neuen Hospitantin diese Tätigkeit nicht gerade Vergnügen bereitete. Typisch Conway, dachte Sandra amüsiert, damit macht er sie erstmal geschmeidig für härtere Aufgaben.
Sie ging ein paar Schritte auf Isabel zu.
»Ja?«
»Mr. Conway lässt Ihnen sagen, er hat schon mal angefangen. Sie sollen gleich dazukommen.«
»Danke, Isabel.«
Sandra merkte, wie Isabel ihr kritisch nachblickte, während sie in das Gebäude ging.
Schon auf dem Flur, in der Ecke, wo man die Präventionsplakate der Polizei aufgehängt hatte, hörte sie Conways kräftige Stimme. Offenbar war er gewaltig in Fahrt.
»… und nur deshalb hat man Frank Guiton wieder laufen lassen! Nur deshalb …!«
Leise ging Sandra hinein. Augenblicklich umfing sie wieder die schlichte, nüchterne Atmosphäre dieses stets aufgeräumten Büros. Es erinnerte jeden Besucher daran, mit wie wenigen Mitteln die polizeiliche Selbstverwaltung der kleinen Inselgemeinde auskommen musste. Nur das Notwendigste war vorhanden. Die meisten der altgedienten Möbel waren aus heller Eiche, auch der bescheidene Schreibtisch, hinter dem Conway saß. Er hätte einen nobleren Rahmen für seine engagierte Arbeit verdient, fand sie.
»Nehmen Sie Platz, Sandra. Wir sprechen gerade über den Fall Guiton.«
Sie nickte stumm in die Runde und setzte sich neben ihren Kollegen Leo Harkins. Harkins galt als der Schweigsamste von ihnen. Sein lauter Gegenpol, der bullige Roger Ellwyn, lehnte lässig neben der Tür an der Wand, den Kopf so dicht an der Wandlampe, dass es aussah, als würde er sich jeden Moment die borstigen Haare daran versengen. Jetzt war das kleine Team der Honorary Police von St. Aubin vollzählig.
»Wir haben also Guiton wieder zurück«, fuhr Conway in gereiztem Ton fort. »Und auch wenn er nicht der Mörder ist, bleibt immer noch der Verdacht, dass er seine Versicherung betrügen wollte.«
Roger Ellwyn konnte sich nicht verkneifen, auf Conways eigene Rolle bei Guitons Freilassung anzuspielen. »Also am Ende doch eins zu null für Jane Waterhouse?«, fragte er grinsend. »Die ist ihn los, und wir machen den Rest?«
Conway sah ihn mit strafendem Blick an. »Es geht hier nicht um ein persönliches Kräftemessen mit den Kollegen in St. Helier, sondern es geht um Objektivität. Und Guiton hatte nun mal ein Alibi vorzuweisen, ganz gleich, ob mir das gepasst hat oder nicht.«
Ellwyn schluckte seine Antwort herunter, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich wieder an die Wand. Es war ihm anzumerken, dass er eigentlich gerne weiter diskutiert hätte.
Conway fuhr fort: »Also, dann fragen wir uns doch mal, warum Guiton zusammengeschlagen worden sein könnte. War es Rache? Gibt es vielleicht einen Komplizen, der in den fingierten Pferdediebstahl verwickelt war und der sauer ist auf Guiton?«
Mit angehobenen Augenbrauen schaute er in die Runde.
Als Einzige im Raum versuchte Sandra, eine andere Erklärung zu finden.
»Und wenn Mr. Guiton die Wahrheit sagt und er wirklich keine Ahnung hat, wer ihm das alles antut?«
Verblüfft lehnte Conway sich zurück. »Sie meinen, der große Unbekannte? Irgendwas in der Art?«
»Ja, immerhin ist Guiton ein erfolgreicher Züchter. Das passt bestimmt nicht jedem.«
Conway nahm Guitons Akte in die Hand und blätterte schweigend darin herum.
Vor ihm auf der Schreibtischplatte ruhte wie ein Szepter der Amtsstab des Chef de Police. Der Stab war das symbolische Zeichen der Macht für die Honorary Police, reich verziert, unter anderem mit dem roten Wappen von Jersey. Am oberen Ende rundete ihn eine goldene Krone ab, als Zeichen der Verbundenheit mit dem englischen Königshaus, denn offiziell war Königin Elisabeth II. noch immer Herzogin der Normandie und von Jersey, auch wenn die Insel sich schon seit vielen Jahrhunderten selbst regierte.
Durch das offene Fenster drang vom Hafen das tuckernde Geräusch eines Bootsmotors in Conways Büro.
Jeder im Raum horchte auf, denn dieser marode Motor konnte nur einem Mann gehören.
Leo Harkins sprach aus, woran alle sofort dachten. »Hört Ihr, Sebastian Picard fährt wieder raus! Heute Abend gibt’s günstigen Seebarsch.«
»Wir haben jetzt andere Sorgen«, sagte Conway gewollt streng, gerade weil er selbst Picards bester Kunde war. »Bleiben wir bei der Sache.« Kopfschüttelnd legte er die Akte wieder auf den Schreibtisch. »Ich weiß nicht … Guiton hat hohe Schulden. Wer sollte neidisch sein auf ihn?« Er wandte sich an Ellwyn. »Wie sehen Sie das?«
»Genauso. Ich glaube eher, dass alle auf dem Gestüt unter einer Decke stecken.«
Wenigstens hatte Frank Guiton den brutalen Angriff überlebt, dachte Sandra beruhigt. Und das grenzte angesichts der harten Schläge fast schon an ein Wunder. Seine Haushälterin hatte ihn gefunden. Jetzt lag er im Krankenhaus. Er hatte innere Blutungen, eine Leberschwellung, Kopfwunden und ein paar gebrochene Knochen. Aber er lebte.
Sie ertappte sich dabei, wie sie fast sehnsuchtsvoll an sein markantes, jungenhaftes Gesicht und die hellen, klaren Augen darin denken musste. Seit sie ihm am Flughafen gegenübergestanden hatte, war das Bild nicht mehr aus ihrem Kopf gewichen.
Jetzt mischte sich zum ersten Mal Leo Harkins in die Diskussion ein. »Ich sag’s ehrlich, ich finde, wir sollten den Fall einfach auf sich beruhen lassen. Das Pferd ist wieder da, und Guiton hat seine Prügel bekommen. Das ist doch schon ’ne ganze Menge. Haben wir nicht genügend anderes zu tun?«
Jedem war klar, dass Conway genauso dachte. Er war ein Pragmatiker. Trotzdem musste er irgendwie die Form wahren und durfte Harkins nicht einfach Recht geben. Sein Ton wurde wieder streng. »Bitte, Leo, ja?! Wir geben nicht einfach so auf! Sogar Richter Willingham hat schon angerufen und sich nach dem Stand der Dinge erkundigt. Also, irgendeiner von uns sollte auf jeden Fall noch mal mit Guiton reden. Sonst heißt es wieder, wir sind nachlässig.«
Er blickte kurz in die Runde. »Wer fährt zu ihm ins Krankenhaus?«
Viel schneller, als sie eigentlich wollte, hob Sandra Querée den Arm. »Ich könnte das machen.« Sie fühlte, wie sie errötete. Nur dadurch, dass sie sich schnell bückte, um ihre Tasche vom Boden aufzuheben, konnte sie es vor den anderen verbergen.
Die beiden Kollegen waren froh, dass sie um die lästige Fahrt ins Krankenhaus herumkamen. Auch Conway fiel ein Stein vom Herzen.
Noch während Ellwyn und Harkins sich rasch aus dem Büro verdrückten, gab er Sandra die Akte Guiton und verabschiedete sie auffallend zügig. »Machen Sie sich am besten gleich auf den Weg.«
Sandra wusste genau, warum er so in Eile war. Wie alle anderen Chef de Police auf der Insel hatte er heute Nachmittag die große Ehre, zu einem Grillfest beim Bailiff eingeladen zu sein, der als Präsident von Jersey auch Stellvertreter der Krone war. Und Conway wollte pünktlich dort sein.
Als sie schon in der Tür stand, rief er sie noch einmal zurück.
»Damit ich es nicht vergesse, Sandra, sagen Sie doch bitte Isabel, sie soll gleich mal Constance Farrow auf dem Handy anrufen. Miss Farrow kann leider erst morgen früh in die Wohnung ihrer Schwester einziehen.«
»Das mache ich schnell noch selbst«, versprach sie.
»Besten Dank. Und heizen Sie Guiton ordentlich ein!«
Wenige Minuten später hatte sie alles erledigt. Erleichtert, die engen Polizeiräume wieder verlassen zu können, verschwand sie durch den Hinterausgang zum Parkplatz. Sie machte sich nichts vor. Es war gar nicht ihr Pflichtgefühl, das sie zu Frank Guiton trieb, es war purer Egoismus. Sie musste diesen attraktiven Mann unbedingt wiedersehen. Sie war jung und frei. Und es gab überhaupt keinen Grund für sie, auf dieses prickelnde Spiel mit dem Feuer zu verzichten.
Der Besucher, der auf einem Stuhl neben dem Krankenhausbett des verletzten Frank Guiton saß, war Richter Willingham. Sein helles Jackett hatte er ausgezogen, sodass er in seinem hellblauen Oberhemd mit den steifen Manschetten für seine Verhältnisse fast schon leger aussah.
Lächelnd gab er dem in weißen Mull verpackten Guiton ein Glas Wasser und sagte scherzend:
»Seien Sie froh, dass Ihnen wenigstens die Schnabeltasse erspart bleibt. Diese Dinger passen einfach nicht zu einem Gentleman.«
»Danke, Richter, das tröstet mich«, antwortete Guiton. Sein rechter Arm war eingegipst, sodass er das Glas mit der Linken halten musste, während er trank.
Der Richter nahm ihm das Glas wieder ab. »So, Frank, und jetzt mal unter uns Pferdefreunden: Wie geht’s weiter mit Ihnen? Was sagt der Arzt?«
Es war ein ganz anderer Willingham als der beim Abschied am Royal Court. Obwohl er in jeder Lebenslage eine elegante Erscheinung blieb, wirkte er hier, im Krankenzimmer, auf einmal gelassen und entspannt. Es schien, als hätte er nach dem ganzen Trubel um seinen Leichenfund den festen Entschluss gefasst, sich nicht länger um sein Bild in der Öffentlichkeit zu kümmern. Schließlich war er jetzt Privatmann.
Auch Frank Guiton spürte diese Veränderung. Ohne seine schwierige Situation zu beschönigen, gestand er offen: »Ich glaube nicht, dass die Ärzte mich so schnell nach Hause lassen. Und damit ist mein Schicksal dann wohl besiegelt.«
»Wieso?«, fragte Willingham überrascht. »Sie sind wieder auf freiem Fuß und können jetzt auch den Rest der Vorwürfe gegen Sie entkräften. Das ist doch schon was.«
»Ja, ja …« Guiton schloss die Augen, als hätte er große Schmerzen. »Aber es sind die Schulden, die mich erdrücken. Der Züchterverband hat mir heute Morgen mitgeteilt, dass meine Mitgliedschaft gesperrt ist, solange ich wegen Versicherungsbetrugs verdächtigt werde. Das wird mir den Rest geben. Wer wird mir jetzt noch ein Pferd abkaufen?«
Willingham spitzte nachdenklich den Mund. »Ich verstehe … Ist es sehr viel Geld?«
»Mehr als siebenhunderttausend Pfund. Sie wissen ja, was wir im letzten Jahr neu gebaut und renoviert haben. Vor allem an den vorderen Ställen, wo jetzt auch Ihr Pferd untergebracht ist.«
»Haben Sie denn schon mit der Bank gesprochen?«
»Gerade vorhin. Aber das hätte ich mir sparen können.« Guiton klang verbittert. »Es ist die West Island Bank. So viel Herzlichkeit, wie einem da entgegenschlägt, kann man gar nicht ertragen. Sie umarmen einen zu Tode. Und teilen dir eiskalt mit, dass ohne weitere Sicherheiten nichts mehr läuft.«
»Das tut mir wirklich leid für Sie, Frank. Aber Sie haben doch hoffentlich jemanden in Ihrem Personal, der Ihr Gestüt ordentlich führt, während Sie weg sind, oder?«
»Im Prinzip schon. Nur, bevor ich nicht weiß, wer mir das alles eingebrockt hat, traue ich nicht mal mehr meinen eigenen Leuten.«
»Kann ich gut verstehen.« Richter Willingham machte eine kleine Pause und sah Frank Guiton eindringlich an. »Frank, ich möchte Ihnen jetzt eine Frage stellen, die Sie mir ganz ehrlich beantworten müssen. Und ich tue das als Freund. Sie können auch einfach schweigen, das werde ich genauso akzeptieren. Und selbstverständlich werde ich alles für mich behalten. Ich muss es nur wissen.«
Guiton drehte seinen bandagierten Kopf zu Willingham, sodass er dem Richter in die Augen sehen konnte. »Fragen Sie.«
Jetzt war John Willingham wieder ganz der erfahrene Richter, der dem Mann vor ihm in die Seele zu schauen versuchte. Seine Frage kam leise, aber eindringlich. »Haben Sie auf irgendeine Weise mit dem Verschwinden des Rennpferdes zu tun? Das muss ja nicht aktiv gewesen sein … Vielleicht haben Sie es nur geduldet. Oder Sie wissen, wer es war, und möchten es nicht sagen.«
Im ersten Augenblick schien es, als wollte Frank Guiton sich um eine Antwort drücken, sodass Willingham bereits angespannt die Augenbrauen hob. Doch dann kam ein Geständnis, mit dem der Richter ganz und gar nicht gerechnet hatte.
»Ich kann jetzt zwar schlecht meine Finger heben«, sagte Guiton, »aber ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass es genau so war, wie ich es gesagt habe. Als ich morgens in den Stall kam und feststellte, das mein wertvollstes Pferd verschwunden ist, dachte ich, jetzt ist alles vorbei, davon erholt sich die Zucht nicht mehr. Und bis heute habe ich keine Ahnung, wer mir das angetan hat … Aber ich kann Ihnen etwas anderes gestehen. Es wird Sie schockieren, Richter, aber …« Über Guitons Gesicht huschte der Hauch eines ironischen Lächelns. »Nachdem ich den ersten Schreck hinter mir hatte, habe ich mich ein paar verrückte Stunden lang über den Diebstahl gefreut. Plötzlich war ich ja einen Teil meiner Bankschulden los. Die Stute war mit dreihunderttausend Pfund versichert. Sie würde mir zwar in der Zucht gewaltig fehlen, aber Sie wissen ja, dass ich noch vier andere sehr starke Stuten habe. Na ja, und dann sind plötzlich zwei Zeugen aufgetaucht, die gesehen haben wollen, dass ich selbst den Transporter mit dem Pferd in der Nacht weggefahren habe. Und meine heimliche Freude hatte ein Ende.«
Guiton sah den Richter beinahe herausfordernd an. »War das ehrlich genug?«
Willingham, der bisher keine Miene verzogen hatte, knöpfte langsam den obersten Knopf seines Hemdes auf. Fast schien es, als bräuchte er Zeit, um Guitons Geständnis moralisch zu bewerten. Schließlich sagte er voller Bewunderung: »À la bonheur! Mit so viel Ehrlichkeit hatte ich nicht gerechnet. Ab jetzt haben Sie mein vollstes Vertrauen, Frank, das sollen Sie wissen. Nur Lügner betonen immer, dass sie die Wahrheit sagen.«
»Danke, Richter. Schade, dass Sie kein Anwalt sind.«
»Sie haben doch einen.«
»Ich werde mich von ihm trennen. Er hat eine ganze Menge falsch gemacht, während ich im Gefängnis saß.«
Willingham spitzte nachdenklich die Lippen. Dann sagte er: »Mal sehen, was ich für Sie tun kann. Mir kommt da schon eine Idee …«
Ein leises Klopfen an der Zimmertür unterbrach ihr Gespräch. Langsam wurde die Tür aufgedrückt, und Sandra Querée trat ein, mit zaghaftem Blick in Richtung Krankenbett. Als sie Richter Willingham entdeckte, blieb sie überrascht stehen. »Oh, Entschuldigung, ich möchte nicht stören. Ich warte draußen.«
Sie wollte schon wieder gehen, doch Willinghams Stimme rief sie zurück.
»Nein, nein, bleiben Sie! Sie sind doch Miss Querée von der Polizeidienststelle St. Aubin, nicht?«
»Ja, Sir«, sagte Sandra. Sie war überrascht, dass er sie noch kannte. Es war mehr als vier Monate her, dass sie in einem Gerichtsprozess als Zeugin hatte aussagen müssen.
»Eine Minute. Ich bin gerade dabei, zu verschwinden«, sagte Willingham.
Geduldig wartete sie an der Tür, bis Willingham so weit war. Dabei ließ sie so unauffällig wie möglich ihren Blick zu Frank Guiton wandern. Er sah mitleiderregend aus, wie er da in seinem Krankenbett lag, blass und unrasiert. Sie nahm sich fest vor, ihre Fragen behutsam zu stellen.
Willingham stand auf und warf sich sein Jackett locker über die Schulter. Sandra war überrascht, wie entspannt und drahtig der Richter heute wirkte.
»Also dann, Frank, bleiben Sie positiv! Ich melde mich wieder. Wahrscheinlich schon ziemlich bald.«
»Schön, dass Sie hier waren«, sagte Guiton.
Der Richter ging zur Tür, blieb aber noch einmal stehen, die Hand auf der Klinke, und wandte sich an Sandra. Dabei wirkte er beinahe übermütig, wie jemand, der sich auf irgendetwas freut.
»Miss Querée, walten Sie Ihres Amtes.« Mit einem Nicken ging er hinaus.
Während draußen auf dem Flur Willinghams Schritte immer leiser wurden, ging Sandra zu Frank Guiton. Lächelnd sah sie ihn an, nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem eben noch Willingham gesessen hatte, und sagte schlicht: »Hallo.«
Er schien irritiert zu sein. »Hallo … Habe ich schon wieder Ärger?«
»Nein, keine Sorge. Ich bin nur hier, um ein paar restliche Fragen zu klären … Wie geht es Ihnen?«
»Na ja, so ähnlich fühlt man sich wahrscheinlich nach einem Rodeo. Aber ich lebe noch, das ist schließlich auch was.«
»Der Notarzt hat uns gesagt, wenn Ihre Haushälterin Sie nicht so schnell gefunden hätte, wäre das Ganze sehr viel schlechter ausgegangen für Sie.«
»Gott, was Ärzte so reden … Wahrscheinlich hält man mehr aus, als man denkt.«
»Sie hatten ja gerade hohen Besuch. Sind Sie und Richter Willingham befreundet?«
»Befreundet wäre zu viel gesagt. Wir kennen uns gut, weil sein Pferd in meinem Stall steht. Aber dass er sich die Mühe macht, persönlich hierherzukommen, hätte ich nicht gedacht.«
»Er wirkte so … locker. Ich war ganz überrascht.«
»Hat sicher damit zu tun, dass er jetzt nur noch Privatmann ist.« Ernst fügte er hinzu: »Wenn er nicht gerade eine Leiche in seinem Kofferraum findet.«
Sandra nickte. »Ja, eine schlimme Sache.«
»Gibt es etwas Neues? Ich meine, wegen Debbie?«
»Nein, leider nicht.«
Sein Blick wurde traurig. Er sah zum Nachttisch, auf dem neben einer Zeitung ein kleines Foto lag, das ihn und Debbie, strahlend und eng umschlungen, vor einem Rennpferd zeigte, dem man einen Siegerkranz um den Hals gehängt hatte. Es musste einer der stolzen Momente im Leben von Frank Guiton gewesen sein.
Um ihm nicht unnötig zuzusetzen, beschloss Sandra, als Erstes die Fragen zum Überfall zu stellen. »Der Chef de Police lässt Sie grüßen und möchte vor allem wissen, warum Sie …«,
Müde abwinkend hob er die linke Hand, die voller Blutergüsse war. »Geschenkt! Mich interessiert nur, was Sie zu sagen haben.«
Sandra spürte, wie schwer es ihr fiel, die Rolle der kühlen Polizistin zu spielen. Er lag so hilflos vor ihr, und er tat ihr unendlich leid. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sich freiwillig zu melden, um ihn zu befragen.
»Es geht vor allem darum, ein paar neue Schlüsse aus dem Überfall zu ziehen«, sagte sie, »möglicherweise wird Sie das auch weiter entlasten.«
»Okay. Schießen Sie los.«
»Sie sagen mir ganz ehrlich, wenn es zu viel wird für Sie, ja?«
»Versprochen.«
Sandra zwang sich, so professionell wie möglich zu wirken, damit sie sich mit ihrer Sympathie nicht verriet. »Vermuten Sie in dem Überfall eine Verbindung zum Pferdediebstahl?«
Frank Guiton überlegte auffallend lange. Sandra hatte den Eindruck, dass er es nur tat, weil er nach seinen schlechten Erfahrungen mit Detective Inspector Waterhouse Sorge hatte, gleich wieder auf jedes einzelne Wort festgenagelt zu werden.
»Wie Sie sich denken können, war es das Erste, was ich mich gefragt habe«, antwortete er schließlich. »Aber meine Gedanken drehen sich immer nur im Kreis. Da klaut irgendwer mein Pferd und gibt es wieder zurück. Dann passiert der Mord an Debbie, und ich lande im Gefängnis. Dann werde ich zusammengeschlagen. Warum passiert das alles? Egal, wie sehr ich mir darüber den Kopf zerbreche, ich komme nicht weiter.«
»Gehen wir noch einmal die Fakten des Überfalls durch«, sagte Sandra. »Sie sind aus dem Taxi gestiegen und auf Ihr Gestüt zugegangen. Das Tor war zu. Den Täter selbst haben Sie gar nicht gesehen. Immerhin wissen wir, dass es sich nur um eine Person handelte. Das hat sich aus den Spuren im Kies ergeben.«
Nachdenklich fuhr er sich mit der gesunden Hand über das Grübchen an seinem Kinn.
»Hmm … Besonders die Sache mit dem Tor hat mich beschäftigt«, gab er zu. »Offenbar war das Tor verschlossen, damit ich aufgehalten wurde. Aber keiner von meinen Leuten weiß, wer das getan hat.«
»Wer wusste überhaupt, dass Sie an diesem Vormittag aus dem Gefängnis zurückkommen würden?«
»Nur meine Haushälterin. Aber die ist verschwiegen. Für sie lege ich meine Hand ins Feuer.«
»Gut. Nächster Punkt.«
Sandra arbeitete ihren Fragenkatalog Punkt für Punkt ab. Erstaunlich schnell hatten sie beide einen gewissen Rhythmus dabei gefunden – Frage, Antwort, Nachfrage, Relativierung oder Bestätigung, auf beiden Seiten präzise und ohne Umschweife. Harold Conways Vermutung, Guiton könnte in dubiose Geschäfte verwickelt sein, löste sich dabei mehr und mehr in Luft auf. Dieser Mann war ein Opfer, er war auf keinen Fall ein Täter.
Schließlich waren sie fertig. Und Sandra hatte eine überraschende Entdeckung gemacht. Frank Guiton war offensichtlich viel mehr als nur ein gut aussehender, von allen bewunderter Pferdezüchter. Er war ein Träumer. Und er war weitaus sensibler, als der Chef de Police ihn nach seinem Verhör beschrieben hatte.
Plötzlich kam ihr eine Idee. »Dieser Überfall … könnten Sie sich auch vorstellen, dass er nur zum Schein stattfand?«
»Was meinen Sie mit zum Schein?«
»Dass jemand Sie zusammenschlägt, damit wir glauben, dass Sie Prügel verdienen.«
Er sah sie verblüfft an. »Diese Frage habe ich mir noch gar nicht gestellt.«
»Na ja … wenn Sie in beiden Fällen wirklich unschuldig sind, könnte es doch jemanden geben, der mit aller Macht will, dass Sie auf irgendeine Weise unter Verdacht geraten.«
Erschrocken sah Guiton sie an.
»Das hieße ja auch … Dieser Person würde es gut in ihren Plan passen, dass man mich des Mordes verdächtigt.« Er wurde noch blasser. »Oder es ist sogar der Mörder selbst. Weil er wusste, dass Debbie und ich ein Paar sind … Oh Gott!«
Auch Sandra erschrak.
Er hatte recht. Ein krankes Hirn, das verbissen daran arbeitete, Frank Guiton zu vernichten, hätte wahrscheinlich auch kein Problem damit, den Tod eines Menschen in Kauf zu nehmen, nur um sein Ziel zu erreichen. Musste Debbie Farrow sterben, damit ihr Freund Frank Guiton unter Mordverdacht geriet? Nein, dachte sie, das ist abstrus. So etwas Perverses konnte sich niemand ausdenken.
Sie versuchte, Frank Guiton schnell wieder zu beruhigen.
»So weit würde ich jetzt nicht gehen. Aber dass es jemanden gibt, der Sie unter allen Umständen vernichten will, scheint mir auf der Hand zu liegen. Wir sollten an dieser Stelle weiterbohren.«
»Bitte sagen Sie mir, wie ich Ihnen dabei helfen kann.«
»Ich werde mir etwas überlegen.«
Er blickte sie dankbar an. »Wissen Sie eigentlich, dass Sie die Erste sind, die bereit ist, mich als Opfer zu sehen?«
»Schön, dass Sie das bemerkt haben.«
Plötzlich wurde die Zimmertür aufgestoßen. Schnaufend schob eine dicke Krankenschwester einen Wagen voller Medikamente vor das Krankenbett. »Ein bisschen was zum Naschen, Mr. Guiton?«, fragte sie grinsend. Mit einem Seitenblick zu Sandra fügte sie hinzu: »Könnte die Lady uns zwei mal ein bisschen allein lassen?«
»Bitte, Rosie!«, sagte Guiton gequält. »Können Sie nicht noch eine halbe Stunde damit warten?«
Die Schwester schüttelte energisch den Kopf, während sie schon begann, eine Spritze aufzuziehen. »Sie wissen doch, betteln hilft bei mir nicht. Je schneller Sie mir Ihren Hintern zeigen, desto schneller ist es auch vorbei.«
Sandra verabschiedete sich. Guiton und sie lächelten sich noch einmal zu, dann verließ sie das Zimmer.
Als sie ein paar Minuten später auf der Straße neben ihrem Auto stand und zum Fenster hochschaute, hinter dem er lag, spürte sie, dass sie sich in ihn verliebt hatte.
Emily klopfte vorsichtig an die Badezimmertür. »Constance?«
Die Dusche, unter der Constance schon minutenlang stand, wurde abgestellt. Mit einem Klappern öffnete sich die Schiebetür der Duschkabine. Der Hall der Badezimmerfliesen ließ die Stimme der Fünfundzwanzigjährigen reifer erscheinen, als sie in Wirklichkeit war.
»Ja, Mrs. Bloom?«
»Soll ich uns asiatisches Hühnchen oder irgendwas Deftiges machen? Worauf hast du Lust?«
»Lieber was Deftiges. Aber bloß keine Umstände, bitte! Ich bin auch gleich fertig.«
Schmunzelnd verschwand Emily wieder in ihrer Küche und nahm das Porzellan aus dem Schrank. Genauso hatte sie Constance eingeschätzt: bodenständig und geradeheraus. Schon früher, als Constance während ihrer Schulzeit regelmäßig zu den Nachhilfestunden bei Jonathan gekommen war, hatte sie am liebsten rohes Gemüse geknabbert, wie ein Kaninchen. Nur Süßigkeiten waren ihr noch lieber.
Harold Conways Nachricht, dass Debbies Wohnung noch bis Morgen früh versiegelt bleiben würde, hatte die Kleine ziemlich durcheinandergebracht. Wo sollte sie auf die Schnelle hin? Viel Geld besaß sie offenbar nicht. Emily hatte es deshalb für das Beste gehalten, ihr für die Nacht eines ihrer beiden Gästezimmer anzubieten. Erleichtert und dankbar war ihr Constance um den Hals gefallen.
Die Badezimmertür ging auf, und Constance kam barfuß in den Flur getapst. Das blaue Badetuch, das Emily ihr vorhin auf den Badewannenrand gelegt hatte, hatte sie locker um ihren schlanken Körper gewickelt. Auf ihrer Schulter und am Hals perlten noch ein paar Wassertropfen, aber das schien ihr nichts auszumachen. Sie sah hübsch aus und mädchenhaft. Als sie auf dem Weg zu ihrem Zimmer an der Küche vorbeikam, blieb sie kurz stehen und steckte den Kopf durch die offene Tür.
»Danke für die Dusche! Ich fühle mich wie neugeboren!«
»Lass dir ruhig Zeit«, sagte Emily, während sie zwei große Stücke Käse, geräucherten Schellfisch und Tomaten aus dem Kühlschrank nahm. »Wir haben überhaupt keine Eile.«
»Das werde ich auch genießen.«
Constance verschwand in dem kleinen Zimmer am Ende des Flures. Früher hatte Jonathan hier geschlafen, wenn er aus dem Internat nach Hause kam, doch diese Zeiten waren schon lange vorbei. Es tat Emily gut, wieder einmal jungen Besuch im Haus zu haben. Dabei wurden nicht nur ihre mütterlichen Instinkte wach, sondern auch die Lebendigkeit, mit der sie immer ihre Familie versorgt hatte.
Gut gelaunt ging sie ins Esszimmer hinüber, um den Tisch zu decken. Als das Telefon klingelte, überlegte sie kurz, ob sie sich jetzt überhaupt stören lassen wollte, aber dann ging sie doch dran.
Es war Helen. Sie klang ziemlich vorwurfsvoll. »Weißt du, wo ich gerade bin?«
»Ich kann leider nicht hellsehen«, sagte Emily.
»Immer noch im Archiv. Deinetwegen habe ich heute nämlich Überstunden gemacht.«
»Du kannst davon ausgehen, dass ich dir das nicht vergessen werde«, sagte Emily trocken. »Hast du was rausgefunden?«
Helen holte tief Luft, dann begann sie zu berichten, was sie im Archiv ausgegraben hatte. »Es gab damals vier große Black Butter-Feste. Zumindest sind das die offiziell vermerkten.«
Gespannt fragte Emily: »Und? Welche Gutshöfe waren es? Ich brauche vor allem die Namen der Besitzer.«
Helen zählte sie auf. »Edwin Phillips auf Orchard House, Trevor de Sagan auf Sagan Manor, ein Mr. de la Haye – den Vornamen weiß ich nicht – auf Langley Farm und Francis Barnie de Gruchy auf Les Mielles Manor.«
In Gedanken ließ Emily die vier Namen durch ihren Gedächtnisspeicher laufen. Trevor de Sagan und Francis Barnie de Gruchy, beide aus sehr alten und einflussreichen Familien, kannte sie persönlich, die beiden anderen Namen sagten ihr nichts. Beide Männer waren Ende fünfzig, Trevor de Sagan ein erfolgreicher Farmer und Geschäftsmann und Francis Barnie de Gruchy ein intellektueller Zyniker, der mit Kunst handelte.
»Könntest du morgen Näheres über die Besitzer von Langley Farm und von Les Mielles Manor rauskriegen?«, fragte sie.
»Sei mir nicht böse, Schätzchen, aber morgen und übermorgen kann ich leider gar nicht.« Helen klang plötzlich beschwingt. »Die Zeit meines sexuellen Notstands ist nämlich vorbei. Alfred hat mich zu einem Wochenende auf Sark eingeladen.«
»Na endlich!«, gratulierte Emily. »Dann will ich eurem Liebesleben natürlich nicht im Wege stehen. Und feiern kann man auf Sark ja nun wirklich sehr gut.«
Sie spielte darauf an, dass die sechshundert Einwohner der benachbarten kleinen Kanalinsel für ihren fröhlichen Alkoholkonsum bekannt waren.
Doch merkwürdigerweise ging Helen gar nicht darauf ein. Stattdessen druckste sie herum. »Wenn du noch eine Sekunde Zeit hast, Emily …«, sagte sie vorsichtig, »… ich möchte dich auch was fragen.«
»Dann frag«, sagte Emily.
»Was würdest du anziehen? Ich meine, für die erste Nacht mit einem Mann, mit dem noch nie … Lieber ein unschuldiges weißes Etwas oder ein super sexy verführerisches Teil?«
Emily klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter und fuhr dabei fort, die Teller und das Besteck auf den Esstisch zu stellen. »Himmel, Helen – das müsstest du aber eigentlich noch wissen! Zieh einfach das an, worin du dich selber sexy fühlst.«
»Du hast gut reden! Ich hatte seit vier Jahren keinen Kerl mehr im Bett.«
»Ups!«, sagte Emily überrascht. »So lange? Das wusste ich ja gar nicht.«
»Na ja … Du warst ja auch oft abgelenkt.«
Das saß. Helens boshafte Anspielung auf die komplizierte Affäre, die Emily bis vor sechs Monaten mit einem Piloten von British Airways gehabt hatte, ließ das Gespräch augenblicklich stocken. Typisch Freundin, dachte Emily verärgert, kein anderer hätte mir diesen Dolch so genüsslich in den Rücken gerammt. Vor allem störte sie daran, dass Helen diese missglückte Piloten-Geschichte ausgerechnet in Verbindung mit ihrer eigenen zweifelhaften Eroberung Alfred brachte, einem abgebrannten Börsenmakler.
»Dann also ein schönes Wochenende«, sagte sie deshalb ziemlich kühl. »Und schönen Dank für deine Hilfe.«
Der verletzte Ton in Emilys Stimme war Helen offenbar nicht entgangen. Um ihren Fehler möglichst schnell wiedergutzumachen, offerierte sie durch die Blume ein Friedensangebot. »Ich mach dir einen Vorschlag, Emily. Bis morgen früh habe ich alles recherchiert, was du brauchst, okay? Und wenn dir das dann immer noch nicht reicht, besorge ich dir einen Tagesausweis, damit du selber im Archiv rumschnüffeln kannst.«
Emily gab sich geschlagen. Einen Streit mit ihrer ältesten Freundin wollte sie unbedingt vermeiden. Und Helen war nun einmal, wie sie war – das Herz auf der Zunge, manchmal auch launisch, aber immer ehrlich und treu.
»Einverstanden. Und jetzt ab mit dir ins Bett!«
»Besten Dank.« Kichernd und erfreut über diesen versöhnlichen, schlüpfrigen Schlussakkord legte Helen auf.
Als Constance zum Abendessen erschien, duftete sie nach Emilys Duschgel und trug ein kleines, rundes Päckchen in der Hand. Es war in gelbes Geschenkpapier eingewickelt und mit einer roten Schleife versehen. Lächelnd überreichte sie es Emily. »Für Sie. Es war das Einzige, was ich auf die Schnelle besorgen konnte.«
Emily legte das scharfe Messer aus der Hand, das sie gerade für die beiden Käsestücke aus der Küche geholt hatte, und nahm das Präsent entgegen. »Also bitte, Constance, ich freue mich doch auch ohne Geschenk, dass du hier bist …«
»Ich weiß. Aber ich bin gespannt, ob Sie auch noch wissen, warum ich im Laden nicht daran vorbeigehen konnte.«
Neugierig beobachtete Constance, wie Emily das Geschenkpapier aufriss und eine Schachtel mit Pistazien-Pralinen auspackte.
»Natürlich! Die letzte Nachhilfestunde vor Weihnachten!«, rief sie aus. »Jonathan hat mit dir Mathematik geübt. Und dabei habt ihr heimlich meinen ganzen Vorrat an Pistazien-Pralinen gefuttert, den ich mir für die Weihnachtstage angelegt hatte.«
»Drei Schachteln.« Constance nickte. »Gott, war mir hinterher schlecht!«
»Danke. Das ist sehr lieb von dir, dass du daran noch gedacht hast.«
Sie gingen zum Esstisch, der in einer verglasten Veranda zwischen Küche und Wohnzimmer stand.
»Ich denke dauernd daran, Mrs. Bloom … Ich meine, an diese Zeit«, sagte Constance. »Ich war zwölf, Debbie war achtzehn … Wir haben uns ständig gefetzt. Und dann auch wieder eine Menge Quatsch zusammen gemacht. Wenn ich so überlege, waren das die einzigen Jahre, in denen wir so normal wie andere Mädchen waren …« Sie brach ab. Ihr Mund zuckte, während sie voller Emotionen mit beiden Händen auf dem Rand der Stuhllehne hin und her fuhr.
Man muss gut auf sie aufpassen, dachte Emily, sie ist noch sensibler als Debbie.
Die Erkenntnis, wie intensiv bei manchen Menschen die unglücklichen Lebenslinien der Kindheit bis ins Erwachsenenalter nachwirkten, war erschreckend. Emily hatte sich schon oft gefragt, ob es ihr tatsächlich gelungen war, ihrem eigenen Sohn jede Art von belastender Erinnerung zu ersparen. Insgeheim ging sie davon aus, aber sie nahm sich vor, Jonathan bei nächster Gelegenheit vorsichtig danach zu fragen.
Nachdem Constance Platz genommen hatte, hielt Emily ihr einen großen Teller mit Schellfisch und ein Käsebrett hin. »So, jetzt lang erst mal ordentlich zu. Du musst ja mitten in der Nacht aufgestanden sein. Wann ging die Fähre?«
Constance legte sich zwei kleine Stückchen Räucherfisch, ein bisschen Cheddar und zwei Tomaten auf den Teller. »Ach, das war gar nicht so schlimm. Um zehn. Aber ich wohne ganz im Norden von Weymouth, und bis ich rechtzeitig mit dem Bus am Hafen war …«
»Wir müssen es ja heute nicht so spät werden lassen«, versprach Emily.
»Ich kann im Moment sowieso kaum schlafen. Und nach diesem schrecklichen Besuch im General Hospital … Ich darf gar nicht dran denken.«
»Dann solltest du das auch nicht tun. Wir haben später noch Zeit, über all diese Dinge zu reden. Natürlich nur, wenn du möchtest. Der Chef de Police wird dich mit seinen Fragen schon genug gequält haben.«
»Ach, eigentlich war er ganz nett. Höchstens ein bisschen …« Sie suchte nach dem passenden Wort.
»Wichtigtuerisch«, ergänzte Emily seufzend. »Ich weiß. Aber er hat hier nun mal das Sagen.«
Sie nahm die Flasche französischen Weißwein und goss beide Gläser voll. »Du hast ja gesehen, St. Aubin und St. Brelade’s Bay sind immer noch dieselben kleinen Welten.« Sie hob ihr Glas. »Santé! Darauf, dass du endlich wieder zur Ruhe kommst.«
»Danke, Mrs. Bloom.«
Auch Constance hob ihr Glas, trank aber nur einen winzigen Schluck. Im Kontrast zu den dunklen Haaren wirkte ihr ungeschminktes mädchenhaftes Gesicht im Schein der gedimmten Deckenlampe blass und mitgenommen.
»Es ist schon komisch«, sagte sie nachdenklich. »Jedes Mal, wenn man irgendwo anders war und wieder auf die Insel kommt, ist die Welt da draußen plötzlich ganz weit weg. Das ist mir heute auch wieder so gegangen. Und das nach so langer Zeit.«
»Oh ja, dieses Gefühl kennen wir alle. Die Gerüche, der Wind, das Gefühl von Freiheit … Wir sind nun mal hier auf der Insel aufgewachsen. Wirst du irgendwann wieder auf Jersey leben wollen?«
Constance steckte sich eine Gabel mit Schellfisch in den Mund und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich das schaffe. Jetzt schon gar nicht. Im Gegenteil, ich überlege ernsthaft, ob ich nicht nach London ziehe.«
»Du weißt, dass Jonathan in London arbeitet, oder? Als Kinderarzt am King’s College Hospital.«
»Ja, Debbie hat’s mir mal erzählt. Das ist doch super für ihn. Ist er glücklich?«
»Ich denke, schon. Er hat jetzt endlich seinen Facharzt gemacht und ist ziemlich beschäftigt.«
»Vielleicht kann ich ihn mal wieder treffen.«
Emily überlegte, ob sie Constance etwas fragen sollte, was sie schon seit einiger Zeit beschäftigte. Sie entschied, es ruhig anzusprechen. »Constance … Ich hatte Debbie ein paar Mal angeboten, für den kleinen David einen Termin auf Jonathans Kinderstation zu machen, aber sie wollte partout nicht. Hast du eine Ahnung, warum?«
»Sie wissen doch … Wenn es um ihr Kind ging, war Debbie ziemlich eigen«, antwortete Constance ausweichend.
Emily wollte sich mit dieser Erklärung nicht zufriedengeben. »Ehrlich gesagt, ich glaube, dahinter steckte irgendwas anderes. Vielleicht bilde ich mir das nur ein, aber es kam mir damals so vor, als wollte sie David nicht noch anderen Ärzten zeigen.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Doch. Sie wollte nicht mal mit Jonathan deswegen telefonieren …«
Plötzlich, völlig überraschend, verlor Constance die Nerven.
»Ich will nicht darüber reden!«, schrie sie. Ihre Stimme überschlug sich dabei so sehr, dass sie schrill klang. Trotzig wie ein Kind begann sie, mit dem Messer an den Tomaten auf ihrem Teller herumzusäbeln.
Ihre heftige Reaktion erschrak Emily. Davids Krankheit war offenbar für alle in der Familie ein Tabu gewesen. Das Einzige, was sie jemals von Debbie selbst dazu gehört hatte, war, dass die vielen Infektionen ihren Jungen geschwächt hatten. Am Ende war er im Krankenhaus an Nierenversagen gestorben.
Sie beschloss, nicht weiter nachzuhaken. Über ihnen im Gebälk knackte ein Balken, während sie beide stumm weiteraßen. Emily durchbrach als Erste das betretene Schweigen. Versöhnlich sagte sie: »Entschuldige, Constance, aber ich mochte den kleinen Kerl schließlich auch gern …«
Constance blickte auf. »Tut mir leid … War blöd von mir, so zu reagieren.«
Unvermittelt warf sie das Besteck auf den Teller, schlug die Hände vors Gesicht und flüsterte weinerlich: »Verdammter Mist, ich weiß nicht, wie lange meine Nerven das noch aushalten …«
Emily legte Constance beruhigend eine Hand auf den Arm. »Schschsch … Soll ich dich in dein Zimmer bringen? Möchtest du dich hinlegen?«
Constance schüttelte den Kopf. Sie schien nachzudenken. Plötzlich sagte sie mit fester Stimme: »Ich glaube, Sie haben recht. Ich sollte endlich aufhören mit dem Versteckspiel, Mrs. Bloom.«
»Was meinst du damit?«, fragte Emily überrascht.
»Sie lagen schon richtig. Debbies Kind war viel kränker, als wir zugeben wollten. David hatte ständig Infektionen. Aber wenn es nur das gewesen wäre, hätten die Ärzte es vielleicht irgendwann in den Griff bekommen.«
Emily hielt den Atem an. »War es … Krebs?«, fragte sie vorsichtig. Allein der Gedanke daran entsetzte sie.
Constance schüttelte den Kopf. »Nein. Das wäre ja ein Feind gewesen, den man hätte bekämpfen können. Aber er bekam plötzlich Lähmungen, von einem Tag auf den anderen. Keiner wusste, warum. Die Ärzte vermuteten, dass es an den vielen Infektionen lag. Und an der seltenen Erbkrankheit, die er hatte.« Sie machte eine kleine Pause. »David war Bluter. Er muss es von Debbies Vater geerbt haben.«
Erschrocken verkrampften sich Emilys Finger an der Tischplatte. Es war wie ein Paukenschlag, der in ihren Ohren dröhnte. Constance redete weiter, aber Emily hörte gar nicht mehr richtig zu.
Sie kannte einen Menschen auf Jersey, der Bluter war.
Sie kannte ihn sogar gut, denn er war ein enger Freund ihres Mannes gewesen.
Er hatte sich sein Leben lang bemüht, die Krankheit geheim zu halten. Ein richtiger Gentleman, elegant und sportlich, Spross einer der vornehmsten Familien auf Jersey.
Dieser Mann war Trevor de Sagan, Seigneur auf Sagan Manor. Und sein Name gehörte zu denen, die Helen ihr heute Abend am Telefon vorgelesen hatte.
Das Polizeihauptquartier Rouge Bouillon – benannt nach der Straße, an der es lag – war schon tagsüber ein unauffälliger Gebäudekomplex, den sich die staatliche Polizei mit der Feuerwehr teilen musste. Abends wirkte das Gelände durch den fast leeren Parkplatz fast öde. Doch der Eindruck täuschte. Im Erdgeschoss bereitete sich gerade die Nachtschicht der Bereitschaftspolizei auf ihren Dienst vor, im Stockwerk darüber hatten sich die Leute von Jane Waterhouse eingeschlossen.
Die abendliche Runde im Sitzungszimmer war klein. Nur Jane Waterhouse selbst, Harold Conway und die Spurensicherung in Person von Edgar MacDonald waren anwesend. Für jeden gab es ein Sandwich und ein Mineralwasser. Neben den Sandwichtellern lagen, ordentlich sortiert, die Fotokopien der Laborergebnisse und eine kurze Zusammenfassung des aktuellen Ermittlungsstandes.
Harold Conway biss in sein Brötchen und studierte dabei mit übertrieben konzentriertem Gesicht die Untersuchungsergebnisse. In Wirklichkeit sehnte er sich nach der lockeren Herrenrunde, in der man hier früher gesessen hatte. Damals war auch ein Schluck Whisky nicht verpönt gewesen, wenn es den Ermittlungen auf die Sprünge half.
Detective Inspector Waterhouse berichtete als Erstes über den Mordfall Jolanta Nowak.
»Also: Unser erster Eindruck, dass Jolanta Nowak eine Einzelgängerin war, hat sich bestätigt. Als sie vor zwei Jahren aus Polen hierherkam, um ihre Tante zu pflegen, konnte sie kaum Englisch.«
»Was war sie eigentlich von Beruf?«, fragte Edgar MacDonald und kramte in den Unterlagen herum. »Das steht hier nirgends.«
»Sie war gelernte Krankenschwester. Aber in Polen war sie arbeitslos. Deshalb hat die Familie beschlossen, sie hierher zu schicken, zumal die Tante keine anderen Verwandten hat und auch nicht ganz arm ist.«
»Typisch Familie«, sagte MacDonald.
Ohne seinen Kommentar zu beachten, fuhr Jane Waterhouse fort: »Tatsächlich scheint sich Jolanta Nowak die meiste Zeit in der Wohnung ihrer Tante aufgehalten zu haben. Der Arzt der Tante hat mir bestätigt, dass die alte Frau seit einem halben Jahr nur noch dahindämmert. Jolanta Nowak hatte also einen aufreibenden Job. Nur alle drei Tage ist eine Mrs. Black gekommen, die für einen privaten Pflegedienst arbeitet, und hat sie für jeweils acht Stunden abgelöst. Hin und wieder kam Mrs. Black auch für die Nacht, aber nur, wenn Jolanta Nowak das unbedingt wollte.«
»Am Tag der Tat hatte Jolanta Nowak also definitiv frei?«, fragte Harold Conway.
»Ja. Sie hat die Wohnung der Tante um elf Uhr vormittags verlassen, gleich nachdem Mrs. Black den Dienst übernommen hatte. Laut Obduktion wurde sie dann zwischen vier Uhr und halb fünf nachmittags erstochen.«
Harold Conway sah auf die Fotokopie vor sich. Dort war als Muster die Klinge eines zwanzig Zentimeter langen schmalen Messers abgebildet. Ungefähr diese Form könnte die Tatwaffe gehabt haben.
»Das heißt also, wir müssen jetzt rausfinden, was die junge Frau in ihrer Freizeit gemacht hat, weil das der einzige Berührungspunkt mit dem Täter sein kann?«
Stirnrunzelnd blickte Jane Waterhouse den Chef de Police an. »Theoretisch gäbe es ja wohl viele Berührungspunkte: der Bäcker, ein Nachbarjunge, ein verliebter, aber verschmähter Nachbar …«
»So schlau bin ich auch«, konterte Harold Conway. Er hatte geahnt, dass sie irgendwann wieder nervig werden würde. »Aber so perfekt, wie Sie recherchieren, haben Sie diese Möglichkeiten sicherlich schon ausgeschlossen.«
»Natürlich haben wir das. Und dabei haben wir noch was ganz anderes erfahren. Sie hat das Meer geliebt. Edgar, berichten Sie mal.«
Edgar MacDonald wischte sich die dicken Finger an seinem blauen Pullover ab und faltete eine Landkarte der Insel Jersey auseinander. Sie war voller roter Linien und Kringel. Er zeigte auf einen kleinen Strandabschnitt im Süden. »Hier. An diesem Strand scheint sie sich als Letztes aufgehalten zu haben Wir haben den Sand in ihren Schuhen analysiert. Er passt genau dorthin.«
»Wurde sie dort auch erstochen?«
»Nein, definitiv nicht. Der Sand bestätigt nur, dass sie dort war. Die wenigen Leute, mit denen sie näher Kontakt hatte – Nachbarn, Ladenbesitzer, der Briefträger – berichten übereinstimmend, dass Jolanta Nowak stundenlang wandern war, immer rund um die Insel. An ihrer Kleidung zu Hause haben wir dementsprechend auch jede Menge Sand und Erde von anderen Stränden gefunden.«
»Und wie ist sie da überall hingekommen?«, fragte Conway.
»Mit dem Fahrrad, manchmal auch mit dem Bus«, antwortete MacDonald.
»Aber nicht am Tag des Verbrechens«, mischte sich Jane Waterhouse ein. »Das ist ja das Rätselhafte. Eine Busfahrerin will gesehen haben, dass Jolanta Nowak einen Tag vorher am Liberation Square in einen Pick-up oder einen Kombi gestiegen ist. Aber an die Farbe des Wagens kann sie sich nicht erinnern. Sie weiß auch nicht, ob ein Mann oder eine Frau hinter dem Steuer gesessen hat.«
Edgar MacDonald grinste. »Darf ich darauf aufmerksam machen, dass wir nicht über die Jungfrau Maria reden? Jolanta Nowak war im zweiten Monat schwanger. Hey, Freunde, irgendeinen Mann muss es da ja wohl gegeben haben!«
»Und wenn es mehrere waren?«, fragte Conway.
Die Chefermittlerin schüttelte den Kopf. »Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Auch ihre Mutter in Polen, mit der wir telefoniert haben, hat Jolanta als eher scheu beschrieben.«
Sie lehnte sich zurück und breitete ihre Handflächen auf dem Tisch aus. »Wir suchen also einen Mr. Unbekannt.« Sie nickte wieder dem Kollegen MacDonald zu. »Edgar, erzählen Sie uns, was sie auf Jolantas Gürtel gefunden haben.«
MacDonald legte die Fotografie eines Fingerabdrucks auf den Tisch. Der Abdruck hatte relativ saubere, gut konturierte Rillen. »Diesen Daumenabdruck haben wir auf dem Kunststoffgürtel der Toten gefunden. Er passt zu keiner der Personen, mit denen Jolanta Nowak normalerweise Kontakt hatte. Na gut, werdet Ihr sagen, damit ist höchstens bewiesen, dass es diesen Mr. Unbekannt tatsächlich gibt.«
Conway genoss die Art und Weise, mit der Edgar jedes Mal seine Nummer abzog. Es war großartig. Dagegen war die unterkühlte Sachlichkeit der Spitzmaus Waterhouse am Tischende ziemlich langweilig.
»Na komm, du hast doch noch was im Köcher«, sagte er gut gelaunt.
MacDonald zwinkerte ihm zu. Dann legte er ein zweites Foto mit einem Fingerabdruck auf den Tisch, genau neben das erste.
Der erfahrene Chef de Police brauchte keine drei Sekunden, um zu erkennen, dass die Abdrücke identisch waren.
»Na, was sagt ihr?«, fragte MacDonald stolz.
»Woher stammt der?«, fragte Conway voller Bewunderung.
»Von der rechten silbernen Schuhschnalle von Debbie Farrow«, antwortete MacDonald stolz. »Der Schuh hat in einem Luftloch unter der Erde gelegen. Und damit schließt sich der Kreis. Wir müssen jetzt davon ausgehen, dass beide Frauen von ein und demselben Täter ermordet worden sind.«
Jedem in der Runde war klar, dass sie endlich einen Durchbruch geschafft hatten. Doch der warf zugleich wieder eine ganze Menge neuer Fragen auf. Hatten die beiden Frauen sich vielleicht doch gekannt, obwohl bisher alles dagegensprach? Oder hatte der Mörder mit beiden ein Verhältnis gehabt, ohne dass Jolanta und Debbie voneinander wussten?
Harold Conway überlegte. »Könnte man nicht eine Belohnung aussetzen? Dann würden unsere Chancen auf Hinweise aus der Bevölkerung bestimmt steigen.«
Jane Waterhouse hob bedauernd die Hände. »Von welchem Geld? Können Sie mir das sagen?«
»Sie kennen doch die Töpfe der Ministerien am besten.«
»Es gibt keine Töpfe«, sagte sie knapp. »Jedenfalls nicht dafür.« Damit war das Thema für sie erledigt. Sie blickte in die Runde. »Pause?«
Mittlerweile war es Nacht geworden.
Sie waren die Letzten auf ihrer Etage, in allen anderen Büros brannte längst kein Licht mehr. Immerhin hatte der kleine Erfolg sie endlich ein bisschen zusammengeschweißt. Aber vielleicht empfand Conway das auch nur so, weil er das ständige Kämpfen gegen Jane Waterhouse leid war.
Sie ging hinaus und kam kurze Zeit später lächelnd mit einem Tablett zurück. Darauf standen drei Tassen mit Instantkaffee.
Jetzt mochte er sie sogar ein bisschen. Aber es irritierte ihn, dass er bei Jane Waterhouse nie wusste, wie sie wirklich war.